Der Beethoven-Fluch - M. J. Rose - E-Book

Der Beethoven-Fluch E-Book

M.J. Rose

3,8
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mysteriöse Visionen - immer begleitet von einer leisen Melodie - verfolgen die Psychologin Meer Logan. Was haben die quälend lebendigen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten zu bedeuten? Ihre Nachforschungen führen Meer direkt zum Geheimbund der Memoristen nach Wien. Dort jüngst aufgetauchte Hinweise deuten auf eine geheime Melodie, die tödliche Erinnerungen an frühere Leben auslöst. Bei ihren Ermittlungen quer durch alle Kontinente und Epochen wird Meer immer tiefer hineingezogen in einen gefährlichen Strudel aus Mord und Verrat. Denn sie ist nicht die Einzige auf der Jagd nach dem mächtigen Geheimnis. Kann sie die Melodie entschlüsseln, ehe ihre finsteren Gegner einen tödlichen Plan umsetzen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 571

Bewertungen
3,8 (16 Bewertungen)
6
4
3
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

M. J. ROSE

Der Beethoven-Fluch

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Memorist

Copyright © 2008 by Melissa Shapiro

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Stefanie Kruschandl

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz / Doug Scofield

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN ebook 978-3-95576-266-7

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook.

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Meinem Vater gewidmet

“Erinnerung ist dann das Schlüsselwort, welches Vergangenheit und Gegenwart, Vergangenes und Zukünftiges vereint.”– Elie Wiesel –

ANMERKUNGEN DER AUTORIN

Wie bereits im ersten Teil dieser Serie (erschienen unter dem Titel “Der Memory Code”), so verbindet auch dieser Roman zahlreiche Fakten mit einer frei erfundenen Geschichte.

Die Bestattungszeremonie, Musikinstrumente, Bräuche und Flora aus der urzeitlichen Indus-Kultur wurden sorgsam recherchiert, und ich habe mich weitestgehend an gesicherte Erkenntnisse gehalten.

In nahezu allen Fällen entsprechen die Daten und Fakten geschichtlicher Ereignisse wie etwa des Wiener Kongresses der historischen Wirklichkeit, ebenso die meisten Örtlichkeiten dieser so schönen Stadt, in der ich mehrere Monate verbrachte. Wien hat tatsächlich eine weit verzweigte Unterwelt voller Tunnel und archäologischer Schätze; es gib etliche unterirdische Thermalseen in der Gegend, wenn auch nicht direkt unter dem wichtigsten Konzertgebäude, soweit bekannt ist. Die Herzgruft, das Dorotheum, die Museen, die Beethoven-Gedenkstätten, der Zentralfriedhof und die Klinik am Steinhof sind alle echt, leider auch die Informationen über Art und Umfang der Experimente, die dort während der Naziherrschaft durchgeführt wurden und die nach Ende des Dritten Reiches noch Gegenstand wissenschaftlicher Forschung waren.

Soweit ich weiß, gibt es keine “Gesellschaft für Erinnerungsforschung”, doch in Österreich gab es zahlreiche Geheimbünde, zumeist Ableger der Freimaurer. Einige davon könnten durchaus noch existieren.

Die Phoenix Foundation gibt es ebenfalls nicht. Meine Beschreibung dieser erfundenen Stiftung beruht allerdings auf der wissenschaftlichen Arbeit von Dr. Ian Stevenson am Medical Center der University of Virginia. Dr. Stevenson erforschte über dreißig Jahre lang die Erlebnisse von Kindern mit Vorlebenserinnerungen – ein Werk, das inzwischen von seinen Kollegen Dr. Bruce Greyson und dem Kinderpsychiater Dr. Jim Tucker fortgeführt wird. Die Charakterdefizite des Malachai Samuels aus meiner Story sind diesen beiden hervorragenden Ärzten allerdings nicht anzulasten.

Faszinierende Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der binauralen Takte lassen vermuten, dass diese Töne möglicherweise Vorlebenserinnerungen auslösen können. Sakrale Musik, geistliche Lieder und Sprechgesänge wirken sich nachweislich auf die Psyche aus und beeinflussen unsere sinnliche Wahrnehmung.

Dem österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856), dem britischen Indologen Sir William Jones (1746–1794) und dem französischen Philologen Silvestre de Sacy (1758–1838) verdanken wir die weite Verbreitung morgenländischer Weisheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bereits in der Frühzeit der Aufklärung begann man sich in Europa für orientalische und fernöstliche Philosophie zu interessieren, so für den Gedanken der Wiedergeburt. Auch Ludwig van Beethoven gehörte zu den Anhängern der Reinkarnationstheorie. Seine Aufzeichnungen enthalten sowohl Passagen aus de Bhagavad Gita als auch ein Zitat aus William Jones’ Hymne an Narayana: “Wir wissen nur eins: dass wir nichts wissen.”

DANKSAGUNGEN

Das Vertrackte an Danksagungen ist: Man kann noch so viele Menschen anführen, die bei der Entstehung dieses Buches geholfen haben – einige vergisst man dennoch zu erwähnen. Dafür bitte ich schon im Voraus um Nachsicht.

Ganz zu Anfang ein Dankeschön an meine Freundin und Agentin Loretta Barrett, ebenso an Nick Mullendore und Gabriel Davis von Loretta Barrett Books für ihren Fleiß und die ausgezeichnete Beratung.

Dank sage ich auch dem ganzen Team bei MIRA Books, das ich glücklicherweise auf meiner Seite habe, insbesondere meine hervorragende Lektorin Margaret O’Neill Marbury, die erheblich zum Entstehen dieses Buches beigetragen hat. Wenn ich mir vorstelle, ich sollte ohne sie oder ohne Lisa Tucker und Douglas Clegg einen Roman schreiben – ich glaube, das ginge gar nicht, und ich hoffe, so weit wird es nie kommen. Dank ferner an Jerry Hooten, der mich großzügig an seinem reichen Wissensschatz teilhaben ließ. Falls das Buch Ungereimtheiten bezüglich Sicherheitsfragen und kriminalpolizeilichen Techniken enthält, so liegen die an mir, nicht an Jerry.

Zuletzt ein riesiges Dankeschön an Leserinnen und Leser, Buchhändler und Bibliothekare allüberall, an alle meine Geschäftspartner und Freunde innerhalb und außerhalb des Literaturbetriebes. An Doug Scofield, der mir unter anderem auch einen Einblick in die Welt der Musik verschaffte, und an den Rest meiner wunderbaren Familie für ihre Zuneigung und Unterstützung.

1. KAPITEL

Die Seelen müssen wieder in das absolute Dasein eintreten, aus dem sie hervorgegangen sind. Aber um dies zu erreichen, müssen sie alle Vollkommenheiten entwickeln, die sie in Samenform bereits in sich tragen. Wenn sie diese Bedingungen während eines Lebens nicht erfüllen, müssen sie ein weiteres Leben beginnen, dann ein drittes und so weiter, bis sie den Zustand erreicht haben, in dem sie sich wieder mit Gott vereinen können.

– Kabbala, Zohar –

Wien, Österreich

Donnerstag, 24. April – 17:00 Uhr

David Yalom bewegte sich am Rande der unterirdischen Schlucht, ohne auch nur ein Mal in den schwarzen Abgrund zu schauen. Nichts an seinen bedächtigen Schritten ließ vermuten, dass er sich der Gefahr bewusst war, die bei einem Absturz drohte. Dabei hatte noch Minuten zuvor sein Führer einen Stein in den dunklen Schlund geworfen, um zu demonstrieren, wie tief es hinunterging. Das Geräusch des Aufschlages war nicht zu hören gewesen. Vier Stunden waren sie mittlerweile unterwegs: auf und ab durch ein finsteres Labyrinth aus Röhren und Kanälen, durch unterirdische Wasserläufe, über stille, mit Tropfsteinzapfen gespickte Teiche und brodelnde Seen hinweg. Nun endlich sah er das Ziel der Irrfahrt direkt rechter Hand vor sich, genau an der von Hans Wassong angegebenen Stelle: ein massiver, grob in den Fels gehauener Bogendurchgang, markiert mit einem in den Stein gemeißelten Kreuz.

“Dann gibt es sie also tatsächlich, diese Stelle, von der Sie mir erzählt haben”, rief David lachend. Seine Stimme klang indes so bitter, als gäbe es auf dieser Welt nichts Erheiterndes mehr.

“Ich hab Ihnen ja gleich gesagt, Sie können mir ruhig trauen.” Die beiden Männer – der israelische Journalist und der österreichische Kriminelle – verständigten sich auf Englisch, zwar mit unterschiedlichem, doch gleichermaßen ausgeprägtem Akzent. “Der ganze Bereich hier gehört zu einer größeren Planagrabung”, ergänzte Wassong.

“Planagrabung?” Davids unbezähmbare Neugierde setzte sich durch. Wenngleich er hier nicht als Reporter vor Ort war, kam er nur schwer gegen die in langen Berufsjahren erworbene Eigenart an, sämtliche Aspekte einer Reportage zu beleuchten.

“Bei einer Planagrabung”, erläuterte Wassong wichtigtuerisch, “werden einzelne Kulturschichten untersucht oder abgetragen. Etwa ein jüdisches Getto über einer mittelalterlichen Stadt, die wiederum auf einer antiken römischen Siedlung aufbaut. Wollte man diese Unterwelt aus Abwasserkanälen, Kellern und Katakomben kartografieren, müsste man sämtliche Straßen Wiens abtragen.”

Die Szenerie unmittelbar vor ihnen flimmerte im Halogenlicht der Helmlampen. Alles andere ringsum versank in schattenhafter, bodenloser Finsternis; mit jedem Schritt ließ man ein Nichts hinter sich zurück. Die letzten Meter ging es steil an der gefährlichen Schlucht entlang, dann war der Zugang erreicht. Wassong marschierte einfach unter der niedrigen Wölbung hindurch; David hingegen musste sich bücken, um ihm in die Krypta zu folgen.

Aufgescheucht von den Schritten, schoss eine Ratte mit rot aufblitzenden Augen aus einem Totenschädel heraus, huschte davon und verschwand in einem Stoß altersbleicher Gebeine.

