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Hüte dich vor dem, was in den Wäldern haust ...
In einem Dorf am Rande der Wildnis, weit im Norden Russlands, wo der Wind kalt bläst und der Schnee viele Monate des Jahres fällt, erzählt die alte Dienerin Dunja den Kindern des Grundbesitzers Pjotr Wladimirowitsch Geschichten über Zauberei, Folklore und den Winterkönig mit den frostblauen Augen. Verbotene Geschichten über eine uralte Magie. Doch für die junge, wilde Wasja sind dies weit mehr als Märchen. Sie allein kann die Geister sehen, die ihr Zuhause beschützen. Und sie allein spürt, dass sich in den Wäldern eine dunkle Magie erhebt ...
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Seitenzahl: 536
Das Buch
Es ist eine klirrend kalte Novembernacht, als Pjotr Wladimirowitsch, dem Fürsten von Lesnaja Semlja, ein kleines Mädchen geboren wird. Ein Mädchen mit wilden schwarzen Haaren und stechend grünen Augen, das auf den Namen Wasja getauft wird. Pjotrs Frau stirbt bei der Geburt, und der Fürst muss seine vier Kinder mithilfe der alten Amme Dunja alleine großziehen. Dunja liebt es, den Kindern abends am Feuer Geschichten zu erzählen, während der eisige Nordwind um die Mauern des Hofes streicht. Geschichten von Magie und Abenteuer, vom Feuervogel und vom Winterkönig. Nur Wasja begreift, dass die alte Dunja die Wahrheit spricht, denn Wasja kann sie alle sehen – die Geister und die Dämonen, die Götter und die Wiedergänger.
Als sich der Fürst einige Jahre später erneut vermählt, wird mit einem Mal alles anders in Lesnaja Semlja. Anna Iwanowa, Pjotrs zweite Frau, ist fromm, und sie verbietet den Dorfbewohnern den Glauben an die alten Mythen. Vor allem Wasja bekommt die Härte dieses Verbots immer wieder aufs Neue zu spüren, immer häufiger hört sie, wie das Wort Hexe hinter ihrem Rücken gezischt wird. Doch dann wird das Dorf von harten Wintern, Hungersnöten und Feuersbrünsten heimgesucht, und Wasja begreift, dass in den dunklen Wäldern von Rus eine uralte Macht erwacht ist. Eine Macht, die ihre Welt für immer zu zerstören droht …
Die Autorin
Katherine Arden, geboren in Austin, Texas, studierte Französische und Russische Literatur am Middlebury College in Vermont und verbrachte ein Auslandssemester in Moskau. Nach ihrem Abschluss lebte sie auf der hawaiianischen Insel Maui und in Briançon in Frankreich. Während dieser Zeit arbeitete sie auf einer Farm und als Englischlehrerin und unternahm ihre ersten Schreibversuche. Mit ihrem Debütroman Der Bär und die Nachtigall gelang ihr auf Anhieb ein Riesenerfolg. Die Autorin lebt und arbeitet in Vermont.
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Michael Pfingstl
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
THEBEARANDTHENIGHTINGALE
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Auszug aus Ruslan und Ludmila, übersetzt von Martin Remané; in: Puschkin, Alexander Sergejewitsch: Poeme und Märchen, (Puschkin: Alexander Sergejewitsch: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 2, hrsg. von Harald Raab, Aufbau Verlag: Berlin und Weimar 1966)
Deutsche Erstausgabe 11/2019
Redaktion: Martina Vogl
Copyright © 2017 by Katherine Arden
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,
unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-24074-5V001
www.heyne.de
Für meine Mutter.
In Liebe.
Ein Eichbaum ragt am Meeresstrande.
An goldner Kette festgemacht,
Kreist rund um seinen Stamm im Sande
Ein weiser Kater Tag und Nacht.
Geht’s rechts, hört man ein Lied ihn surren,
Geht’s linksherum – ein Märchen schnurren.
A. S. Puschkin
ERSTER TEIL
1
Frost
Es war Spätwinter in Nord-Rus und der Himmel düster vom Niederschlag, der weder Regen noch Schnee war. Die strahlende Februarlandschaft war vom trostlosen Grau des Monats März verdrängt worden, die Nasen in Pjotr Wladimirowitschs Haushalt trieften, und alle waren abgemagert nach sechs Wochen mit kargem Schwarzbrot und eingelegtem Kohl. Doch niemand dachte an Frostbeulen oder Schnupfen, ja nicht einmal an Haferbrei und gebratenes Fleisch, denn Dunja würde gleich eine Geschichte erzählen.
Die alte Frau hatte sich den besten Platz dafür ausgesucht: die Holzbank neben dem Ofen in der Küche. Bei dem Ofen handelte es sich um eine riesige Konstruktion aus gebranntem Ton, er war mehr als mannshoch und so groß, dass Pjotr Wladimirowitschs vier Kinder leicht hineingepasst hätten. Die flache Oberseite diente als Schlafgelegenheit; die Hitze im Inneren kochte die Speisen, beheizte die Küche und bereitete Dampfbäder für die Kranken vor.
»Was wollt ihr heute Abend hören?«, erkundigte sich Dunja und genoss die Wärme in ihrem Rücken. Pjotrs Kinder saßen kerzengerade auf ihren Schemeln vor ihr. Sie alle liebten Geschichten, selbst Sascha, der Zweitgeborene. Hätte jemand ihn gefragt, hätte er – ernst und fromm wie er war – zwar vehement behauptet, er würde den Abend lieber mit Gebeten verbringen, doch in der Kirche war es kalt und der Schneeregen draußen war erbarmungslos. Sascha hatte kurz zur Tür hinausgeschaut, sich einen nassen Kopf geholt und sich schließlich mit einer Miene gottesfürchtiger Gleichmut ein Stückchen abseits der kleinen Gruppe auf einen Stuhl gesetzt.
Die anderen riefen auf Dunjas Frage hin alle durcheinander:
»Finist der Falke!«
»Iwan und der graue Wolf!«
»Feuervogel! Feuervogel!«
Der kleine Aljoscha stellte sich auf seinen Schemel und fuchtelte mit den Armen, um sich unter seinen älteren Geschwistern Gehör zu verschaffen. Pjotrs Dogge hob den großen, vernarbten Kopf ob des Tumults.
Noch bevor Dunja etwas sagen konnte, wurde die Eingangstür aufgestoßen, sodass das Brüllen des Sturms hereinfuhr. Eine Frau stand im Türrahmen und schüttelte sich die langen, nassen Haare aus. Ihr Gesicht glühte wegen der Kälte, und sie war sogar noch dünner als ihre eigenen Kinder. Ihre tief liegenden Augen reflektierten den Feuerschein, Schatten tanzten über ihre hohlen Wangen, den kantigen Kehlkopf und die Schläfen. Sie hob Aljoscha hoch und drückte ihn an sich.
Der Kleine quiekte vor Entzücken. »Mutter!«, rief er, »Matjuschka!«
Marina Iwanowna ließ sich mit Aljoscha auf einen Stuhl sinken und rückte näher ans Feuer. Der Kleine grub die Hände in ihren Zopf. Sie zitterte, auch wenn es unter ihrer dicken Kleidung nicht zu sehen war. »Betet, dass die arme Aue heute Nacht lammt«, sagte sie. »Sonst sehen wir euren Vater nie wieder, fürchte ich. Erzählst du gerade eine Geschichte, Dunja?«
»Sobald endlich alle still sind«, antwortete die alte Frau knapp. Sie war auch Marinas Kindermädchen gewesen, vor langer Zeit.
»Ich wüsste eine«, sagte Marina sogleich. Ihr Ton war leicht, ihr Blick jedoch dunkel. Dunja musterte sie, draußen seufzte der Wind. »Erzähl uns die Geschichte von Väterchen Frost, Dunjaschka. Erzähl uns vom Frostdämon, dem Winterkönig Karatschun. Er streift draußen umher und ist wütend über das Tauwetter.«
Dunja zögerte, die älteren Kinder schauten einander an. Der heutige Name für Väterchen Frost lautete Morosko, der Winterdämon. Doch vor langer Zeit nannten die Menschen ihn Karatschun, den Todesgott. Damals war er der König des schwärzesten Winters, der sich nachts die bösen Kinder holte. Der Name stand unter keinem guten Stern. Es brachte Unglück, wenn man ihn aussprach, solange der Dämon das Land noch in seinem eisigen Griff hielt. Marina drückte ihren Sohn so fest, dass er sich wand und an ihrem Zopf zog.
»Na gut«, sagte Dunja schließlich. »Ich erzähle euch die Geschichte von Morosko, von seiner Güte und seiner Grausamkeit.« Sie betonte den Namen ganz leicht, den harmlosen, der kein Unglück bringen würde. Marina lächelte spöttisch und nahm Aljoschas Hände von ihrem Zopf. Die Geschichte von Väterchen Frost war alt, alle hatten sie schon viele Male gehört, doch niemand protestierte. Mit Dunjas voller, artikulierter Stimme war sie jedes Mal aufs Neue ein Vergnügen.
»In einem alten Fürstentum …«, begann sie und verstummte sogleich wieder, als Aljoscha begann, quiekend wie eine Fledermaus auf dem Schoß seiner Mutter herumzurutschen.
»Still«, sagte Marina und gab ihm wieder das Ende ihres Zopfes, damit er etwas zum Spielen hatte.
