Das Mädchen und der Winterkönig - Katherine Arden - E-Book
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Das Mädchen und der Winterkönig E-Book

Katherine Arden

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Beschreibung

Die große Fortsetzung des internationalen Erfolgsromans »Der Bär und die Nachtigall«

Wasja hat es geschafft: Sie hat ihr Zuhause vor dem Untergang bewahrt, indem sie einen Pakt mit Väterchen Frost einging. Doch jeder Pakt hat seinen Preis, und nun muss Wasja bitter für die Hilfe des Winterdämons bezahlen. Als Hexe verschrien, wird sie aus dem Dorf gejagt und durchstreift fortan in Männerkleidung das riesige Zarenreich. Immer an ihrer Seite ist ihr geliebter Hengst Solowej, der schneller ist als der Wind. Als Wasja eines Tages eine berühmt-berüchtigte Räuberbande in die Flucht schlägt, ruft sie der Prinz an den Hof nach Moskau, wo sie als Held gefeiert wird. Schnell wird Wasja – dank der Ratschläge des Winterdämons – zur engsten Vertrauten des Prinzen. Doch niemand am Hof darf je erfahren, dass der tapfere Kämpfer aus dem klirrend kalten Norden eigentlich eine junge Frau ist ...

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Seitenzahl: 557

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Das Buch

Wasja hat es geschafft: Sie hat ihr Zuhause vor dem Untergang bewahrt, indem sie einen Pakt mit dem Winterdämon Morosko einging. Doch jeder Pakt hat seinen Preis, und nun muss Wasja bitter für die Hilfe des Winterdämons bezahlen. Als Hexe verschrien, wird sie aus dem Dorf gejagt und durchstreift fortan in Männerkleidung das riesige Zarenreich. Immer an ihrer Seite ist ihr geliebter Hengst Solowej, der schneller ist als der Wind.

Eines Tages begegnet Wasja Dimitri Iwanowitsch, dem Großfürsten von Moskau, der in den finsteren Wäldern Jagd auf eine Bande berühmt-berüchtigter Banditen macht. Unter dem Namen Wassili Petrowitsch schließt sich Wasja den Männern des Großfürsten an, und dank ihrer außergewöhnlichen Gaben und der Hilfe des Winterdämons gelingt es ihr schon bald, die Räuber zu besiegen. Auf Drängen des Großfürsten folgt sie ihm an den Hof nach Moskau, wo sie wegen ihrer Tapferkeit und ihrer Reitkünste zum gefeierten Liebling des Adels wird. Doch niemand am Hof darf je erfahren, wer der mutige Kämpfer aus dem Norden wirklich ist …

Inspiriert von uralten Mythen und der Sehnsucht nach Freiheit erzählt Katherine Arden die Geschichte einer mutigen jungen Frau auf der Suche nach ihrem Schicksal.

Die Autorin

Katherine Arden, geboren in Austin, Texas, studierte Französische und Russische Literatur am Middlebury College in Vermont und verbrachte ein Auslandssemester in Moskau. Nach ihrem Abschluss lebte sie auf der hawaiianischen Insel Maui und in Briançon in Frankreich. Während dieser Zeit arbeitete sie auf einer Farm und als Englischlehrerin und unternahm ihre ersten Schreibversuche. Mit ihrem Debütroman Der Bär und die Nachtigall gelang ihr auf Anhieb ein Riesenerfolg. Die Autorin lebt und arbeitet in Vermont.

KATHERINE ARDEN

DAS MÄDCHEN

UND DER

WINTERKÖNIG

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Michael Pfingstl

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe: THEGIRLINTHETOWER

Gedicht zitiert nach: Friedrich Bodenstedt’s Schriften – Gesammelte Schriften. Gesammt-Ausgabe in zwölf Bänden. Vierter Band, Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei, 1866, abgerufen unter https://gedichte.xbib.de/Puschkin_gedicht_005.+Der+Sturm.htm

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 12/2020

Redaktion: Martina Vogl

Copyright © 2018 by Katherine Arden

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-25862-7V002

www.heyne.de

Für Dad und Beth,

in Liebe und Dankbarkeit

Tobt der Sturm, den Tag verhüllt er,

Treibt den Schnee im Wirbelwind? –

Wie ein wildes Thier bald brüllt er,

Wimmert bald wie’n kleines Kind …

Bald im strohbedeckten Dache

Lärmt er voll Zerstörungswuth,

Pocht bald laut am Fensterfache,

Wie wohl spät ein Wandrer thut.

A.S. PUSCHKIN

Prolog

Ein Mädchen ritt auf einem Braunen spät in der Nacht durch einen Wald. Der Wald hatte keinen Namen. Er lag weit entfernt von Moskau – weit entfernt von allem –, die einzigen Geräusche waren die Stille des Schnees und das Klirren der überfrorenen Bäume.

Es war kurz vor Mitternacht, jener dunklen, zauberhaften Stunde, die Nacht bedroht durch Eis und Sturm und einen leeren Himmel, der über allem gähnte wie ein Abgrund. Und doch ritten das Mädchen und ihr Pferd unermüdlich weiter.

Eis überzog die feinen Haare an der Schnauze des Hengsts, Schnee sammelte sich auf seinen Flanken. Doch der Blick unter seiner schneebedeckten Stirn war sanft, und seine Ohren bewegten sich munter vor und zurück.

Ihre Spur erstreckte sich tief in den Wald hinein, halb verdeckt von frischem Schnee.

Plötzlich hielt das Pferd an und hob den Kopf. Zwischen den klirrenden Bäumen vor ihnen lag ein Tannenhain. Die gefiederten Äste der Bäume waren ineinander verschlungen, ihre Stämme gebeugt wie Greise.

Der Schnee fiel dichter, sammelte sich auf den Augenbrauen des Mädchens und dem grauen Pelzsaum ihrer Kapuze. Nichts rührte sich außer dem Wind.

Dann … »Ich kann sie nicht sehen«, sagte der Hengst.

Er wackelte mit einem Ohr und schüttelte den Schnee darauf ab.

»Vielleicht ist er nicht zu Hause«, erwiderte das Mädchen zweifelnd. Die Dunkelheit zwischen den Tannen schien von einem kaum hörbaren Flüstern erfüllt.

Doch als wären ihre Worte eine Beschwörungsformel, öffnete sich mit dem Knacken von berstendem Eis eine Tür zwischen den Tannen – eine Tür, die sie nicht gesehen hatte. Ein Streifen Flammenschein tauchte den jungfräulichen Schnee in rotes Licht. Ein Haus, jetzt deutlich zu erkennen, stand zwischen den Tannen. Lange, geschwungene Traufen bekrönten die hölzernen Wände, und das Haus, ins Dickicht geduckt inmitten des vom Schnee zerrissenen Feuerscheins, schien zu atmen.

Der Umriss eines Mannes erschien im Türspalt. Die Ohren des Pferdes drehten sich ruckartig nach vorn; die Haltung des Mädchens wurde steif.

»Komm herein, Wasja«, sagte der Mann. »Es ist kalt.«

ERSTER TEIL

1

Der Tod der Schneemaid

Moskau, nach der Wintersonnenwende, der Nebel von zehntausend Feuerstellen stieg dem drückenden Himmel entgegen. Im Westen war noch etwas Licht, doch im Osten türmten sich die Wolken wie Blutergüsse in der bläulichen Abenddämmerung, ihre Bäuche wölbten sich schwer von Schnee.

Zwei Flüsse schnitten durch den russischen Wald, auf einem von Kiefern bedeckten Hügel, genau an der Stelle, wo sie sich vereinigten, lag Moskau. Seine gedrungenen weißen Mauern umschlossen ein Kunterbunt aus Hütten und Kirchen, die Türme seiner von Eis überzogenen Paläste streckten sich wie in Verzweiflung dem Himmel entgegen. Das Tageslicht schwand, in den hohen Fensterschlitzen der Türme wurden Lichter entzündet.

An einem dieser Fenster stand eine prunkvoll gekleidete Frau und beobachtete, wie der Feuerschein sich mit der stürmischen Dämmerung vermischte. Hinter ihr saßen zwei weitere Frauen neben einem Ofen und nähten.

»Das ist jetzt das dritte Mal, dass Olga innerhalb einer Stunde ans Fenster geht«, flüsterte eine der beiden. Die Ringe an ihren Händen glänzten im Schummerlicht, ihre prächtige Kopfbedeckung lenkte den Blick von den Furunkeln auf ihrer Nase ab.

Die ganz in der Nähe dicht beisammenstehenden Dienerinnen nickten wie Blütenkelche. Vor den kalten Wänden standen Sklaven, das strähnige Haar von Kopftüchern bedeckt.

»Aber natürlich tut sie das, Darinka!«, gab die andere Frau zurück. »Sie wartet auf ihren Bruder, den verrückten Mönch. Wie lange ist es jetzt schon her, dass Bruder Alexander nach Sarai aufgebrochen ist? Mein Mann wartet schon seit dem ersten Schneefall auf ihn. Und jetzt schmachtet die arme Olga am Fenster. Nun, Gott sei ihr gnädig. Bruder Alexander liegt wahrscheinlich tot in einer Schneewehe.« Die Sprecherin war Eudokia Dmitrijewa, die Großfürstin von Moskau. Ihre Robe war mit Juwelen bestickt, ihr rosiger Mund verbarg drei schwarze Zahnstümpfe. Sie hob ihre schrille Stimme. »Du wirst dir noch den Tod holen, wenn du so in diesem Wind stehen bleibst, Olja. Würde Bruder Alexander kommen, wäre er bereits hier.«

»Wie du meinst«, erwiderte Olga kühl vom Fenster aus. »Ich bin froh, dass du hier bist und mich Geduld lehrst. Vielleicht kann meine Tochter von dir lernen, wie sich eine Prinzessin benimmt.«

Eudokias Lippen wurden dünn. Sie hatte keine Kinder. Olga hatte zwei, und sie erwartete noch vor Ostern ein drittes.

