Die Hexe und der Winterzauber - Katherine Arden - E-Book

Die Hexe und der Winterzauber E-Book

Katherine Arden

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Beschreibung

Moskau ist zerstört, seine Bewohner sind Hunger und Kälte preisgegeben. Eine Schuldige ist schnell gefunden: Wasilisa Petrowna, das Mädchen mit den wilden schwarzen Haaren und den smaragdgrünen Augen. Während Wasja sich der Angriffe der Moskowiter erwehren muss, lässt sich der Großfürst in seinem Rachedurst auf die falschen Verbündeten ein und droht, sein Reich geradewegs in den Untergang zu führen. Doch damit nicht genug: Eine uralte Kreatur kehrt nach Moskau zurück und bringt die Welt der magischen Wesen in Gefahr. Um sie und ihre Heimat zu retten, braucht Wasja erneut die Hilfe des Winterdämons Morosko. Aber diesmal kommen die beiden zu spät ...

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Das Buch

Moskau steht in Flammen. Die Tataren warten vor den Mauern der Stadt. Und ihre Bewohner sind dem sicheren Hungertod preisgegeben. Eine Schuldige ist schnell gefunden: Wasilisa Petrowna, das Mädchen mit den wilden schwarzen Hexenhaaren und den smaragdgrünen Augen. Aufgestachelt von dem fanatischen Priester Konstantin macht der wütende Mob Jagd auf Wasja. Während das Mädchen nur mit knapper Not entkommt und auf seiner Flucht ein Rus voller magischer Geheimnisse und uralter Wesen entdeckt, lässt sich Großfürst Dmitri in seinem Rachedurst auf die falschen Verbündeten ein und droht, sein Reich in den Untergang zu führen. Als dann auch noch eine uralte Kreatur aus ihrem Gefängnis befreit wird, gerät die Welt der magischen Wesen ebenfalls in Gefahr. Um beide Reiche zu retten, braucht Wasja die Hilfe des Winterdämons Morosko. Aber möglicherweise kommen die beiden dieses Mal zu spät …

Die Autorin

Katherine Arden, geboren in Austin, Texas, studierte Französische und Russische Literatur am Middlebury College in Vermont und verbrachte ein Auslandssemester in Moskau. Nach ihrem Abschluss lebte sie auf der hawaiianischen Insel Maui und in Briançon in Frankreich. Während dieser Zeit arbeitete sie auf einer Farm und als Englischlehrerin und unternahm ihre ersten Schreibversuche. Mit ihrem Debütroman Der Bär und die Nachtigall gelang ihr auf Anhieb ein Riesenerfolg. Die Autorin lebt und arbeitet in Vermont.

KATHERINE ARDEN

DIE HEXE

UND DER

WINTERZAUBER

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Michael Pfingstl

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe: THEWINTEROFTHEWITCH

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 11/2021

Redaktion: Martina Vogl

Copyright © 2019 by Katherine Arden

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27848-9V001

www.heyne.de

Für meine Brüder

Die leiblichen und die adoptierten

Sterling, RJ, Garrett

Ich liebe euch

Schön ist das Meer im Sturmesschatten

Der Himmel wunderlich ohne sein Blau

Doch glaub mir, das Mädchen auf dem Fels

Übertrifft die Wellen, den Himmel und den Sturm

A. S. PUSCHKIN

ERSTER TEIL

1

Maria Morewna

Abenddämmerung am Ende des Winters, zwei Männer überquerten den Innenhof eines von Feuer gezeichneten Palastes. Der Hof war eine schneelose Ödnis aus Wasser und aufgewühlter Erde; die beiden Männer versanken bis zu den Knöcheln im Schlamm. Doch sie sprachen konzentriert miteinander, die Köpfe zusammengesteckt, kümmerten sich nicht um die Nässe. Hinter ihnen erhob sich ein Palast voller zerbrochener Möbel, von Rauch geschwärzt, die Baldachine lagen zerfetzt auf den Treppen. Vor ihnen stand eine ausgebrannte Ruine, die einmal ein Stall gewesen war.

»Tschelubej ist in dem Chaos verschwunden«, sagte der erste Mann verbittert. »Wir hatten alle Hände voll damit zu tun, unsere Haut zu retten.« Seine Wangen waren mit Ruß beschmiert, sein Bart von Blut verkrustet. Tiefe Höhlen, blau wie Tintenkleckse, gähnten unter seinen grauen Augen. Er hatte einen mächtigen Brustkorb, war jung und von der feurigen Energie eines Mannes erfüllt, der sich über jede Erschöpfung hinaus bis in einen Zustand unwirklicher, nie mehr enden wollender Wachheit getrieben hatte. Alle Blicke folgten ihm. Er war der Großfürst von Moskau.

»Unsere Haut und noch ein bisschen mehr«, erwiderte der andere – ein Mönch – mit einem Hauch grimmigen Humors. Denn so unglaublich es auch schien, die Stadt war größtenteils intakt und gehörte immer noch ihnen. In der Nacht zuvor war der Großfürst nahe daran gewesen, gestürzt und ermordet zu werden, doch das wussten nur wenige. Seine Stadt wäre um ein Haar abgebrannt, doch ein Schneesturm, der wie aus dem Nichts gekommen war, hatte sie gerettet. Das wussten alle. Im Herzen der Stadt klaffte eine schwarze Kerbe, als wäre Gottes Hand in der Nacht vom Himmel herabgekommen, um Feuer auf die Stadt regnen zu lassen.

»Aber nicht genug«, erwiderte der Großfürst. »Unser Leben konnten wir retten, doch den Verrat konnten wir nicht vergelten.« Den ganzen bitteren Tag lang hatte er aufmunternde Worte für alle gehabt, denen er begegnet war – ruhige Anweisungen für die Männer, die sich um die überlebenden Pferde kümmerten und verkohlte Balken fortschleppten. Doch der Mönch kannte ihn gut, er sah die Erschöpfung und die Wut, die unter der Oberfläche gärten. »Ich werde selbst losreiten, morgen, mit so vielen Männern, wie wir erübrigen können«, sagte der Fürst. »Wir werden diese Tataren finden und töten.«

»Moskau verlassen, jetzt, Dmitri Iwanowitsch?«, fragte der Mönch mit einem Hauch von Beunruhigung in der Stimme.

Eine Nacht und ein ganzer Tag ohne Schlaf waren Dmitris Gemüt nicht gut bekommen. »Willst du mir etwas anderes vorschreiben, Bruder Alexander?«, sagte er in einem Tonfall, der seine Diener zusammenzucken ließ.

»Die Stadt braucht dich«, erwiderte der Mönch. »Es sind Tote zu betrauern, Kornspeicher und Lagerhäuser wurden zerstört, Tiere getötet. Rache können die Kinder nicht essen, Dmitri Iwanowitsch.« Der Mönch hatte nicht mehr Schlaf bekommen als der Großfürst, auch er konnte die Schärfe in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. Sein linker Arm war mit einem Leinentuch umwickelt – ein Pfeil hatte sich unterhalb der Schulter in den Muskel gebohrt und war auf der anderen Seite wieder herausgezogen worden.

»Die Tataren haben mich in meinem Palast überfallen, nachdem ich sie in gutem Glauben willkommen geheißen hatte«, blaffte Dmitri und ließ seinem Zorn freien Lauf. »Sie haben mit einem Thronräuber gemeinsame Sache gemacht und meine Stadt angezündet. Soll all das ungesühnt bleiben, Bruder?«

In Wahrheit waren es nicht die Tataren gewesen, die die Stadt angezündet hatten. Doch das sagte Bruder Alexander nicht. Besser, wenn dieser … Fehler in Vergessenheit geriet. Er war nicht wiedergutzumachen.

Kalt fügte der Großfürst hinzu: »Hatte nicht deine eigene Schwester eine Totgeburt in all dem Chaos? Ein adliges Kind, tot, ein Teil der Stadt in Schutt und Asche – das Volk wird aufschreien, wenn es keine Gerechtigkeit gibt.«

»Kein Blutvergießen kann das Kind meiner Schwester wieder lebendig machen«, erwiderte Sascha schärfer, als er beabsichtigt hatte. Vor seinem inneren Auge sah er klar und deutlich die tränenlose Trauer seiner Schwester, die schlimmer gewesen war als jedes Weinen.

Dmitris Hand wanderte zu seinem Schwertgriff. »Willst du mich belehren, Priester?«

Sascha hörte die Kluft zwischen ihnen, verschorft, aber noch nicht verheilt. »Nein«, sagte er.

Dmitri ließ mit einiger Anstrengung das wie eine Schlange geformte Heft los.

»Wie willst du Tschelubejs Tataren aufspüren?«, fragte Sascha um Vernunft bemüht. »Wir haben sie schon einmal verfolgt, vierzehn Tage lang, ohne die geringste Spur zu entdecken. Auch wenn das im tiefsten Winter war, wo der Schnee jede Fährte verwischt.«

»Und doch haben wir sie schließlich gefunden«, entgegnete Dmitri. Er kniff die grauen Augen zusammen. »Hat deine jüngere Schwester die letzte Nacht überlebt?«

»Ja«, antwortete Sascha vorsichtig. »Verbrennungen im Gesicht und eine gebrochene Rippe, sagt Olga. Aber sie lebt.«

Dmitri wirkte aufgewühlt. Hinter ihm ließ einer der Männer, die mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren, sein Ende eines geborstenen Dachbalkens fallen und fluchte.

»Wäre sie nicht gewesen, wäre ich niemals rechtzeitig zu dir gestoßen«, sagte Sascha zu seinem grimmig in die Ferne blickenden Vetter. »Ihr Blut hat deinen Thron gerettet.«

»Das Blut vieler Männer hat meinen Thron gerettet«, bellte Dmitri, ohne Sascha anzusehen. »Sie ist eine Lügnerin, und sie hat dich zum Lügner gemacht, den aufrechtesten aller Männer.«

Sascha erwiderte nichts.