Von dem unheimlichen Geräusch alarmiert, zog David schnell seine Pistole, doch Wassong drückte entschieden seinen Arm herunter. “Nicht! Sonst lösen Sie noch einen Erdrutsch aus, und wir werden womöglich verschüttet. Ich möchte aber lieber dort begraben sein, wo meine trauernden Hinterbliebenen mich noch besuchen können.”

Überall ringsum, in zu Dutzenden in das Gestein eingelassenen Nischen, ruhten völlig intakte Skelette. Ein geheimer Friedhof. David schaute sich um, bemüht, die Züge seiner Lieben nicht auf diese Gerippe zu übertragen. Vergeblich. Er betrachtete inzwischen sämtliche Tote als seine persönlichen Trauerfälle, als Opfer der Feinde seines Landes, ihrer unablässigen Bemühungen, ein ganzes Volk von der Landkarte zu tilgen. Als katastrophales Versagen der politisch Verantwortlichen, wenn es darum ging, wehrlose Unbeteiligte zu schützen.

“Hören Sie mal! Diese Akustik!”, bemerkte Wassong. Er wies zur Decke, als würden sich die Noten gleichsam durchs Gestein zwängen. “Sagenhaft, dass der Klang bis hier herunter durchdringt, was?”

Die schrillen Töne, die die dumpfe Luft durchdrangen, klangen für David jedoch nicht wie Geigenklänge, sondern wie das Gejaule des Luftalarms. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es sich bloß um eine Sinnestäuschung handelte. Er hätte sie nur zu gern unterdrückt, diese Erinnerungen, die ihn permanent überfielen. Aber was hätte ihn dann noch motiviert, um seinen Plan auch in die Tat umzusetzen? Sein Gedächtnis war ihm ein Rätsel. Wieso entsann er sich an manche Momente, wurde regelrecht von ihnen verfolgt, während er sich an andere ums Verrecken nicht erinnern konnte, mochte er sich auch noch so verzweifelt das Hirn zermartern? Zum Beispiel daran, wie das Haar seiner Frau geduftet hatte.

“Wir befinden uns jetzt direkt unter dem berühmtesten Konzertsaal Wiens”, betonte Wassong, “dem Musikverein.” Er setzte seine Brille ab und polierte die Gläser mit seinem dunkelblauen Halstuch. In seinem ersten Artikel über den österreichischen Kriminellen hatte David diese Angewohnheit zum Anlass genommen, ihn zu charakterisieren.

Nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte, zeigte Wassong auf eine Wand, die etliche Risse aufwies. “Dieser Bereich stößt an einen uralten Schacht, und der führt rauf in das Kellergewölbe unter dem Konzertgebäude. Die Töne fließen durch ein Rohrsystem, das früher mal zu einer alten Heizungsanlage gehörte.”

“Und Sie sind sicher, dass die ganze Gegend hier nie aufgezeichnet wurde?”

Ein dissonantes Crescendo aus Celli, Hörnern, Flöten und Oboen bemühte sich vergebens um einen harmonischen Abschluss. Ein einzelnes Instrument klang deutlich aus dem Getöse heraus, ein weiteres kam hinzu, dann noch eins, bis alle zusammen in ein disharmonisches Chaos mündeten – etwa so, wie Davids Hirn mitunter völlig unvermutet unterschiedliche Erinnerungen wie Bildfetzen durcheinanderwürfelte. Das Gesicht seiner Frau, grauenvoll zugerichtet und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, ein blutiger Brei. Dann Liesel bei einem gemütlichen Nachmittag am Strand, Jahre zuvor; ihr Lachen ob seines kläglichen Versuchs, einen Witz zum Besten zu geben. Sein fünfjähriger Sohn Isaac, wie er unbedingt das Fahrrad, das er gerade erst geschenkt bekommen hatte, mit ins Bett nehmen wollte. Dann der blutige Stumpf an der Stelle, wo vorher Isaacs Bein gewesen war. Und so weiter. David zählte jede Erinnerung, als könne er damit etwas beweisen. Nur was? Dass er einmal ein normaler, rational denkender Mensch gewesen war, der etwas machen wollte aus seinem Leben? Oder dass es nachvollziehbare und ganz konkrete Gründe gab für das, was er sich vorgenommen hatte?

Hans Wassong dozierte derweil ungerührt weiter. “Seit dem Mittelalter wurden diese Gewölbe hier unten zumeist als Grabkammern benutzt. Dann hat man sie im 18. Jahrhundert unter Kaiser Josef II. aus hygienischen Gründen versiegelt. Die Gräber vorher noch zu kartografieren, daran hatte niemand ein Interesse.”

“Das Ding da sieht aber nicht gerade nach dem 18. Jahrhundert aus.” David wies auf einen zerknautschten, olivgrünen Eimer, der halb unter Schutt begraben in einer Ecke der Grotte lag. Schon als Anfänger hatte er gelernt: Es waren solche Kleinigkeiten, die einem Journalisten die Wahrheit verrieten, wenn die Menschen logen.

“Während des Zweiten Weltkriegs hat man vonseiten der Regierung einige Sektoren wieder geöffnet und als Luftschutzbunker genutzt. Als die darüberliegenden Gebäude Bombentreffer abbekamen, stürzten einige der Gewölbe ein. Hunderte von Menschen wurden verschüttet; unsere unterirdische Stadt wurde aus Sicherheitsgründen erneut geschlossen. Allerdings fühlt sich so mancher von uns hier unten sicherer als dort oben, was?”

David überhörte den augenzwinkernden, anbiedernden Unterton in Wassongs Stimme. “Aber es gibt doch sicher welche, die von dieser Unterwelt wissen?”

“Die gab es, freilich, aber wie’s aussieht, ist hier schon seit Jahrzehnten keiner mehr gewesen. Da können Sie sich getrost auf mich verlassen, David. Und bezahlen dürfen Sie mich auch. So war’s ja schließlich vereinbart.”

Zehn Jahre zuvor, als David an einem Artikel über illegale Waffengeschäfte in Osteuropa geschrieben hatte, hatte er Hans Wassong kennengelernt. Der stand damals schon wegen des Verdachts auf Entführung, Totschlag sowie Waffen- und Sprengstoffschmuggel seit Jahren auf der Fahndungsliste von Interpol. Mit der Zeit hatte sich der Journalist das Vertrauen des Kriminellen erworben und ihn als Quelle genutzt. Jetzt arbeiteten sie zwar wieder zusammen, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen: Diesmal schrieb David nicht an einer Story, sondern war auf dem besten Wege, selber Geschichte zu machen. Wassong wiederum hätte ihn jederzeit verpfeifen können.

David öffnete den Reißverschluss seines dunkelgrünen Rucksacks, zog einen dicken Umschlag hervor und reichte ihn Wassong. Der machte ihn auf, zählte das Bündel aus Zweihundert-Euro-Scheinen durch, stopfte das Kuvert anschließend wortlos in die Innentasche seines Anoraks und klopfte die Ausbeulung glatt. “Sagen Sie mal – wann soll’s denn so weit sein?”

“Etwa Montag oder Dienstag.”

“Dann wollen Sie also hier unten kampieren?” Wassongs Frage klang, als wolle er ihn förmlich dazu drängen.

“Was gibt’s denn Neues? Irgendwelche Gerüchte?”

“Nichts Konkretes. Ahmed Abdul soll in Serbien gesichtet worden sein.”

Serbien war gerade mal fünfhundert Kilometer von Wien entfernt, zweitausend weniger als Palästina. Zufall? Seit 1995 hatte David keine einzige Konferenz der “International Security and Technology Association”, kurz ISTA, versäumt. Für den Terroristen wäre es ein Leichtes gewesen, herauszufinden, dass David auch dieses Jahr von der Tagung der ISTA berichtete – und ihm nach Wien zu folgen.

“Ihnen ist doch klar, dass Sie immer noch bei denen auf der Liste stehen?”, fragte Wassong, als David nicht reagierte.

“Ja.” Dass er gejagt wurde, räumte er so einsilbig ein, als habe man ihn nach seinem Beruf gefragt.

Inzwischen war das Orchester offenbar mit dem Stimmen fertig. Nach kurzer Zeit erklangen die stürmischen ersten Takte von Beethovens 5. Sinfonie.

“Das Schicksal pocht an die Pforte”, brummte Wassong.

“Wie bitte?”

“Beethoven soll mal auf den Beginn des ersten Satzes dieser Sinfonie gezeigt und zu seinem Sekretär gesagt haben: ‘So pocht das Schicksal an die Pforte’.”

“Donnerwetter! Respekt! Waffenhändler, Kartograf, Höhlenforscher – und jetzt auch noch Beethoven-Kenner?”

“Wenn man in Wien wohnt, saugt man diese Musiklegenden sozusagen mit der Muttermilch auf. Das kommt von ganz allein.”

Vorübergehend verwandelte sich der kalte Stein in rote Plüschsessel; vergoldete Stuckleisten überzogen die Felswände, und die Krypta wurde zum Konzertsaal. Zwei Männer lauschten wie hingerissen den Klängen einer Sinfonie. Davids Frau hatte Beethovens Fünfte ganz besonders gern gehört. Mit geschlossenen Augen gestattete er sich, einen Augenblick lang in Erinnerungen zu schwelgen.

“Alles in Ordnung?”, fragte Wassong.

Die Musik schwoll an zu einem Crescendo, das hinunterdrang bis in diesen Bauch der Erde, bis in den innersten Kern. David hatte Wassongs Frage gar nicht mitbekommen. Wenn sie nächste Woche schon alle aus dieser schönen Welt scheiden mussten, dann immerhin auf den Schwingen dieser engelsgleichen Musik.

Plötzlich war er wieder ganz bei der Sache. “Wie tief unten sind wir hier eigentlich?”, fragte er.

“Zwölf bis vierzehn Meter”, vermutete Wassong. “Zu tief für Georadar; die ideale Stelle für einen Sprengsatz. Genau hier, wo wir jetzt stehen. Keiner – weder das Gebäude noch die Konzertbesucher – werden die Explosion überstehen. Ausgezeichnetes Fleckchen, was? Das müssen Sie zugeben!”