»Was war das?«, fragte Darinka plötzlich. »Ich habe ein Geräusch gehört. Ihr nicht?«

Der Sturm draußen wurde stärker. »Das war der Wind«, antwortete Eudokia. »Nur der Wind. Was für eine Närrin du bist, Darinka.« Doch sie zitterte. »Olga, lass noch mehr Wein bringen. Es ist kalt in diesem zugigen Zimmer.«

In Wahrheit war das Nähzimmer warm – fensterlos bis auf den einen Schlitz und außerdem von einem Ofen und den vielen Anwesenden beheizt. Aber … »Nun gut«, erwiderte Olga. Sie nickte ihrer Dienerin zu, und die Frau ging über die Stufen hinunter in die eiskalte Nacht.

»Ich hasse Nächte wie diese«, sagte Darinka. Sie zog ihre Robe enger um sich und kratzte sich etwas Schorf von der Nase. Ihr Blick sprang von den Kerzen zu den Schatten und wieder zurück. »Sie kommt in Nächten wie diesen.«

»Sie?«, fragte Eudokia säuerlich. »Wer ist sie?«

»Wer ist sie?«, wiederholte Darinka. »Soll das heißen, du weißt es nicht?« Sie setzte einen überheblichen Gesichtsausdruck auf. »Sie ist das Gespenst.«

Olgas Kinder, die gerade noch neben dem Ofen gestritten hatten, hörten auf zu kreischen. Eudokia schniefte. Olga, die immer noch am Fenster stand, runzelte die Stirn.

»Da ist kein Gespenst«, erklärte Eudokia. Sie griff nach einer in Honig eingelegten Pflaume, biss hinein und kaute penibel, leckte sich die Süße von den Fingern. Ihrem Tonfall nach hielt sie diesen Palast eines Gespenstes nicht für würdig.

»Ich habe sie gesehen!«, protestierte Darinka verletzt. »Als ich das letzte Mal hier geschlafen habe, habe ich sie gesehen.«

Adlige Frauen, die in Türmen lebten und starben, besuchten einander gern. Hin und wieder, wenn ihre Gatten fort waren, blieben sie über Nacht, und Olgas Palast – sauber, ordentlich und blühend – erfreute sich großer Beliebtheit. Jetzt umso mehr, da Olga im achten Monat schwanger war und nicht mehr nach draußen ging.

Olga verzog missbilligend das Gesicht, doch Darinka, begierig nach Aufmerksamkeit, sprudelte weiter. »Es war kurz nach Mitternacht. Vor ein paar Tagen. Kurz vor der Wintersonnenwende.« Sie beugte sich nach vorn, und ihre Kopfbedeckung kippte bedrohlich. »Etwas hat mich geweckt – ich weiß nicht mehr, was. Ein Geräusch …«

Olga schnaubte kaum hörbar. Darinkas Miene verfinsterte sich. »Ich weiß nicht mehr, was«, wiederholte sie. »Ich bin aufgewacht, und alles war still. Durch die Fensterläden fiel kaltes Mondlicht herein. Ich glaubte, etwas in der Ecke zu hören. Eine Ratte vielleicht.« Sie senkte die Stimme. »Ich hielt mich ganz still, die Decke bis ans Kinn gezogen. Aber ich konnte nicht wieder einschlafen. Da hörte ich ein Wimmern. Ich öffnete die Augen und rüttelte Nastka wach, die neben mir lag. ›Nastka‹, sagte ich, ›Nastka, entzünde eine Laterne. Jemand weint.‹ Aber Nastka rührte sich nicht.«

Darinka hielt inne. Stille hatte sich über den Raum gesenkt.

»Dann«, sprach sie weiter, »sah ich einen Lichtschimmer. Es war ein unchristliches Leuchten, kälter als der Mond, ganz anders als ein angenehmer Feuerschein. Das Leuchten kam immer näher …«

Darinka hielt erneut inne. »Und dann habe ich sie gesehen«, flüsterte sie.

»Sie? Wen? Wie hat sie ausgesehen?«, schallte es aus einem Dutzend Kehlen.

»Weiß wie Knochen«, flüsterte Darinka. »Ein eingesunkener Mund und Augen so dunkel, als könnten sie die ganze Welt verschlingen. Das lippenlose Gesicht starrte mich an, und ich versuchte zu schreien, aber ich konnte nicht.«

Eine Zuhörerin stieß ein Quieken aus, andere rangen die Hände.

»Genug«, bellte Olga und drehte sich vom Fensterschlitz weg. Ihre Stimme schnitt durch die nur halb gespielte Hysterie, und ihre Gäste verstummten unbehaglich. »Du machst meinen Kindern Angst.«

Das stimmte nicht ganz. Maria, die Ältere, saß kerzengerade da, ihre Augen leuchteten. Doch ihr Bruder Daniil hielt sich zitternd an seiner Schwester fest.

»Und dann ist sie verschwunden«, versuchte Darinka, die Geschichte möglichst beiläufig zu Ende zu bringen, und scheiterte. »Ich sprach ein Gebet und schlief ein.«

Sie hob ihren Weinkelch an die Lippen. Die beiden Kinder starrten sie an.

»Das war eine gute Geschichte«, sagte Olga mit einer kaum wahrnehmbaren Strenge in der Stimme. »Aber jetzt ist sie zu Ende. Lasst uns andere Geschichten erzählen.«

Sie ging zu ihrem Platz am Ofen und setzte sich. Der Feuerschein spielte in ihrem doppelt geflochtenen Haar. Der Schneefall draußen wurde stärker. Olga blickte nicht noch einmal zum Fenster, doch ihre Schultern versteiften sich ein wenig, als die Sklaven die Läden schlossen.

Feuerholz wurde nachgelegt, und ein warmes Glühen erfüllte das Zimmer.

»Erzählst du uns eine Geschichte, Mutter?«, rief Olgas Tochter Maria. »Eine Geschichte mit Magie?«

Ein leises, zustimmendes Murmeln ging durch den Raum. Eudokia schaute finster drein, Olga lächelte. Obwohl sie die Prinzessin von Serpuchow war, war sie weit weg von Moskau am Rand der verwunschenen Wildnis aufgewachsen. Olga erzählte seltsame Geschichten aus dem Norden. Adlige Frauen, die ihr Leben zwischen Kapelle, Backhaus und Turm verbrachten, liebten diese Geschichten.

Die Prinzessin betrachtete ihr Publikum. Welche Trauer Olga auch verspürt haben mochte, als sie allein am Fenster gestanden hatte – sie war vollkommen aus ihrem Gesicht verschwunden. Die Hofdamen legten ihre Nadeln weg und rollten sich in freudiger Erwartung auf ihren Kissen zusammen.

Draußen vermischte sich das Rauschen des Windes mit der Stille des Schnees, die selbst ein Geräusch ist. Begleitet von einem Durcheinander aus Rufen und Schreien wurde das restliche Vieh in die Ställe getrieben, wo es sicher vor der Kälte war. Die Bettler krochen von den verschneiten Gassen in die Kirchen und beteten darum, den nächsten Morgen zu erleben. Die Männer auf der Mauer des Kreml rückten näher an ihre Feuerschalen und schlugen die Ohrenklappen an ihren Mützen herunter. Doch der warme Turm der Prinzessin war erfüllt von erwartungsvoller Stille.

»Dann hört zu«, sagte Olga und legte sich ihre Worte zurecht.

»In einem Fürstentum lebte ein Holzfäller mit seiner Frau in einem kleinen Dorf in einem großen Wald. Der Name des Mannes war Mischa, seine Frau hieß Alena, und sie waren sehr traurig. Denn obwohl sie eifrig beteten, die Ikonen küssten und anflehten, zeigte Gott sich nicht geneigt, ihnen ein Kind zu schenken. Es waren harte Zeiten, und sie hatten kein braves Kind, um ihnen über den kalten Winter zu helfen.«

Olga legte sich eine Hand auf den Bauch. Ihr drittes Kind – der namenlose Fremde – hatte gerade ausgetreten.

»Eines Morgens, es hatte stark geschneit, gingen Mann und Frau in den Wald, um Feuerholz zu schlagen. Und wie sie so schlugen und das Holz aufstapelten, schoben sie den frischen Schnee zur Seite, und, ohne sich etwas dabei zu denken, formte Alena den Schnee zu einer blassen Maid.«

»War sie so hübsch wie ich?«, unterbrach Maria.

Eudokia stöhnte. »Sie war eine Schneemaid, du dummes Ding. Durch und durch kalt und weiß und steif. Aber« – Eudokia musterte das kleine Mädchen – »sie war bestimmt hübscher als du.«

Maria errötete und öffnete den Mund.

»Nun«, fuhr Olga eilig fort, »die Schneemaid war tatsächlich weiß und steif. Aber sie war auch groß und schön von Gestalt. Sie hatte einen anmutigen Mund und einen langen Zopf, denn Alena hatte sie mit all ihrer Liebe zu dem Kind, das sie nicht haben konnte, geformt.

»›Siehst du, Frau?‹, sagte Mischa und betrachtete die Schneemaid. ›Nun hast du uns doch noch eine Tochter geschenkt. Das ist unsere Snegurotschka, das Schneemädchen.‹

Alena lächelte, doch ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Da rüttelte eine eisige Brise an den kahlen Ästen, denn Morosko, der Frostdämon, war da und beobachtete die beiden und ihr Schneekind.

Manche sagen, Morosko hätte sich der Frau erbarmt. Andere meinen, dass die Tränen der Frau verzaubert waren und auf die Schneemaid fielen, ohne dass ihr Mann es sah. Aber so oder so, gerade als Mischa und Alena sich auf den Heimweg machen wollten, wurde das Gesicht der Schneemaid frisch und rosig, ihre Augen wurden dunkel und tief, und plötzlich stand ein lebendiges Mädchen im Schnee, nackt wie ein Neugeborenes, und lächelte das alte Ehepaar an.