»Frag sie«, sagte Dmitri und wandte sich dem Mönch zu. »Frag sie, wie sie es gemacht hat – wie sie die Tataren gefunden hat. Es kann nicht nur an ihren scharfen Augen liegen. Ich habe Dutzende Männer mit guten Augen. Frag sie, wie sie es gemacht hat, dann lasse ich sie belohnen. Ich glaube nicht, dass irgendein Mann in Moskau sie heiraten würde, aber vielleicht lässt sich ein Bojar vom Land überzeugen, oder ein Kloster mit genügend Gold dazu bestechen, sie aufzunehmen.« Dmitri sprach immer schneller, sein Gesicht war unruhig, die Worte quollen aus ihm heraus. »Oder sie wird nach Hause geschickt, wo sie in Sicherheit ist … oder sie bleibt im Terem bei ihrer Schwester. Ich sorge dafür, dass sie genug Gold für ein gutes Auskommen hat. Frag sie, wie sie es gemacht hat, dann bringe ich alles für sie in Ordnung.«

Sascha starrte ins Leere, sein Geist voller Worte, die er nicht aussprechen konnte. Gestern hat sie dein Leben gerettet, einen bösen Zauberer getötet, Moskau angezündet und die Stadt dann gerettet, all das in einer einzigen Nacht. Glaubst du, sie wird einfach so verschwinden, um den Preis einer Mitgift … um irgendeinen Preis? Ich dachte, du kennst meine Schwester?

Er kannte sie nicht, natürlich nicht. Dmitri kannte nur Wasili Petrowitsch, den Jungen, als der sie sich ausgegeben hatte. Sie sind ein und dieselbe Person. Und das wusste Dmitri, trotz all seines Getues. Seine Unruhe verriet es. Ein Ruf von einem der Stallknechte ersparte Sascha eine Antwort.

Dmitri drehte sich erleichtert um. »Hier«, sagte er und ging zu ihm. Sascha trottete mit grimmiger Miene hintendrein. Eine kleine Menschenmenge war an der Stelle zusammengekommen, an der zwei verkohlte Dachbalken sich kreuzten. »Macht Platz … Bei der Muttergottes, ihr steht da wie Schafe vor dem Futtertrog. Was ist dort?« Die Schärfe in seiner Stimme ließ die Männer zurückweichen. »Nun?«, fragte Dmitri.

Einer der Knechte fand seine Sprache wieder. »Da, Gosudar«, sagte er und deutete auf ein Loch zwischen zwei umgestürzten Holzpfosten. Jemand warf eine Fackel hinein. Ein Schimmern kam von unten, etwas Glänzendes reflektierte den Feuerschein. Der Großfürst und sein Vetter schauten verwirrt, ungläubig.

»Gold?«, fragte Dmitri. »Hier?«

»Bestimmt nicht«, antwortete Sascha. »Es wäre geschmolzen.«

Drei Männer waren bereits damit beschäftigt, die quer über dem Loch liegenden Balken zur Seite zu schieben. Ein vierter holte den Gegenstand daraus hervor und gab ihn dem Großfürsten.

Es war tatsächlich Gold: von hoher Güte und nicht geschmolzen. Es war zu schweren Kettengliedern und steifen Stäben geschmiedet, die in einer seltsamen Anordnung miteinander verbunden waren. Das Metall hatte einen matten Glanz, der die glotzenden Gesichter ringsum in einen weißlich-scharlachroten Schimmer tauchte und Sascha unbehaglich werden ließ.

Dmitri drehte das Ding mehrmals herum, sagte »Ah« und fasste es schließlich am Genickstück, die Zügel über sein Handgelenk gelegt. Es war ein Zaumzeug. »Das hier habe ich schon einmal gesehen«, sagte er mit leuchtenden Augen. Ein Arm voller Gold war einem Fürsten, dessen Reichtum gerade erst von Feuer und Banditen geschröpft worden war, höchst willkommen.

»Kasjan Lutowitsch hatte es seiner Stute angelegt«, sagte Sascha. Es gefiel ihm nicht, an den vergangenen Tag erinnert zu werden; sein Blick verweilte voller Abneigung auf der mit Dornen besetzten Trense. »Ich hätte es gut verstehen können, wenn sie ihn abgeworfen hätte.«

»Nun, dieses Ding ist Kriegsbeute«, erklärte Dmitri. »Wenn nur die Stute auch hier wäre – verflucht seien diese Tataren und Pferdediebe. Eine warme Mahlzeit und Wein für euch Männer. Gut gemacht.« Die Knechte stießen raue Jubelrufe aus. Dmitri reichte das Zaumzeug seinem Vogt. »Mach das sauber«, sagte der Großfürst. »Zeig es meiner Frau. Vielleicht muntert es sie auf. Und dann lass es gut wegsperren.«

»Ist es nicht seltsam«, begann Sascha, nachdem der staunende Vogt mit dem goldenen Ding auf den Armen gegangen war, »dass das Zaumzeug in dem brennenden Stall gelegen und keinerlei Schaden genommen hat?«

»Nein«, antwortete Dmitri mit hartem Blick. »Nicht seltsam, sondern ein Wunder, das direkt auf ein anderes Wunder gefolgt ist: den Schneesturm, der uns gerettet hat. Genau das wirst du jedem erzählen, der dich danach fragt. Gott hat uns dieses Gold geschenkt, weil er um unsere Not weiß.« Der Unterschied zwischen einem unheimlichen, aber Glück verheißenden Vorkommnis und einem Unglück verheißenden bestand lediglich darin, was die Gerüchte darüber besagten. Und das wusste Dmitri. »Gold ist Gold. Und jetzt, Bruder …« Dmitri verstummte.

Sascha hob den Kopf. »Was ist das für ein Lärm?«

Ein wirres Murmeln kam von jenseits der Palastmauern, ein Brüllen und Krachen wie von Brandung an einer Felsküste. Dmitri runzelte die Stirn. »Das klingt wie …«

Ein Ruf der Torwache schnitt ihm das Wort ab.

Ein kleines Stück unterhalb des Kremlhügels brach die Abenddämmerung früher herein, die Schatten fielen kalt und schwer auf einen weiteren Palast, der kleiner und ruhiger war. Bis auf ein paar vom Funkenflug versengte Stellen war er von dem Feuer verschont geblieben.

Ganz Moskau war erfüllt von Gerüchten, Schluchzern, Flüchen, Streitereien und Fragen, und doch herrschte an diesem Ort eine zerbrechliche Ordnung. Die Laternen waren entzündet, Diener sammelten zusammen, was zum Wohl der Armen entbehrt werden konnte. Die Pferde dösten im Stall, aus den Kaminen des Backhauses und der Küche, der Brauerei und des Palastes selbst stieg heimeliger Rauch.

Die Urheberin dieser Ordnung war eine einzelne Frau. Sie saß in ihrem Arbeitszimmer, aufrecht, untadelig, blass. Falten der Anspannung umrahmten ihren Mund, obwohl sie noch nicht einmal dreißig war. Die Ringe unter ihren Augen waren beinahe so dunkel wie Dmitris. In der Vornacht war sie ins Badehaus gegangen und hatte dort ihr drittes Kind geboren, tot. Noch in derselben Stunde war ihr Erstgeborenes entführt worden und wäre beinahe in den Schrecken der Nacht umgekommen.

Trotz alledem weigerte Olga Wladimirowa sich, sich auszuruhen. Es gab zu viel zu tun. Ein beständiger Strom von Besuchern kam zu ihr ins Arbeitszimmer, wo sie vor dem Ofen saß: Vogt und Koch, Tischler, Bäcker und Waschfrau. Jeder wurde mit einem Auftrag und ein paar Dankesworten fortgeschickt.

Dann gab es eine Pause, in der keine Bittsteller kamen, und Olga sank in ihrem Stuhl zusammen, die Arme über den Bauch gelegt, in dem sie ihr ungeborenes Kind getragen hatte. Sie hatte die anderen Frauen schon vor Stunden weggeschickt, sie waren weiter oben im Terem und erholten sich schlafend von den Schrecknissen der Nacht. Doch eine wollte nicht gehen.

»Du solltest dich hinlegen, Olja. Die Bediensteten kommen bis zum Morgen ohne dich zurecht.« Die Sprecherin war eine junge Frau, die steif und wachsam auf einer Bank neben dem Ofen saß. Beide hatten langes schwarzes Haar, ihre Zöpfe waren so dick wie ein Unterarm und ihre Gesichtszüge einander auf eine schwer zu fassende Art ähnlich. Doch die stolze Prinzessin von Serpuchow war zierlich, während die junge Frau lange Finger hatte und groß gewachsen war. Der Blick der großen Augen in ihrem kantigen Antlitz war einnehmend.

»Das solltet Ihr in der Tat«, bestätigte eine weitere Frau, die gerade rückwärtsgehend mit Brot und Krauteintopf hereinkam. Es war Fastenzeit, fettes Fleisch war nicht erlaubt. Die Frau sah genauso erschöpft aus wie die anderen zwei. Ihr Zopf war gelb mit einem Hauch von Silber darin, ihre Augen waren hell und groß und klug. »Der Palast ist für die Nacht sicher. Esst das, beide.« Mit schnellen Bewegungen tat sie den Eintopf auf. »Und dann legt Euch schlafen.«

Olga erwiderte, langsam vor Ermüdung: »Der Palast ist sicher. Aber was ist mit dem Rest der Stadt? Glaubst du, Dmitri Iwanowitsch oder seine Frau, diese arme Närrin, denken daran, Diener mit Brot für die Kinder zu entsenden, die letzte Nacht zu Waisen wurden?«

Die junge Frau auf der Ofenbank erbleichte und grub die Zähne in die Unterlippe. Sie sagte: »Bestimmt schmiedet Dmitri Iwanowitsch gerade schlaue Pläne, wie er sich an den Tataren rächen kann. Die Armen müssen eben warten. Aber das heißt nicht …«

Ein Kreischen von oben und das Geräusch schneller Schritte schnitten ihr das Wort ab. Die drei Frauen starrten die Tür an, alle mit demselben Gesichtsausdruck. Was ist nun schon wieder?