2. KAPITEL

New York City

Donnerstag, 24. April – 11:00 Uhr

Meer rannte die Stufen des American Museum of Natural History hinunter zur Central Park West. Obwohl noch gar nicht am Bürgersteig angekommen, hielt sie schon Ausschau nach einem Taxi. Als keines zu entdecken war, beschloss sie, die sechs Häuserblocks bis zur Phoenix Foundation zu laufen. Zu Fuß gelangte man nämlich vom Museum genauso schnell zum Gebäude der Stiftung. Eigentlich hätte sie ihren Arbeitsplatz so mitten am Vormittag gar nicht verlassen dürfen, doch einem Mann wie Malachai Samuels konnte man so leicht nichts abschlagen. Malachai war teils Schamane, teils Psychotherapeut, teils Beichtvater, und auch wenn ihm bislang keine Antworten eingefallen waren, stand er doch stets zur Verfügung. Er half ihr durch die dunklen Nächte und einsamen Tage, milderte ihre Ängste und tröstete Meer in traurigen Stunden.

Am Telefon hatte Malachai ihr versichert, das Treffen werde höchstens eine Stunde dauern. Mehr Zeit konnte sie auch beim besten Willen nicht abzwacken. Die am Abend stattfindende Spendengala war entscheidend für den Erfolg des “Memory Dome”, einer ständigen Ausstellung über Erinnerungsforschung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei diesem Forschungsprojekt hatte Meer eigentlich viel zu viel um die Ohren, um auch nur ein einziges Stündchen zu erübrigen.

Acht Minuten später saß sie in Malachais Büro und lauschte dem Ticken der antiken Pendeluhr, die auf dem marmornen Kaminsims stand. Es war, als ticke die Uhr immer langsamer, als wenn das Uhrwerk jeden Moment anhalten und dann rückwärts laufen wollte. Unmöglich, klar, doch wusste Meer mittlerweile, dass die Zeit in diesem Raum nicht immer in derselben Richtung verlief wie in der übrigen Welt.

“Das ist für Sie”, sagte der Parapsychologe und Reinkarnationsforscher, während er einen arg ramponierten, überfrankierten Umschlag auf den Tisch legte.

Meer erkannte die Handschrift ihres Vaters. “Ach, spielen Sie jetzt den Postillon? Hat mein Vater Ihnen mitgeteilt, wieso er mir den durch Sie zukommen lässt?”

“Damit Sie nicht allein sind, wenn Sie ihn aufmachen.”

“Als wäre ich ein kleines Kind.” Sie lächelte resigniert.

“Egal, wie alt Sie sind – er wird immer Ihr Vater sein.” Malachai sprach ein gepflegtes britisches Englisch, wodurch jeder Satz wie eine offizielle Verlautbarung klang. Er war ein sehr kultivierter Mann. Vor hundert Jahren wäre er ohne Weiteres als Aristokrat durchgegangen.

“Haben Sie eine Ahnung, um was es geht?”

“Er hat mich nicht aufgeklärt.”

Sie riss die Lasche auf und zog den Inhalt aus dem Kuvert.

Eine Kinderzeichnung auf grobem, vergilbtem Papier, von einem kleinen Mädchen mit goldenen, orangefarbenen, roten und braunen Buntstiften angefertigt. Die Striche waren zwar verwackelt und trafen an den Ecken nicht ganz zusammen, aber man konnte erkennen, dass das Bild eine Schatulle darstellte. Nicht irgendeine x-beliebige, sondern jenes imaginäre Kästchen, das Meer schon als Kind auf geradezu krankhafte Weise fasziniert hatte. Warum, das wusste sie nicht. Wollten ihre Eltern wissen, wo sie es denn gesehen hatte, sagte sie immer nur: “Damals.”

Daraufhin fragten sie, was ihr denn noch von “damals” im Gedächtnis geblieben sei, und sie erzählte es ihnen. Es war wie ein sehr schlimmer Traum, nur eben mit dem Unterschied, dass es immer derselbe war und sie dabei gar nicht schlief. Während eines heftigen Gewitters wurde sie in einem Wald von einem Mann verfolgt, der ihr die Schachtel abjagen wollte. Dazu tönte im Hintergrund mysteriöse Musik, so wie im Kino. Kehrte sie dann wieder zurück ins “Jetzt”, wie sie es nannte, dann weinte sie manchmal.

Die bunten Einzelheiten auf dem Blatt, das ihr Vater ihr da hatte zukommen lassen, waren zwar bloße Kritzeleien, doch illustrierten sie deutlich, was Meer so klar in ihrer Erinnerung gesehen hatte: dunkles, poliertes Holz mit kunstvollen Silberbeschlägen und einer großen, silbernen Rosette mit eingravierten Vögeln, Blättern, Hörnern, Flöten, Harfen sowie allerlei Schnörkeln. Einmal hatte sie ihrem Vater gegenüber behauptet, die Musik, die sie in ihrem bösen Tagtraum höre, die stamme aus der Schatulle. Nur konnte sie diese nie lange genug offen halten, um der Melodie bis zum Ende zu lauschen.

Was ihr Vater und Malachai glaubten, dass nämlich das Gewitter, die Musik und die Verfolgung Erinnerungen an ein früheres Leben seien – davon wollte Meer nichts wissen. Sie hatte jahrelang versucht, diese Anwandlungen, die sie als Heimsuchung ansah, zu verstehen. Diese Suche hatte ihr letztendlich zu einem Magister in Kognitiver Verhaltenstherapie verholfen, Spezialgebiet Erinnerungsforschung – und zu einer einigermaßen plausiblen Erklärung. Nach ihrer Überzeugung litt sie an Pseudoerinnerungen: Entweder hatte ihr Unterbewusstsein während ihrer Kindheit tatsächliche Ereignisse verzerrt, oder sie selber brachte Träume und Wirklichkeit durcheinander.

“Das ist bloß eine von meinen alten Zeichnungen”, bemerkte sie erleichtert und reichte das Blatt Malachai zurück.

Mit aufmerksamem Blick musterte er das Bild einige Augenblicke. Dann entfernte er eine am oberen rechten Rand befestigte Büroklammer und begutachtete einen zweiten, angehefteten Bogen. Die Kaminuhr tickte dazu im Sekundentakt, wie sie es schon seit über hundertfünfzig Jahren tat. “Das hier haben Sie wohl übersehen”, sagte er schließlich und hielt ihr das Blatt hin.

Es war eine aus einem Auktionskatalog herausgerissene Seite. Unter einer Textpassage prangte das Foto einer dunklen Holzschachtel mit aufwendigen Silberbeschlägen und einer großen Silberrosette mit eingravierten Vögeln, Blättern, Hörnern, Flöten, Harfen, Schleifen sowie einem kunstvoll in das Muster eingeflochtenen Buchstaben. Ein Kind hätte vermutlich nur Schwünge und Bögen gesehen, doch als Erwachsene erkannte Meer mühelos, dass es sich um ein großes, kursives B handelte.

“So, nun wissen wir zumindest, dass es die Schachtel wirklich gab”, erwiderte sie rasch mit gleichmütiger Stimme, wobei sie das Blatt auf den Tisch legte. “Folglich muss ich sie vorher mal gesehen haben, irgendwo, irgendwie, bevor ich irgendwelche kognitiven Erinnerungen daran hatte. Vielleicht hat meine Mutter mal ein Buch mit Antiquitäten durchgeblättert, und darin war ein Bild von diesem Kästchen. Oder ich hab’s bei einer Versteigerung gesehen. Zu Auktionen hat sie mich ja andauernd mitgeschleppt.” Unbehaglich rutschte sie etwas auf ihrem Stuhl zurück – weg von der Zeichnung, weg von Malachai.

In jedermanns Leben gibt es bestimmte Scheidegrenzen. Meer wusste, die tiefsten davon prägen uns am allermeisten. Aber so, wie man die Erdoberfläche am leichtesten aus der Vogelperspektive erkennt, sieht man auch diese Lebensfurchen am deutlichsten erst mit dem Abstand der Jahre. Nur dann lässt sich der Moment bestimmen, in dem aus einem kleinen Riss ein Bruch geworden ist und aus diesem Bruch eine Grenzlinie.

Meer war sieben Jahre alt, als sie die seltsame Musik erstmals vernahm und ihren Eltern von dem Kästchen sowie der Verfolgungsjagd im Wald berichtete. Zuvor war sie ein völlig unbeschwertes Kind gewesen. Danach traute sie sich kaum mehr, nach links oder rechts zu gucken – aus lauter Furcht, sie könne ein sich anbahnendes Unheil voraussehen. Vorher wäre sie nie darauf gekommen, die Versprechungen ihrer Eltern anzuzweifeln. Nachher wurde ihr klar, dass die im Flüsterton geäußerten Beruhigungen keinerlei Gewicht hatten.

“Begreifen Sie denn nicht? Dies könnte der Beweis dafür sein, dass Sie all die Jahre Vorlebenserinnerungen hatten!” Malachais tiefschwarze Augen glänzten. Als er noch einmal nach der Katalogseite griff, fiel Meer die Hemdmanschette auf, die aus dem Ärmel des maßgeschneiderten Anzugs hervorblitzte. Die Initialen MS waren eingestickt – weiß auf weiß.

Vor Meer saß ein Wissenschaftler, der in Oxford studiert hatte, der Aristoteles, Einstein und C. G. Jung zitierte, der gern mit seiner bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Spielkartensammlung angab und eine bedeutende Abhandlung über die Psychologie des viktorianischen Englands und dessen Vorliebe für das Übersinnliche verfasst hatte. Wenn er über Regressionstheorien dozierte, kam man nie auf übersinnlichen Hokuspokus oder Hellseherinnen hinter Glasperlenvorhängen. Stattdessen verlieh er der Vorstellung von Seelenwanderungen wissenschaftliche Durchschlagskraft, sodass es einem schwerfiel, seine Ausführungen als Unsinn abzutun.