›Ich bin gekommen, um eure Tochter zu sein‹, sagte sie. ›Wenn ihr mich aufnehmt, werde ich mich um euch kümmern, als wärt ihr mein Vater und meine Mutter.‹

Das Ehepaar starrte sie an, ungläubig zuerst, dann voller Freude. Alena stürzte weinend vor, nahm die kalte Hand der Maid und führte sie zu ihrer Isba.

Sie verlebten friedliche Tage. Snegurotschka wischte den Boden, sie kochte und sang. Manche ihrer Lieder klangen fremdartig und machten ihre Eltern beklommen. Doch das Mädchen war freundlich und stellte sich bei der Arbeit geschickt an. Wenn sie lächelte, war es, als ginge die Sonne auf. Mischa und Alena konnten ihr Glück gar nicht fassen.

Der Mond nahm zu und wieder ab, dann kam die Wintersonnenwende. Das Dorf erwachte zu neuem Leben und war erfüllt vom Duft der goldgelben Kuchen in den Öfen und dem Klimpern der Schlittenglocken.

Manchmal kamen Leute, die auf dem Weg aus dem Dorf oder wieder zurück waren, an Mischas und Alenas Isba vorüber. Die Schneemaid beobachtete sie versteckt hinter einem Holzstapel.

Eines Tages kamen ein Mädchen und ein großer Junge an ihrem Versteck vorbei. Sie gingen Hand in Hand und lächelten einander an, und Snegurotschka war verwirrt von dem freudigen Feuer, das sie auf den Gesichtern der beiden sah.

Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger verstand sie es, dennoch konnte sie nicht aufhören, daran zu denken. Sie war so zufrieden gewesen, doch nun wurde sie unruhig. Sie ging ruhelos in der Isba auf und ab oder zog ihre kalten Spuren durch den Schnee unter den Bäumen.

Der Frühling war nicht mehr weit, als Snegurotschka eine wunderschöne Melodie aus dem Wald hörte. Ein Hirtenjunge spielte auf seiner Flöte.

Snegurotschka schlich fasziniert näher heran, da sah der Junge das blasse Mädchen, und als sie lächelte, fing sein warmes Herz für ihr kaltes Feuer.

Die Wochen vergingen, und der Junge verliebte sich. Der Schnee begann zu schmelzen, der Himmel war klar und von einem sanften Blau, doch die Schneemaid war immer noch ruhelos.

›Du bist aus Schnee gemacht‹, warnte der Frostdämon Morosko sie, als die Maid zu ihm in den Wald ging. ›Du kannst nicht lieben und gleichzeitig unsterblich sein.‹ Der Winter neigte sich dem Ende zu, und der Frostdämon verblasste, nur in den dunkelsten Schatten des Waldes war er noch zu sehen, und die Menschen hielten ihn für eine Brise, die in den Ästen der Christdorn-Sträucher spielte. ›Du wurdest aus dem Winter geboren und wirst ewig leben. Berührst du aber das Feuer, stirbst du.‹

Aber die Liebe des Hirtenjungen hatte die Maid ein wenig hochmütig gemacht. ›Warum muss ich immer kalt sein?‹, erwiderte sie. ›Du bist alt und kalt, aber ich bin jetzt eine Sterbliche und werde dieses Neue erkunden, dieses Feuer.‹

›Du bleibst besser im Schatten‹, war die einzige Antwort.

Der Frühling kam näher. Die Dörfler verließen ihre Häuser immer öfter, um Pflanzen zu sammeln, die an versteckten Orten wuchsen. Wieder und wieder besuchte der Junge Snegurotschkas Isba. ›Komm in den Wald‹, sagte er jedes Mal.

Snegurotschka verließ den dunklen Platz neben dem Ofen, ging nach draußen und tanzte im Schatten. Doch obwohl sie tanzte, war ihr Herz im Innern immer noch kalt.

Der Schnee schmolz nun zusehends, und die Schneemaid wurde bleich und schwach. Sie ging in den dunkelsten Teil des Waldes und weinte. ›Bitte‹, sagte sie. ›Ich möchte fühlen, wie die Menschen fühlen. Ich flehe dich an, erfülle mir diesen Wunsch.‹

›Dann frag den Frühling‹, erwiderte der Frostdämon zögernd. Die länger werdenden Tage schwächten ihn, seine Worte waren mehr Brise als Stimme. Der Wind strich Snegurotschka traurig mit einem Finger über die Wange.

Der Frühling ist wie eine Jungfrau, alt und ewig jung. Blumen ranken sich um seine kräftigen Glieder. ›Ich kann dir geben, was du dir wünschst‹, sagte der Frühling. ›Aber dann wirst du sterben.‹

Snegurotschka erwiderte nichts und ging weinend nach Hause. Wochenlang blieb sie in der Isba und versteckte sich in den Schatten.

Doch dann kam der Hirtenjunge und klopfte an ihre Tür. ›Bitte, meine Liebe‹, sagte er. ›Komm heraus zu mir. Ich liebe dich von ganzem Herzen.‹

Snegurotschka wusste, wenn sie wollte, konnte sie ewig leben – als Schneemaid in einer kleinen Bauern-Isba. Aber … da war diese Musik. Und die Augen ihres Geliebten.

Also lächelte sie und kleidete sich in Blau und Weiß. Dann lief sie nach draußen. Wo die Sonnenstrahlen sie berührten, tropfte Wasser von ihrem flachsblonden Haar.

Sie und der Hirtenjunge gingen an den Rand des Birkenwaldes.

›Spiel auf deiner Flöte für mich‹, sagte Snegurotschka.

Das Wasser tropfte immer schneller, ihre Arme und Hände hinab und aus ihrem Haar. Ihr Gesicht war bleich, doch ihr Blut war warm und ebenso ihr Herz. Der Junge spielte auf seiner Flöte, und Snegurotschka liebte ihn und weinte.

Als das Lied zu Ende war, ging der Hirtenjunge zu ihr und wollte sie in die Arme schließen. Doch als er sich nach ihr streckte, schmolzen ihre Füße. Sie sank auf der feuchten Erde in sich zusammen und verschwand. Ein eisiges Nebelwölkchen entschwebte in den warmen, blauen Himmel, und der Junge blieb allein zurück.

Während die Schneemaid verschwand, breitete der Frühling sein Tuch über das Land, und die kleinen Feldblumen begannen zu blühen. Doch der Hirtenjunge blieb im Dunkel des Waldes und weinte um seine verlorene Liebe.

Mischa und Alena weinten ebenfalls. ›Es war nur ein Zauber‹, tröstete Mischa seine Frau. ›Es konnte nicht andauern, denn sie war aus Schnee gemacht.‹«

Olga unterbrach ihre Erzählung, die Frauen tuschelten untereinander. Daniil war in Olgas Armen eingeschlafen, Maria lehnte müde an ihrem Knie.

»Manche sagen, Snegurotschkas Geist sei im Wald geblieben«, fuhr Olga fort. »Dass sie wieder lebendig wird, wenn der Schnee kommt, um ihren Hirtenjungen in den langen Nächten zu lieben.«

Olga hielt erneut inne.

»Andere sagen, dass sie gestorben ist«, fuhr sie traurig fort. »Denn das ist der Preis für die Liebe.«

Stille hätte einkehren sollen, wie es sich am Ende einer gut erzählten Geschichte gehörte, doch es kam anders. Olga hatte kaum zu Ende gesprochen, da fuhr ihre Tochter Maria hoch und schrie.

»Schau!«, rief sie. »Mutter, schau! Da ist sie, genau da! Schau! Nein … nein! Geh nicht weg!« Die Kleine sprang stolpernd auf, die Augen voller Angst.

Olga drehte ruckartig den Kopf in die Richtung, in die ihre Tochter starrte, doch sie sah nur eine Ecke voller dunkler Schatten. Da – ein weißes Flackern. Nein, das war nur der Feuerschein. Das ganze Zimmer flackerte.

Daniil war jetzt ebenfalls wach und hielt sich am Sarafan seiner Mutter fest.

»Was ist das?«, fragte er.

»Das Kind soll still sein!«

»Ich hab es euch ja gesagt!«, kreischte Darinka triumphierend. »Ich habe euch gesagt, dass das Gespenst echt ist!«

»Genug!«, fuhr Olga auf.

Ihre Stimme erhob sich über die anderen, Geschrei und Geschnatter verstummten. Marias keuchender Atem tönte laut in der Stille. »Ich glaube, es ist schon spät«, sagte Olga kühl. »Wir sind alle müde. Helft eurer Herrin ins Bett.« Die Worte waren an Eudokias Dienerinnen gerichtet, denn die Großfürstin neigte ein wenig zur Hysterie. »Es war nur der Albtraum eines Kindes«, fügte sie mit fester Stimme hinzu.

»Nein«, widersprach Darinka selbstgefällig. »Nein, es ist das Gespenst! Wir sollten alle Angst haben.«

Olga warf ihrer eigenen Kammerdienerin – Varvara mit dem hellen Haar und dem unbestimmbaren Alter – einen scharfen Blick zu. »Kümmere dich darum, dass die Großfürstin von Moskau jetzt zu Bett geht«, wies Olga sie an. Varvara starrte ebenfalls in die dunkle Ecke, doch auf die Anweisung der Prinzessin hin wandte sie sich sogleich ab, ebenso ruhig wie entschlossen. Es war der Feuerschein, sagte sich Olga, der Varvaras Gesicht einen Moment lang hatte traurig aussehen lassen.

»Sie war es!«, beharrte Darinka. »Warum sollte das Kind lügen? Es war das Gespenst! Ein leibhaftiger Teufel …«

»Und sorge dafür, dass Darinka etwas frische Luft und einen Priester bekommt«, fügte Olga hinzu.