»In einem alten Fürstentum«, wiederholte Dunja würdevoll, »lebte ein Bauer mit einer schönen Tochter.«
»Wie hieß sie?«, fragte Aljoscha. Er war inzwischen alt genug, um eine Geschichte auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen, indem er gezielt nach Einzelheiten fragte.
»Sie hieß Marfa«, antwortete Dunja. »Die kleine Marfa war so schön wie der Sonnenschein im Juni, außerdem war sie mutig und herzensgut. Doch Marfa hatte keine Mutter. Sie war gestorben, als Marfa noch ein Kind war. Ihr Vater hatte wieder geheiratet, trotzdem war Marfa immer noch so mutterlos wie eine Waise. Denn ihre Stiefmutter war zwar hübsch, wie es heißt, sie buk köstliche Kuchen, wob die feinsten Stoffe und braute schmackhaften Kwas, aber ihr Herz war kalt und grausam. Sie hasste Marfa wegen ihrer Schönheit und Gutherzigkeit und bevorzugte ihre eigene, hässliche und faule Tochter in allem. Zunächst versuchte sie, Marfa genauso hässlich zu machen, indem sie ihr nur die schwersten Arbeiten gab, damit ihre Hände knorrig, der Rücken krumm und das Gesicht faltig werde. Doch Marfa war stark, und vielleicht besaß sie auch ein bisschen Magie, denn sie erledigte alle Arbeiten klaglos und wurde im Lauf der Jahre nur immer noch schöner.
Als sie das bemerkte, fasste die Stiefmutter – Daria Nikolajewna war ihr Name –«, fügte Dunja ein, als sie sah, wie Aljoscha schon wieder den Mund öffnete, »einen Plan, um das Mädchen loszuwerden. Eines Tages im tiefsten Winter sagte Daria zu ihrem Mann: ›Mein Gatte, ich glaube, es ist Zeit, dass unsere Marfa heiratet.‹
Marfa machte gerade Pfannkuchen und blickte erstaunt auf. Ihre Stiefmutter hatte nie Interesse an ihr gezeigt, außer es ging darum, ihr etwas anzukreiden. Doch Marfas Freude schlug sogleich in Furcht um, als Daria weitersprach: ›Und ich habe gerade den rechten Mann für sie. Pack sie auf den Schlitten und bring sie in den Wald. Wir werden sie mit Morosko verheiraten, dem Wintergott. Könnte eine Maid sich einen besseren, reicheren Bräutigam wünschen als den Herrscher über den weißen Schnee, die schwarzen Tannen und den silbernen Frost?‹
Der Vater – sein Name war Boris Borisowitsch – starrte seine Frau entsetzt an. Boris liebte seine Tochter und wusste, dass die kalte Umarmung des Wintergottes nichts für Sterbliche ist. Doch auch Daria konnte ein wenig zaubern, und Boris konnte ihr nie etwas abschlagen. Weinend fuhr er mit seiner Tochter tief in den Wald und ließ sie dort am Fuß einer Tanne zurück.
So saß das Mädchen lange alleine da, bebte und zitterte, während ihm immer kälter wurde. Schließlich hörte sie ein Knacken. Sie blickte auf und sah Väterchen Frost zwischen den Bäumen, wie er mit langen Sätzen und mit den Fingern schnippend auf sie zukam.«
»Und wie hat er ausgesehen?«, wollte Olga wissen.
Dunja zuckte die Achseln. »Was das betrifft, sagen alle etwas anderes. Manche behaupten, er wäre eine Brise, die zwischen den Tannen flüstert. Andere sagen, er sei ein alter Mann auf einem Schlitten, mit leuchtenden Augen und kalten Händen. Wieder andere behaupten, er sei ein vor Kraft strotzender Krieger mit weißer Rüstung und Waffen aus Eis. Niemand weiß es. Jedenfalls, etwas näherte sich Marfa, als sie so dasaß. Ein eisiger Windstoß fuhr ihr ins Gesicht, und ihr wurde noch kälter. Dann sprach Väterchen Frost zu ihr, mit der Stimme des Winterwinds und des fallenden Schnees:
›Ist dir auch schön warm, meine Schöne?‹
Marfa war ein wohlerzogenes Mädchen, das seine Last klaglos ertrug, und so antwortete sie: ›Ja, danke, liebes Väterchen Frost.‹ Der Dämon lachte nur, und der Wind blies stärker denn je. Die Baumkronen über ihnen stöhnten, da fragte Väterchen Frost noch einmal: ›Und jetzt, Kleine? Warm genug?‹ Marfa konnte kaum noch sprechen vor Kälte, trotzdem antwortete sie: ›Warm, mir ist immer noch warm, danke.‹ Ein Sturm brach los, der Wind heulte und mahlte mit den Zähnen, bis die arme Marfa sicher war, er würde ihr die Haut von den Knochen reißen. Jetzt lachte Väterchen Frost nicht mehr, und als er ein drittes Mal fragte: ›Ist dir warm, Herzchen?‹, tanzten schon schwarze Flecken vor ihren Augen, und sie antwortete mit steifgefrorenen Lippen: ›Ja … warm. Mir ist warm, liebes Väterchen Frost.‹
Da konnte er nicht mehr anders, als ihren Mut zu bewundern, und hatte Erbarmen. Er wickelte sie in seinen Mantel aus blauem Brokat und legte sie auf seinen Schlitten. Als er Marfa vor ihrem Haus absetzte, trug sie den kostbaren Mantel immer noch und außerdem eine kleine Truhe voller Gold- und Silberschmuck. Marfas Vater weinte vor Freude, als er das Mädchen wiederhatte, doch Daria und ihre Tochter waren außer sich, Marfa in einem so wertvollen Mantel und obendrein noch fürstlich beschenkt zu sehen. Also wandte sich Daria an ihren Mann und sagte: ›Mein Gatte, schnell! Setz meine Tochter Lisa auf deinen Schlitten. Marfas Geschenke sind nichts gegen das, was Väterchen Frost meinem Mädchen geben wird.‹
Obwohl sein Herz gegen diese Torheit rebellierte, nahm er Lisa mit auf seinen Schlitten. Sie trug ihr feinstes Gewand und einen dicken Fellmantel. So brachte Boris sie tief in den Wald, zu derselben Tanne. Lisa wartete lange. Trotz des Mantels war ihr bitterkalt, als Väterchen Frost endlich schnippend und lachend herankam. Mit einem letzten Satz blieb er direkt vor Lisa stehen und blies ihr ins Gesicht. Sein Atem war wie der Wind aus dem Norden, der Haut und Knochen gefrieren lässt. Er lächelte und fragte: ›Ist dir warm genug, Liebes?‹ Lisa antwortete schaudernd: ›Natürlich nicht, du Narr! Siehst du nicht, dass ich schon halb tot bin vor Kälte?‹
Der Wind wurde stärker denn je, er heulte und peitschte, und über das Getöse hinweg fragte Frost: ›Und jetzt? Ist dir schön warm?‹ Das Mädchen schrie zurück: ›Selbstverständlich nicht, Idiot! Ich friere! Mir war in meinem ganzen Leben noch nicht so kalt! Ich warte auf meinen Bräutigam, Väterchen Frost, aber der Esel kommt nicht.‹ Als er ihre Worte hörte, wurden Frosts Augen hart wie Adamant. Er legte seine Finger um Lisas Hals, beugte sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: ›Wird dir nun warm, meine Taube?‹ Doch Lisa konnte nicht antworten, denn sie war in dem Moment gestorben, als er sie berührte, und lag erfroren im Schnee.
Im Haus wartete Daria und lief ruhelos auf und ab. ›Mindestens zwei Kisten voller Gold‹, sagte sie und rieb sich die Hände. ›Ein Brautkleid aus Samt und Seide und eine Hochzeitsdecke aus feinster Wolle.‹ Ihr Mann erwiderte nichts. Die Schatten wurden immer länger, und ihre Tochter war immer noch nicht zurück. Schließlich schickte Daria ihren Gatten, um Lisa zu holen, und schärfte ihm ein, ja vorsichtig mit den reichen Gaben zu sein. Doch als Boris zu der Tanne kam, wo er seine Tochter am Morgen abgesetzt hatte, fand er keine Schätze, sondern nur das tote Mädchen im Schnee.
Mit schwerem Herzen hob er sie auf und brachte sie nach Hause. Die Mutter kam ihm schon vor dem Haus entgegen. ›Lisa!‹, rief sie. ›Geliebte Tochter!‹
Dann sah sie ihr Kind, steif auf dem Schlitten liegend. In diesem Moment berührte Väterchen Frost Darias Herz, und auch sie fiel auf der Stelle tot um.«
Es herrschte eine kurze, ergriffene Stille in der Küche.
Dann fragte Olga traurig: »Aber was ist mit Marfa passiert? Hat Väterchen Frost sie geheiratet?«
»Seine Finger müssen wirklich kalt sein«, murmelte Kolja grinsend.
Dunja bedachte ihn mit einem strafenden Blick, ließ sich aber nicht zu einer Erwiderung herab.
»Nun, Olga«, sagte sie stattdessen zu dem Mädchen, »ich glaube nicht. Welche Verwendung hätte der Winter für eine Sterbliche? Sie hat wohl eher einen reichen Bauern geheiratet und ihm die größte Mitgift in ganz Rus beschert.«
Olga wollte gerade gegen den unromantischen Schluss protestieren, doch Dunja hatte sich bereits mit ächzenden Knochen erhoben. Sie würde sich nun zurückziehen. Das Dach des Ofens war so lang und breit wie ein großes Bett, die Alten, die Jungen und die Kranken schliefen darauf, so auch Dunja und Aljoscha.