Das Kindermädchen kam zitternd hereingeplatzt. Zwei Dienerinnen folgten ihr schnaufend. »Mascha«, keuchte das Kindermädchen. »Mascha … sie ist fort.«

Olga sprang sofort auf. Mascha – Maria – war ihre einzige Tochter, diejenige, die erst in der Vornacht aus ihrem Bett geraubt worden war. »Ruf die Männer herein«, bellte Olga.

Doch die junge Frau auf der Ofenbank neigte den Kopf, als lauschte sie.

»Nein«, sagte sie, und alle Köpfe wandten sich ihr zu. Die Dienerinnen und das Kindermädchen tauschten finstere Blicke. »Sie ist nach draußen gegangen.«

»Dann …«, begann Olga, doch die andere fiel ihr ins Wort: »Ich weiß, wo sie ist. Lass mich sie holen gehen.«

Olga bedachte die junge Frau mit einem langen Blick, den sie unerschrocken erwiderte. Am Vortag hätte Olga noch gesagt, sie würde ihrer verrückten Schwester niemals eines ihrer Kinder anvertrauen.

»Wo?«, fragte Olga.

»Im Stall.«

»Gut«, sagte Olga. »Aber, Wasja, bring Mascha her, bevor die Straßenlaternen entzündet werden. Und falls sie nicht dort ist, sag es mir sofort.«

Die junge Frau nickte, wehmütig, und stand auf. Erst jetzt konnte man sehen, dass sie eine Körperseite schonte. Sie hatte eine gebrochene Rippe.

Wasilisa Petrowna fand Maria genau da, wo sie sie erwartet hatte: zusammengerollt in dem Abteil eines braunen Hengstes im Stroh schlafend. Die Tür stand offen, obwohl der Hengst nicht angebunden war. Wasja ging hinein, weckte das Kind aber nicht. Stattdessen lehnte sie sich gegen die Schulter des großen Pferdes und presste eine Wange an sein seidiges Fell.

Der Braune drehte den Kopf und drückte mit der Schnauze ungestüm gegen ihre Manteltaschen. Wasja lächelte – es war das erste echte Lächeln an diesem langen Tag –, zog eine Brotkruste aus ihrem Ärmel und gab sie ihm.

»Olga will sich nicht ausruhen«, sagte sie. »Sie beschämt uns alle.«

Du hast dich auch noch nicht ausgeruht, erwiderte das Pferdund blies ihr warme Luft ins Gesicht.

Wasja zuckte zusammen und schob den Hengst weg. Sein warmer Atem schmerzte auf ihren Verbrennungen. »Ich habe keine Ruhe verdient«, entgegnete sie. »Ich habe das Feuer verursacht und muss so viel wiedergutmachen, wie ich kann.«

Nein, widersprach Solowej mit einem Stampfen. Der Feuervogel hat den Brand verursacht, aber du hättest auf mich hören sollen, bevor du ihn freigelassen hast. Er war wie wahnsinnig von seiner Gefangenschaft.

»Wie kam er hierher?«, fragte Wasja. »Wie konnte ausgerechnet Kasjan einem solchen Geschöpf Zügel anlegen?«

Solowej sah besorgt aus. Seine Ohren drehten sich vor und zurück, der Schweif peitschte gegen seine Flanken. Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich, wie jemand geschrien hat, und jemand hat geweint. Ich erinnere mich an Schwingen und Blut in blauem Wasser. Er stampfte noch einmal und schüttelte seine Mähne. Sonst nichts.

Der Hengst wirkte so aufgewühlt, dass Wasja seinen Widerrist kratzte und sagte: »Mach dir nichts draus. Kasjan ist tot, und sein Pferd ist fort.« Sie wechselte das Thema. »Der Domowoi hat gesagt, dass Mascha hier ist.«

Natürlich ist sie hier, erwiderte das Pferd hochmütig. Sie kann zwar noch nicht mit mir sprechen, aber sie weiß, dass ich jeden trete, der ihr etwas antun will.

Von einem siebzehn Handbreit großen Hengst war das alles andere als eine leere Drohung.

»Ich kann es ihr nicht verübeln, dass sie zu dir gekommen ist«, sagte Wasja und kratzte noch einmal Solowejs Widerrist. Der Hengst wackelte entzückt mit den Ohren. »Als ich noch klein war, bin ich schon beim ersten Anzeichen von Ärger in den Stall gelaufen. Aber wir sind hier nicht in Lesnaja Semlja. Olja bekam Angst, als sie erfuhr, dass Mascha nicht da ist. Ich muss sie zurück ins Haus bringen.«

Das kleine Mädchen im Stroh rührte sich wimmernd. Wasja ging vorsichtig in die Knie, versuchte, die wunde Haut an ihrer Flanke nicht zu reizen, da wachte Maria zuckend auf. Der Kopf der Kleinen stieß gegen Wasjas Rippen, ihr wurde kurz schwarz vor Augen, und sie konnte einen Schrei gerade noch unterdrücken.

»Ganz ruhig, Mascha«, sagte Wasja, als sie wieder sprechen konnte. »Ganz ruhig. Ich bin’s. Es ist alles gut, alles gut. Du bist in Sicherheit.«

Das Kind beruhigte sich und lag steif in Wasjas Armen. Der große Hengst beugte den Kopf herab und beschnupperte Marias Haare. Als sie aufblickte, kniff Solowej sie mit den Lippen ganz sanft in die Nase, und Maria stieß ein winzig kleines Quieken aus. Dann vergrub sie das Gesicht an Wasjas Schulter und weinte. »Wasotschka, Wasotschka, ich kann mich an überhaupt nichts erinnern«, flüsterte sie zwischen ihren Schluchzern. »Ich weiß nur noch, dass ich Angst hatte …«

Wasja erinnerte sich, dass auch sie Angst gehabt hatte. Die Worte der Kleinen ließen Bilder der vergangenen Nacht an ihr vorbeiziehen wie Wurfpfeile. Ein sich aufbäumendes Pferd aus Feuer. Der Zauberer, wie er verwelkt und zu Boden sinkt. Die verhexte Maria, mit ausdruckslosem Gesicht und gehorsam.

Und die Stimme des Winterkönigs. Ich habe dich geliebt, so gut ich es vermochte.

Wasja schüttelte den Kopf, als könnte sie die Erinnerungen damit verscheuchen. »Du musst dich auch gar nicht erinnern, noch nicht«, sagte sie sanft zu dem Mädchen. »Du bist jetzt in Sicherheit, es ist vorbei.«

»Es fühlt sich aber nicht so an«, flüsterte das Kind. »Ich kann mich an nichts erinnern. Woher soll ich wissen, ob es vorbei ist oder nicht?«

Wasja erwiderte: »Vertrau mir, und wenn du das nicht kannst, dann vertrau deiner Mutter oder deinem Onkel. Es wird dir kein Leid mehr geschehen. Und jetzt komm, wir müssen zurück ins Haus. Deine Mutter macht sich Sorgen.«

Maria machte sich sofort von Wasja los, die kaum Kraft hatte, sie festzuhalten, und schlang alle vier Gliedmaßen um Solowejs Vorderlauf. »Nein!«, schrie sie, das Gesicht gegen die Flanke des Hengstes gepresst. »Du kannst mich nicht dazu zwingen!«

Ein gewöhnliches Pferd wäre gestiegen ob solcher Mätzchen, es hätte gescheut oder Maria im Allermindesten das Knie gegen das Gesicht geschlagen. Solowej stand lediglich mit fragendem Blick da. Ganz vorsichtig streckte er den Kopf zu Maria hinunter. Du kannst hierbleiben, wenn du willst, sagte er, auch wenn die Kleine ihn nicht verstehen konnte. Sie weinte wieder, das dünne, erschöpfte Klagen eines Kindes am Ende seiner Kräfte.

Wasja, krank vor Mitleid und Zorn um des Mädchens willen, verstand sehr gut, warum Maria nicht zurück ins Haus wollte. Aus diesem Haus war sie entführt worden; sie scheute all die halb erinnerten Schrecken. Die Gegenwart des großen und selbstbewussten Solowej beruhigte sie.

»Ich habe geträumt«, murmelte das Mädchen mit den Lippen am Bein des Hengstes. »Ich kann mich an nichts erinnern – außer an das Träumen. Da war ein Skelett, das mich ausgelacht hat, und ich habe Kuchen gegessen – einen nach dem anderen –, obwohl mir schlecht davon wurde. Ich möchte nicht mehr träumen. Und ich gehe nicht zurück ins Haus. Ich werde hier im Stall bei Solowej wohnen.« Sie erneuerte ihren Griff um das Bein des Hengstes.

Wasja sah, dass die Kleine nirgendwohin gehen würde – außer sie entschied sich dazu, Maria gewaltsam loszumachen und fortzuschleppen, wogegen Solowej und ihre gebrochene Rippe jedoch etwas einzuwenden hätten.