Nichtsdestotrotz: Das, was er oder ihr Vater glaubten, konnte Meer nicht nachvollziehen. In jüngeren Jahren, ja, da hatte sie es gewollt, hatte es auch versucht und sich sogar als Versuchskaninchen hergegeben. Doch es war den beiden nie gelungen, ihre Theorien zu ihrer Zufriedenheit zu beweisen. Der Vertrauensvorschuss, den sie erwarteten, war zu groß. Wie ihre Mutter neigte auch Meer eher zum Pragmatismus.

“Laut Beschreibung handelt es sich bei der Schatulle um eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Spielekassette”, las Malachai laut vor. “Sie gehörte einer gewissen Antonie Brentano, einer Bekannten von Beethoven.”

Meer spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Zahnschmerzen setzten ein, Schultern und Kinnpartie verkrampften, ein Frösteln lief ihr über den Rücken. Sie hörte etwas wie aus der Ferne, weit weg, aber deutlich. Im hinteren Lendenbereich, dort, wo sie sich einmal mit neun Jahren einen Wirbel angeknackst hatte, puckerte die sichelförmige Narbe. Schlagartig wurde ihr flau. Und wenngleich sie kein Kind mehr war, sondern eine Frau von einunddreißig Jahren, wäre sie am liebsten aufgesprungen und davongelaufen.

Fortgelaufen war sie auch damals, an jenem Tag, auf der Flucht vor der geisterhaften Musik. Sie jagte Meer Angst ein, diese Musik. Denn sie ging stets einer Erinnerung an eine gespenstische Hetzjagd durch den Wald voraus. Für ihre Eltern wurde die Sache regelrecht zur Zwangsneurose. Der Tochter mehr und mehr entfremdet, stritten sie sich ständig darüber, was ihr wohl am besten helfen würde. Die endlosen Termine bei unterschiedlichen Ärzten wirkten sich auf den Schulbesuch aus, behinderten Meer in ihrer Entwicklung und brachten die ganze Familie durcheinander.

An dem betreffenden Nachmittag hatte sie mit ihrem Vater im Central Park Drachen steigen lassen. Ihr Windvogel schraubte sich höher in den Himmel, als sie es sich jemals hätte vorstellen können, doch dann türmten sich plötzlich Gewitterwolken am Horizont auf. Mit ihnen kam jene schrecklich-schöne Musik.

Meer ließ die Leine los und rannte wie von Furien gehetzt davon, ihr Vater immer hinter ihr her. Er brüllte, flehte sie an, doch stehen zu bleiben, hatte sie auch fast eingeholt und in Sicherheit gebracht. Er war nur noch eine Haaresbreite von ihr entfernt, als ein Radfahrer in vollem Tempo um eine Kurve gerast kam und nicht mehr bremsen konnte. Meer wurde durch die Wucht des Aufpralls in die Luft geschleudert und knallte mit dem Rücken auf am Wegesrand liegende Steinbrocken.

“Meer?” Leicht vornübergebeugt, riss Malachai sie aus ihren Gedanken. “Alles okay?”

“Als kleines Mädchen saß ich früher immer hier und grübelte über die anderen Kinder nach. Mein Vater meinte, die kämen hierher zu Ihnen, weil sie Hilfe brauchten. Ich stellte mir immer vor, wie die wohl auf genau diesem Stuhl hockten und die Uhr da drüben ticken hörten, und wie es ihnen dann besser ging, denn im Warteraum sah man die ja nie. Ich war überzeugt, dass Sie die alle geheilt hatten. Sie würden schon dafür sorgen, dass ich mich bald besser fühlte, dachte ich.”

Über Malachais Züge glitt jetzt so etwas wie Mitleid. Sein üblicher Gesichtsausdruck war Meer allerdings lieber: hochgezogene Augenbrauen, distanzierter Blick, ganz der objektive Beobachter. Mitgefühl war ihrer Meinung nach fehl am Platze, wenn sie sich wieder mal ihrem altbekannten Fluch ergab. Sie wusste ja, wie sie sich gegen einen Anfall wehren und sich eine einsetzende Episode vom Leib halten konnte. Sie kannte die Auslöser, vermied sie gewissenhaft. Und doch vernahm sie nun aufs Neue jene vertrauten, fernen Klänge … vage und verschwommen, von außerhalb dieses Zimmers, dieses Stadthauses, dieser Straße, dieser Stadt, von jenseits dieser Zeit. Sie spürte jene eisige Beklemmung, die ihr die Luft zum Atmen nahm, die schreckliche Wehmut, die ihr aus Trauer um einen Verlust die Tränen in die Augen trieb. Es war Jahre her, dass sie letztmals von diesen Dämonen heimgesucht worden war.

Die Hände um die Armlehne verkrampft, versuchte Meer, tief und gleichmäßig durchzuatmen und sich an der Gegenwart festzuklammern. Auf diese Heftigkeit war sie nicht gefasst gewesen. Jahrelange Therapie, zahllose Hypnosesitzungen und hochwissenschaftliche Theorien über Pseudoerinnerungen – all das erwies sich bisweilen als wirkungslos gegen jene rätselhafte Macht.

“Alles in Ordnung mit Ihnen?”

“Bestens”, murmelte sie. Sie wollte nicht zugeben – schon gar nicht vor sich selbst –, dass der Geist aus Kindertagen wieder aufgestiegen war, sodass ihr das Atmen schwerfiel. Die quälenden Beklemmungen, von denen sie früher heimgesucht worden war und die wie mit spitzen Klauen nach ihr griffen, um sie zu packen und in eine ferne Dimension zu entführen, sie ergriffen wieder von ihr Besitz.

Malachai drückte ihr ein Glas in die Hand. Erst als sie das Wasser trank, wurde ihr bewusst, dass sie Durst hatte, und dann konnte sie gar nicht genug trinken. Schließlich stellte sie das leere Glas neben dem Umschlag und der Zeichnung ab.

“Die Wirklichkeit ist jetzt”, leierte Malachai in vertrautem Tonfall herunter. “Die Wirklichkeit ist jetzt.”

Nickend konzentrierte Meer sich auf diesen Satz. Er gehörte zu jenen Formeln, die sie sich zurechtgelegt hatten, als sie noch ein kleines Mädchen war. Die Wirklichkeit ist jetzt. Die Wirklichkeit ist jetzt. Und auch jetzt benutzte sie dieses Mantra, um wieder zu Atem zu kommen. Kopfschüttelnd, als könne sie ihre Erinnerung so vertreiben, klatschte sie sich mit der Faust in die Handfläche. “Dabei habe ich doch kein Klavier mehr angerührt! Keine einzige Note zu Papier gebracht! Seit zwölf Jahren nicht mehr. Wieso reicht das denn nicht?”

“Sie gehen zu hart mit sich ins Gericht, Meer. Sie können ja nichts dafür. Wir kehren in dieses Leben zurück, um zu ergründen, was wir in einem früheren Leben nicht vollenden konnten. Wir mögen uns noch so sehr wünschen, wir hätten keine karmische Schuld abzutragen – letzten Endes müssen wir …”

Neben seinen diversen anderen Talenten beschäftigte Malachai sich auch mit Zauberkunststückchen. Er konnte einen Schal in eine weiße Taube verwandeln oder eben ein Problem in einen ganzen Strauß von Möglichkeiten.

Meer hatte allerdings keine Lust, sich seine zuweilen hanebüchenen Erklärungen anzuhören. “Von mir aus kann passieren, was will – Medikamente nehme ich jedenfalls keine mehr. So benebelt laufe ich nie wieder herum.” Ihre Stimme klang so verkrampft, wie es ihre Nackenmuskulatur war.

“Wieso? Was passiert denn?”

“Die Schreckgespenster sind wieder da …”, flüsterte sie. Den Ausdruck aus Kindertagen benutzte sie unbewusst. Doch kein anderes Wort hätte ihre allgegenwärtigen Beklemmungen und Ängste und die schrillen, widersprüchlichen Töne, die sie damals gehört hatte, besser beschreiben können.

3. KAPITEL

Wien, Österreich

Donnerstag, 24. April – 17:15 Uhr

Über einen Zeitraum von fast dreihundert Jahren hatten Experten genau diesen privaten Schauraum betreten, um sich in die Schätze zu vertiefen, die zur Versteigerung vorgesehen waren. Aber wie vielen von ihnen hatte das Herz so heftig geklopft wie jetzt Jeremy Logan? Er schloss die Tür hinter sich, drehte den Messingschlüssel im Schloss und hörte das Schnappen der Riegel. Das Intarsienparkett, über das er ging, war frisch restauriert, und der antike Schreibtisch, an dem er Platz nahm, mehrmals aufgefrischt worden. Doch der Glanz der hier gemachten bedeutenden Entdeckungen, er hatte sich auch über die Zeit erhalten. Jeremy hätte gern gewusst, ob seine heutigen Bemühungen wohl ebenfalls Eingang in diese Geschichte finden würden.

Jeremy Logan, fünfundsechzig Jahre alt, war Leiter der Judaika-Abteilung des Auktionshauses. Man nannte ihn den “jüdischen Indiana Jones”: Er hatte in den vergangenen dreißig Jahren zahllose Thorarollen und andere während des Zweiten Weltkrieges gestohlene oder versteckte religiöse Kultgegenstände sichergestellt. Einige davon hatte er wie vergrabene Schätze ausgebuddelt. Andere über die Grenzen kommunistischer Länder geschmuggelt oder mithilfe von unzuverlässigen Mittelsmännern beschafft, die ausschließlich an der angebotenen Prämie interessiert waren. So konnte er sich zwar eine ganze Reihe von Funden zugute halten, doch der Schatz, nach dem er nun schon am längsten forschte, der war ihm bisher versagt geblieben: die Antwort auf die Seelenqualen seiner Tochter.

Und nun war es nicht ausgeschlossen, dass er den Schlüssel zu diesem Rätsel in Händen hielt.