Die Kinder gaben ihrer Mutter einen Gutenachtkuss und schlüpften davon, bevor Marina sich als Letzte erhob. Trotz der dicken Winterkleidung fiel Dunja erneut auf, wie dünn sie geworden war, und das bedrückte ihr Herz. Bald ist Frühling, tröstete sie sich. Die Wälder werden wieder grün, und die Tiere geben ihre nahrhafte Milch. Ich werde ihr einen Auflauf mit Eiern, Quark und Fasan kochen, und die Sonne wird sie wieder gesund machen.
Doch der Ausdruck in Marinas Augen erfüllte das greise Kindermädchen mit einer dunklen Vorahnung.
2
Die Enkelin der Hexe
Das Lamm kam endlich, schmutzig, dürr und so schwarz wie ein toter Baum im Regen. Doch die Aue leckte das Neugeborene entschlossen ab, und nach einer Weile stand es, wenn auch wacklig, auf seinen winzigen Hufen. »Braves Mädchen«, sagte Pjotr Wladimirowitsch zu der Aue und erhob sich ebenfalls. Sein schmerzender Rücken protestierte, als er sich streckte. »Aber du hättest dir eine bessere Nacht aussuchen können.« Draußen mahlte der Wind mit den Zähnen, die Aue wackelte gleichgültig mit dem Schwanz. Pjotr grinste und ging. Ein gesunder Bock, geboren in einem spätwinterlichen Sturm. Ein gutes Omen.
Pjotr Wladimirowitsch war ein Fürst: ein Bojar mit reichen Ländereien und vielen Untergebenen. Wenn er die Nacht bei seinem Vieh verbrachte, dann nur, weil er es wollte. Und er war jedes Mal dabei, wenn in einer seiner Herden ein neues Tier geboren wurde. Oft holte er sie mit den eigenen blutigen Händen ans Licht der Welt.
Der Schneeregen hatte aufgehört, und die Nacht klarte auf. Ein paar wackere Sterne zeigten sich zwischen den Wolken, als Pjotr den Vorgarten betrat und die Stalltür hinter sich zuzog. Nach dem langen Winter lag sein Haus trotz der Nässe fast bis zur Regenrinne unter Schnee begraben. Nur das Giebeldach und die Kamine waren frei geblieben, außerdem der Dwor, den Pjotrs Männer mit ihren Schaufeln in mühsamer Arbeit frei hielten.
Die Sommerhälfte des großen Hauses hatte breite Fenster und einen offenen Kamin, doch wenn der Winter kam, wurde dieser Teil geschlossen. Er sah verlassen aus, vom Schnee verschüttet und vom Frost versiegelt. Die Winterhälfte hatte große Öfen und hohe, schmale Fenster. Über den Kaminen kräuselte sich Tag und Nacht dünner Rauch, und während der kältesten Monate kleidete Pjotr die Fensterscheiben mit Eisplatten aus, um die Kälte draußenzuhalten und die Sonne dennoch hereinzulassen. Jetzt warf Kaminfeuer aus dem Zimmer seiner Frau zuckend-goldene Lichtstrahlen auf den Schnee.
Pjotr dachte an seine Frau und ging weiter. Marina würde sich freuen über das Lämmchen.
Die Wege zwischen den Außengebäuden waren überdacht und mit Holzstäben gepflastert, als Schutz gegen Regen, Schnee und Matsch. Aber mit der Dämmerung war ein peitschender Schneeregen gekommen, der alles mit einer Eisschicht überzogen hatte. Der Boden war gefährlich glatt, die mannshohen Schneeverwehungen vom Niederschlag durchlöchert, doch die Sohlen von Pjotrs mit Fell gefütterten Filzstiefeln griffen gut auf dem Eis. In der dämmrigen Küche blieb er stehen und schöpfte Wasser über seine verschmierten Hände. Oben auf dem Ofen wälzte sich Aljoscha im Schlaf hin und her und wimmerte leise.
Das Zimmer seiner Frau war klein, um dem Frost zu trotzen, aber es war hell und – zumindest für den Norden – luxuriös. Die hölzernen Wände waren mit gewobenen Tüchern behängt, der prächtige Teppich hatte zu Marinas Mitgift gehört und war über unwegsame Straßen direkt aus Zargrad zu ihnen gekommen. Fantastische Schnitzereien zierten die Stühle, überall lagen Decken aus weichem Wolfs- und Kaninchenfell.
Der kleine Ofen in der Ecke glühte hell. Marina war noch nicht schlafen gegangen, sie saß in ein weißes Wollgewand gehüllt vor dem Feuer und kämmte sich das Haar. Selbst nach vier Geburten war es noch dicht und kräftig und reichte ihr fast bis zu den Knien. Im schmeichelhaften Feuerschein sah sie beinahe genauso aus wie die junge Braut, die Pjotr vor so langer Zeit mit nach Hause gebracht hatte.
»Ist es da?«, fragte Marina. Sie legte den Kamm weg und begann ihren Zopf zu flechten, ohne den Blick vom Feuer zu nehmen.
»Ja«, sagte Pjotr geistesabwesend und zog seinen Kaftan aus, dankbar für die Wärme. »Ein hübscher Bock, und seiner Mutter geht es gut. Ein gutes Omen.«
Marina lächelte.
»Da bin ich froh, denn wir können ein gutes Omen gebrauchen«, sagte sie. »Ich bekomme ein Kind.«
Pjotr hatte sein Hemd halb ausgezogen und hielt mitten in der Bewegung inne. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Möglich war es natürlich. Marina war zwar schon etwas alt dafür und hatte viel Gewicht verloren in diesem Winter …
»Noch eines?«, fragte er, richtete sich auf und legte sein Hemd weg.
Marina hörte die Anspannung in seiner Stimme, ein trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie band das Ende ihres Zopfes mit einer Lederschnur zusammen, bevor sie antwortete. »Ja«, sagte sie und warf sich den Zopf über die Schulter. »Ein Mädchen. Sie wird im Herbst zur Welt kommen.«
»Marina …«
Sie hörte die unausgesprochene Frage. »Ich wollte sie«, erwiderte Marina, »und ich will sie immer noch.« Und dann, leiser: »Ich möchte eine Tochter, die so ist, wie meine Mutter war.«
Pjotr runzelte die Stirn. Marina sprach nie von ihrer Mutter. Auch Dunja erwähnte sie nur selten.
Zur Regierungszeit von Iwan I., so heißt es, ritt ein zerlumptes Mädchen durch die Tore des Kreml, nur begleitet von seinem großen grauen Pferd. Die junge Frau war müde, verdreckt und hungrig, Gerüchte rankten sich um sie. Sie war wunderschön, sagten die Leute, und hatte Augen wie eine Schwanenjungfrau aus einem Märchen. Schließlich kamen die Gerüchte dem Großfürsten zu Ohren. »Bringt sie zu mir«, sagte Iwan ein wenig amüsiert. »Ich habe noch nie eine Schwanenjungfrau gesehen.«
Iwan Kalita war kein freundlicher Fürst, er war vom Ehrgeiz zerfressen, kalt und gerissen und habgierig. Anders hätte er auch nicht überlebt, denn oft ereilte Moskaus Fürsten ein früher Tod. Doch als Iwan die Maid zum ersten Mal sah, so berichteten die Bojaren später, blieb er volle zehn Minuten lang reglos sitzen. Die mit etwas mehr Fantasie schworen sogar, seine Augen seien feucht gewesen, als er schließlich aufstand und ihre Hand nahm.
Iwan war damals zweimal verwitwet und seine neue Geliebte jünger als sein ältester Sohn, trotzdem heiratete er das geheimnisvolle Mädchen. Doch nicht einmal der Großfürst von Moskau konnte die Gerüchte um sie zum Verstummen bringen. Die neue Fürstin verriet niemandem, woher sie kam, damals nicht und auch nicht später. Die Dienerinnen tuschelten, sie könne Tiere zähmen, in ihren Träumen die Zukunft sehen und den Regen herbeirufen.
Pjotr nahm seine Überkleider und hängte sie vor dem Ofen auf. Er war ein praktisch veranlagter Mann und gab nichts auf Gerüchte, doch seine Frau saß außergewöhnlich still und schaute ins Feuer. Nur die Flammen bewegten sich, tauchten ihre Hände und den Hals in einen goldenen Schimmer. Ihr Verhalten machte Pjotr unruhig. Er begann auf und ab zu gehen.
Seit Wladimir ganz Kiew im Dnjepr getauft und die alten Götter vertrieben hatte, war Rus christlich. Trotzdem war es ein riesiges Land, in dem sich die Dinge nur langsam änderten. Fünfhundert Jahre, nachdem die Mönche nach Kiew gekommen waren, gab es in Rus immer noch unbekannte Mächte. Einige davon hatten sich in den wissenden Augen der fremden Fürstin widergespiegelt. Der Kirche gefiel das nicht, weshalb der Bischof darauf bestand, Marina, ihr einziges Kind, an einen Bojaren draußen in der Wildnis zu verheiraten, viele Tagesreisen von Moskau entfernt.