Nun, sollte jemand anderes dem reizbaren Hengst erklären, warum Maria nicht bleiben konnte, wo sie war. Und bis dahin … »Na schön«, sagte Wasja betont fröhlich, »wenn du nicht zurück ins Haus willst, musst du auch nicht. Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«

Maria lockerte ihren Klammergriff um Solowej ein wenig. »Was für eine Geschichte?«

»Jede, die du willst. Iwanuschka und Alenuschka?« Wasja geriet ins Zweifeln. Schwester, liebe Schwester Alenuschka, sagte das Ziegenböcklein. Schwimm her, schwimm her zu mir. Sie entzünden die Feuer, sie machen die Töpfe heiß, schärfen ihre Messer. Und ich werde sterben.

Doch seine Schwester konnte ihm nicht helfen. Denn sie war bereits ertränkt.

»Nein, die vielleicht nicht«, sagte Wasja hastig und dachte nach. »Iwan der Narr, vielleicht?«

Das Kind überlegte, als gälte es, eine gewichtige Entscheidung zu treffen, die den Verlauf des bitteren Tages in andere Bahnen lenken könnte. Um ihretwillen wünschte Wasja, es wäre so.

»Ich glaube«, sagte Maria, »ich möchte die Geschichte von Morewna hören.«

Wasja zögerte. Als Kind hatte sie die Geschichte von Wasilisa der Schönen, ihrer Namensvetterin aus dem Märchen, geliebt. Und nach der vergangenen Nacht würde Maria Morewna bestimmt einen tiefen Eindruck machen – vielleicht zu tief. Doch Mascha war noch nicht fertig. »Erzähl mir von Iwan«, sagte sie. »Diesen Teil. Den mit den Pferden.«

Und da verstand Wasja. Sie lächelte; der Schmerz, den ihr dieses Lächeln an den verbrannten Stellen in ihrem Gesicht verursachte, kümmerte sie nicht. »Schön. Ich erzähle dir den Teil mit den Pferden, wenn du Solowejs Bein loslässt. Er ist kein Pfosten.«

Maria ließ widerwillig von Solowej ab, und der Hengst legte sich ins Stroh, sodass die beiden Mädchen sich an seine warme Flanke kuscheln konnten. Wasja legte ihren Mantel um Maria und sich selbst, streichelte Maschas Haare und begann:

»Prinz Iwan versuchte dreimal, seine Frau Maria Morewna aus den Klauen des bösen Zauberers Koschtschei zu befreien«, erzählte sie. »Doch er scheiterte jedes Mal, denn Koschtschei hatte das schnellste Pferd der Welt, das obendrein auch noch die Sprache der Menschen verstand. Das Pferd überholte Iwan immer, ganz gleich, wie groß sein Vorsprung gewesen war.«

Solowej stieß ein selbstgefälliges, nach Heu duftendes Schnauben aus. Mich hätte das Pferd nicht überholt, verkündete er.

»Schließlich bat Iwan seine Frau Maria, Koschtschei danach zu fragen, wie er an dieses unvergleichliche Pferd gekommen war. ›Es gibt da ein Haus auf Hühnerbeinen‹, antwortete Koschtschei. ›Es steht an der Meeresküste. Eine Hexe wohnt dort, eine Baba Jaga, und sie züchtet die besten Pferde auf der ganzen Welt. Man muss einen Fluss aus Feuer überqueren, um zu ihr zu gelangen, aber ich habe ein verzaubertes Tuch, das die Flammen teilt. Bist du erst bei dem Haus, musst du die Baba Jaga bitten, ihr drei Tage lang dienen zu dürfen. Dienst du ihr gut, wird sie dir ein Pferd schenken. Versagst du aber, wird sie dich fressen.‹«

Solowej drehte nachdenklich ein Ohr.

»Und so stahl Maria, das tapfere Mädchen« – an dieser Stelle zog Wasja ihre Nichte am schwarzen Zopf, und Maria kicherte – »Koschtscheis verzaubertes Taschentuch und gab es heimlich ihrem Iwan. Der ging fort zu der Baba Jaga, um sich das prächtigste Pferd der Welt zu verdienen. Der Fluss aus Feuer war groß und schrecklich, doch Iwan schwenkte Koschtscheis Taschentuch und galoppierte durch die Flammen. Hinter den Flammen fand er ein kleines Haus an der Meeresküste. Dort lebten die Baba Jaga und die besten Pferde der Welt …«

»Konnten sie sprechen?«, unterbrach Maria. »So wie du mit Solowej sprechen kannst? Kannst du wirklich mit ihm sprechen? Spricht er auch mit anderen Menschen? So wie die Pferde der Baba Jaga?«

»Er kann sprechen«, antwortete Wasja und unterbrach den Schwall von Fragen mit einer Geste. »Wenn man weiß, wie man zuhört. Jetzt sei still und lass mich fertig erzählen.«

Doch Maria stellte schon die nächste Frage. »Wie hast du gelernt zuzuhören?«

»Ich … Der kleine Mann im Stall hat es mir beigebracht«, antwortete Wasja. »Der Wasila. Als ich noch ein Kind war.«

»Kann ich es auch lernen?«, fragte Mascha. »Zu mir spricht der kleine Mann im Stall nie.«

»Eurer hier ist schwach«, erklärte Wasja. »Alle in Moskau sind schwach. Aber … ich glaube, du könntest es lernen. Deine Großmutter – meine Mutter – konnte ein bisschen zaubern, heißt es. Es gibt eine Geschichte, die besagt, dass deine Urgroßmutter auf einem prachtvollen Pferd, das so grau war wie die Morgendämmerung, nach Moskau geritten kam. Vielleicht konnte sie die Tschyerti sehen, genau wie du und ich. Vielleicht gibt es irgendwo noch andere Pferde wie Solowej. Vielleicht müssen wir …«

Laute Schritte auf dem Gang zwischen den Abteilen ließen Wasja verstummen. »Vielleicht müssen wir«, sagte Varvara mit strenger Stimme, »jetzt zu Abend essen. Deine Schwester hat dir aufgetragen, ihre Tochter zu ihr zu bringen, und hier finde ich euch beide, wie ihr euch wie zwei Bauernsöhne im Stroh herumwälzt.«

Mascha rappelte sich hoch. Wasja folgte ihrem Beispiel unter Schmerzen und versuchte, ihre verletzte Seite zu schonen. Solowej stand mit einem Ruck auf, die Ohren in Varvaras Richtung gedreht. Die Dienerin bedachte ihn mit einem eigenartigen Blick. Einen Moment lang stand ein Anflug von Sehnsucht auf ihrem Gesicht wie bei einer Frau, die etwas sieht, das sie vor langer Zeit einmal begehrt hat. Dann ignorierte sie den Hengst und sagte: »Komm, Mascha. Wasja kann dir die Geschichte später zu Ende erzählen. Deine Suppe wird noch kalt.«

In der Zeit, in der Wasja und Maria sich unterhalten hatten, hatte der Stall sich mit Schatten gefüllt. Solowej stand still da, die Ohren aufgestellt. »Was ist?«, fragte Wasja den Hengst.

Hörst du das?

»Was?«, fragte Varvara. Wasja warf der Dienerin einen fragenden Blick zu. Sie hatte doch nicht etwa …

Maria bekam es plötzlich mit der Angst. »Hört Solowej jemand kommen? Jemand bösen?«

Wasja nahm ihre Nichte an der Hand. »Ich habe gesagt, du bist in Sicherheit, und das meine ich auch so. Sollte es gefährlich werden, galoppiert Solowej mit uns allen weit, weit weg.«

»Gut«, erwiderte Maria leise. Doch sie hielt Wasjas Hand fest umklammert.

Sie gingen in die blaue Abendluft hinaus. Solowej kam mit, er schnaubte unbehaglich, hielt die Schnauze direkt über Wasjas Schulter. Der blutige Sonnenuntergang war zu einem fahlen Schimmern am westlichen Horizont verblasst, die Luft war eigenartig still. Jetzt, außerhalb der dicken Stallmauern, konnte auch Wasja hören, was Solowej gehört hatte: das hastige Getrampel vieler Füße und ein gedämpftes Murmeln.

»Du hast recht, etwas stimmt nicht«, sagte Wasja leise zu dem Hengst. »Und, verflucht, Sascha ist nicht hier.« Laut fügte sie hinzu: »Mach dir keine Sorgen, Mascha, hier innerhalb der Tore sind wir in Sicherheit.«

»Kommt«, sagte Varvara und ging durch die Tür, den Vorraum und über die Treppe, die hinauf zum Terem führte.

2

Abrechnung

Der Innenhof war eigenartig ruhig. Die Hektik des Tages war einer schweren Ruhe gewichen. Varvara glitt durch die Eingangstür des Terems, hielt Marias Hand fest umklammert. Wasja machte am Fuß der Treppe kehrt und presste die Stirn gegen Solowejs seidigen Hals. Sie fragte sich, warum es so still war auf dem Hof. Viele von Olgas Wachen waren bei den Kämpfen auf dem Dwor des Großfürsten gestorben oder verwundet worden, aber wo waren die Knechte, wo die Leibeigenen? Die Rufe jenseits des Tors wurden lauter. »Warte auf mich«, sagte Wasja zu dem Pferd. »Ich gehe hinauf zu meiner Schwester, aber ich komme bald zurück.«

Beeil dich, Wasja, erwiderte der Hengst, jede Faser seines Körpers angespannt.

Die Stufen zu Olgas Arbeitszimmer hinauf. Bei jedem Schritt spürte Wasja ihre gebrochene Rippe wie eine Klaue aus Feuer, die in ihre Seite fuhr. In dem großen Arbeitszimmer mit der niedrigen Decke gab es einen Ofen für die Wärme und ein schmales Fenster für Frischluft. Das Zimmer war voll, der Lärm hatte Olgas Dienerschaft geweckt. In der Nähe des Ofens saß das Kindermädchen und hielt Olgas Sohn Daniil umklammert. Der Kleine aß ein Stück Brot. Er wirkte ganz ruhig, höchstens ein bisschen verwirrt. Die Frauen flüsterten, als fürchteten sie, dass jemand sie hören könnte. Eine Atmosphäre der Unruhe hatte den Palast von Serpuchow befallen. Wasja merkte, wie ihre von Blasen bedeckten Handflächen zu schwitzen begannen.