Darinka wurde wimmernd aus dem Zimmer gezerrt. Eudokia wurde etwas sanfter behandelt, und der Tumult legte sich.

Olga ging zum Ofen zurück, wo ihre bleichen Kinder saßen.

»Ist es wahr, Matjuschka?«, schniefte Daniil. »Gibt es hier ein Gespenst?«

Maria sagte nichts und krallte die Hände ineinander. Tränen standen noch immer in ihren Augen.

»Das spielt keine Rolle«, erwiderte Olga sanft. »Still, Kinder, habt keine Angst. Gott beschützt uns. Kommt, es ist Zeit fürs Bett.«

2

Zwei Männer Gottes

Marias Kindermädchen wachte in der Nacht zweimal vom Geschrei der Kleinen auf. Beim zweiten Mal ohrfeigte sie das Kind unklugerweise, woraufhin Maria aus dem Bett sprang, wie ein Falke durch die Flure jagte und, noch bevor Varvara etwas dagegen tun konnte, in Olgas Schlafzimmer platzte. Dort krabbelte sie über die schlafenden Dienerinnen hinweg und presste sich zitternd an ihre Mutter.

Olga hatte nicht geschlafen. Sie hatte die Schritte ihrer Tochter gehört, und jetzt spürte sie ihr Zittern, als sie sich an sie drückte. Im Halbdunkel fing sie den Blick der wachsamen Varvara auf, ging ohne ein Wort zur Tür und schickte das Kindermädchen hinaus. Varvara zog sich ungehalten zurück, ihr röchelnder Atem verhallte auf dem Flur. Olga seufzte und streichelte Marias Kopf, bis sie sich beruhigte. »Erzähl’s mir, Mascha«, sagte sie, als die Lider der Kleinen allmählich schwer wurden.

»Ich habe von einer Frau geträumt«, erwiderte Maria mit leiser Stimme. »Sie hatte ein graues Pferd. Sie war sehr traurig. Sie kam nach Moskau und hat es nie wieder verlassen. Sie wollte mir etwas sagen, aber ich habe nicht zugehört. Ich hatte solche Angst!« Maria weinte wieder. »Dann bin ich aufgewacht, und sie war da, wie in meinem Traum. Nur dass sie jetzt ein Gespenst ist …«

»Es war nur ein Traum«, murmelte Olga. »Nur ein Traum.«

Kurz nach Tagesanbruch wurden sie von Stimmen auf dem Hof geweckt.

In dem trägen Moment zwischen Schlafen und Wachen versuchte Olga, sich an ihren eigenen Traum zu erinnern: von Kiefern im Wind, von ihr selbst, wie sie mit ihren Brüdern lachte, barfuß auf der nackten Erde. Doch der Lärm wurde immer lauter, und Maria wachte ebenfalls auf. Von einem Moment auf den anderen war das Landmädchen, das Olga einmal gewesen war, wieder verschwunden und vergessen. Sie schlug ihre Decke zurück.

Maria setzte sich ruckartig auf. Olga war froh, wieder Farbe auf dem Gesicht ihrer Tochter zu sehen; das Tageslicht hatte die Schrecken der Nacht vertrieben. Unter den Stimmen, die aus dem Hof heraufdrangen, war eine, die sie kannte. »Sascha«, flüsterte Olga und konnte es kaum glauben. »Auf!«, rief sie ihren Dienerinnen zu. »Unten ist ein Gast. Bereitet heißen Wein vor, und beheizt das Badehaus.«

Varvara kam mit Schnee im Haar herein. Sie war noch im Dunkeln aufgestanden, um Feuerholz und Wasser zu sammeln. »Euer Bruder ist zurückgekehrt«, sagte sie nüchtern. Ihr Gesicht sah blass und angestrengt aus. Olga glaubte nicht, dass sie geschlafen hatte, nachdem Maria sie mit ihren Albträumen geweckt hatte.

Olga hingegen fühlte sich um ein Dutzend Jahre jünger. »Ich wusste, dass kein Sturm ihn töten kann«, sagte sie und stand auf. »Er ist ein Mann Gottes.«

Varvara erwiderte nichts, stattdessen bückte sie sich und schürte den Ofen an.

»Lass das«, sagte Olga. »Geh in die Küche, und kümmere dich darum, dass die Öfen gut ziehen. Sorge dafür, dass etwas zu essen da ist. Er wird Hunger haben.«

Die Dienerinnen kleideten die Prinzessin und ihre Kinder hastig an. Doch noch bevor Olga bereit war oder auch nur ihren Wein getrunken hatte, noch bevor Daniil und Maria ihren mit Honig gesüßten Haferbrei gegessen hatten, kamen Schritte die Treppe herauf.

Maria sprang auf, Olga runzelte die Stirn. Das Kind versprühte eine feenhafte Fröhlichkeit, die im scharfen Gegensatz zu seiner Blässe stand. Vielleicht waren die Schrecken der Nacht doch noch nicht ganz vergessen. »Onkel Sascha ist wieder da!«, rief Maria. »Onkel Sascha!«

»Bringt ihn herein«, sagte Olga. »Mascha …«

Eine dunkle Gestalt erschien im Türspalt, das Gesicht von einer Kapuze beschattet.

»Onkel Sascha!«, rief Maria wieder.

»Nein, Mascha, es gehört sich nicht, einen heiligen Mann so zu begrüßen!«, rief das Kindermädchen, doch Maria hatte bereits drei Stühle und einen Weinbecher umgeworfen und rannte auf ihren Onkel zu.

»Gott sei mit dir, Mascha«, sagte eine warme, volltönende Stimme. »Lass, Kind, ich bin voller Schnee.« Er schlug die Kapuze zurück, Schnee spritzte in alle Richtungen, dann machte er das Kreuzzeichen über Marias Kopf und umarmte sie.

»Gott sei mit dir, Bruder«, sagte Olga vom Ofen aus. Sie sprach die Worte ganz ruhig, doch das Leuchten in ihrem Gesicht überstrahlte alle Falten darin. »Du Schuft, ich hatte solche Angst um dich«, fügte sie hinzu; sie konnte nicht anders.

»Gott sei mit dir, Schwester«, erwiderte der Mönch. »Ängstige dich nicht. Ich gehe, wohin der Vater mich schickt.« Er sprach sehr ernst, doch dann lächelte er. »Ich freue mich, dich zu sehen, Olja.«

Er trug einen Pelzmantel über seiner Mönchsrobe, die zurückgeschlagene Kapuze gab den Blick auf seine Tonsur und einen schwarzen Bart voller Eiszapfen frei.

Sein eigener Vater hätte ihn kaum wiedererkannt: Aus dem stolzen Jüngling war ein Mann geworden, breitschultrig, ruhig und geschmeidig wie ein Wolf. Nur die hellen Augen – es waren die Augen seiner Mutter – hatten sich in den zehn Jahren, seit er von Lesnaja Semlja fortgeritten war, nicht verändert.

Olgas Dienerinnen lugten verstohlen. In Moskau durfte niemand außer einem Mönch, einem Priester, einem Ehegatten, einem Sklaven oder einem Kind ein Terem betreten. Die Erstgenannten waren stets alt und niemals groß gewachsen, sie hatten keine grauen Augen und rochen nicht nach fernen Landen.

Eine der Dienerinnen, schlaksig und mit einem Hang zum Romantischen, sagte unvorsichtig zu ihrer Nachbarin: »Das ist Bruder Alexander Pereswet, Alexander der Lichtbringer, du weißt schon, der …«

Varvara ohrfeigte die Dienerin, und sie verstummte. Olga blickte in die Runde. »Lass uns in die Kapelle gehen, Sascha«, sagte sie. »Wir wollen uns mit einem Gebet für deine Rückkehr bedanken.«

»Gleich, Olja«, entgegnete Sascha. Er hielt inne. »Ich habe einen Reisenden aus der Wildnis mitgebracht, er ist sehr krank. Er liegt in deinem Nähzimmer.«

Olga runzelte die Stirn. »Ein Reisender? Hier? Gut, gehen wir nach ihm sehen. Nein, Mascha. Du isst zuerst deinen Haferbrei auf, Kind, bevor du überall herumrennst wie ein Käfer im Glas.«

Der Mann lag auf einem Pelzvorleger in der Nähe des Ofens, Schmelzwasser troff von seinen Kleidern und floss in alle Richtungen.

»Wer ist das, Bruder?« Olga konnte sich nicht hinknien, so rund, wie sie war. Sie legte nachdenklich einen Finger auf die Lippen und musterte das erbarmungswürdige Häuflein Mensch auf dem Boden.

»Ein Priester«, antwortete Sascha und schüttelte sich die Tropfen aus dem Bart. »Ich kenne seinen Namen nicht. Ich habe ihn zwei Tage von Moskau entfernt von der Straße aufgelesen, er war krank und hat fantasiert. Ich habe ein Feuer gemacht, ihn ein wenig aufgetaut und mitgenommen. Gestern, als der Sturm kam, musste ich eine Schneehöhle graben. Ich wäre auch heute noch dortgeblieben, aber sein Zustand verschlechterte sich. Ich fürchtete, er würde mir unter den Fingern wegsterben, also habe ich das Risiko auf mich genommen und bin weitergeritten, um ihn aus dieser Kälte zu schaffen.«

Sascha beugte sich geschmeidig zu dem Kranken hinunter und wickelte den Stoff von seinem Gesicht. Seine Augen waren von einem tiefen, fast schon beängstigenden Blau; sie starrten leer zu den Dachbalken hinauf. Die Wangenknochen ragten kantig unter seiner Haut hervor, und seine Stirn glühte vom Fieber.