Pjotr beglückwünschte sich oft zu seinem Glück. Seine Frau war genauso weise wie schön, er liebte sie, und sie liebte ihn. Doch Marina sprach nie über ihre Mutter. Olga, ihre Tochter, war ein ganz normales Mädchen, hübsch und folgsam. Sie brauchten keine weitere, und bestimmt keine, die die angeblichen Kräfte ihrer Großmutter erben würde.
»Bist du sicher, dass du stark genug dafür bist?«, fragte er schließlich. »Schon Aljoscha war eine Überraschung, und das ist jetzt drei Jahre her.«
»Ja«, antwortete Marina und drehte ihm den Kopf zu. Sie ballte die Hand ganz langsam zu einer Faust, doch Pjotr sah es nicht. »Ich werde sie zur Welt bringen.«
Es entstand eine Stille.
»Marina, deine Mutter war …«
Sie nahm seine Hand und stand auf.
Pjotr legte ihr einen Arm um die Hüfte; sie fühlte sich steif an unter seiner Berührung.
»Ich weiß nicht, was meine Mutter war«, erwiderte Marina. »Sie hatte Gaben, die ich nicht habe. Ich erinnere mich noch gut, wie sie am Hof von Moskau getuschelt haben. Die Nachfahrinnen meiner Mutter haben starkes Blut, und Olga ist mehr deine Tochter als meine, aber diesmal« – Marina verschränkte die Arme, als wiege sie ein Baby – »dieses Kind ist anders.«
Pjotr zog seine Frau enger an sich, und mit einem Mal klammerte sie sich regelrecht an ihn. Er konnte ihren Herzschlag auf seiner Brust spüren. Sie fühlte sich warm an in seinen Armen. Der Duft ihres Haars stieg ihm in die Nase, frisch gewaschen im Badehaus. Es ist spät, überlegte er. Wozu einen Streit vom Zaun brechen? Die Aufgabe der Frauen war, Kinder zu gebären. Seine hatte ihm bereits vier geschenkt, bestimmt würde sie noch ein weiteres verkraften. Falls das Kind sich als irgendwie anders herausstellen sollte … Nun, dieses Problem ließ sich lösen, falls nötig.
»Bleib gesund, Marina Iwanowna«, sagte er schließlich, und seine Frau lächelte. Sie saß jetzt wieder, mit dem Rücken zum Feuer, sodass er ihre feuchten Augen nicht sehen konnte. Pjotr hob ihr Kinn an und küsste sie. Sie war so dünn, zerbrechlich wie ein Vogel unter ihrem schweren Gewand. »Komm ins Bett. Morgen gibt es Milch. Die Aue kann ein bisschen davon entbehren, Dunja wird sie für dich backen. Du musst an das Kind denken.«
Marina drückte sich an ihn, Pjotr hob sie hoch wie in den Tagen, als er sie noch umworben hatte, und wirbelte sie herum, und sie schlang ihm lachend die Arme um den Hals. Doch einen Moment lang schaute sie an ihm vorbei in die Flammen, als könnte sie dort die Zukunft sehen.
»Werd es los«, sagte Dunja am nächsten Tag. »Es ist mir egal, ob es ein Mädchen wird, ein Prinz oder ein Prophet.« Mit der Morgendämmerung war der Schneeregen zurückgekehrt, nun tobte er wieder draußen. Die beiden Frauen saßen dicht vor dem Ofen – wegen der Wärme und wegen des Lichts, das sie zum Stopfen brauchten. Dunja stach die Nadel mit Nachdruck in den Stoff. »Je früher, desto besser. Du hast weder das Gewicht noch die Kraft, ein Kind auszutragen. Und sollte es wie durch ein Wunder doch gelingen, wird dich die Geburt umbringen. Du hast deinem Mann schon drei Söhne geschenkt, und du hast deine Tochter – wozu brauchst du noch eine?« Dunja war schon in Moskau Marinas Kindermädchen gewesen, sie war mit ihr in Pjotrs Haushalt gekommen und hatte alle ihre vier Kinder großgezogen. Sie nahm kein Blatt vor den Mund.
Marina lächelte mit leichtem Spott. »Welch harsche Worte, Dunjaschka. Was würde Vater Semjon wohl dazu sagen?«
»Vater Semjon wird kaum im Kindbett sterben, oder? Aber du, Maruschka …«
Marina schaute auf das Stück Stoff in ihren Händen hinab und sagte nichts. Doch als sie den Blick zu den zusammengekniffenen Augen ihres Kindermädchens hob, war ihr Gesicht durchsichtig wie Wasser. Und Dunja schien es, als könne sie das Blut ihre Kehle hinabkriechen sehen.
Dunja erschauerte. »Kind, was hast du gesehen?«
»Es spielt keine Rolle«, erwiderte Marina.
»Werd es los«, wiederholte Dunja beinahe flehend.
»Ich muss dieses Mädchen bekommen, Dunja. Sie wird sein wie meine Mutter.«
»Deine Mutter! Das zerlumpte Mädchen, das allein auf einem Pferd aus dem Wald geritten kam? Das zu einem bloßen Schatten seiner selbst verblasst ist, weil sie das Leben hinter byzantinischen Wandschirmen nicht ertragen konnte? Hast du vergessen, zu welch grauem alten Weib sie wurde? Wie sie verschleiert zur Kirche stolperte. Sich in ihren Gemächern versteckte und aß, bis sie dick, ihre Haut fettig und ihr Blick leer wurde? Deine Mutter. Wünschst du einem deiner Kinder so ein Leben?«
Dunja krächzte beinahe wie ein Rabe, denn zu ihrem eigenen Leidwesen erinnerte sie sich noch gut daran, wie das Mädchen mit dem wundersamen Ruf damals vor Iwan Kalita getreten war – verloren und zerbrechlich und so schön, dass es wehtat. Iwan war betört gewesen. Die Fürstin – nun, vielleicht hatte sie bei ihm für eine Weile Frieden gefunden. Doch dann steckte man sie in den Frauenflügel, kleidete sie in schweren Brokat, gab ihr Heiligenbilder, Diener und reichlich zu essen. Stück für Stück war ihr Feuer, das Licht in ihren Augen, das jedem den Atem verschlagen hatte, verblasst. Dunja hatte ihren Tod schon lange betrauert, bevor man sie in die Erde gebettet hatte.
Marina lächelte bitter. »Nein«, antwortete sie. »Aber erinnerst du dich noch an die Zeit davor? An die Geschichten, die du mir erzählt hast?«
»Und was haben all die Magie und die Wunder ihr gebracht?«, brummte Dunja.
»Ich habe nur wenig von ihrer Gabe«, fuhr Marina fort, als hätte sie den Einwand überhört, doch Dunja kannte sie gut genug, um die Trauer in ihrer Stimme zu bemerken. »Aber bei meiner Tochter wird es mehr sein.«
»Und das genügt dir, um den anderen vier die Mutter zu nehmen?«
Marina senkte den Blick. »Ich … Nein. Ja. Wenn es sein muss.« Sie sprach so leise, dass Dunja sie kaum hörte. »Aber vielleicht überstehe ich es ja.« Sie hob den Kopf. »Du versprichst mir doch, für sie alle zu sorgen?«
»Maruschka, ich bin alt. Ich gebe dir mein Versprechen, aber wenn ich sterbe …«
»Sie werden zurechtkommen … sie müssen. Dunja, ich kann nicht in die Zukunft sehen, aber ich werde diese Tochter zur Welt bringen.«
Dunja bekreuzigte sich und sagte nichts mehr.
3
Der Bettler und der Fremde
Als Marinas Wehen kamen, rüttelten die ersten Novemberwinde an den kahlen Bäumen; der Schrei des Neugeborenen vermischte sich mit dem Heulen der Böen. Marina lachte, als sie ihre Tochter erblickte. »Sie heißt Wasilisa«, sagte sie zu Pjotr. »Meine Wasja.«
Im Morgengrauen hörte der Wind auf. In der darauffolgenden Stille blies Marina sanft ihren letzten Atem aus und starb.
Der Schnee stürzte vom Himmel wie Tränen, als Pjotr seine Frau mit versteinertem Gesicht zu Grabe trug. Seine neugeborene Tochter weinte während der gesamten Beerdigung – ein Dämonenheulen anstelle des erstorbenen Windes.
Den ganzen Winter hindurch hallte das Haus vom Geschrei des Babys wider. Mehr als einmal waren Dunja und Olga am Verzweifeln, denn die Kleine war ein dürres, blasses, ständig zappelndes Bündel, und mehr als einmal drohte Kolja halb im Ernst, sie vor die Tür zu setzen.
Doch der Winter verging, und Wasja überlebte. Sie hörte auf zu schreien und gedieh mit der Milch der Bauersfrauen.
Die Jahre verflogen wie fallendes Laub.
An einem Tag kurz vor Wintereinbruch, beinahe wie der, an dem sie zur Welt gekommen war, schlüpfte Marinas schwarzhaarige Tochter in die beheizte Küche. Sie stützte die Hände auf die Kaminplatte und spähte über die Kante. Ihre Augen glänzten. Dunja nahm gerade Kuchen aus der Asche. Im ganzen Haus roch es nach Honig.
»Sind sie schon fertig, Dunjaschka?«, fragte Wasja und streckte den Kopf in den Ofen.