In der Schatulle befanden sich Whist-Karten, ein Cribbage-Brett, Damesteine, und Schachfiguren. Aber nicht nur das: Die Röntgenuntersuchung hatte ergeben, dass die aus Sandelholz gefertigte Spielekassette einen etwa zwei Zentimeter starken doppelten Boden besaß. Darin befand sich etwas Viereckiges, das entweder aus dünnem Stoff oder dickem Papier bestand. Was es genau war, hatten selbst die Techniker mit ihrem ausgefeilten Instrumentarium noch nicht einwandfrei bestimmen können. Aber jetzt, hier hinter verschlossenen Türen, stand Jeremy kurz davor.

Er zog seine hafergelbe Strickjacke aus, warf sie auf den Schreibtischstuhl und streifte die Ärmel seines marineblauen Rollkragenpullovers hoch. Dann pflückte er die Lesebrille aus seinem graumelierten Wuschelschopf, klemmte sie sich auf die Nase und nahm sich den Sandelholzkasten vor. Jetzt wusste er, wonach er suchen musste. Mithilfe einer Lupe stellte er fest, dass sich unter dem verschnörkelten B ein schwach eingeritztes Sternzeichen befand – das einzige Detail, das in Meers Kinderzeichnungen fehlte. Bei genauerem Hinsehen erkannte er zu seinem Erstaunen, dass es sich um ein Phönix-Zeichen handelte, dem Symbol für Unsterblichkeit und Wiedergeburt, benannt nach dem mythischen Vogel aus der Antike. Wie auch Malachai Samuels hatte Jeremy immer schon angenommen, dass sich die Krise seiner Tochter im Kern um Reinkarnation drehte. Nach seiner festen Überzeugung litt Meer unter den Spätfolgen eines früheren, sorgenschweren Daseins.

Als leidenschaftlicher Verfechter der Reinkarnation glaubte er fest daran, dass eine zu einem bestimmten Kreis gehörende Seele nach dem Tod irgendwann in einem anderen Wesen aus ebendiesem Kreis wiedergeboren wird. Das macht es einerseits schwer, mit einem Menschen, der uns früher geärgert hat, in Kontakt zu treten. Andererseits erleichtert es eine Verbindung mit denen, die wir gern hatten. Angehörige, Freunde, Lebenspartner und Arbeitskollegen zählten zu Lebzeiten zum Seelenkreis eines Menschen. Nur zu gerne hätte Logan seine Tochter dazu bewogen, sich den ihr nahestehenden Menschen anzuvertrauen, etwa ihm oder Malachai Samuels, und sich von ihnen helfen zu lassen, den rechten Weg zu ihrem Karma zu finden. Leider war sie in ihrem Unglauben ebenso hartnäckig wie er in seinem Glauben.

Er nahm die Schachtel, die ihr Geheimnis wie ein trotziges Kind für sich behalten hatte, und legte sie mit der Unterseite nach oben auf eine Filzmatte. Intarsien aus unterschiedlich großen Kreisen, alle aus seltenen Tropenhölzern geschnitzt, formten sich zu einem zufälligen Muster.

Der Gutachter, mit dem er tags zuvor in Prag zusammengetroffen war, hatte ihm eine ähnliche Schachtel präsentiert, vom selben Hersteller im Jahre 1802 angefertigt. Auch sie wirkte anfangs wie ein Rätsel ohne Lösung. Dann aber wies ihn der Experte auf das in die Deckelrosette eingebettete Sternbild hin: Taurus, der Stier. Ordnete man die Kreise auf der Unterseite dergestalt, dass sie dem Sternzeichen des Stiers entsprachen, öffnete sich wie von Geisterhand eine Geheimschublade.

Bedächtig bewegte Jeremy nun die Kreise an der “Brentano-Schatulle”, wie sie im Auktionskatalog bezeichnet wurde. Der erste ließ sich problemlos einpassen. Obwohl von Natur aus ungeduldig, ging Jeremy bei den nächsten bewusst langsam vor. Seit vierundzwanzig Jahren studierte er nun die Kabbala, und eine der wichtigsten Erkenntnisse dieses Studiums war, dass seine Ungeduld von seiner Unfähigkeit herrührte, sich mit dem zu begnügen, was der Moment ihm bescherte. In der Kabbala hat jeder Buchstabe des hebräischen Alphabets mehrere Bedeutungen. Im Leben, so hatte Jeremy Logan erfahren, galt das genauso für jeden Augenblick. Und in jedem vergangenen Leben auch.

Tief durchatmend schob er den letzten Kreis an Ort und Stelle und hörte sofort ein leises, mechanisches Klicken. Der doppelte Boden der Kassette glitt heraus. Was vorher unzugänglich gewesen war, bot sich ihm nun widerstandslos dar. Als Jeremy den Blick auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier senkte, das vermutlich gut zweihundert Jahre lang dort versteckt gelegen hatte, da verspürte er sowohl Euphorie als auch eine jähe Angst.

4. KAPITEL

New York City

Donnerstag, 24. April – 11:34 Uhr

Die Gegensprechanlage schnarrte. Verärgert über die Unterbrechung, äugte Special Agent Lucian Glass stirnrunzelnd hinüber zum Monitor. Um ins Gebäude zu gelangen, drückten zuweilen manche einfach aufs Geratewohl auf irgendeinen Klingelknopf. Entweder waren sie zu faul, um nach ihrem Haustürschlüssel zu kramen, oder der Pizzabringdienst musste eine Bestellung loswerden. Oder böse Buben legten es darauf an, die Gänge nach unverschlossenen Korridortüren auszuspähen. Erstaunlich, wie oft es selbst in einer Stadt wie New York zu Einbrüchen kam, weil Mieter oder Eigentümer bodenlos leichtsinnig waren. Diesmal aber kannte Lucian den stämmigen Mann, der unten im Windfang stand und in die Kamera guckte.

Das im dritten Stock gelegene Apartment war mit einem ramponierter Kartentisch und vier Stühlen zwar spärlich möbliert, dafür aber mit Überwachungs- und Lauschtechnik vollgestopft. Während Lucian sich durch den Gerätewirrwarr zur Gegensprechanlage schlängelte, drückte Douglas Comley unten schon wieder auf die Klingel. Er war Lucians Vorgesetzter und Leiter des “Art Crime Teams”, kurz ACT.

Mit Betätigen des Türöffners hörte das Schnarren schlagartig auf, und Lucian konnte mit dem fortfahren, was er zuvor gemacht hatte, nämlich dem gepflegten Englisch von Malachai Samuels zu lauschen. Der residierte direkt gegenüber im Gebäude der Phoenix Foundation und wurde mittels eines ultramodernen Hochleistungsrichtmikrofons abgehört. Seit dem vergangenen Sommer ermittelten das FBI, Interpol und die italienische Kriminalpolizei gegen den vorgeblichen Reinkarnationswissenschaftler. Man wollte ihm nachweisen, dass er als Drahtzieher hinter einem grenzüberschreitenden Kunstraub steckte, in dessen Verlauf drei Menschen ums Leben kamen und ein Kind entführt worden war. Bei den entwendeten Gegenständen, einem Edelsteinsatz von unschätzbarem Wert, handelte es sich angeblich um den sagenumwobenen “Schatz der verlorenen Erinnerung” – magische Kleinode aus der antiken Harappa-Kultur, die sich um 2800 vor Christus im Tal des Indus entwickelt hatte. Es bestand kein Zweifel, dass Samuels auf geradezu fanatische Weise besessen war, einen absoluten Beweis für die Wiedergeburt erbringen zu müssen. Möglicherweise hatte er gehofft, die sogenannten “Memory Stones” würden diesen Nachweis liefern. Leider konnten weder Lucians Sonderkommission noch Interpol bislang unwiderlegbare Belastungsmomente vorweisen. Eine Hälfte der Steine war von der New Yorker Polizei sichergestellt und den italienischen Behörden zurückgegeben worden, aber die andere Hälfte blieb verschollen. Nach Lucians Ansicht hatte Samuels die walnussgroßen Saphire, Rubine und Smaragde entweder in seinem Besitz oder kannte zumindest deren Verbleib. Nun musste man abwarten und hoffen, dass er sich einen Schnitzer erlaubte. Einen einzigen Lapsus.

“Ich denke, das Foto hat die Musik ausgelöst”, hörte er Samuels jetzt sagen. “Ob nun noch etwas nachkommt, liegt ganz bei Ihnen. Sie können die Schwelle überschreiten oder es lassen.”

“Sie meinen, ich soll nach Wien fliegen und mir das Ding hier angucken?”, fragte eine Frauenstimme mit verängstigter Stimme.

Lucian hatte die dazugehörige junge Dame ein einziges Mal gesehen, verschwommen und nur flüchtig – lange, wohlgeformte Beine in engen Jeans, todschicke Lederjacke. Perfekte Figur, das Gesicht von welligem, kastanienbraunem Haar umrahmt. Dann war sie auch schon durch das Portal im Inneren des Doppelhauses verschwunden. Trotz dieses kurzen Moments hatte Lucian gespürt, dass es sich um eine starke, aber auch einsame Persönlichkeit handelte. Wenn er den Wind darstellen wollte, würde er diese Frau als Modell für die unsichtbare Kraft wählen.

Seit neun Monaten hörte Lucian nun schon Malachai Samuels’ Gespräche beziehungsweise Telefonanrufe ab und las seine E-Mails mit. Dabei hatte er mitbekommen, wie Dutzende von Kindern sonderbare Reisen antraten, ohne ein einziges Mal das aus dem 19. Jahrhundert stammende Stiftungsgebäude an der Upper West Side zu verlassen. Zu seiner Verwunderung waren die Kleinen bei der Ankunft immer total aufgelöst, nach der Sitzung hingegen erstaunlich ruhig. Die Frau allerdings, die da jetzt in Samuels Sprechzimmer saß, die war kein Kind, und das Gespräch unterschied sich von allen anderen, die er abgehört hatte.

“Ich habe akzeptiert, dass meine Erinnerungen ein Rätsel sind”, drang die zitternde Stimme von Meer Logan aus der Anlage.