»Kannst du ihm helfen, Olja?«, fragte der Mönch. »Im Kloster wird er nicht mehr bekommen als eine Zelle und ein Stück Brot.«

»Hier ist er besser dran«, antwortete Olga. Sie drehte sich um und erteilte schnell ein paar Anweisungen, bevor sie weitersprach. »Aber sein Leben liegt in Gottes Hand. Ich kann nicht versprechen, dass ich ihn retten kann. Er ist sehr krank. Die Sklaven werden ihn ins Badehaus bringen.« Sie musterte ihren Bruder. »Und du solltest ebenfalls dort hingehen.«

»Sehe ich so steifgefroren aus wie der hier?«, fragte Sascha. Tatsächlich traten seine eingesunkenen Wangen und Schläfen jetzt, nachdem Schnee und Eis von seinem Gesicht geschmolzen waren, erschreckend deutlich hervor. Er schüttelte sich den letzten Schnee aus den Haaren. »Noch nicht, Olja«, sagte er und erhob sich. »Lass uns beten und etwas Warmes essen, danach muss ich zum Großfürsten. Er wird zornig sein, dass ich nicht gleich zu ihm gekommen bin.«

Der Weg vom Palast zur Kapelle war gepflastert und überdacht, damit Olga und ihre Dienerinnen bequem zum Gottesdienst gehen konnten. Die Kapelle selbst war wie eine Schmuckschatulle: Jede Ikone war vergoldet, alles blitzte und glänzte, Perlen schimmerten im Kerzenschein. Saschas klare Stimme ließ die Kerzen erzittern, während er betete. Olga kniete vor der Muttergottes und vergoss, hier, wo niemand sie sehen konnte, ein paar stille Glückstränen.

Danach zogen sie sich in Olgas Gemächer zurück und setzten sich an den Ofen. Die Kinder waren nicht da, und Varvara hatte die Dienerinnen fortgeschickt. Eine dampfende Suppe wurde gebracht. Sascha stürzte sie regelrecht hinunter und bat um Nachschlag.

»Was gibt es für Neuigkeiten?«, fragte Olga ungeduldig, während sie aßen. »Was hat dich so lange aufgehalten? Versuche nicht, mich mit ›Gottes Werk‹ oder etwas dergleichen abzuspeisen, Bruder. Es sieht dir gar nicht ähnlich, dich so zu verspäten.«

Obwohl sie allein waren, hielt Olga ihre Stimme gesenkt. In dem stets geschäftigen Terem war es beinahe unmöglich, ein privates Gespräch zu führen.

»Ich bin nach Sarai und wieder zurück geritten«, antwortete Sascha unbekümmert. »Das geht nicht in einem Tag.«

Olga blickte ihm fest in die Augen.

Sascha seufzte.

Sie wartete.

»Der Winter ist früh hereingebrochen in den Steppen des Südens«, sagte er schließlich. »Bei Kazan verlor ich mein Pferd und musste eine Woche lang zu Fuß laufen. Als ich noch fünf Tage oder vielleicht auch ein bisschen mehr von Moskau entfernt war, kam ich an einem niedergebrannten Dorf vorbei.«

Olga bekreuzigte sich. »Ein Unglück?«

Sascha schüttelte langsam den Kopf. »Banditen. Tataren. Sie haben die Mädchen mitgenommen, um sie im Süden an die Sklavenhändler zu verkaufen, und unter den restlichen Dorfbewohnern ein Massaker angerichtet. Ich habe Tage gebraucht, um die Sakramente über all den Toten zu sprechen und sie zu begraben.«

Olga bekreuzigte sich erneut, langsamer diesmal.

»Als ich nichts mehr tun konnte, bin ich weitergeritten«, fuhr Sascha fort. »Dann kam ich an einem Dorf vorbei, das genauso aussah. Und noch einem.« Seine Wangen und der Kiefer hoben sich kantig vom Gesicht ab, während er sprach.

»Gott gebe ihnen Frieden«, flüsterte Olga.

»Sie sind organisiert, diese Banditen«, sprach Sascha weiter. »Sie müssen irgendwo einen Unterschlupf haben, sonst könnten sie nicht im Januar Dörfer überfallen. Und sie haben bessere Pferde als früher, denn sie haben schnell zugeschlagen und sind ebenso schnell wieder verschwunden.« Er krallte die Finger in seine Schüssel, etwas Suppe schwappte über den Rand. »Ich habe mich auf die Suche gemacht, aber keine Spur von den Banditen gefunden außer rauchenden Ruinen und den Geschichten, die mir die Bauern erzählten, eine schrecklicher als die andere.«

Olga erwiderte nichts. Zu Zeiten ihres Großvaters war die Goldene Horde unter einem starken Khan vereint gewesen – dass Tataren-Banditen in Moskowien einfielen, das immer ein treuer Vasallenstaat gewesen war, hätte es damals nicht gegeben. Doch mittlerweile war Moskau nicht mehr so zahm, nicht mehr so vorsichtig und auch nicht mehr so treu. Und was noch wichtiger war: Die Goldene Horde war nicht mehr geeint. Die Khane kamen und gingen und stellten mal diese, mal jene Forderungen an den Großfürsten, während ihre Generäle sich untereinander bekriegten. Solche Zeiten riefen herrenlose Marodeure auf die Bühne, und jeder, der in Reichweite der Horde war, bezahlte den Preis dafür.

»Sorge dich nicht, Schwester«, fügte Sascha hinzu, der ihren Blick missverstanden hatte. »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Moskaus Mauern sind zu stark für Banditen, und Vaters Dorf in Lesnaja Semlja ist zu abgelegen. Aber diesem Gesindel muss das Handwerk gelegt werden. Ich reite weiter, sobald ich kann.«

Olga erstarrte, riss sich zusammen und fragte: »Weiter? Wann?«

»Sobald ich die dafür nötigen Männer beisammenhabe.« Er sah Olgas Gesichtsausdruck und seufzte. »Vergib mir. In anderen Zeiten würde ich bleiben, aber während der letzten Wochen habe ich zu viele Tränen gesehen.«

Sascha war ein seltsamer Mann, erschöpft und gütig und mit einer zu Stahl geschmiedeten Seele.

Olga begegnete seinem Blick. »Es stimmt, Bruder, du musst gehen«, sagte sie gemessen. Ein aufmerksamer Zuhörer hätte vielleicht den verbitterten Unterton in ihrer Stimme bemerkt. »Du gehst, wohin Gott dich entsendet.«

3

Die Enkel von Iwan Geldsack

Der Festsaal des Großfürsten war lang, niedrig und schummrig. Die Bojaren lümmelten an den langen Tafeln wie Hunde, während Dmitri Iwanowitsch, der in prächtige Zobelpelze und safranfarbene Wolle gekleidete Großfürst von Moskau, am anderen Ende des Saals Hof hielt.

Dmitri war ein Mann von grimmig-unerschütterlich gutem Humor. Breitbrüstig und lebhaft, ungeduldig und egoistisch, aufbrausend und gütig. Sein Vater Iwan hatte den Beinamen »der Schöne« getragen, und der junge Fürst hatte Iwans gutes Aussehen geerbt: goldgelbes Haar, helle Haut und graue Augen.

Als Sascha den Saal betrat, sprang der Großfürst auf. »Vetter!«, polterte er, sein Gesicht strahlte unter der juwelenbesetzten Mütze. Er stürmte mit langen Schritten los, bis die verständnislose Reaktion eines Dieners ihn an seine Würde erinnerte und er stehen blieb. Dmitri wischte sich über den Mund und bekreuzigte sich. Der Weinbecher in seiner anderen Hand passte nicht recht zu der Geste – er stellte ihn hastig ab, küsste Sascha auf beide Wangen und sagte: »Wir haben das Schlimmste befürchtet.«

»Der Herr sei mit dir, Dmitri Iwanowitsch«, erwiderte Sascha mit einem Lächeln. Ihre Jugend hatten die beiden gemeinsam in Saschas Lawra, dem Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad, verbracht, bis Dmitri die Volljährigkeit erreichte.

Ein Gewirr von Männerstimmen erfüllte den rauchgeschwängerten Saal. Dmitri thronte über den Resten eines Wildschweins. Die leichten Mädchen waren eilig nach draußen gescheucht worden, doch Sascha konnte sie selbst jetzt noch riechen, zusammen mit dem Wein und dem fettigen Fleisch.

Und er konnte ebenso die Blicke der Bojaren spüren, die sich fragten, welche Kunde er bringen mochte.

Was, hatte Sascha sich schon immer gefragt, brachte Menschen dazu, sich in schmutzigen Räumen zusammenzudrängen und die frische Luft auszusperren?

Dmitri schien den Ekel seines Vetters zu bemerken. »Das Badehaus!«, rief er. »Lasst das Badehaus einheizen. Mein Vetter ist müde, und ich möchte unter vier Augen mit ihm sprechen.« Er nahm vertraulich Saschas Arm. »Ich habe das Geschrei hier drinnen genauso satt wie du«, sagte er, doch Sascha bezweifelte es. Moskaus lärmende Intrigen hatten Dmitri regelrecht erblühen lassen, die Lawra war stets zu klein und zu still für ihn gewesen. »Du!«, rief der Großfürst seinem Vogt zu. »Kümmere dich darum, dass die Männer hier alles haben, was sie brauchen.«

Vor langer Zeit, als die Mongolen zum ersten Mal über die Rus herfielen, war Moskau ein schlichter, aus dem Boden gestampfter Handelsposten gewesen, eine Reaktion auf die Raubzüge der Goldenen Horde, auf die Reichtümer Wladimirs, Susdals und des großen Kiew.

Das allein genügte nicht, um den Bestand der Stadt zu sichern, als die Tataren kamen. Doch Moskau hatte kluge Fürsten, und noch bevor die Wunden der Eroberung verheilt waren, begannen die Moskowiter, sich ihre Eroberer zu Verbündeten zu machen.