»Fast«, antwortete Dunja und schob die Kleine weg, bevor sie sich noch die Haare vom Kopf sengte. »Setz dich auf deinen Stuhl, Wasotschka, und flick deine Bluse. Danach bekommst du ein Stück.«
Wasja konnte an nichts anderes mehr denken und setzte sich brav. Ein ganzer Berg Gebäck stand bereits zum Abkühlen auf dem Tisch, braun gebacken und mit schwarzen Ascheflecken darauf. Und während sie die Kuchen musterte, brach von einem eine Ecke ab. Das Innere war golden wie der Hochsommer und dampfte. Wasja schluckte. Ihr Frühstück schien ein Jahr zurückzuliegen.
Dunja warf ihr einen warnenden Blick zu. Wasja spitzte züchtig die Lippen und begann zu flicken. Doch der Riss in der Bluse war lang, Wasjas Hunger groß und ihre Geduld von Natur aus gering. Ihre Stiche wurden immer breiter wie die Lücken im Gebiss eines Greises. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie legte die Bluse weg und schlich sich zu der dampfenden Platte, die gerade außerhalb ihrer Reichweite auf dem Tisch stand. Dunja saß mit dem Rücken zu ihr und beugte sich über den Kamin.
Lautlos wie eine junge Katze auf der Jagd nach Grashüpfern pirschte Wasja sich an, dann schlug sie zu. Drei Kuchen verschwanden in ihrem Ärmel.
Dunja wirbelte herum. »Wasja …!«, rief sie streng, doch Wasja war schon durch die Tür und lief, lachend und erschrocken zugleich, hinaus in den trüben Tag.
Die Jahreszeiten wechselten gerade, die Felder waren voller Stoppeln und mit Schnee gesprenkelt. Wasja schluckte und überlegte sich ein Versteck, lief über den Dwor, vorbei an den Bauernhütten und dann durchs Tor. Es war kalt, doch das machte ihr nichts aus. Sie war in der Kälte geboren.
Wasilisa Petrowna war ein hässliches kleines Mädchen: dürr wie Schilfrohr, mit langen Fingern und riesigen Füßen. Ihre Augen und der Mund waren zu groß für den Rest des Körpers. Olga hatte ihr den Kosenamen »Frosch« gegeben, ohne sich etwas dabei zu denken. Doch Wasjas Augen hatten die Farbe des Waldes während eines Sommergewitters, und ihr Mund war rot wie eine Kirsche. Wenn sie wollte, konnte sie vernünftig sein. Und klug. So klug, dass die anderen Familienmitglieder oft aus allen Wolken fielen, wenn Wasja sich wieder einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte und alle Vernunft über Bord warf.
Am Rand eines abgeernteten Roggenfeldes entdeckte Wasja einen Haufen aufgewühlter Erde in der löchrigen Schneedecke. Gestern war der Haufen noch nicht da gewesen. Wasja ging nachsehen. Im Näherkommen roch sie den Wind und wusste, dass es in der Nacht schneien würde. Die Wolken lagen über den Bäumen wie nasse Wolle.
Ein kleiner Junge, er war neun Jahre alt und sah aus wie eine Miniaturausgabe von Pjotr Wladimirowitsch, stand auf dem Boden des gar nicht mal so kleinen Lochs und grub.
Wasja trat an den Rand und spähte nach unten. »Was machst du da, Ljoschka?«, fragte sie mit vollem Mund.
Aljoscha lehnte sich auf seinen Spaten und schaute nach oben. »Was geht’s dich an?« Er mochte Wasja, denn sie war für jeden Spaß zu haben und damit beinahe genauso gut wie ein kleiner Bruder. Aber er war fast drei Jahre älter und musste ihr zeigen, wo ihr Platz war.
»Weiß nicht«, erwiderte Wasja kauend. »Willst du Kuchen?« Mit ein wenig Bedauern hielt sie ihm die Hälfte des letzten Stücks hin. Es war das saftigste und hatte kaum Ascheflecken.
»Gib her.« Aljoscha ließ den Spaten los und streckte die verschmierte Hand aus.
Wasja machte einen Schritt zurück. »Sag mir erst, was du da tust.«
Aljoscha funkelte sie an.
Wasja kniff die Augen zusammen und machte Anstalten, das letzte Stück zu verspeisen, da gab ihr Bruder nach. »Ich baue eine Festung«, erklärte er. »Damit ich mich, wenn die Tataren kommen, verstecken und sie mit Pfeilen beschießen kann.«
Wasja hatte noch nie einen Tataren gesehen und wusste nicht genau, wie groß eine Festung sein musste, damit sie als Schutz vor ihnen taugte. Sie beäugte das Loch skeptisch. »Deine Festung ist aber nicht sehr groß.«
Aljoscha verdrehte die Augen. »Deshalb grabe ich ja, du Spatzenhirn. Damit sie größer wird. Und jetzt gib her.«
Wasja streckte den Arm, dann zögerte sie. »Ich will mitgraben und auch auf die Tataren schießen.«
»Das kannst du nicht. Du hast weder einen Bogen noch eine Schaufel.«
Wasjas Mine verfinsterte sich. Aljoscha hatte an seinem siebten Namenstag ein eigenes Messer und einen Bogen bekommen. Sie selbst hatte ein Jahr lang umsonst darum gebettelt. »Spielt keine Rolle«, erwiderte sie. »Ich kann mit einem Stock graben, und Vater wird mir später einen Bogen geben.«
»Wird er nicht.« Doch Aljoscha machte keine weiteren Einwände, als Wasja ihm das halbe Stück Kuchen gab und einen geeigneten Stock suchen ging. Eine Weile arbeiteten sie still in geselligem Einvernehmen.
Doch Graben mit einem Stock wird schnell langweilig, selbst wenn man alle paar Momente in die Höhe springt, um nach nahenden Tataren Ausschau zu halten. Wasja begann sich zu fragen, ob sie Aljoscha überreden könnte, die Arbeiten an der Festung bleiben zu lassen und stattdessen auf Bäume zu klettern, als plötzlich ein Schatten über die Grube fiel. Vor ihnen stand Olga, ihre ältere Schwester, außer Atem und wütend, weil sie vom Ofen aufgescheucht worden war, um ihre pflichtvergessenen Geschwister zu suchen. Grimmig schaute sie zu ihnen hinunter. »Bis oben hin voller Dreck, was wird Dunja wohl dazu sagen? Und Vater erst …« An dieser Stelle verstummte sie und packte den langsameren Aljoscha an der Jacke, gerade als die beiden wie aufgescheuchtes Wild die Flucht ergreifen wollten.
Wasilisa hatte lange Beine für ein Mädchen, und sie war schnell. Die Gelegenheit, ihre letzten Krümel in Ruhe zu verspeisen, war durchaus eine Standpauke wert. Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte sie wie ein Hase über das kahle Feld und jauchzend um Baumstümpfe herum, bis der nachmittägliche Wald sie verschluckt hatte. Olga schaute keuchend hinterher und hielt Aljoscha am Kragen fest.
»Warum erwischst du sie nie?«, fragte Aljoscha grollend, als Olga ihn zurück zum Haus schleifte. »Sie ist erst sechs.«
»Weil ich nicht Koschtschei der Unsterbliche bin«, erwiderte Olga gereizt. »Und weil ich kein Pferd habe, das schneller ist als der Wind.«
Sie traten in die Küche, Olga stellte Aljoscha neben dem Ofen ab. »Ich konnte Wasja nicht einfangen«, sagte sie zu Dunja.
Die alte Frau hob den Blick zum Himmel. Wasja war äußerst schwer zu fangen, wenn sie nicht gefangen werden wollte. Der Einzige, dem das ab und zu gelang, war Sascha. Dunja richtete ihren Zorn auf den bibbernden Aljoscha. Sie zog ihn direkt neben dem Ofen aus, rieb ihn mit einem Lappen ab – den sie zuvor in Nesselsud getränkt hatte, wie Aljoscha später Stein und Bein schwor – und zog ihm schließlich ein sauberes Hemd an.
»Solche Herumtreiber«, murmelte Dunja und schrubbte. »Das nächste Mal sag ich es deinem Vater. Dann wird er dich den Rest des Winters Holz hacken und die Ställe ausmisten lassen. Solche Herumtreiber – Löcher graben und voller Dreck …«
Doch sie wurde mitten in ihrer Tirade unterbrochen, als Aljoschas ältere Brüder in die Küche getrampelt kamen. Sie rochen nach Vieh und Rauch. Im Gegensatz zu Wasja stürzten sie sich ohne Umschweife auf den Kuchen und schoben sich jeder ein ganzes Stück in den Mund. »Von Süden kommt Wind auf«, sagte der Älteste, Nikolai Petrowitsch, genannt Kolja, zu seiner Schwester. Mit seinem vollen Mund war er kaum zu verstehen. Olga hatte ihre gewohnte Fassung wiedergefunden und saß strickend neben dem Ofen. »Es wird Schnee geben heute Nacht. Gut, dass wir das Vieh in den Stall gebracht haben und das Dach fertig ist.« Er stellte seine triefend nassen Stiefel neben dem Feuer ab und ließ sich in einen Stuhl sinken. Im Vorbeigehen nahm er sich den nächsten Kuchen.
Olga und Dunja musterten die Stiefel missbilligend. Der saubere Ofen war von Schlammspritzern gesprenkelt. »Wenn das Wetter umschlägt, ist morgen das halbe Dorf krank«, sagte Olga und bekreuzigte sich. »Ich hoffe, Vater kommt vor dem Schnee nach Hause.« Sie runzelte die Stirn und zählte die Maschen.