Olga stand vor dem schmalen Fenster und blickte auf den Innenhof hinunter. Maria lief sofort zu ihrer Mutter. Die Prinzessin legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter.

Die Deckenlaternen warfen dunkle Schatten, die in dem Luftzug tanzten, den Wasjas Hereinkommen verursacht hatte. Köpfe drehten sich, doch Wasja hatte nur Augen für ihre Schwester, die reglos am Fenster stand.

»Olja?«, fragte sie. Die Stimmen im Raum wurden leiser, alle hörten zu. »Was ist da draußen?«

»Männer. Mit Fackeln«, antwortete Olga und drehte sich immer noch nicht um.

Wasja sah, wie die Frauen ängstliche Blicke austauschten. Doch sie verstand immer noch nicht. »Was tun sie?«

»Sieh selbst.« Olgas Stimme war ruhig. Doch sie trug einen Kopfschmuck, von dem goldene Kettchen bis auf ihr Dekolleté herabhingen. Das flackernde Glänzen des Goldes im Laternenschein verriet, wie schnell ihr Atem ging.

»Ich würde ja die Wachen hinunterschicken«, sprach Olga weiter, »aber wir haben letzte Nacht so viele verloren, in dem Feuer, im Kampf gegen die Tataren. Die restlichen bemannen das Stadttor. Die Leibeigenen sind in der Stadt und verteilen Almosen. Alle, die wir entbehren konnten, sind fort, und sie sind noch nicht zurückgekehrt. Manche wurden vielleicht aufgehalten, andere haben vielleicht etwas gehört, wovon wir nichts wissen.«

Daniils Kindermädchen drückte den Kleinen so fest an sich, dass er leise aufquiekte. Maria beobachtete Wasja – die Tante mit dem Zauberpferd – mit einer Mischung aus Hoffnung und blindem Vertrauen. Wasja versuchte, ohne Humpeln ans Fenster zu gehen. Einige der Frauen wandten den Blick ab und bekreuzigten sich, als sie an ihnen vorbeiging.

Die Straße vor dem Palast war voller Menschen. Viele hatten Fackeln dabei, alle schrien. Hier, in der Nähe des geöffneten Fensters, konnte Wasja sie endlich hören. Laut und deutlich.

»Hexe!«, schrien sie. »Gebt uns die Hexe! Feuer! Sie hat das Feuer gelegt!«

»Sie sind wegen dir hier«, sagte Varvara tonlos zu Wasja, und Maria sagte: »Wasotschka … Wasotschka … meinen sie dich?« Olgas Arm lag steif auf der Schulter ihrer Tochter, drückte sie an sich.

»Ja, Mascha«, antwortete Wasja mit trockenem Mund. »Sie meinen mich.« Die Menge vor dem Tor breitete sich aus wie ein Fluss, der gegen einen Felsen drängte.

»Wir müssen die Tür zum Turm verbarrikadieren«, sagte Olga. »Vielleicht schlagen sie das Tor ein. Varvara …«

»Hast du nach Sascha geschickt?«, unterbrach Wasja. »Nach Soldaten des Großfürsten?«

»Wen soll sie denn schicken?«, fragte Varvara. »Alle Männer waren bereits in der Stadt, als das hier anfing. Verflucht. Ich hätte die warnenden Vorzeichen womöglich erkannt, wenn ich nicht den ganzen Tag vollkommen erschöpft im Terem verbracht hätte.«

»Ich werde gehen«, erklärte Wasja.

»Sei keine Närrin«, blaffte Varvara. »Glaubst du, sie würden nicht merken, wer du bist? Möchtest du auch noch auf deinem großen braunen Hengst reiten, den jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt sofort erkennen würde? Wenn jemand geht, dann ich.«

»Niemand geht«, sagte Olga kühl. »Seht, wir sind umzingelt.«

Wasja und Varvara drehten sich wieder Richtung Fenster. Es stimmte. Das Meer aus Fackeln hatte sich ausgebreitet.

Das Geflüster der Frauen wurde schrill vor Furcht.

Die Menge wurde immer größer, immer mehr Menschen strömten aus den Seitenstraßen herbei. Sie fingen an, gegen das Tor zu trommeln. Wasja konnte keine einzelnen Gesichter erkennen, die Fackeln blendeten ihre Augen. Im Hof unter dem Fenster war es kalt und still.

»Sorge dich nicht, Wasja«, sagte Olga. Ihr Gesicht war starr und ruhig. »Hab keine Angst, Mascha. Geh und setz dich ans Feuer zu deinem Bruder.« Zu Varvara: »Lass dir von den Dienerinnen helfen, verrammelt die Tür mit allem, was ihr finden könnt. Das verschafft uns Zeit, falls sie das Tor einschlagen. Dieser Turm wurde erbaut, um Tataren zu trotzen. Uns wird nichts geschehen. Sascha und der Großfürst werden von dem Tumult erfahren. Die Soldaten werden rechtzeitig hier sein.«

Das Schimmern der goldenen Kettchen verriet nach wie vor Olgas Unruhe.

»Wenn sie wegen mir hier sind …«, begann Wasja.

Olga schnitt ihr das Wort ab. »Du willst dich ihnen ausliefern? Glaubst du, damit lässt sich vernünftig reden?« Mit einer scharfen Geste deutete sie auf den wütenden Mob. Varvara scheuchte die Dienerinnen bereits von ihren Bänken auf. Das Holz war massiv. Es würde ihnen Zeit verschaffen. Aber wie viel?

Da sprach eine neue Stimme. »Tod«, flüsterte sie.

Wasja drehte den Kopf. Die Stimme gehörte Olgas Domowoi, er sprach aus der Kaminöffnung. Seine Stimme war das Flüstern von Asche, die sich setzt, nachdem die Flammen verloschen sind.

Jedes Härchen auf Wasjas Körper stand zu Berge. Es heißt, dass der Domowoi stets weiß, was seiner Familie widerfahren wird. Mit zwei humpelnden Schritten lief Wasja zum Ofen. Die Dienerinnen starrten ihr hinterher. Maria schaute Wasja entsetzt an. Auch sie hatte den Domowoi gehört.

»Was wird denn passieren?«, rief Maria und schnappte sich Daniils Brot. Der Kleine schrie auf, dann kniete sie sich neben Wasja vor den Kamin.

»Aber Mascha …«, begann das Kindermädchen, doch Wasja sagte nur: »Lass sie«,und das in einem Ton,der alle im Raum vor Schreck zusammenfahren ließ. Selbst Olga schnappte hörbar nach Luft.

Maria hielt dem verblassten Domowoi das Brot hin. »Sag das nicht«, flüsterte sie. »Sag nicht Tod. Du machst meinem Bruder Angst.« Daniil konnte den Domowoi weder hören noch sehen, doch in ihrem Stolz wollte Maria nicht zugeben, dass auch sie Angst hatte.

»Kannst du dieses Haus nicht beschützen?«, fragte Wasja den Geist.

»Nein.« Der Domowoi war kaum mehr als ein dünnes Stimmchen und ein Schatten, der sich in der Glut abzeichnete. »Der Zauberer ist tot. Die alte Frau wandelt in Dunkelheit. Die Menschen haben ihre Augen anderen Göttern zugewandt. Es gibt nichts mehr, das mich nähren würde. Das irgendeinen von uns nähren würde.«

»Wir sind hier«, sagte Wasja, stürmisch in ihrer Angst. »Wir sehen dich. Hilf uns.«

»Wir sehen dich«, wiederholte Maria flüsternd wie ein Echo. Wasja nahm die Hand der Kleinen und hielt sie fest. Sie hatte einen ihrer zahllosen Schnitte aus der vorangegangenen Nacht wieder geöffnet und verteilte das Blut auf dem heißen Ofenstein.

Der Domowoi erschauerte und sah mit einem Mal mehr wie ein lebendiges Wesen aus denn wie ein sprechender Schatten. »Ich kann euch Zeit verschaffen«, hauchte er. »Ein bisschen Zeit, aber nicht mehr.«

Ein bisschen Zeit? Wasja hielt immer noch die Hand ihrer Nichte. Die Dienerinnen standen dicht gedrängt hinter ihnen, Furcht und Ablehnung spiegelten sich auf ihren Gesichtern.

»Schwarze Magie«, sagte eine. »Olga Wladimirowa, Ihr werdet doch erkennen …«

»Der Tod wartet heute Nacht auf uns«, sagte Wasja und ignorierte die anderen.

Olgas Gesicht legte sich in grimmige Falten. »Nicht, wenn es nach mir geht. Wasja, nimm das andere Ende der Bank. Hilf Varvara die Tür zu verbarrikadieren …«

In ihrem Kopf kehrte ein einziger Gedanke immer wieder: Sie sind wegen mir hier.

Unten auf dem Hof wieherte Solowej. Das Tor erzitterte. Varvara stand der Tür am nächsten, ganz still. Ihre Augen schienen etwas zu sagen. Wasja glaubte zu verstehen.

Sie kniete sich steif hin und sah ihrer Nichte in die Augen. »Du musst dich immer um den Domowoi kümmern«, sagte sie zu Maria. »Hier, oder wo auch immer du bist, musst du tun, was du kannst, um ihn bei Kräften zu halten. Dann beschützt er das Haus.«

Maria nickte ernst und sagte: »Aber Wasotschka, was ist mit dir? Ich weiß nicht genug …«

Wasja gab ihr einen Kuss und stand auf. »Du wirst es lernen«, erwiderte sie. »Ich liebe dich, Mascha.« Sie wandte sich an Olga. »Olja, sie … Du musst sie bald zu Aljoscha schicken, nach Lesnaja Semlja. Er wird es verstehen … Er kennt mich, hat mich aufwachsen sehen. Mascha kann nicht in diesem Turm bleiben, nicht auf ewig.«

»Wasja …«, begann Olga. Maria, verwirrt, umklammerte Wasjas Hand.