Mit ihrer Treue gegenüber der Horde verfolgten sie gleichzeitig ihre eigenen Ziele. Als die Khane Steuern erhoben, bezahlten die moskowitischen Fürsten sie. Das Geld dafür pressten sie aus ihren Bojaren heraus. Im Gegenzug gaben die erfreuten Khane den Moskowitern mehr Territorium, und nicht nur das: Sie gaben ihnen das Herrschaftsrecht über Wladimir und den Titel »Großfürst«. Die Herrscher Moskaus prosperierten, und ihr kleines Reich wuchs.

Doch während Moskau gedieh, schwand die Goldene Horde. Erbitterte Fehden zwischen den Kindern des Großkhans erschütterten den Thron, und die Bojaren von Moskau begannen einander zuzuflüstern: Die Tataren sind nicht einmal Christen, und sie sind nicht in der Lage, einen Herrscher sechs Monate lang auf dem Thron zu halten, bevor ein anderer sich ihn unter den Nagel reißt. Warum Tribut an sie zahlen? Warum sind wir ihre Vasallen?

Dmitri, kühn, aber auch praktisch veranlagt, besah sich das Chaos in Sarai, merkte, dass die Register des Khans mindestens fünf Jahre hinterher sein mussten, und stellte die Steuerzahlungen still und heimlich ein. Das Geld hortete er und entsandte seinen Vetter Sascha ins Land der Heiden, um die Lage dort auszuspähen. Der wiederum schickte Bruder Rodion, einen vertrauenswürdigen Freund, zu seinem Vater nach Lesnaja Semlja, um ihn vor einem heraufziehenden Krieg zu warnen.

Nun war Sascha mitten im kältesten Winter mit Neuigkeiten aus Sarai zurückgekehrt, die er nur sehr ungern überbrachte.

Er lehnte den Hinterkopf an die hölzerne Wand des Badehauses und schloss die Augen. Der Dampf wusch einen Teil des Schmutzes und der Erschöpfung von seiner Reise ab.

»Du siehst schrecklich aus, Mönch«, sagte Dmitri fröhlich und biss in ein Stück Gebäck. Der Schweiß von zu viel Fleisch und Wein troff von seinem Körper.

Sascha öffnete ein Auge einen Spaltbreit. »Und du wirst fett«, konterte er. »Du solltest diesen Frühling ins Kloster gehen und zwei Wochen fasten.« Als Junge hatte Dmitri sich an Fastentagen oft aus der Lawra in den Wald geschlichen und war auf Kaninchenjagd gegangen, um die Tiere dann zu verspeisen. Seinem Aussehen nach zu urteilen, dachte Sascha, machte er das heute noch so.

Dmitri lachte. Unvorsichtige ließen sich durch den überbordenden Charme des Fürsten allzu leicht von seinem berechnenden Blick ablenken. Sein Vater war gestorben, noch bevor Dmitri zehn wurde, und das in einem Land, in dem junge Prinzen selten das Erwachsenenalter erreichten. Dmitri hatte früh gelernt, die Menschen sorgfältig abzuschätzen und ihnen nicht zu trauen. Aber Bruder Alexander war zuerst sein Lehrer und später sein Freund gewesen, als sie beide in der Lawra lebten. Also grinste er nur und erwiderte: »Eine Nacht und ein ganzer Tag mit so viel Schneefall, was bleibt einem da schon anderes übrig als essen? Ich darf mir nicht mal ein Mädchen nehmen, sagt Vater Andrej. Zumindest nicht, bis Eudokia so gnädig ist, mir einen Erben zu gebären.«

Dmitri lehnte sich zurück, runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Als ob die unfruchtbare Ziege das jemals tun würde.« Er schaute einen Moment lang grimmig drein, dann hellte sich seine Miene wieder auf. »Aber wenigstens bist du jetzt hier. Wir waren schon am Verzweifeln. Erzähl, wer sitzt in Sarai gerade auf dem Thron? Wie ist die Stimmung bei den Generälen? Erzähl mir alles.«

Sascha hatte gegessen und gebadet, jetzt wollte er nur noch schlafen, egal wo, solange es nicht auf dem Boden war. Doch er öffnete die Augen und antwortete: »Es darf im Frühling keinen Krieg geben, Vetter.«

Der Fürst fixierte Sascha. »Nein?« Es war die Stimme des Prinzen, selbstsicher und ungeduldig. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war der Grund, warum er nach zehn Jahren und drei Belagerungen immer noch auf dem Thron saß.

»Ich war in Sarai«, begann Sascha vorsichtig. »Und jenseits davon. Ich war in den Lagern der Nomaden und habe mit vielen Leuten gesprochen. Ich habe mein Leben riskiert, mehr als einmal.« Er hielt inne, sah erneut den heißen Staub in der Luft, den Himmel über der Steppe, schmeckte die fremdartigen Gewürze. Neben der prunkvollen Hauptstadt der Heiden wirkte Moskau wie eine von nicht sonderlich geschickten Kindern innerhalb eines Tages gebaute Sandburg.

»Es stimmt, dass die Khane mittlerweile kommen und gehen wie die Jahreszeiten«, sprach Sascha weiter. »Sie regieren etwa sechs Monate lang, dann tritt ein Onkel, Vetter oder Bruder an ihre Stelle. Doch das spielt keine Rolle. Die Generäle haben ihre Heere, und ihre Macht hält an, auch wenn der Thron wackelt.«

Dmitri überlegte einen Moment. »Aber denk doch mal nach! Ein Sieg, wenn auch hart errungen, würde mich zum Herrscher über ganz Rus machen. Wir müssten den Ungläubigen keine Steuern mehr zahlen. Ist das nicht ein kleines Risiko, ein kleines Opfer wert?«

»Ja«, bestätigte Sascha. »Am Ende schon. Aber es sind nicht die einzigen Nachrichten, die ich bringe. Sobald es Frühling ist, wirst du andere Sorgen haben, und zwar direkt vor deiner Türschwelle.«

Und dann berichtete Bruder Alexander dem Großfürsten von Moskau grimmig von brennenden Dörfern, von Briganten und von Feuerschein am Horizont.

Während Bruder Alexander den Herrscher beriet, badeten Olgas Sklaven den kranken Priester, den Sascha mit nach Moskau gebracht hatte. Sie gaben ihm frische Kleider und die Zelle eines Beichtvaters. Olga streifte sich eine Robe mit Kaninchenfellkragen über und ging zu ihm.

In einer Ecke des Raumes stand ein kleiner Ofen mit einem frisch angeschürten Feuer. Sein Leuchten vermochte die Dunkelheit nicht zu durchdringen, doch als Olgas Dienerinnen mit ihren tönernen Laternen hereinkamen, zogen sich die Schatten unterwürfig zurück.

Der Priester lag nicht auf dem Bett. Er lag vor den Ikonen zusammengekrümmt auf dem Boden und betete. Sein langes Haar war um ihn herum ausgebreitet und schimmerte im Flammenschein.

Die Dienerinnen in Olgas Rücken tuschelten und reckten die Hälse. Der Lärm hätte ihn eigentlich stören müssen, doch der Priester rührte sich nicht. War er tot? Olga stürzte vor, aber bevor sie ihn berühren konnte, setzte er sich auf, bekreuzigte sich und kam schwankend auf die Beine.

Olga blinzelte.

Darinka, die sich mitsamt ihrem Gefolge aus glotzenden Begleiterinnen selbst eingeladen hatte, schnappte kichernd nach Luft. Die Haare fielen dem Mann offen über die Schultern, golden wie die Krone eines Heiligen, und die Augen unter seiner gefurchten Stirn waren von einem stürmischen Blau. Die rote Unterlippe war das einzig Weiche in seinem wie gemeißelt wirkenden Gesicht.

Die Frauen gerieten ins Stottern. Olga fing sich als Erste wieder. »Gott sei mit Euch, Vater«, sagte sie.

Die blauen Augen des Priesters leuchteten vom Fieber, Schweiß verklebte sein goldenes Haar. »Möge Gott Euch segnen«, erwiderte er. Seine Stimme tönte aus voller Brust und brachte die Kerzenflammen zum Erzittern. Er schaute Olga nicht direkt an, sondern schien mit glasigen Augen durch sie hindurch in die Schatten unterhalb der Decke zu starren.

»Ich weiß Eure Frömmigkeit zu schätzen, Vater«, sagte sie. »Bezieht mich in Eure Gebete mit ein, aber Ihr müsst jetzt zurück ins Bett. Diese Kälte ist tödlich.«

»Ob ich lebe oder sterbe, ist allein Gottes Wille«, erwiderte der Priester. »Es ist besser …« Er schwankte. Varvara fing ihn auf, bevor er stürzte; sie war viel stärker, als sie aussah. Ein Ausdruck leichter Abscheu huschte über ihr Gesicht.

»Legt Holz nach«, fuhr Olga die Sklaven an. »Macht Suppe warm. Bringt heißen Wein und Decken.«

Varvara hob den Priester stöhnend auf sein Bett, dann holte sie einen Stuhl für ihre Herrin. Olga ließ sich auf den Stuhl sinken, während die anderen Frauen sich glotzend hinter ihr versammelten. Der Priester lag ganz still. Wer war er, und woher kam er?

»Hier ist etwas Met«, sagte Olga, als seine Augenlider flackerten. »Kommt, setzt Euch auf. Trinkt.«

Er richtete mühsam den Oberkörper auf und trank keuchend, sah Olga die ganze Zeit über den Rand seines Bechers hinweg an. »Ich danke Euch – Olga Wladimirowa«, sagte er, nachdem er den Becher wieder abgesetzt hatte.