Der andere junge Mann sagte nichts. Er legte das Feuerholz, das er mitgebracht hatte, neben dem Ofen ab und verdrückte seinen Kuchen, dann kniete er sich vor die Heiligenbilder gegenüber der Tür und bekreuzigte sich ebenfalls. Schließlich stand er auf und küsste das Bild der Jungfrau Maria.
»Betest du wieder, Sascha?«, fragte Kolja mit heiterer Bosheit. »Bete, dass der Schnee noch wartet und Vater sich keine Erkältung holt.«
Der junge Mann zuckte die Achseln. Er hatte große, ernste Augen mit langen Wimpern wie ein Mädchen. »Tue ich«, erwiderte er. »Solltest du auch mal versuchten, Kolja.« Er tappte zum Ofen und zog seine feuchten Socken aus. Der Geruch nasser Wolle vermischte sich mit dem von Schlamm, Weißkraut und Tieren. Sascha hatte den ganzen Tag bei den Pferden verbracht. Olga rümpfte die Nase.
Kolja ging nicht auf die Stichelei ein. Er untersuchte gerade einen seiner durchnässten Stiefel. Eine Naht im Fell hatte sich gelöst. Mit einem ungehaltenen Schnauben ließ er den Stiefel wieder fallen. Kurz darauf begannen beide Stiefel in der Hitze des großen Ofens zu dampfen. Dunja hatte das Abendessen bereits hineingeschoben, Aljoscha beäugte den Topf wie eine Katze ein Mauseloch.
»Wer hat sich denn herumgetrieben, Dunja?«, erkundigte sich Sascha. Er hatte den Schluss der Tirade beim Hereinkommen mitgehört.
»Wasja«, sagte Olga. Sie berichtete von dem entwendeten Kuchen und von Wasjas Flucht in den Wald. Währenddessen strickte sie. Ein etwas betrübtes Lächeln ließ Grübchen auf ihre Wangen treten. Sie war immer noch wohlgenährt vom Sommer, rundlich und hübsch.
Sascha lachte. »Nun ja, sie kommt zurück, sobald sie Hunger hat«, erklärte er und wandte sich wichtigeren Dingen zu. »Ist Hecht in dem Eintopf, Dunja?«
»Schleie«, berichtigte Dunja sachlich. »Oleg hat am Morgen vier gefangen. Deine eigenwillige Schwester ist noch zu klein, um allein im Wald herumzustreunen.«
Sascha und Olga tauschten einen Blick aus, zuckten die Achseln und sagten nichts. Schon seit sie laufen konnte, stahl sich Wasja allein in den Wald. Sie würde rechtzeitig zum Abendessen wieder zurück sein wie jedes Mal. Mit hochrotem Gesicht, einer Handvoll Pinienkerne als Entschuldigung und so lautlos wie eine Katze auf Samtpfoten.
Doch diesmal täuschten sie sich. Die schwache Sonne glitt über den Himmel, und die Schatten der Bäume wurden unheimlich lang. Schließlich kam Pjotr Wladimirowitsch zurück, eine Fasanenhenne mit gebrochenem Genick unterm Arm. Wasja war immer noch nicht da.
Es war still im frühwinterlichen Wald, zwischen den Bäumen lag der Schnee dichter. Wasilisa Petrowna schämte sich halb, halb genoss sie ihre Freiheit. Sie setzte sich auf einen kalten Ast, aß ihre letzte Hälfte Honigkuchen und lauschte den sanften Geräuschen des schlummernden Waldes. »Ich weiß ja, dass du schläfst, wenn der Schnee kommt«, sagte sie laut. »Aber könntest du nicht aufwachen? Sieh her, ich hab Kuchen dabei.«
Sie streckte das Beweisstück vor, inzwischen kaum mehr als ein paar Krümel, und wartete auf eine Antwort. Aber es kam keine außer einem leise durch die Bäume raschelnden Wind.
Wasja zuckte die Achseln, verspeiste die letzten Krümel und machte sich auf die Suche nach Pinienkernen. Doch die Eichhörnchen hatten alle gefressen, und es war kalt, selbst für ein Mädchen, das hier geboren war. Schließlich klopfte Wasja Eis und Rinde von ihrem Mantel und machte sich auf den Heimweg. Ihr schlechtes Gewissen begann sich endlich zu melden. Die Schatten zwischen den Bäumen waren dunkel, der kurze Tag wurde schnell zur Nacht, und Wasja beschleunigte ihren Schritt. Sie bekam bestimmt mächtig Ärger, aber Dunja würde mit dem Abendessen warten.
Sie lief und lief, bis sie stirnrunzelnd stehen blieb. An der grauen Erle links, dann um die abgebrochene alte Ulme herum, dahinter lagen schon die Felder ihres Vaters. Sie war den Weg tausendmal gegangen. Doch diesmal sah sie keine Erle und keine Ulme, nur eine Ansammlung schwarzer Fichten und eine kleine verschneite Wiese. Wasja machte kehrt und versuchte es in einer anderen Richtung. Nein, hier standen nur Birken, weiß wie Jungfrauen und nackt vom Winter. Plötzlich wurde Wasja mulmig. Sie konnte sich nicht verirrt haben; sie verirrte sich nie. Genauso gut könnte sie sich in ihrem eigenen Haus verlaufen. Ein Wind kam auf und brachte die Bäume um sie herum zum Zittern. Bäume, die sie nicht kannte.
Verirrt, dachte Wasja. Sie hatte sich in der Dämmerung verirrt, es war Winteranfang und würde bald zu schneien beginnen. Sie machte noch einmal kehrt, versuchte noch eine Richtung, aber sie fand nicht einen Baum in dem wogenden Wald, den sie schon einmal gesehen hatte. Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. Verirrt, ich habe mich verirrt. Sie wollte zu Olja oder Dunja, wollte zu Vater und Sascha. Sie wollte ihre Suppe, eine Decke und sogar ihr Nähzeug.
Vor ihr ragte eine Eiche auf. Wasja blieb stehen. Dieser Baum war nicht wie die anderen. Er war größer und dunkler und knorrig wie ein böses altes Weib. Der Wind schüttelte seine mächtigen schwarzen Äste.
Wasja begann zu zittern und ging vorsichtig darauf zu. Sie legte eine Hand auf die Rinde. Er fühlte sich an wie jeder andere Baum, rau und kalt, selbst durch ihre Fellhandschuhe. Sie ging um den Stamm herum und musterte die Äste. Dann schaute sie nach unten und wäre beinahe gestolpert.
Ein Mann lag zusammengerollt am Fuß der Eiche, er schlief tief und fest. Sein Gesicht konnte Wasja nicht sehen, es war zwischen seinen Armen verborgen. Durch die Risse seiner Kleidung sah sie kalte weiße Haut. Er rührte sich nicht, als sie sich ihm näherte. Er konnte nicht einfach hier liegen bleiben, nicht wenn von Süden Schnee kam. Der Mann würde sterben. Vielleicht wusste er ja, in welche Richtung das Haus ihres Vaters lag. Sie machte Anstalten, ihn wachzurütteln, besann sich aber eines Besseren und sagte stattdessen: »Großväterchen, wach auf! Es wird Schnee geben, noch bevor es dunkel ist. Wach auf!«
Der Mann bewegte sich nicht. Gerade als Wasja all ihren Mut zusammennahm, um ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, hörte sie ein Schnüffeln und Grunzen. Der Mann hob den Kopf und blinzelte sie mit einem Auge an.
Wasja zuckte zurück. Die eine Hälfte seines Gesichts war von einer rauen Schönheit, doch in der anderen fehlte das Auge. Die leere Höhle war zugenäht, und die Haut darum herum von bläulichen, knotigen Narben übersät.
Das gesunde Auge blinzelte Wasja mürrisch an, dann setzte der Mann sich auf, um sie genauer zu betrachten. Er war dünn, zerlumpt und dreckig. Durch die Risse in seinem Hemd konnte Wasja seine Rippen sehen. Doch als er sprach, klang seine Stimme voll und tief.
»Nun«, sagte er. »Es ist lange her, seit ich das letzte Mal ein russisches Mädchen gesehen habe.«
Wasja verstand nicht, wovon er redete. »Weißt du, wo wir sind?«, fragte sie. »Ich habe mich verlaufen. Mein Vater ist Pjotr Wladimirowitsch. Wenn du mich nach Hause bringst, gibt er dir zu essen und einen Platz neben dem Ofen. Es wird bald schneien.«
Plötzlich lächelte der Einäugige. Er hatte zwei Hundezähne, sie waren länger als die anderen und ragten bis über seine Unterlippen. Dann stand er auf. Erst jetzt sah Wasja, wie groß er war, mit langen, grobschlächtigen Knochen. »Ob ich weiß, wo wir sind?«, wiederholte er. »Natürlich, Dewotschka, kleines Mädchen. Ich bringe dich nach Hause. Aber zuerst musst du herkommen und mir helfen.«
Wasja war ihr Leben lang gut behandelt worden und hatte keinen Grund, Erwachsenen gegenüber misstrauisch zu sein. Trotzdem rührte sie sich nicht von der Stelle.
Das graue Auge verengte sich. »Was bist du für ein Mädchen, das ganz allein hierherkommt?« Dann, leiser: »Aber diese Augen. Sie erinnern mich beinahe … Komm her.« Seine Stimme war jetzt ganz sanft. »Dein Vater wird sich schon Sorgen machen.« Das graue Auge ließ sie nicht mehr los.
Wasja machte langsam einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen.