»Für all das«, sagte Wasja, »vergebt mir.« Sie ließ Marias Hand los und glitt durch die Tür, die Varvara für sie geöffnet hatte. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke in grimmigem Einverständnis.

Solowej wartete neben der Palasttür auf Wasja, scheinbar ruhig, wären da nicht die weißen Ringe um seine Augen zu sehen gewesen. Der Hof lag in Dunkelheit. Das Geschrei war lauter geworden. Vom Tor kam ein Krachen und Splittern. Fackelschein drang durch die geborstenen Stellen im Holz. Wasjas Gedanken rasten. Was tun? Solowej war eindeutig in Gefahr – sie alle: Wasja, ihr Pferd, ihre Familie.

Konnte sie sich mit Solowej im Stall verstecken und die Tür verbarrikadieren? Nein – der rasende Pöbel würde sich sofort auf die Eingangstür des Terems stürzen, auf die Kinder im Turm.

Sich ausliefern? Zu ihnen gehen und sich ergeben? Vielleicht wären sie dann zufrieden, vielleicht würden sie dann vom Tor ablassen.

Aber Solowej, was würden sie mit ihm machen? Ihr Pferd, das unerschütterlich neben ihr stand, würde niemals freiwillig von ihrer Seite weichen.

»Komm«, sagte sie. »Wir verstecken uns im Stall.«

Besser, wir fliehen, erwiderte der Hengst. Besser, wir fliehen durch eines der Tore.

»Diesem Mob da draußen werde ich bestimmt nicht das Tor öffnen«, blaffte Wasja. Sie schlug einen schmeichelnden Tonfall an. »Wir müssen so viel Zeit schinden, wie wir können, bis mein Bruder mit Soldaten vom Großfürst eintrifft. Das Tor wird so lange standhalten. Komm, wir müssen uns verstecken.«

Das Pferd folgte ihr unruhig, während die Rufe ringsum immer lauter wurden.

Die große Flügeltür zum Stall war aus schwerem Holz. Wasja öffnete sie. Der Hengst folgte ihr, blies nervös seinen Atem ins Halbdunkel.

»Solowej«, sagte Wasja und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. »Ich liebe dich.«

Er liebkoste Wasjas Haar, vorsichtig diesmal wegen ihrer Verbrennungen, und sagte: Hab keine Angst. Wenn sie durchs Tor brechen und hier reinkommen, laufen wir einfach weg. Niemand wird uns finden.

»Pass auf Mascha auf«, erwiderte Wasja. »Vielleicht lernt sie eines Tages, mit dir zu sprechen.«

Wasja, sagte Solowej und riss erschrocken den Kopf hoch. Doch sie hatte ihn schon weggeschoben, schlüpfte durch den schmalen Spalt nach draußen und schloss den Hengst im Stall ein, in Sicherheit.

Sie hörte Solowejs wütendes Wiehern, hörte über das Gebrüll der Menge hinweg, wie die Hufe des Hengstes gegen die massive Stalltür schlugen. Doch nicht einmal Solowej konnte das schwere Holz durchbrechen.

Dann humpelte sie zum Tor, frierend und voller Angst.

Die Risse im Holz wurden größer. Eine einzelne Stimme schallte hinaus in die Nacht, feuerte die Menge an. Als Reaktion wurde das Gebrüll noch lauter.

Die Stimme rief ein zweites Mal, seidig, halb singend erhob sie sich mit ihrem reinen Klang über den Lärm. Der schleichende, stechende Schmerz in Wasjas Seite wurde stärker. Die Laternen oben im Terem waren gelöscht worden.

In ihrem Rücken wieherte Solowej erneut.

»Hexe!«, rief die durchdringende Stimme. Es war eine Aufforderung. Es war eine Drohung. Das Holz des Tores splitterte immer schneller.

Diesmal erkannte Wasja die Stimme wieder. Alle Luft wich aus ihrer Lunge. Doch als sie antwortete, zitterte ihre Stimme nicht. »Ich bin hier. Was wollt Ihr?«

In diesem Moment geschahen zwei Dinge. Das Tor zerbarst in einem Splitterregen. Und hinter ihr brach Solowej durch die Stalltür und kam herangaloppiert.

3

Nachtigall

Sie waren näher an ihr als Solowej, aber nichts konnte schneller laufen als der braune Hengst. In gestrecktem Galopp kam er auf sie zu. Wasja sah eine letzte Chance: den Mob zur Verfolgung verleiten, ihn fortlocken vom Turm ihrer Schwester. Und als Solowej an ihr vorbeijagte, passte sie ihre Schritte an, lief ein Stück neben ihm her und sprang dann auf seinen Rücken.

Die Dringlichkeit des Moments verscheuchte jeden Schmerz und jede Schwäche. Solowej hielt direkt auf das zerschmetterte Tor zu. Wasja schrie, lenkte die Aufmerksamkeit des Mobs vom Turm auf sich selbst. Solowej schlug mit all der Bösartigkeit eines Streitrosses aus und pflügte sich einen Weg durch die Menge. Menschen schlugen nach ihnen und wurden weggeschleudert.

Das Tor war jetzt ganz nah. Wasjas einziger Gedanke war Flucht. Auf offenem Gelände konnte niemand den braunen Hengst einholen. Wasja konnte die wütende Menge weglocken, Zeit erkaufen, mit Sascha wiederkommen, mit Dmitris Soldaten.

Nichts konnte Solowej einholen.

Nichts.

Sie sah nicht, wovon sie getroffen wurden. Vielleicht war es nur ein für einen Ofen bestimmtes Holzscheit. Sie hörte lediglich das Zischen des Luftzugs, und dann spürte sie den Einschlag, unter dem der Körper ihres Hengstes erzitterte. Eines von Solowejs Beinen knickte seitlich weg. Er stürzte, einen Schritt vor dem zerstörten Tor.

Die Menge kreischte. Wasja spürte das Knacken,als wäre sie selbst getroffen worden. Instinktiv rollte sie sich weg, kam, neben dem Kopf ihres Pferdes kniend, wieder hoch.

»Solowej«, flüsterte sie. »Solowej, steh auf.«

Menschen drängten heran, eine Hand packte sie am Haar. Wasja wirbelte herum und biss zu, der Kerl zog seine Hand fluchend zurück. Ihr Hengst strampelte und schlug aus, doch einer seiner Hinterläufe stand in einem entsetzlichen Winkel ab.

»Solowej«, flüsterte Wasja. »Solowej, bitte.«

Der Hengst blies ihr sanft seinen nach Heu duftenden Atem ins Gesicht. Er schien zu zittern, seine Mähne fühlte sich stachlig an wie Federn unter Wasjas Händen. Als kämpfte sein anderes, unbekanntes Wesen, der Vogel, den sie nie gesehen hatte, sich endlich frei, um aufzufliegen.

Da fuhr eine Klinge herab.

Sie biss genau am Halsansatz in Solowejs Fleisch. Ein Heulen erhob sich.

Wasja spürte, wie die Klinge schnitt, als wäre ihr selbst die Kehle aufgeschlitzt worden, merkte nicht, wie sie schrie, während sie um sich schlug wie eine Wölfin, die ihr Junges verteidigte.

»Tötet sie!«, rief jemand in der Menge. »Wir haben sie, das dreckige Miststück. Tötet sie.«

Wasja stürzte sich auf sie, ohne Rücksicht auf irgendetwas, ohne Rücksicht auf ihr Leben. Ein Faustschlag traf sie, dann noch einer, bis sie nichts mehr spürte.

Sie kniete in einem von Sternenlicht erhellten Wald. Die Welt ringsum war schwarz und weiß und vollkommen still. Ein brauner Vogel lag flatternd gerade außerhalb ihrer Reichweite im Schnee. Eine Gestalt, schwarzhaarig und knochenbleich, kniete daneben und streckte eine Hand nach dem Geschöpf.

Wasja kannte diese Hand, kannte diesen Ort. Sie glaubte sogar, eine Gefühlsregung hinter der urzeitlichen Gleichgültigkeit in den Augen des Totengottes zu sehen. Doch er sah den Vogel an, nicht sie, Wasja konnte nicht sicher sein. Er war fremdartiger und weiter weg denn je, seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Nachtigall im Schnee konzentriert.

»Nimm uns beide«, flüsterte Wasja.

Er drehte sich nicht um.

»Lass mich mit dir kommen«, versuchte sie es noch einmal. »Nimm mir nicht mein Pferd.« Weit weg spürte sie die Schläge, die ihren Körper trafen.

Die Nachtigall hüpfte auf die Hand des Totengottes. Er schloss sanft die Finger um das Geschöpf und hob es auf. Mit der anderen Hand nahm er etwas Schnee. Der Schnee schmolz und tropfte auf das Vögelchen, das sofort steif und starr wurde.

Dann endlich hob er den Blick in ihre Richtung. »Wasja«, sagte er mit einer Stimme, die sie kannte. »Wasja, hör mich an …«

Doch sie konnte nichts erwidern.

Denn in der realen Welt ließ der Mob auf das Wort einer donnernden Stimme hin von ihr ab, und Wasja wurde zurückgerissen in das nächtliche Moskau, lag blutend, aber am Leben im zertrampelten Schnee.

Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Doch als sie ihre blutverschmierten Augen öffnete, war die dunkle Gestalt des Totengottes immer noch da, fahler als ein Schatten um die Mittagszeit, sein Blick dringlich und vollkommen hilflos. In einer Hand hielt er behutsam eine tote Nachtigall.