»Woher kennt Ihr meinen Namen, Batjuschka?«, fragte sie. »Wie hat es Euch so krank auf Wanderung durch die Wälder verschlagen?«

Seine Wange zuckte. »Ich komme aus Lesnaja Semlja, vom Heim Eures Vaters. Ich wanderte auf langen Straßen, in Kälte und Dunkelheit …« Seine Stimme erstarb und kehrte wieder zurück. »Ich sehe die Familienähnlichkeit in Eurem Gesicht.«

Lesnaja Semlja … Olga beugte sich nach vorn. »Habt Ihr Neuigkeiten von dort? Wie geht es meinen Brüdern und Schwestern? Wie geht es meinem Vater? Erzählt es mir, ich habe seit dem Sommer nichts mehr gehört.«

»Euer Vater ist tot.«

Es wurde so still im Raum, dass sie die Scheite im Ofen zerbröckeln hörten.

Olga saß stumm da. Ihr Vater, tot? Er hatte seine Enkelkinder nicht ein einziges Mal gesehen.

Was spielt das schon für eine Rolle? Er war jetzt glücklich, war wieder bei Olgas Mutter … Aber er lag auf ewig in seiner geliebten winterlichen Erde begraben, und Olga würde ihn nie wiedersehen. »Gott gebe seiner Seele Frieden«, flüsterte sie bedrückt.

»Es tut mir leid«, erwiderte der Priester.

Olga schüttelte den Kopf, ihr Kehlkopf hüpfte einmal auf und ab.

»Hier«, sagte der Priester plötzlich und hielt ihr seinen Becher hin. »Trinkt.«

Olga stürzte den Wein hinunter, reichte Varvara den leeren Becher und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Schließlich brachte sie mit gemessener Stimme hervor: »Wie ist er gestorben?«

»Es ist eine schlimme Geschichte.«

»Ich will sie hören«, beharrte Olga.

Gemurmel ging zwischen den Frauen hin und her.

»Nun gut«, sagte der Priester. Ein beißender Unterton stahl sich in seine Stimme. »Er ist wegen Eurer Schwester gestorben.«

Interessiert-entzücktes Keuchen von den Umstehenden. Olga biss sich in die Wange. »Raus«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben. »Geht zurück nach oben, Darinka, bitte.«

Die Frauen murrten, aber sie gingen. Nur Varvara blieb aus Anstandsgründen da und zog sich mit vor der Brust verschränkten Armen in eine dunkle Ecke zurück.

»Wasja?«, fragte Olga mit krächzender Stimme. »Meine Schwester, Wasilisa? Was sollte sie mit …?«

»Wasilisa Petrowna kannte weder Gott noch Gehorsam«, unterbrach der Priester. »Ein Teufel wohnte in ihrer Seele. Ich habe versucht – lange versucht – sie Rechtschaffenheit zu lehren. Doch ich bin gescheitert.«

»Ich verstehe nicht …«, begann Olga, aber der Priester hatte sich noch gerader aufgesetzt in seinen Kissen; Schweiß sammelte sich in dem Grübchen unter seinem Kehlkopf.

»Sie sah Dinge, die nicht da waren«, flüsterte er. »Sie ging in den Wald und kannte keine Angst. Überall im Dorf sprachen die Leute davon. Die freundlichen sagten, sie sei verrückt. Aber die anderen sprachen von Hexerei. Sie wuchs zur Frau heran, und wie eine Hexe zog sie die Blicke der Männer auf sich, obwohl sie keine Schönheit war …« Seine Stimme brach, kehrte zurück. »Euer Vater, Pjotr Wladimirowitsch, arrangierte hastig eine Hochzeit, um sie zu verheiraten, bevor Schlimmeres sie befiel. Doch sie widersetzte sich ihm und vertrieb den Freier. Pjotr Wladimirowitsch traf Vorkehrungen, sie in ein Kloster zu schicken. Er fürchtete … Zu diesem Zeitpunkt fürchtete er um ihre Seele.«

Olga versuchte sich vorzustellen, wie aus ihrer Schwester mit den feengrünen Augen das Mädchen geworden war, das der Priester beschrieb. Es fiel ihr allzu leicht. Ein Kloster? Wasja? »Das kleine Mädchen, das ich kannte, konnte das Eingesperrtsein nie ertragen«, entgegnete sie.

»Sie hat sich gewehrt«, bestätigte der Priester. »Nein, sagte sie und wieder Nein. Sie lief nachts in den Wald, zur Wintersonnenwende, immer noch uneinsichtig. Pjotr Wladimirowitsch machte sich auf die Suche nach seiner Tochter, genauso wie Anna Iwanowna, ihre arme Stiefmutter.«

Der Priester hielt inne.

»Und dann?«, flüsterte Olga.

»Ein Tier fand sie«, sagte er. »Wir glaubten … Es heißt, es sei ein Bär gewesen.«

»Im Winter?«

»Wasilisa muss in seine Höhle gegangen sein. Mädchen tun törichte Dinge.« Die Stimme des Priesters wurde lauter. »Ich weiß es nicht; ich habe es nicht gesehen. Pjotr rettete seiner Tochter das Leben. Doch er selbst wurde getötet, und mit ihm seine arme Frau. Einen Tag später lief Wasilisa weg, nach wie vor im Wahn, und seitdem hat niemand mehr etwas von ihr gehört. Wir können nur vermuten, dass sie ebenfalls tot ist, Olga Petrowna. Sie und Euer Vater, beide.«

Olga presste das Gesicht in die Hände. »Ich habe Wasja einst versprochen, dass sie jederzeit herkommen und hier bei mir leben kann. Ich hätte sie ein wenig an der Hand nehmen können. Ich hätte …«

»Grämt Euch nicht«, sagte der Priester. »Euer Vater ist bei Gott, und Eure Schwester hat ihr Schicksal verdient.«

Olga hob verwirrt den Kopf, doch die blauen Augen des Priesters waren ausdruckslos. Sie hatte sich den giftigen Ton in seiner Stimme nur vorgestellt, sagte sie sich und fing sich wieder. »Ihr habt große Gefahren auf Euch genommen, um mir diese Nachricht zu überbringen«, begann sie. »Was … wünscht Ihr Euch dafür als Gegenleistung? Verzeiht, Vater, ich kenne nicht einmal Euren Namen.«

»Mein Name ist Konstantin Nikonowitsch«, antwortete der Priester. »Und ich wünsche mir gar nichts. Ich werde dem Kloster beitreten und dort für diese verderbte Welt beten.«

4

Der Herr des Knochenturms

Das Erzengel-Michael-Kloster in Moskau war von Metropolit Alexius gegründet worden, und sein Hegumen, Vater Andrej, war wie Sascha ein Schüler des heiligen Sergius gewesen. Vater Andrej hatte die Figur eines Pilzes: rund und weich und klein. Sein Gesicht war das eines fröhlichen, lasterhaften Engels, er verfügte über ein erstaunlich weltliches Gespür für Politik und unterhielt eine Tafel, um die alle drei anderen Klöster ihn beneidet hätten. »Der Völler vermag nicht, seine Gedanken Gott zuzuwenden«, erklärte er herablassend. »Der Hungerleider allerdings ebenso wenig.«

Sobald der Großfürst ihn gehen ließ, begab sich Sascha auf direktem Weg ins Kloster. Während Konstantin in Olgas warmem Palast betete, unterhielten er und Andrej sich im Speisesaal des Klosters bei Salzfisch und Kohl, denn es war Mittagszeit und ein Fastentag.

Nachdem Andrej die Geschichte seines jungen Besuchers angehört hatte, sagte er nachdenklich und mit vollem Mund: »Es tut mir leid, von diesen Brandschatzungen zu hören. Doch Gottes Wege sind unerforschlich, und diese Nachricht kommt zur rechten Zeit.«

Das war nicht die Reaktion, mit der Sascha gerechnet hatte. Er hob fragend eine Augenbraue. Seine von der Kälte ein wenig aufgesprungenen Hände lagen ineinander verschränkt und ganz ruhig auf dem hölzernen Tisch.

Andrej sprach ungeduldig weiter. »Du musst den Großfürsten aus der Stadt schaffen. Nimm ihn mit auf Banditenjagd. Lass ihn bei einem hübschen Mädchen liegen, das ihm nicht gleich einen Sohn gebiert«, führte der alte Hegumen ungeniert aus. Bevor er sich Gott verschrieben hatte, war er ein Bojar gewesen und hatte selbst sieben Kinder. »Dmitri ist angespannt. Seine Frau schenkt ihm weder Freude im Bett noch Kinder, auf die er seine Hoffnungen setzen könnte. Wenn das noch lange so geht, wird Dmitri einen Krieg gegen die Tataren anfangen – oder gegen sonst jemand –, um sich mit irgendeiner Torheit von seiner Langeweile abzulenken. Die Zeit ist noch nicht reif dafür, wie du richtig sagst. Besser, du gehst mit ihm stattdessen auf Banditenjagd.«

»Das werde ich«, erwiderte Sascha, leerte seinen Becher und erhob sich. »Danke für die Warnung.«

Während seiner Abwesenheit war Bruder Alexanders Zelle hergerichtet worden. Ein sauberes Bärenfell lag auf der schmalen Pritsche. In der Ecke gegenüber der Tür stand eine Ikone von Christus und der Jungfrau Maria. Sascha betete lange, während draußen die Glocken läuteten und sich der heidnische Mond über die verschneiten Türme Moskaus erhob.

Muttergottes, bitte für meinen Vater, meinen Bruder und meine Schwestern. Bitte für meinen Klostervorsteher und Bruder in Christo in der Wildnis. Zürne nicht, weil wir noch nicht gegen die Tataren kämpfen. Sie sind noch zu stark, und sie sind zu viele. Vergib mir meine Sünden. Vergib mir.

Der Kerzenschein spielte auf dem schmalen Gesicht der Jungfrau, und ihr Kind schien ihn aus dunklen, übermenschlichen Augen zu beobachten.