Der Mann streckte die Hand aus.
Plötzlich hörte sie das Knirschen von Hufen im Schnee, das Schnauben eines Pferdes, und der Einäugige zuckte zusammen. Wasja taumelte rückwärts, weg von der Hand, und der Mann warf sich unterwürfig zu Boden. Ein Reiter auf einer prächtigen Schimmelstute kam auf die Lichtung. Als er abstieg, sah Wasja seinen schlanken Körperbau, den straffen Hals und die hohen Wangenknochen. Er trug einen dicken Fellmantel, seine Augen schimmerten blau.
»Was geht hier vor?«, fragte er.
Der Lumpenmann zog den Kopf ein. »Geht dich nichts an. Sie ist zu mir gekommen – sie gehört mir.«
Der Neuankömmling musterte ihn mit kalten, klaren Augen. »Was du nicht sagst, Medwed«, hallte seine Stimme über die Lichtung. »Es ist Winter, schlaf.«
Noch während der Angesprochene protestierte, wurde der Blick seines grauen Auges glasig, dann rührte er sich nicht mehr.
Der Reiter wandte sich an Wasja. Sie machte noch einen Schritt zurück, bereit, jeden Moment die Flucht zu ergreifen. »Wie bist du hierhergekommen, Dewotschka?«, fragte er ernst.
Tränen der Verwirrung strömten über Wasjas Wangen. Der Einäugige hatte ihr Angst gemacht mit seinem gierigen Blick, genauso wie ihr dieser Reiter jetzt Angst machte mit seiner düsteren Dringlichkeit. Doch etwas an seinem Blick brachte ihre Tränen zum Versiegen. Sie hob den Kopf und schaute ihm ins Gesicht. »Ich bin Wasilisa Petrowna. Mein Vater ist der Bojar von Lesnaja Semlja.«
Sie blickten einander eine Weile an, dann verließ Wasja der Mut. Sie wirbelte herum und rannte, so schnell sie konnte. Der Fremde machte keine Anstalten, ihr zu folgen, aber er stieg auch nicht auf, als seine Stute neben ihn trat. Die beiden tauschten einen Blick aus.
»Er wird stärker«, sagte der Mann.
Die Stute wackelte mit einem Ohr.
Ihr Reiter sagte nichts mehr, schaute aber noch einmal in die Richtung, in der das Mädchen verschwunden war.
Wasja konnte nicht fassen, wie schnell es dunkel geworden war. Gerade eben noch hatte es gedämmert, nun war es stockfinstere Nacht, die Luft ringsum roch bereits nach Schnee. Der Wald war erfüllt von Fackelschein und lauten Männerstimmen, doch das kümmerte Wasja nicht. Plötzlich erkannte sie die Bäume ringsum wieder, sie wollte nur noch in Olgas und Dunjas Arme.
Ein Pferd kam aus der Dunkelheit galoppiert. Der Reiter hatte keine Fackel bei sich. Seine Stute sah das Kind einen Moment vor ihm, sie kam schlitternd zum Stehen und bäumte sich auf. Wasja unterdrückte einen Schrei und stürzte, schürfte sich die Hand auf, der Reiter fluchte. Wasja kannte seine Stimme, und einen Wimpernschlag später fand sie sich in den Armen ihres Bruders wieder. »Saschka«, schluchzte sie und vergrub das Gesicht an seinem Hals. »Ich habe mich verlaufen. Da war ein Mann im Wald. Zwei Männer. Und ein weißes Pferd und ein schwarzer Baum, ich hatte solche Angst.«
»Was für Männer?«, fuhr Sascha auf. »Wo, Kind? Bist du verletzt?« Er schob Wasja ein Stück von sich weg und tastete sie ab.
»Nein«, sagte Wasja zitternd. »Nein, aber mir ist kalt.«
Als Sascha nichts erwiderte, wusste Wasja, dass er wütend auf sie war. Trotzdem legte er ihr seinen Mantel um und setzte sie ganz sanft auf sein Pferd. Dann schwang er sich hinter ihr in den Sattel. Sie war endlich in Sicherheit. Wasja schmiegte die Wange an das weiche Leder seines Wamses und hörte allmählich auf zu weinen.
Normalerweise machten Sascha Wasjas Eskapaden nichts aus, wenn sie versuchte, an sein Schwert zu kommen, oder an der Sehne seines Bogens zupfte. Er verzieh ihr jedes Mal, schenkte ihr sogar ab und zu einen Kerzenstumpf oder eine Handvoll Haselnüsse. Doch diesmal hatte seine Angst ihn wütend gemacht. Er sprach kein Wort mit ihr, sondern schrie, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, bis die Kunde von Wasjas Rettung alle Männer erreicht hatte. Wenn sie Wasja nicht, bevor es zu schneien begann, entdeckt hätten, wäre sie im Wald erfroren. Dann hätte man sie, wenn überhaupt, erst im Frühling gefunden, nachdem die Sonne das blasse Leichentuch von ihrem Leichnam geschmolzen hatte.
»Dura«, knurrte Sascha, als er genug geschrien hatte. »Was ist bloß in dich gefahren, du kleine Närrin? Vor Olga wegzulaufen und dich im Wald zu verstecken! Hältst du dich für einen Waldgeist, oder hast du vergessen, welche Jahreszeit wir haben?«
Wasja schüttelte den Kopf. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. »Ich wollte nur in Ruhe meinen Kuchen essen, aber dann habe ich mich verlaufen. Ich konnte die abgebrochene Ulme nicht finden. Dann habe ich bei einer Eiche einen Mann gesehen. Und ein Pferd. Und es war dunkel.«
Saschas Stirn legte sich in tiefe Falten. »Was war das für eine Eiche?«
»Eine sehr alte. Mit dicken Wurzeln und nur einem Auge. Der Mann, meine ich, nicht die Eiche.« Sie zitterte immer heftiger.
»Nun, denk jetzt nicht mehr daran«, erwiderte Sascha und trieb sein erschöpftes Pferd an.
Olga und Dunja warteten bereits auf der Türschwelle. Das Gesicht der herzensguten alten Frau war voller Tränen, und Olga war so blass wie eine Frostjungfer aus einem Märchen. Aus dem Ofen hinter ihnen stieg heißer Dampf. Sie hatten alle Kohlen herausgeschaufelt und Wasser hineingegossen. Nun rissen sie Wasja die Kleider vom Leib und setzten sie vor die dampfende Öffnung.
Die Standpauke bekam sie danach.
»Kuchen stehlen«, begann Dunja, »und vor deiner Schwester weglaufen. Wie konntest du uns einen solchen Schrecken einjagen, Wasotschka?« Sie weinte, noch während sie schimpfte.
Wasjas Lider wurden schwer, und sie hatte ein entsetzlich schlechtes Gewissen. »Entschuldige, Dunja. Es tut mir so so leid«, murmelte sie.
Sie wurde mit Senfkörnern eingerieben und mit Birkenzweigen geschlagen, um ihren Blutkreislauf in Schwung zu bringen. Danach verband Dunja ihre aufgeschürfte Hand, wickelte sie in eine dicke Decke und flößte ihr Suppe ein.
»Das war sehr unartig von dir«, sagte Olga und wiegte ihre kleine Schwester auf dem Schoß. Wasja schlief bereits tief und fest. »Genug für heute, Dunja«, fügte sie hinzu. »Wir können auch morgen mit ihr sprechen.«
Sie bettete Wasja auf den Ofen, Dunja legte sich neben sie, dann ließ Olga sich kraftlos neben den Ofen sinken.
Ihr Vater und ihre Brüder saßen bei Tisch und löffelten ihren Eintopf, alle mit den gleichen mürrischen Gesichtern. »Ihr fehlt nichts«, sagte Olga. »Ich glaube nicht, dass sie krank wird.«
»Aber die Männer, die nach ihr gesucht haben«, bellte Pjotr.
»Oder ich«, warf Kolja ein. »Wenn ein Mann den ganzen Tag lang das Dach seines Vaters repariert hat, braucht er ein Abendessen, nicht einen Fackelritt durch die Nacht. Morgen versohle ich ihr den Hintern.«
»Und dann?«, sagte Sascha unbeeindruckt. »Sie ist schon öfter versohlt worden. Es ist nicht die Aufgabe eines Mannes, ein kleines Mädchen zurechtzuweisen. Dazu braucht es eine Frau. Dunja ist alt, und Olja wird bald heiraten. Dann muss die alte Frau das Gör allein erziehen.«
Pjotr sagte nichts. Sechs Jahre waren vergangen, seit er seine Frau beerdigt hatte. Er hatte nie daran gedacht, noch einmal zu heiraten, obwohl es viele gab, die sein Werben erhört hätten. Doch jetzt hatte seine Tochter ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt.
Als Kolja zu Bett gegangen war, saß er allein mit Sascha im Halbdunkel. Die Kerze vor dem Marienbild brannte allmählich herunter, da sagte Pjotr: »Soll das Andenken deiner Mutter etwa in Vergessenheit geraten?«
»Wasja hat sie nicht einmal kennengelernt«, entgegnete Sascha. »Eine Frau mit Verstand – nicht eine Schwester oder ein gutherziges altes Kindermädchen – würde ihr guttun. Sie wird zu widerspenstig, Vater.«
Eine lange Pause.
»Es ist nicht ihre Schuld, dass Mutter gestorben ist«, fügte Sascha leise hinzu.
Pjotr blieb stumm.