Dann war er fort. Vielleicht war er auch nie da gewesen. Wasja lag auf ihrem Hengst, beschmiert mit seinem Blut. Über ihr ragte ein Mann mit goldenem Haar auf, seine Augen so blau wie der Sommer. Er trug einen Priestertalar und musterte sie mit einem Ausdruck kalten, endgültigen Triumphes.

Während aller beschwerlichen Zeiten und Kümmernisse seines Lebens hatte eine Gabe Konstantin Nikonowitsch nie im Stich gelassen: Wenn er sprach, lauschten und gehorchten die Menschen.

Die ganze Nacht lang, während der mitternächtliche Sturm tobte, hatte er den Sterbenden die letzte Ölung erteilt und die Verletzten getröstet.

Dann, in der dunklen Stunde vor Sonnenaufgang, hatte er zu den Menschen Moskaus gesprochen.

»Ich kann nicht schweigen«, begann er.

Anfangs war seine Stimme leise und sanft, sprach mal zu dieser Person, mal zu jener. Erst als sie zu ihm strömten wie Wasser in seine hohle Hand, hob er die Stimme. »Ein großes Unrecht wurde euch getan.«

»Uns getan?«, fragten die mit Ruß verschmierten, verängstigten Menschen. »Welches Unrecht wurde uns getan?«

»Dieses Feuer war Gottes Strafe«, erklärte Konstantin. »Doch ihr habt das Verbrechen nicht begangen.«

»Verbrechen?«, wiederholten sie erschrocken und hielten ihre Kinder fest.

»Warum, glaubt ihr, hat die Stadt gebrannt?«, fragte Konstantin herrisch. Aufrichtige Trauer erfüllte seine Stimme. Kinder, im Rauch erstickt, waren in den Armen ihrer Mütter gestorben. Darüber konnte er trauern. Er war noch nicht so weit entrückt. Seine Worte klangen heiser vor Mitgefühl. »Das Feuer war Gottes Strafe für die Beherbergung einer Hexe.«

»Eine Hexe?«, fragten sie. »Beherbergen wir eine Hexe?«

Konstantins Stimme wurde lauter. »Gewiss erinnert ihr euch. Der, den ihr für Wassili Petrowitsch hieltet. Der Junge, derin Wahrheit ein Mädchen ist. Erinnert euch an Alexander Pereswet, den alle für so heilig hielten, den seine eigene Schwester zur Sünde verführt hat. Erinnert ihr euch, wie sie den Großfürsten getäuscht hat? In derselben Nacht begann die Stadt zu brennen.«

Konstantin spürte, wie ihre Stimmung sich wandelte, während er sprach. Ihre Wut und ihre Trauer und ihre Angst wendeten sich nach außen. Er ermutigte sie darin, absichtlich und geschickt wie ein Schmied, der die Klinge eines Schwertes schärft.

Als sie bereit waren, musste er die Waffe nur noch aus dem Feuer nehmen.

»Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden«, erklärte Konstantin. »Doch ich weiß nicht, wie. Vielleicht kennt Gott die Antwort.«

Wasja lag auf dem Innenhof des Palastes ihrer Schwester, und das Blut ihres Hengstes trocknete auf ihren Händen. Lippen und Wangen waren von ihrem eigenen Blut verkrustet und ihre Augen voller Tränen. Ihr Atem ging röchelnd, stoßweise. Doch sie war am Leben. Sie kam unbeholfen auf die Beine.

»Batjuschka«, sagte sie. Das Wort ließ ihre Lippen wieder aufplatzen, Blut tropfte. »Ruft sie zurück.« Während des Sprechens schnappte sie, schnell und unter Schmerzen, nach Luft. »Ruft sie zurück. Ihr habt mein Pferd getötet. Nicht auch noch … meine Schwester. Nicht die Kinder.«

Die Menge teilte sich und strömte an ihnen vorbei, ihr Blutdurst ungestillt. Sie trommelten gegen die Tür des Terem. Die Tür hielt, gerade so. Konstantin zögerte.

Leise fügte Wasja hinzu: »Zweimal habe ich Euch das Leben gerettet.« Sie konnte kaum stehen.

Konstantin spürte seine Macht, spürte, wie er die Wut der Menge lenkte wie ein Reiter ein nur halb zugerittenes Pferd. Er griff nach den Zügeln.

»Zurück!«, rief er den Leuten zu. »Kommt zurück! Die Hexe ist hier. Wir haben sie. Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden. Gott wartet nicht.«

Wasja schloss erleichtert die Augen. Vielleicht war es auch vor Schwäche. Sie sank nicht vor ihm auf die Knie, dankte ihm nicht für seine Gnade. Voller Gift sagte er: »Und Ihr kommt mit mir, um Euch vor Gott zu verantworten.«

Wasja öffnete die Augen wieder, starrte ihn an, aber sie war wie blind. Ihre Lippen formten ein einziges Wort. Nicht den Namen des Priesters, kein Gnadengesuch, sondern: »Solowej …« Wasja zuckte zusammen, mehr vor Trauer als vor Schmerz, und ihr Körper krümmte sich, als hätte ein Pfeil sie getroffen.

»Das Pferd ist tot«, erwiderte Konstantin und sah, wie die Worte sie trafen wie Faustschläge. »Vielleicht wirst du dich nun Dingen zuwenden, die sich für eine Frau geziemen. Solange du noch Zeit dazu hast.«

Wasja erwiderte nichts, ihre Augen waren leer.

»Dein Schicksal ist besiegelt«, fügte Konstantin hinzu und beugte sich näher heran, als könnte er die Worte in ihren Geist hineinhämmern. »Den Menschen wurde unrecht getan. Sie verlangen Gerechtigkeit.«

»Welches Schicksal erwartet mich?«, flüsterte Wasja durch aufgeplatzte Lippen. Ihr Gesicht hatte die Farbe von Schnee.

»Ich rate dir«, flüsterte Konstantin sanft, »zu beten.«

Sie stürzte sich auf ihn wie ein verwundetes Tier. Beinahe hätte Konstantin gelacht vor überraschter Freude, als der Faustschlag eines anderen sie zu seinen Füßen niederstreckte.

4

Das Schicksal aller Hexen

»Was ist das für ein Lärm?«, fuhr Dmitri auf. Nur wenige seiner Torwachen hatten die Nacht ohne Verwundung überlebt, und sie alle schienen nun gleichzeitig zu schreien. Außerhalb der Palastmauern erhob sich ein Durcheinander aus Stimmen und das Geräusch vieler Stiefel im Schnee. Das einzige Licht im Hof kam von Fackeln. Der Lärm in der Stadt wurde beständig lauter, ein durchdringendes Krachen ertönte. »Muttergottes«, sagte Dmitri. »Gab es denn nicht schon genug Ärger?« Er wirbelte herum und erteilte eine schnelle Abfolge von Befehlen.

Einen Wimpernschlag später öffnete sich, begleitet von lautem Gebrüll, die Tür des Hintereingangs. Eine Dienerin mit gelben Haaren trat ohne Umschweife vor den Großfürsten, ihr folgten die nervösen Palastbediensteten.

»Was ist?«, fragte Dmitri mit starrem Blick.

»Das ist die Leibdienerin meiner Schwester«, erklärte Sascha. »Varvara, was tust …«

Eine von Varvaras Wangen war geschwollen, und ihr Gesichtsausdruck traf Sascha bis ins Mark.

»Die Menschen, die Ihr gerade hört«, blaffte Varvara, »sind in den Palast von Serpuchow eingedrungen. Sie haben den braunen Hengst getötet, den Wasilisa so sehr geliebt hat« – an dieser Stelle merkte Sascha, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich – »und das Mädchen dann verschleppt.«

»Wohin?«, fragte Sascha, seine Stimme tonlos und schrecklich.

Dmitri, der neben ihm stand, rief bereits nach Pferden, nach Soldaten: »… ja, auch die Verwundeten, sie sollen aufsitzen. Wir können nicht warten.«

»Runter«, antwortete Varvara keuchend. »Runter zum Fluss. Ich befürchte, sie werden sie töten.«

Wasja spürte all die Schläge schon beinahe nicht mehr, ihre Kleider waren zerrissen und blutverschmiert. Sie nahmen sie mit. Halb schleiften, halb trugen sie Wasja. Die Welt ringsum bestand nur noch aus Lärm. Schreie, mit denen eine kalte, wunderschöne Stimme den Mob kontrollierte; und dieses eine Wort, in endloser Wiederholung geflüstert: Vater – Batjuschka.

Bergab, sie liefen den Hügel hinunter. Wasja stolperte durch den überfrierenden Matsch auf der Straße. Hände – so viele Hände – zerrten an ihr. Ihr Mantel und ihr Letnik waren fortgerissen, sie trug nur noch ihren langärmeligen Kittel. Ihr Kopftuch war ebenfalls fort, das Haar fiel ihr lose ins Gesicht.

All das bekam Wasja kaum mit. Sie konnte nur an eines denken: den Knüppel, dann die Klinge. Den Schock, als wäre sie selbst getroffen worden. Solowej. Muttergottes, Solowej. Während der Mob tobte, sah Wasja nur das Pferd, wie es im Schnee lag, alle Liebe und Schönheit und Kraft gebrochen, beschmutzt und für immer verloschen.

Weitere Hände zerrten an ihrem Kittel. Wasja schlug eine davon zur Seite. Dann spürte sie eine nach Fisch riechende Faust im Gesicht. Ihre Zahnreihen schlugen gegeneinander, wie Sterne explodierte der Schmerz in ihrem Mund, ihr Kittel riss am Hals ein. Konstantin erhob mahnend seine ebenmäßige Stimme, wenn auch zu spät. In die Schranken gewiesen – zumindest ein wenig –, zog die Menge sich ein Stück zurück.