Am nächsten Morgen ging Sascha mit den Brüdern zum Oútrenya, dem Morgengottesdienst. Er verneigte sich vor der Ikonostase, die Stirn auf den Boden gepresst. Nachdem er seine Gebete gesprochen hatte, trat er sofort hinaus in die halb vom Schnee begrabene funkelnde Stadt.

Dmitri Iwanowitsch war nicht frei von Lastern, doch Trägheit gehörte nicht dazu. Sascha fand ihn auf dem Innenhof; gut gelaunt und mit roten Wangen hantierte er im Kreis seiner jüngeren Bojaren mit einem neuen Schwert. Sein Lieblingsschmied aus Nowgorod hatte es gemacht, das Heft war geformt wie eine Schlange. Gemeinsam inspizierten Fürst und Mönch die Waffe, allerdings mit geteilter Bewunderung.

»Es wird meine Feinde das Fürchten lehren«, erklärte Dmitri.

»Bis du versuchst, einem von ihnen mit dem Heft den Kopf einzuschlagen, und es abbricht«, entgegnete Sascha. »Sieh dir die dünne Stelle an, hier, wo der Schlangenkopf sich mit der Klinge vereint.«

Dmitri betrachtete den Griff genauer. »Hm, dann probier es an mir aus«, schlug er vor.

»Gott behüte«, widersprach Sascha hastig. »Aber wenn du dieses Schwert an jemandem zerbrichst, dann bitte nicht an mir.«

Dmitri wollte gerade einen seiner eher ungeliebten Bojaren zu sich rufen, doch Sascha sprach bereits weiter. »Genug herumgespielt«, sagte er ungeduldig. »Der Sturm hat sich gelegt, und vor Moskaus Toren brennen Dörfer. Wirst du mit mir hinausreiten?«

Ein Tumult jenseits des Palasttors übertönte Dmitris Antwort. Beide Männer verstummten und lauschten. »Ein Dutzend Pferde«, fuhr Sascha fort und schaute den Fürsten mit einer nach oben gezogenen Augenbraue an. »Wer …«

In diesem Moment kam Dmitris Vogt angerannt. »Ein hoher Herr ist eingetroffen«, keuchte er. »Er sagt, er muss Euch sprechen. Er bringt ein Geschenk.«

Dmitris Stirn legte sich in tiefe Furchen. »Ein hoher Herr? Wer? Ich kenne meine Bojaren, und im Moment erwarte ich keinen von … Gut, lass ihn herein, bevor er am Tor erfriert.«

Der Vogt verschwand, kurz darauf zerriss das Quietschen von Scharnieren die bitterkalte Morgenluft, und ein Fremder auf einem wunderschönen Fuchs kam mit seinem Gefolge durchs Tor geritten. Der Fuchs machte eine Kruppade und wollte sich aufbäumen, aber der Reiter gebot ihm mit geschickter Hand Einhalt. Er sprang ab und sah sich inmitten einer Wolke frisch aufgewirbelten Schnees auf dem belebten Innenhof um.

»Nun«, sagte Dmitri mit unter den Gürtel gehakten Daumen. Seine Bojaren ließen die Übungskämpfe sein und eilten herbei, um den Neuankömmling tuschelnd zu beäugen.

Der Fremde erwiderte ihren Blick. Dann ging er mit langen Schritten durch den Schnee auf sie zu und verneigte sich vor dem Großfürsten.

Sascha musterte ihn. Offensichtlich ein Bojar – breiter Körperbau und gut gekleidet, dunkle, mandelförmige Augen und lange Wimpern. Was er von seinen Haaren erkennen konnte, war rot wie Herbstlaub. Sascha hatte ihn noch nie gesehen.

»Seid Ihr der Großfürst von Moskau und Wladimir?«, fragte der Bojar an Dmitri gewandt.

»Wie du siehst«, antwortete Dmitri kühl. Der Ton des Rothaarigen grenzte ans Unverschämte. »Wer bist du?«

Der Blick der erschreckend dunklen und doch so klaren Augen wanderte von Dmitri zu Sascha. »Mein Name ist Kasjan Lutowitsch, Gosudar«, antwortete er gemessen. »Ich besitze Land zwei Wochen östlich von hier.«

Der Großfürst blieb unbeeindruckt. »Ich kann mich nicht erinnern, Steuern aus … Wie heißen deine Ländereien?«

»Baschnja Kostei«, antwortete der Rothaarige. Auf die fragenden Blicke hin fügte er hinzu: »Mein Vater hatte einen sehr eigenen Sinn für Humor. Am Ende des dritten Winters, den wir hungern mussten, ich war damals noch ein Junge, gab er unserem Haus diesen Namen: Knochenturm.« Sascha sah, mit welchem Stolz der breitschultrige Kasjan schließlich hinzufügte: »Wir leben seit jeher in unseren Wäldern und bitten niemanden um etwas. Doch heute komme ich mit einem Geschenk zu Euch, Großfürst, und mit einer Bitte, denn meine Untertanen werden bitter bedrängt.«

Kasjan beendete den Satz mit einer Geste in Richtung seines Gefolges, das daraufhin ein graues Stutenfohlen von solcher Schönheit heranbrachte, dass es selbst Dmitri für einen Moment die Sprache verschlug.

»Ein Geschenk«, sagte Kasjan. »Wärt Ihr so gütig, meine Männer in Euren Palast zu lassen?«

Dmitri betrachtete immer noch das Fohlen und sagte lediglich: »Bedrängt?«

»Von Männern, die unauffindbar sind«, antwortete Kasjan grimmig. »Banditen. Sie brennen meine Dörfer nieder, Dmitri Iwanowitsch.«

Im Empfangssaal des Fürsten – die Pferde waren bereits mit Hafer versorgt und die Begleiter des Fremden untergebracht – trank der rothaarige Kasjan unter der niedrigen bemalten Decke einen Krug Bier, während Sascha und Dmitri mit angespannter Höflichkeit abwarteten. Schließlich wischte er sich über den Mund.

»Es fing an mit Gerüchten«, begann er. »Letzten Herbst, Berichte aus dritter Hand über zerstörte Weiler, Überfälle, Brände.« Er drehte den Krug in seiner harten Hand hin und her, sein Blick war weit weg. »Ich gab nichts darauf. Verzweifelte gibt es immer, und Gerüchte sind meist übertrieben. Als der erste Schnee kam, hatte ich die Angelegenheit vergessen.«

Kasjan hielt inne und nahm einen weiteren Schluck. »Jetzt sehe ich, dass ich einen Fehler gemacht habe«, fuhr er fort. »Jetzt erreichen mich Berichte von Bränden allerorten, jeden Tag kommen verzweifelte Bauern zu mir, oder beinahe jeden, und betteln um Getreide oder meinen Schutz.«

Dmitri und Sascha tauschten einen Blick aus. Die Bojaren und Diener spitzten die Ohren. »Nun«, sagte Dmitri zu seinem Besucher und beugte sich auf seinem mit Schnitzereien verzierten Stuhl nach vorn, »du bist ihr Herr, oder nicht? Hast du ihnen geholfen?«

Kasjans Miene wurde ernst, seine Lippen dünn. »Wir haben uns nicht einmal auf die Suche nach diesen Unholden gemacht, sondern viele Male, seit der Schnee kam. Ich habe kluge Männer, gute Hunde und fähige Jäger.«

»Dann verstehe ich nicht, warum du zu mir kommst«, erwiderte Dmitri, ohne den Blick von seinem Besucher abzuwenden. »Und den Steuerzahlungen wirst du jetzt, da ich deinen Namen kenne, auch nicht mehr entgehen.«

»Hätte ich eine Wahl gehabt, wäre ich nicht hier«, entgegnete Kasjan. »Wir fanden keine Spur von den Banditen – nicht einmal eine kleine, nicht einmal einen Hufabdruck. Nur Feuer, Wehklagen und Zerstörung. Die Leute flüstern schon, dass diese Banditen gar keine Menschen sind, sondern Teufel. Ich musste nach Moskau«, endete er mit einer Verdrossenheit, die er nicht verbergen konnte. »Auch wenn ich lieber zu Hause geblieben wäre. Doch in dieser Stadt gibt es Krieger und Männer Gottes, und ich muss sie um Hilfe für meine Untertanen bitten.«

Sascha fiel auf, wie fasziniert Dmitri plötzlich war. »Keine Spur?«, fragte er.

»Gar keine, Gosudar«, antwortete Kasjan. »Vielleicht sind sie wirklich keine Menschen.«

»Wir brechen in drei Tagen auf«, sagte Dmitri.

5

Das Feuer in der Wildnis

Olga erzählte ihrem Bruder nichts vom Tod ihres Vaters, auch nicht von dem ihrer Schwester. Auf Sascha warteten genug Gefahren, er musste ihnen mit klarem Kopf begegnen. Die Nachricht von Wasja würde ihn besonders hart treffen, sagte sich Olga. Er liebte sie so sehr.

Also küsste sie Sascha lediglich, als er kam, um sich zu verabschieden, und wünschte ihm alles Gute. Sie hatte einen neuen Mantel für ihn und einen robusten Trinkschlauch voller Met.

Sascha war in Gedanken bereits in der Wildnis: bei Banditen und niedergebrannten Dörfern und einem jungen Fürsten, der kein Vasall mehr sein wollte. »Gott beschütze dich, Schwester«, sagte er.

»Dich ebenso, Bruder«, erwiderte Olga mit unerschütterlicher Ruhe. Sie war an Abschiede gewohnt. Ihr Bruder kam und ging wie der Sommerwind zwischen den Kiefern, und ihr Gatte, Wladimir, war nicht besser. Doch diesmal dachte sie an ihren Vater und ihre Schwester, beide tot, beide würde sie nie wiedersehen, und es kostete sie alle Kraft, die Fassung zu bewahren. Immer gehen sie, und ich bleibe.»Bitte für mich, wenn du betest.«