Lucian hatte schon immer die Gabe besessen, blitzschnell jemandes emotionalen und mentalen Zustand zu erfassen, doch auf der FBI Academy in Quantico hatte man dieses Einfühlungsvermögen erst richtig geschärft. Er hätte zwar nicht sagen können, warum – aber beim Abhören dieser Frau wurde er das Gefühl nicht los, dass man sich Sorgen um sie machen musste.

“Das denken Sie vielleicht”, betonte Samuels mit auf einmal eindringlicher Stimme, “aber schauen Sie sich doch an, was Sie alles schon an Lebensqualität, an Ehrgeiz und an Leidenschaft aufgegeben haben! Sie und Ihr Talent, sie werden in Geiselhaft genommen! Von den Ängsten und der Trauer, die Sie mit sich herumschleppen.”

Automatisch griff Lucian nach seinem Skizzenbuch und begann zu zeichnen – schon die dritte oder vierte Zeichnung in der letzten Stunde, diesmal ein Entwurf von Meer Logan als Kind. Der Bleistift flog nur so übers Papier; schon bildete sich ein kleines Mädchen heraus, dunkelhaarig, mit bang aufgerissenen Augen und tränenüberströmten Wangen und …

Die Klingel an der Wohnungstür schrillte. Lucian legte das Skizzenbuch hin, und während er seinem Chef aufmachte, tönte gleichzeitig wieder Meer Logans Stimme aus dem Lautsprecher. “Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es etwas ändert, ob ich das Kästchen sehe oder nicht?”

“Auslöser funktionieren immer nach demselben Prinzip, egal, ob es sich um Vorlebenserinnerungen handelt oder um Pseudoerinnerungen. Das wissen Sie doch! Hier, lesen Sie mal …”

Comley trat ein und hörte Samuels Stimme. “Habe ich was Wichtiges verpasst?”, fragte er, während er in Richtung Abhörtechnik nickte.

“Nicht im Hinblick auf unseren Fall, würde ich sagen.”

Grinsend sah Comley sich im Zimmer um. “Gefällt mir, wie Sie seit meinem letzten Besuch die Bude auf Vordermann gebracht haben.”

“Ich habe Kaffee und Mineralwasser da. Soll ich Ihnen was holen?”

“Für die Gäste nur das Beste, hm? Doch, ein Wasser nehme ich gern.” Comley setzte sich an den Tisch und bemerkte das Skizzenbuch. Er vertiefte sich gerade in die Skizze des kleinen Mädchens, als Lucian ihm das Mineralwasser hinstellte. “Wer soll das sein, Meister Klecks? Eine von seinen kleinen Patientinnen?”

Sämtliche Beamte des ACT hatten die übliche Polizeilaufbahn hinter sich. Lucian hingegen hatte auch an der Kunsthochschule studiert. Den Spitznamen war er gewohnt.

“Ehemalige Patientin, soweit ich das mitgekriegt habe.”

“Haben Sie sich schon mal gefragt, ob Sie nicht besser bei der Kunst geblieben wären?” Comley studierte eingehend die Zeichnung.

“Das fragt meine Mutter mich hin und wieder auch.”

“Und ihr weichen Sie ebenso geschickt aus?”

Lucian redete zwar nicht gern über seine Vergangenheit, verschwieg sie andererseits aber auch nicht. Seine künstlerische Ausbildung erleichterte ihm die Arbeit, und mit seinen schwarzen Jeans, dem schwarzen T-Shirt und dem schwarzen Jackett trug er nach wie vor jene für die New Yorker Kunstszene typische Uniform, mit der er Einlass zu jeder Vernissage gefunden hätte. Das hieß indes nicht, dass er viel über sein Leben vor Eintritt in den Polizeidienst redete.

Damals, mit neunzehn, hatte er an der New Yorker Kunstakademie Malerei studiert, als sein Leben eine jähe Wendung nahm. Freitagabends war das Metropolitan Museum of Modern Art gemeinhin länger geöffnet, und Lucian hatte vor, mit seiner Freundin und Kommilitonin Solange die Francisco-de-Zurbarán-Ausstellung zu besuchen. Er war mit Solange Uptown im Rahmenstudio ihres Vaters verabredet, unweit des Museums, und zwar für sechs Uhr. Von dort wollten sie dann zu Fuß zum Met.

An jenem Abend fuhr die schnelle U-Bahn nicht. So musste er die an jeder Ecke haltende Vorort-Bummelbahn nehmen und kam deswegen eine Viertelstunde zu spät zum Treffpunkt. Dort angelangt, stellte er fest, dass merkwürdigerweise kein Mensch vorn im Laden war. Auch auf sein Rufen bekam er keine Antwort. Ohne lange zu fackeln, öffnete er die Tür zur Werkstatt und trat ein.

Solange lag auf dem Fußboden, offenbar tot, umgeben von einem riesigen leeren Bilderrahmen aus blutbespritzten Silberleisten. Während Lucian noch auf dieses Bild des Grauens starrte, blitzte etwas in der polierten silbernen Oberfläche auf, eine flüchtige Bewegung, die ihm verriet, dass sich jemand im Raum befand, sich von hinten anschlich. Aber Lucian, eher schmächtig gebaut, reagierte zu langsam. Als angehender Maler hatte er von Selbstverteidigung keine Ahnung.

Als der Rettungsdienst eintraf, hatte Lucian gut zweieinhalb Liter Blut verloren. Der Dieb hatte viermal zugestochen und sein Opfer als vermeintlich tot liegen gelassen. Allerdings lebte Lucian. Genauer gesagt: noch. Denn auf dem Transport ins Krankenhaus setzten sämtliche lebenswichtigen Funktionen aus.

Der Notarzt brauchte geschlagene zwei Minuten, um den schon klinisch Toten zu reanimieren. Und wenngleich Lucian nie mit jemandem über diese zwei Minuten sprach, hatte er sie doch bewusst erlebt. Er ließ sich auch nicht anmerken, dass diese Nahtoderfahrung etwa sein Leben verändert oder sich sonst wie ausgewirkt hatte. Dass er die Welt nach der Messerattacke mit anderen Augen sah, lag seiner Meinung nach daran, dass er seine Freundin auf diese schreckliche Weise verloren hatte. Binnen weniger Monate wurde dann aus dem Jungen, der sich noch nie geprügelt hatte, ein auf Rache und Vergeltung fixierter Mann. Nun brauchte er nur noch eine Art Ruhezone, in der er diese Gelüste in eine berufliche Laufbahn einfließen lassen konnte, und zu diesem Schutzgebiet wurde das FBI. Auch sein Verständnis von Kunst wandelte sich: Kunst war fortan für ihn nicht mehr etwas, das der Künstler schuf, sondern etwas, das es zu schützen und zu bewahren galt. Er füllte ganze Blöcke mit unvollendeten Porträts der Menschen, denen er im Einsatz begegnete. Für ihn war das nicht anders, als wenn seine Kollegen sich Notizen machten.

“Sie haben sich doch sicher nicht von so weit herbemüht, um sich mit mir über meine schlummernden Talente zu unterhalten, oder?”, fragte er seinen Vorgesetzten.

Comley blätterte die Seite um, als könne er das traurige Kindergesicht nicht mehr ertragen. “Ich spiele ungern den Unglücksboten, aber der Fall wird ad acta gelegt. Wir können nicht …”

“Sie und mein Vater, Sie versuchen andauernd, mir einzureden, das sei alles Teil eines großen kosmischen Plans. Wieso?” Über den Lautsprecher drang erneut die gepresste Stimme von Meer Logan ins Apartment. Lucian Glass unterbrach sich angesichts des klagenden Tonfalls. “Warum soll denn das mein Schicksal sein, verdammt noch mal?”

“Das Schicksal eröffnet uns lediglich den Pfad zu unseren Möglichkeiten. Was wir daraus machen, liegt an jedem Einzelnen von uns”, antwortete Samuels.

“Ja, ich kenne Ihre Meinung. Ich habe aber im Augenblick zu viel im Museum zu tun; da kann ich unmöglich nach Wien fliegen.”

Lucian war, als schwinge in der Frauenstimme ein trotziger Unterton mit. Mit einer widerwilligen Handbewegung drehte er die Lautstärke leise, sodass man die jenseits der Straße stattfindende Unterhaltung nicht mehr verfolgen konnte.

“Ich kann das hier nicht länger verantworten”, erklärte sein Chef. “Sie wissen ja, wie klein das Dezernat ist.”

“Dann lassen Sie mich doch allein ermitteln.” Eigentlich war es eine Bitte, aber bei Lucian klang es wie ein Befehl.

“Sie ermitteln nicht, mein Freund – Sie verbeißen sich geradezu in den Fall! Und das nützt uns beiden nichts. Nein, bedaure. Ich ziehe Sie von dem Fall ab.”

Lucian trat ans Fenster und blickte hinüber zur Phoenix Foundation. Er war jetzt seit zehn Jahren beim FBI, anfangs im Dezernat für Kunstraub. Zum ACT war er versetzt worden, nachdem die Abteilung nach dem Sturz von Saddam Hussein als Folge der Plünderungen im Irak eingerichtet worden war. Seitdem hatte er mit seinem Team mehr als ein Dutzend Kunstschätze im Wert von über dreißig Millionen Dollar sichergestellt, unter anderem eine Zeichnung von Michelangelo und einen Satz seltener Münzen aus dem antiken Griechenland. Bei seinen vielen Erfolgen war zwar damit zu rechnen, dass früher oder später ein Fehlschlag kommen konnte. Doch dass es ausgerechnet diesen Fall treffen sollte, passte ihm ganz und gar nicht.

Während er noch durchs Fenster guckte, öffnete sich das Portal der Stiftung und Meer Logan trat aus dem Gebäude. Mit hochgeklapptem Jackenkragen stand sie da, kerzengerade, das Gesicht dem vom Central Park heranfegenden Wind zugewandt, als wolle sie aus den heftigen Böen neue Kraft schöpfen. Dann ging sie langsam die Treppe hinunter und verschwand aus Lucians Blickfeld.

“Wie lange noch?”

“Ab heute zwei Wochen”, erwiderte Comley.