Sie schleiften Wasja weiter bergab. Um sie herum Fackeln, die ihre Sicht blendeten wie Funken. »Fürchtest du dich endlich?«, flüsterte Konstantin mit strahlenden Augen, als hätte er sie in einem Wettbewerb geschlagen.

Wasja stürzte sich ein zweites Mal auf ihn, ihre aufwallende Wut verschlang jeden Schmerz.

Vielleicht versuchte sie auch, die Menge dazu zu bringen, sie zu töten. Sie taten es beinahe. Konstantin ließ den Mob gewähren. Grauer Nebel schob sich über Wasjas Gesichtsfeld, doch sie starb immer noch nicht. Und als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, merkte Wasja, dass sie die Tore des Kremls bereits hinter sich gelassen hatten. Sie waren jetzt im Possad, dem Teil Moskaus, der außerhalb der Stadtmauern lag. Immer noch eilten sie dahin – sie waren auf dem Weg zum Fluss. Wasja sah eine kleine Kapelle. Der Tross hielt an, es gab einen kurzen Streit. Konstantin sagte etwas, doch Wasja verstand nur Wortfetzen hier und da.

Hexe.

Heiliger Vater.

Holt Holz.

Wasja hörte nicht richtig zu. Ihre Sinne waren wie betäubt. Sie hatten ihrer Schwester nichts angetan, und sie hatten Maria nichts angetan. Ihr Hengst war tot. Was sie mit ihr machten, kümmerte Wasja nicht. Gar nichts kümmerte sie mehr.

Sie spürte die Veränderung in der Luft, als sie aus dem beißenden, blendenden Fackelschein in das Halbdunkel einer von Kerzen erleuchteten Kapelle gestoßen wurde. Sie stürzte, fiel nicht weit von der Ikonostase zu Boden und schlug sich erneut den schmerzenden Kiefer an.

Dort lag Wasja, atmete den Geruch von Holz und Staub ein, vollkommen passiv vor Schock. Dann kam ihr der Gedanke, wenigstens aufzustehen. Ein wenig Mut zu zeigen, ein wenig Stolz. Solowej hätte es getan. Solowej …

Sie stemmte sich hoch auf die Füße.

Und merkte, dass sie allein war mit Konstantin Nikonowitsch. Mit dem Rücken zur Tür stand er Wasja gegenüber, die halbe Länge des Mittelschiffs zwischen ihnen, und beobachtete sie.

»Ihr habt mein Pferd getötet«, murmelte Wasja, und er lächelte, wenn auch nur ein klein wenig.

Sie hatte eine Platzwunde auf der Nase, ein Auge war fast zugeschwollen. Im Halbdunkel der Kapelle sah ihr geschundenes Gesicht unirdischer aus denn je – und verwundbar. Das alte Verlangen flammte wieder auf, und der damit verbundene Selbsthass.

Aber … wofür sollte er sich schämen? Gott kümmerte sich nicht um die Geschicke der Menschen. Alles, was zählte, war Konstantins Wille, und sie war jetzt in seiner Hand. Der Gedanke brachte sein Blut in Wallung, genauso wie die Bewunderung der Menschen draußen. Sein Blick schweifte noch einmal über ihren Körper.

»Du wurdest zum Tod verurteilt«, sagte er zu ihr. »Für deine Sünden. Dir wurden diese wenigen Momente gewährt, um zu beten.«

Ihr Gesicht veränderte sich nicht. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört. Er sprach lauter. »Du hast Gottes Gesetz und den Willen des Volkes verletzt!«

Ihr Gesicht war weiß wie Salz, die Sommersprossen auf ihrer Nase stachen hervor wie Blutspritzer. »Dann tötet mich«, sagte sie. »Habt den Mut, es selbst zu tun, anstatt es dem Mob zu überlassen und das als Gerechtigkeit zu bezeichnen.«

»Streitest du also ab, dass du für das Feuer verantwortlich warst?« Leichten Schrittes trat er auf sie zu. Frei, sagte er sich. Frei von ihrer Macht über ihn.

Ihre Miene veränderte sich nicht. Sie sagte nichts. Sie rührte sich nicht einmal, als er ihr die Finger unter das Kinn legte und ihr Gesicht anhob. »Du kannst es nicht abstreiten. Denn es ist wahr.«

Sie zuckte nicht zusammen, als er seinen Daumen in die Schwellungen grub, die um ihren Mund herum erblühten wie Blumen. Sie schien ihn kaum zu sehen.

Sie war wirklich hässlich. Große Augen, breiter Mund, kantiges Gesicht. Dennoch konnte er nicht wegsehen. Nie würde er das können, erst wenn ihre Augen für immer im Tod geschlossen waren. Vielleicht würde sie ihn sogar darüber hinaus verfolgen.

»Du hast mir alles genommen, was mir wichtig war«, sagte er. »Du hast mich verflucht, sodass ich Dämonen sehe. Du verdienst den Tod.«

Sie erwiderte nichts. Tränen liefen ungehindert über ihr Gesicht.

In plötzlicher Wut packte er sie an den Schultern, drückte sie gegen die Ikonostase, sodass die Heiligen erzitterten, und hielt sie dort fest. Die Luft wich aus ihrem Körper, jeder Rest von Farbe aus ihrem Gesicht. Seine Hand schloss sich um ihre Kehle, blass und verwundbar, und er merkte, wie sein Atem schneller wurde. »Sieh mich an, verflucht.«

Ganz langsam hob sie den Blick.

»Bettle um dein Leben«, sagte er. »Bettle, vielleicht schenke ich es dir dann.«

Sie schüttelte langsam den Kopf, ihr Blick schweifte unfokussiert umher.

Er spürte einen Anfall von Hass, brachte die Lippen ganz nah an ihr Ohr und flüsterte mit einer Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte: »Du wirst im Feuer sterben, Wasilisa Petrowna. Und du wirst schreien, nach mir, bevor es zu Ende ist.« Er küsste sie einmal, hart wie eine Ohrfeige, hielt ihren Kiefer umklammert wie ein Schraubstock und schmeckte das Blut auf ihren aufgeplatzten Lippen.

Sie biss ihn, ließ auch aus seinem Mund das Blut hervorquellen. Er zuckte zurück, dann starrten sie einander an. Ihrer beider Hass spiegelte sich in den Augen des anderen.

»Gott sei mit Euch«, flüsterte sie mit beißendem Spott.

»Fahr zur Hölle«, erwiderte er und ging.

Stille legte sich über die staubige Kapelle, nachdem Konstantin gegangen war. Vielleicht errichteten sie einen Scheiterhaufen, vielleicht bereiteten sie etwas noch Schlimmeres vor. Vielleicht traf ihr Bruder endlich ein, und dieser Albtraum war vorbei. Es war Wasja egal. Was hatte sie schon zu befürchten, wenn sie starb? Vielleicht würde sie im Jenseits ihrem Vater wiederbegegnen, ihrer Mutter, ihrem geliebten Kindermädchen Dunja.

Solowej.

Doch dann dachte Wasja an Feuer, Peitschen und Messer und Fäuste. Sie war noch nicht tot. Und sie hatte schreckliche Angst. Vielleicht könnte sie einfach … entschwinden … in den grauen Wald jenseits des Lebens, fort. Sie kannte den Tod.

»Morosko«, flüsterte sie, und dann seinen alten Namen, den Namen des Totengottes, »Karatschun.«

Es kam keine Antwort. Der Winter war vorüber, war aus der Welt der Menschen verblasst. Zitternd sank Wasja zu Boden, lehnte sich gegen die Ikonostase. Draußen schrien die Menschen, lachten, fluchten. Doch in der Kapelle war nur die Stille der Heiligen, die beharrlich auf sie hinunterstarrten. Wasja konnte sich nicht dazu durchringen zu beten. Stattdessen legte sie ihren schmerzenden Kopf in den Nacken und schloss die Augen; zählte ihr Leben in Herzschlägen.

Sie konnte unmöglich schlafen, nicht hier. Und doch zog sich die Welt von ihr zurück, und Wasja fand sich einmal mehr in dem schwarzen Wald unter einem sternengesprenkelten Himmel wieder. Sie verspürte eine schwache, erschrockene Erleichterung. Es war vorbei. Gott hatte ihre Bitte erhört: Das war es, wonach sie sich gesehnt hatte. Sie stolperte los, rief.

»Vater«, rief sie. »Mutter. Dunja. Solowej. Solowej!« Er war bestimmt hier. Bestimmt wartete er auf sie. Falls er konnte.

Morosko würde es merken. Aber Morosko war nicht hier. Auf Wasjas Rufe folgte nichts als Schweigen. Sie taumelte weiter, krabbelte, ihre Glieder waren schwer, und ihre Rippen schmerzten mit jedem Atemzug noch stärker.

»Wasja.« Er rief ihren Namen zweimal, bevor sie ihn hörte. »Wasja.«

Sie taumelte, stürzte, noch bevor sie sich umdrehen konnte, fand sich kniend im Schnee wieder und hatte nicht die Kraft aufzustehen. Der Himmel war wie ein Fluss aus Sternen, doch Wasja blickte nicht auf. Der Totengott war das Einzige, was sie sah. Er war kaum mehr als ein Zusammenfließen von Licht und Dunkel, durchschimmernd wie Wolken vor dem Mond. Doch sie kannte seine Augen. Er wartete auf sie, im Grau des Waldes. Sie war nicht allein.

Zwischen zwei abgehackten Atemzügen brachte Wasja hervor: »Wo ist Solowej?«

»Fort«, antwortete er. Die Gegenwart des Totengottes spendete keinen Trost, nicht hier. Sie gab Wasja lediglich Gewissheit über ihren Verlust, widergespiegelt in seinen hellen Augen.