Sascha stand auf, verneigte sich vor seinem Vater und blies die Kerze aus.
4
Der Großfürst von Moskau
Am nächsten Tag verabreichte Pjotr seiner Tochter eine Tracht Prügel – nicht zu fest, trotzdem weinte sie. Er verbot ihr, das Dorf zu verlassen, was dieses eine Mal keine Strafe war, denn Wasja hatte sich doch erkältet. Nachts plagten sie Albträume von dem einäugigen Mann, von einem Pferd und einem Fremden auf einer Lichtung.
Sascha erzählte niemandem davon, aber er durchkämmte den in westlicher Richtung gelegenen Wald und suchte nach einem Einäugigen und einer Eiche mit eigenartigen Beulen an den Wurzeln. Er fand keines von beidem. Dann fiel der Schnee, drei Tage lang, so heftig und dicht, dass niemand mehr das Haus verließ.
Das Leben verlagerte sich nach drinnen wie immer im Winter. Essen, Schlafen und kleinere, in halb wachem Zustand verrichtete Arbeiten wechselten einander ab. Während sich draußen der Schnee türmte, saß Pjotr eines bitterkalten Abends auf seinem Stuhl und polierte ein Stück Eschenholz, das er als Axtstiel verwenden wollte. Seine Miene war hart wie Stein, denn er dachte an Dinge, die er bisher lieber vergessen hatte. Kümmere dich um sie, hatte Marina vor so vielen Jahren gesagt, als der Schatten des Todes sich über ihr schönes Gesicht ausbreitete. Ich habe mich für sie entschieden, sie ist wichtig. Petja, versprich es mir.
Der trauernde Pjotr versprach es, Marina ließ seine Hand los und sank in ihre Kissen zurück. Ihre Augen blickten durch ihn hindurch, dann lächelte sie, sanft und voll Freude, doch Pjotr hatte das Gefühl, dass sie nicht ihn damit meinte. Danach sagte sie nichts mehr, Marina starb in der grauen Stunde vor Sonnenaufgang. Und dann … Sie haben ein Loch für sie ausgehoben, und ich habe die Frauen angeschrien, als sie mich aus dem Sterbezimmer scheuchen wollten. Marinas Leichnam stank immer noch nach Blut. Ich habe ihn mit meinen eigenen Händen in das Tuch gewickelt und sie zu Grabe getragen.
Den ganzen Winter hindurch hatte seine neugeborene Tochter geschrien. Und Pjotr hatte ihr nicht ins Gesicht sehen können, weil Marina sich für sie entschieden hatte anstatt für ihn.
Nun, er hatte etwas gutzumachen.
Pjotr betrachtete den Axtstiel. »Sobald die Flüsse zugefroren sind, reite ich nach Moskau«, sagte er in die Stille.
Alle in der Küche riefen durcheinander. Die dösende Wasja, benebelt vom Fieber und dem heißen Honigwein, stieß ein Fiepen aus und hob den Kopf über den Rand des Ofens.
»Nach Moskau?«, fragte Kolja. »Noch einmal?«
Pjotr presste die Lippen aufeinander. In jenem ersten, bitteren Winter nach Marinas Tod war er ebenfalls dort gewesen. Iwan Iwanowitsch, Marinas Halbbruder, war Großfürst. Um seiner Familie willen hatte Pjotr die verwandtschaftlichen Bande bestmöglich ausgenutzt, sich aber keine neue Frau genommen. Weder damals noch später.
»Du willst heiraten«, sagte Sascha.
Pjotr spürte die Blicke seiner Familie auf sich und nickte knapp. Es gab genug Frauen in den Provinzen, aber eine Hochzeit mit einer Adligen aus Moskau würde Verbindungen und Geld mit sich bringen. Iwans Nachsicht mit dem Witwer seiner verstorbenen Schwester würde nicht ewig anhalten. Er brauchte eine neue Frau, schon allein um seiner kleinen Tochter willen. Aber … Marina, was bin ich für ein Narr. Zu denken, ich könnte es nicht ertragen.
»Sascha und Kolja, ihr werdet mich begleiten«, sagte er laut.
An die Stelle der Entrüstung auf den Gesichtern der beiden trat Freude. »Nach Moskau, Vater?«, fragte Kolja.
»Selbst wenn alles gut geht, dauert die Reise zwei Wochen«, erwiderte Pjotr. »Ich brauche euch unterwegs. Und ihr wart noch nie am Hof. Der Großfürst sollte euch endlich kennenlernen.«
In der Küche brach Chaos aus. Sascha und Kolja riefen begeistert durcheinander, Wasja und Aljoscha bettelten, ebenfalls mitkommen zu dürfen, Olga wünschte sich Schmuck und erlesene Stoffe, ihre beiden Brüder zogen sie schadenfroh auf, und mit Streit, Flehen und Spekulationen verging der Abend.
Nach der Wintersonnenwende fiel noch dreimal Schnee, tief und fest, dann setzte ein strenger Frost ein, der den Atem noch in der Nase gefrieren ließ und nachts alle Schwachen und Gebrechlichen hinwegraffte. Das bedeutete, dass die Schlittenwege endlich frei waren. Die schneebedeckten Flüsse waren glatt wie Glas, die im Sommer nur aus Schlamm und Schlaglöchern bestehenden Straßen fest. Pjotrs Söhne fühlten die Kälte und wurden unruhig. Tag für Tag beobachteten sie den Himmel, fetteten ihre Stiefel und polierten die glänzenden Spitzen ihrer Speere.
Dann war es so weit. Pjotr und seine Söhne standen im Dunkeln auf und traten noch vor den ersten Sonnenstrahlen auf den Dwor. Die Knechte standen bereits versammelt, die Gesichter rot von der eisigen Dämmerung. Die Zugtiere stampften mit den Hufen und bliesen weiße Atemwolken in die Luft. Ein Knecht hielt Buran, Pjotrs schlecht gelaunten mongolischen Hengst, am Halfter. Seine Knöchel waren weiß.
Pjotr versetzte Buran einen Klaps auf die Flanke, wich den schnappenden Zähnen aus und schwang sich in den Sattel. Der Knecht atmete auf und zog sich erleichtert zurück. Mit einem halben Auge behielt Pjotr seinen unberechenbaren Hengst im Blick, mit dem Rest musterte er das Chaos um ihn herum: Vor dem Stall wimmelte es nur so von Menschen, Tieren und Schlitten. Pelze stapelten sich neben Kisten voller Bienenwachs und Kerzen. Krüge mit Met und Honig stritten sich mit Proviantkörben um einen Platz. Kolja leitete die Knechte an, die gerade einen weiteren Schlitten beluden, seine Nase rot von der morgendlichen Kälte. Er hatte die dunklen Augen seiner Mutter, und die Dienerinnen kicherten, als er an ihnen vorbeiging.
Ein Korb fiel herunter und landete mit einem dumpfen Knall direkt vor einem der Schlittenpferde. Schnee stob auf, das Pferd scheute und machte einen Satz nach vorn. Kolja konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, und Pjotr stürzte los, doch Sascha kam ihm zuvor. Flink wie eine Katze war er aus dem Sattel gesprungen und packte das scheuende Tier am Zaumzeug. Als er ihm ins Ohr flüsterte, beruhigte es sich sofort, wirkte sogar beinahe verlegen. Sascha rief etwas, die Knechte eilten herbei, übernahmen das Pferd und räumten den Korb aus dem Weg. Dann fügte er grinsend noch etwas hinzu, alle lachten, und schließlich schwang er sich wieder auf seine Stute. Sascha saß besser im Sattel als sein Bruder, er hatte ein Händchen für Pferde und trug sein Schwert mit Anmut. Ein geborener Kriegerund Anführer, dachte Pjotr. Ich habe Glück mit meinen Söhnen, Marina.
Olga kam aus der Küche gelaufen, Wasja schleppte sich hinter ihr her. Die kräftigen Farben ihrer Sarafane hoben sich vom Weiß des Schnees ab. Olga hielt ihre Schürze leicht angehoben, in der Kuhle lagen dunkle Brotlaibe, noch dampfend vom Ofen. Kolja und Sascha eilten ihr bereits entgegen, und Wasja nutzte die Gelegenheit.
»Warum darf ich nicht mitkommen, Saschka?«, fragte sie. »Ich koche euch Abendessen. Dunja hat es mir gezeigt. Ich könnte auf deinem Pferd mitreiten, ich bin klein genug.« Sie hielt sich mit beiden Händen an seinem Mantel fest.
»Dieses Jahr noch nicht, mein Frosch«, erwiderte Sascha. »Du bist klein, zu klein.« Als er ihren traurigen Blick sah, kniete er sich neben Wasja und gab ihr den Rest seines frischen Brotes. »Iss und wachse, kleine Schwester, damit du bald reisen kannst. Gott beschütze dich.« Er legte ihr eine Hand auf den Kopf, dann sprang er wieder auf Myschs Rücken.
»Saschka!«, rief Wasja ihm hinterher, doch er war schon mehrere Meter weit weg und rief den Männern, die den letzten Schlitten beluden, Befehle zu.
Olga nahm ihre Hand. »Komm schon, Wasotschka«, sagte sie, als die Kleine sich nur schlurfend in Bewegung setzte, dann liefen sie zu Pjotr. Der letzte Laib wurde bereits kühl.
»Gute Reise, Vater«, sagte Olga.
Wie anders als ihre Mutter sie ist, überlegte Pjotr.