“Zwei Wochen”, wiederholte Lucian entschlossen. Es klang wie eine Abmachung und ein Versprechen zugleich.

5. KAPITEL

Ist Ihnen aufgefallen, dass die Seelenwanderung gleichzeitig Erklärung und Rechtfertigung des Bösen auf der Welt bedeutet? Wenn die Übel, unter denen wir leiden, das Ergebnis von Sünden sind, die wir in vergangenen Leben begangen haben, dann können wir sie mit Ergebung tragen und hoffen, dass unsere künftigen Leben, wenn wir in diesem nach der Tugend streben, weniger kummervoll sein werden.

– William Somerset Maugham, Auf Messers Schneide –

Wien, Österreich

Donnerstag, 24. April – 18:20 Uhr

Hätte ein Passant in einer der engen, kopfsteingepflasterten Gassen des Wiener Bezirks Leopoldstadt zufällig mitbekommen, wie Jeremy Logan die Treppe zum Haus Engerthstraße 122 hinaufeilte, hätte er vermutlich weder ihn noch das unscheinbare Gebäude der “Toller Archäologiegesellschaft” eines weiteren Blickes gewürdigt. Nicht einmal das Portal mit seinem dekorativen, pfauenförmigen Schloss hätte sein Aufsehen erregt. Wenn in einer Stadt wie Wien überhaupt etwas aus dem Rahmen fiel, war es eher ein Mangel an Schmuckwerk. Direkt nach dem Drücken des Klingelknopfes verschwand Jeremy im Inneren und ging durch eine zweite, von draußen nicht sichtbare Tür. Erst die eingemeißelten Lettern, die das Fries über dem Eingang zierten, gaben den wahren Namen der Bruderschaft preis. Und Jeremy fiel einmal mehr der Gegensatz zwischen dem schmucklosen Äußeren und dem extravaganten Interieur ins Auge.

Die “Gesellschaft für Erinnerungsforschung”, zu deren Verwaltungsrat Jeremy Logan gehörte, war eine Art Geheimbund. Gegründet im Jahre 1809, hatte der Verein es sich zur Aufgabe gemacht, das Werk des österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall zu erforschen, eines Diplomaten und Wissenschaftlers. Der Freiherr war im Europa des 19. Jahrhunderts maßgeblich an der Verbreitung morgenländischer Weisheiten beteiligt gewesen. Von besonderem Interesse war für die Gründungsväter der Gesellschaft die Wiedergeburt. Eine Theorie, die vielen Glaubensrichtungen gemeinsam war: den eben erst entdeckten hinduistischen Shruti-Schriften, der jüdischen Kabbala, den Mysterienschulen des alten Ägyptens, den griechischen Philosophen und der christlichen Lehre aus der Epoche vor 500 nach Christus.

Zum Sitz der Gesellschaft erkor man ein seinerzeit wertloses Grundstück unweit des Praters, mitten im jüdischen Getto gelegen. Zwei Gründe waren für diese Wahl ausschlaggebend: Zum einen wollte man den zahlreichen jüdischen Mitgliedern entgegenkommen. Und zum anderen sollten Neugierige ferngehalten werden. Dem Architekten wurden zwei Dinge zur Auflage gemacht: Der Bau durfte nicht über Gebühr Aufsehen erregen, und er musste über mindestens einen geheimen Einsowie Ausgang verfügen.

Jeremy betrat nun das Allerheiligste, den riesigen, von Säulen gesäumten Sitzungssaal. Eine Darstellung des altägyptischen Mythos von Isis und Osiris zog sich über sämtliche Wände; den Fußboden bedeckte ein Teppich in Schmucksteinfarben. Die kuppelförmige, kobaltblau gestrichene Decke glich einem Nachthimmel, an dem unzählige Sterne funkelten – winzige Spiegel, die das von unten kommende Licht reflektierten. Jeder Winkel des Saals war vollgestopft mit schimmernden spirituellen Kultobjekten und Gegenständen. Jeremy indes hatte für sie keinen Blick, sondern eilte energischen Schrittes auf die Bibliothek zu, wo die von ihm telefonisch einberaumten Mitglieder des Verwaltungsrates warteten.

“Guten Abend”, grüßte Fremont Brecht und legte die Zeitung nieder. In einem Clubsessel thronend, hinter sich Tausende ledergebundener Bände, gab der ehemalige österreichische Verteidigungsminister und jetzige Vorsitzende der Gesellschaft eine imposante Figur ab.

Nur wenige Vereinsmitglieder begrüßten Brecht so herzlich wie Jeremy. Das lag daran, dass Meers Vater sich so schnell nicht einschüchtern ließ. Respekt hatte er höchstens vor Rätseln, für die er keine Erklärung fand.

“Schaffen wir’s noch rechtzeitig ins Konzert, oder dauert dieses Treffen länger?”, wollte Brecht wissen.

“Müssten wir eigentlich hinkriegen. Außerdem habe ich den Wagen dabei.”

“Gut, denn ich habe extra einen Termin abgesagt. Und nach dem ganzen Hickhack würde ich Beethovens Kaiserkonzert nur ungern verpassen.” Er wies quer durch den langen Saal auf eine dunkelhaarige Frau mittleren Alters, die an einem Spieltisch saß und eifrig Notizen machte. “Erika wartet schon auf uns.” Für seine achtundsiebzig Jahre erstaunlich agil, stemmte Fremont Brecht seine gut einhundertvierzig Kilo Lebendgewicht aus dem Sessel, als wäre es nichts. Lediglich ein leichtes Nachziehen des Beins beim Gehen deutete auf sein fortgeschrittenes Alter und seine offenbar reichhaltige Ernährung hin.

Auf einem in eine Nische eingebauten Säulensockel stand eine aus Quarz gefertigte koptische Urne, die im Lichtkegel eines Strahlers in allen Regenbogenfarben schillerte. In einem Gotteshaus hätte man ein solch kostbares Kleinod vermutlich in einem vergoldeten Schrein ausgestellt, doch für die Memoristen stellte es nichts Besonderes dar. Für sie verhieß solch eine Reliquie keine übernatürliche Macht, und folglich war von ihr keine wundertätige Wirkung zu erwarten. An diesem Abend jedoch fixierte Jeremy den Behälter, als könne er durch die Alabasterwände die auf dem Gefäßboden liegenden Staub- und Aschenreste sehen.

“Geht es bei diesem Treffen etwa um unseren Maulwurf?”, fragte Dr. Erika Aldermann, zu der die beiden Männer sich nun setzten. Misstrauisch ließ sie den Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen durch den Saal schweifen, als hielte sie Ausschau nach einem unbefugten Eindringling.

“Das nicht”, antwortete Jeremy, “aber ich glaube, was ich Ihnen zu sagen habe, wird Sie genauso interessieren. Eventuell noch mehr.”

Dr. Aldermann galt als eine der renommiertesten Parapsychologinnen Mitteleuropas. Sie vertrat die Ansicht, dass ein Zusammenhang zwischen Wiedergeburt und Nahtoderfahrung bestand. Und sie hatte es sich zum Ziel gesetzt, dafür zu sorgen, dass ihre von den Memoristen geförderte Forschung auf diesem Gebiet in wissenschaftlichen Kreisen endlich ernst genommen wurde. Mochten sechzig Prozent der Weltbevölkerung getrost an Vorlebenserfahrungen glauben – für das wissenschaftliche Establishment war das nicht relevant; man begegnete solchen Forschungen nicht nur mit Argwohn, sondern mit Geringschätzung. In jüngster Zeit hatte Erika Aldermann zwar einige Fortschritte erzielt, jedoch hegte sie den Verdacht, dass sie von einem Insider aus der Gesellschaft ausgespäht wurde. In der Presse kursierten nämlich schon zum zweiten Mal in diesem Jahr Gerüchte und Berichte, in denen man sich über ihre Forschungsarbeiten mokierte. Seitdem löcherte sie Fremont Brecht permanent mit der Forderung, er solle einen Privatermittler auf diese undichte Stelle ansetzen.

“Also, was haben Sie auf dem Herzen, Jeremy?” Brecht klopfte mit einer Fingerspitze auf den lederbezogenen Tisch. “Nicht, dass ich das Konzert doch noch verpasse!”

“Vor drei Wochen wurde ich von einer Dame gebeten, eine Thora zu begutachten. Sie hatte sie zufällig in der Wohnung ihrer Großmutter entdeckt und hoffte nun, unsere Judaika-Abteilung wäre möglicherweise daran interessiert.”

Im Folgenden berichtete Jeremy, wie er das Wohnzimmer der Großmutter von Helen Hoffmann betreten hatte, um dort eine Kostbarkeit zu besichtigen, und wie er buchstäblich ins Schleudern gekommen war, weil er auf einem Seitentischchen gleich noch eine zweite entdeckte: ein verstaubtes Kästchen. Wenngleich er sie nie im Leben gesehen hatte, erkannte er die geschnitzte Holzschatulle auf Anhieb. Jahrelang hatte er nach diesem Phantom gesucht, in schlaflosen Nächten und ruhelosen Tagen, getrieben von den kindlichen Erinnerungen. Seine Tochter, ein kleines Mädchen mit seidigen braunen Locken und wehmütigen grünen Augen, verbrauchte Unmengen von Buntstiften, um mit tränenüberströmten Wangen immer wieder bis zur Erschöpfung das gleiche Bild zu malen, angestrengt und bis in die kleinsten Einzelheiten.

Dass er durch Zufall auf eine antike Kassette gestoßen war, die exakt den Darstellungen seiner Tochter entsprach, fand Jeremy zwar verblüffend, doch trotz der frappierenden Ähnlichkeit noch einigermaßen nachvollziehbar. Was ihm allerdings nicht einleuchtete, das waren die Hinweise in dem Brief, den er erst an diesem Morgen in dem Kästchen gefunden hatte. Genau diese Informationen wollte er nun enthüllen.

“Die Kassette gehörte Antonie Brentano”, erklärte er.

Da Erika mit dem Namen nichts anfangen konnte, erläuterte er ihr, dass Antonie Brentano eine von Beethovens engsten Freundinnen war, wenn nicht gar eine, in die er unsterblich verliebt war. “Beethoven war sogar mit zweien unserer Gründerväter befreundet”, ergänzte er. “Er kannte sowohl Caspar Niedermeier als auch Rudolph Toller.” Als Historiker der Gesellschaft hatte er sämtliche im Kellergewölbe untergebrachten Archivalien studiert. “Als ich das Kästchen für eine anstehende Auktion katalogisieren wollte, habe ich festgestellt, dass Antonie Brentano sie von Beethoven geschenkt bekommen hatte.”

“Bewundernswert, auf welch verschlungenen Pfaden Sie Ihre Nachforschungen betreiben”, bemerkte Fremont Brecht. “Höchst amüsant dazu. Aber spannen Sie mich nicht so auf die Folter! Sie sagten, in der Schachtel sei etwas versteckt gewesen. Was denn?”

“Ein handgeschriebener Brief von Ludwig van Beethoven.”

Im Kamin knackte zischend ein Scheit. Bevor Jeremy weitersprach, blickte er hinüber zur Feuerstelle und dann zu der Nische mit der koptischen Urne. Caspar Niedermeier war im Jahre 1813 gestorben, nachdem er in Indien ein antikes flötenähnliches Blasinstrument gefunden hatte. Ein Jahr später übergab sein Kompagnon Rudolph Toller genau diese Flöte an Ludwig van Beethoven. Er bat ihn, die Melodie zu entschlüsseln, die angeblich in einem komplizierten Code in das Instrument eingraviert war.

“Laut unseren Unterlagen enthält die Urne da drüben die pulverisierten Überreste der ‘Flöte der untergegangenen Erinnerungen’, die Beethoven zurückgab, nachdem er sie entzweigeschlagen hatte. Mehr blieb von ihr nicht übrig.”

Brecht runzelte die Stirn. “Aber in dem Brief steht etwas anderes?”

“Beethoven schreibt, er habe die Zerstörung der Flöte lediglich vorgetäuscht. Was er zurückgegeben habe, sei bloß getrockneter, zertrümmerter Tierknochen. Die echte Flöte habe er behalten. Sie sei viel zu wertvoll, um sie zu zerstören – gleichzeitig aber auch zu gefährlich, um sie jemandem anzuvertrauen. Er schreibt, er habe sie versteckt. ‘Zu unser aller und unserer Kindeskinder Schutz’, so der genaue Wortlaut.”

“Halten Sie den Brief für echt?”, wollte Brecht wissen.

“Spätestens Montag liegt ein Sachverständigengutachten vor.”

“Schreibt er denn, wo er die echte Flöte versteckt hat?”, fragte Dr. Aldermann.

“Nicht direkt.”

“Wäre ja auch zu schön gewesen”, brummte Brecht.

“Umsonst ist eben nur der Tod”, konterte Dr. Aldermann mit einem traurigen Lachen.

“Beethoven führt weiter aus, er habe jedem seiner engsten Freunde einen einzigen Hinweis zukommen lassen, einen Schlüssel, wenn Sie so wollen. So konnten sie nötigenfalls ihr Wissen bündeln und sowohl die Flöte als auch die dazugehörige Weise ausfindig machen.”

“Soll das heißen, er hat die Melodie entschlüsselt?” Dr. Aldermann stockte der Atem.

“Behauptet er jedenfalls. Und ehe Sie mich fragen: Ja, ich hab’s überprüfen lassen, von zwei Musikwissenschaftlern. Aber es gibt in Beethovens Nachlass keine vollendeten oder unvollendeten Kompositionen für Flöte, die relevant und entsprechend datiert wären. Fehlanzeige.”

“Wenn er sich solche Umstände gemacht hat, muss ihm der Fund eine Heidenangst eingejagt haben”, bemerkte die Wissenschaftlerin. “Oder litt er etwa an Verfolgungswahn?”

“Er galt zwar als überängstlich und leicht reizbar, aber unberechenbar oder paranoid war er nicht”, betonte Brecht, der Musikliebhaber unter den dreien. “Obwohl er vermutlich von den Gerüchten wusste, die kursierten, als Mozart nur sechs Wochen nach der Uraufführung der Zauberflöte starb. Es gibt Verschwörungstheorien, wonach Mozart vergiftet wurde, weil er in seiner Oper Geheimnisse der Freimaurer preisgegeben habe. Nicht ausgeschlossen, dass Beethoven befürchtete, ihm drohe womöglich ein ähnliches Schicksal wegen dieser indischen Flöte. Vielleicht hat er geglaubt, dem Instrument wohnten ebenso ungewöhnliche Eigenschaften inne, die mit dem Kreislauf von Leben und Tod zu tun haben, wie man sie Mozarts legendärer Zauberflöte nachsagte. Vielleicht hat er deshalb lieber die Finger davon gelassen.” Brecht nippte an seinem Cognac.

Erika Aldermann runzelte noch immer die Stirn, doch ihre Augen leuchteten auf. “Und wenn er gemerkt hat, dass das mit dieser Flöte der untergegangenen Erinnerungen funktioniert?”, fragte sie aufgeregt. “Wenn die Zuhörer, die der Melodie lauschten, ihre Schwingungen fühlten? Wenn sie sich an ihre Vorleben erinnerten? Vielleicht meinte er das mit gefährlich!”

Fremont Brecht knallte den Cognacschwenker so heftig auf den Marmortisch, dass es bedrohlich schepperte und ein Stückchen Glas klirrend absprang. “Solange wir nicht wissen, ob der Brief tatsächlich von Beethoven stammt, ist das alles reine Spekulation!”

“Aber zeitlich würde es passen!” So leicht ließ Dr. Aldermann sich nicht von ihrer Hypothese abbringen. Dafür gefiel sie ihr viel zu sehr.

“Passen?”, echote Jeremy. “Wozu?”

“Zu Heinrich Wilhelm Doves Entdeckung der binauralen Takte 1839 …”

“Erika!” Brecht unterbrach sie lachend. “Das führt doch zu nichts! Reine Kaffeesatzleserei!”

Das sah Jeremy allerdings anders. Dass binaurale Takte – Niedrigfrequenzen, die die Gehirntätigkeit anregen – Vorlebenserfahrungen auslösen könnten, hatte er erstmals in Erwägung gezogen, als Meer anfing, Musik zu hören, die niemand sonst vernahm. Dr. Aldermanns jüngste Forschungsergebnisse ließen vermuten, dass an dieser Theorie etwas dran war. Über die Hälfte der Probanden bei ihren Nahtodstudien hatte bei ihren Reisen Musik gehört. Und als sie dazu aufgefordert wurden, diese Töne aus einem Dutzend anderer Klänge herauszuhören, wählten sie allesamt das Stück mit binauralen Frequenzen.

“Von wegen Spekulation! Es gibt Unmengen von wissenschaftlichen Daten, die die Auswirkungen von religiösen Gesängen, Musik, Getrommel und anderen akustischen Phänomenen auf Körper und Geist aufzeigen.” Dr. Aldermann war wie aufgedreht angesichts der sich ergebenden Querverbindungen. Sie redete immer schneller, sodass sie fast ins Stottern geriet. Sie glaubte, dass Frequenzen, wie sie Menschen mit Nahtoderfahrungen hörten, jenen Bewusstseinszustand herbeizuführen vermochten, in dem Erinnerungen an ein vorheriges Dasein möglich waren.

“Mal angenommen”, setzte sie energisch nach, “wir fänden die Flöte und würden beweisen, dass Vorlebenserinnerungen durch akustische Manipulationen stimuliert werden können – wir würden die Theorie von der Wiedergeburt revolutionieren! Und nicht nur die, sondern die Theorie von Zeit und Raum ebenso! Das wäre ein gewaltiger wissenschaftlicher Durchbruch!”

“Und all das dank unseres jüdischen Helden hier.” Brecht wies auf Jeremy.

“Jüdisch?”, fragte Jeremy. “Was tut das denn hier zur Sache?”

“Stellen Sie sich mal vor, Sie könnten beweisen, dass der Mensch selber für seine ewige Ruhe verantwortlich ist und jeder selbst bestimmen kann, ob er in den Himmel kommt! Man würde Sie als Pontius Pilatus des 21. Jahrhunderts an den Pranger stellen. Die Kabbala würde geschmäht; jüdische Mystiker allerorten würden wieder verfemt.” Brecht starrte in sein Glas, ließ die Flüssigkeit ein, zwei Mal kreisen, hob dann den Schwenker an die Lippen und kippte den Rest des Cognacs hinunter.

“Die Kabbala ist ja nicht die einzige religiöse Lehre, die Reinkarnation unterstützt”, wandte Jeremy ein. “Wieso sollten die Juden sich den Schwarzen Peter zuschieben lassen, nur weil …”

Dr. Aldermann ließ ihn nicht ausreden. “Wollen Sie damit andeuten, wir sollten unsere Nachforschungen einstellen, Fremont? Wegen einer religiösen Meinungsverschiedenheit?” Als Wissenschaftlerin war sie entsetzt.

“Selbstverständlich nicht”, gab Brecht zurück. “Ich will damit nur Folgendes sagen: Es steht so viel auf dem Spiel, dass wir nichts überstürzen dürfen. Eile mit Weile.”

“Na, wenn das Schreiben sich als echt herausstellen sollte …” – ihre Stimme nahm wieder den hoffnungsvollen, sehnsüchtigen Ton an – “… dann könnte sich die Schachtel als Schlüssel zum Versteck der Flöte erweisen. Sollten wir uns dann nicht darauf einstellen, die Flöte und die Spieleschatulle bei der nächsten Auktion zu ersteigern?”

“Aber der Brief war doch versteckt”, rief Brecht. “Es weiß ja kein Mensch davon! Oder wollen Sie den jetzt der Öffentlichkeit präsentieren?”

“Ach, Unsinn!”, fuhr Jeremy dazwischen. “Das geht auch gar nicht. Helen Hoffmann hat zwar nichts dagegen, dass ich ihn auf Echtheit prüfen lasse, aber darüber hinaus haben wir nichts beschlossen.”