Der Begierde Preis - Toni Lucas - E-Book

Der Begierde Preis E-Book

Toni Lucas

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Beschreibung

Die schillernde Lokalprominente Clarissa von Eckberg ist ermordet worden, und Kriminalhauptkommissarin Juliane Franke findet sich gleich zu Beginn der Ermittlungen in einem bizarren Milieu wieder: Clarissa von Eckberg war eine Frau mit vielen Geliebten und Geldnöten, die zusammen mit ihrer Lebenspartnerin Lebenskunstseminare und Wellnesskurse abgehalten hat, in denen reichlich Champagner floss und die Massagen schnell intim wurden. Die Verdächtigen stapeln sich, die Lokalpresse fordert schnelle Ergebnisse, und die attraktive Leiterin des Kriminallabors möchte auch ab und zu verwöhnt werden ...

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Toni Lucas

DER BEGIERDE PREIS

Roman

© 2016édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-170-4

Coverfoto: © PerfectLazybones – Fotolia.com

Sonntag

Als das Telefon klingelte, spürte Juliane, wie Hennis kräftiger nackter Körper neben ihr erschrocken zusammenzuckte. Sie hörte ein unwirsches, halblaut gezischtes »Schhhh . . .« und schloss aus Hennis Bewegung, dass diese in der Dunkelheit nach Brille und Handy tastete.

Gähnend öffnete Juliane die Augen. Die Dunkelheit um sie herum schien sie beide wie eine schwarze Samtdecke einzuhüllen. Nur von dem großen Giebelfenster fiel ein matter Lichtschimmer in den Raum.

Juliane blinzelte angestrengt an die Deckenschräge, wohin Hennis Wecker ein leuchtend rotes 02:37 Uhr projizierte.

»Das ist jetzt nicht wahr!« Murrend kuschelte sie sich enger an Henni und brummelte weiter: »Es ist Sonntag. Du hast frei. Und ich sowieso.«

Davon unbeeindruckt meldete sich Henni mit angenehm dunkler, klarer Stimme: »Reuters, hallo!«

Aus dem Hörer drang leises Gemurmel.

Henni nickte verstehend und seufzte schließlich: »Ist gut. Bin gleich da. Gib mir ein paar Minuten für eine Zahnbürste und einen Tee.«

»Boah . . . Ich träum das doch.« Ungehalten zog sich Juliane die Bettdecke bis über die Schulter, umschlang Henni fest mit ihrem rechten Bein und atmete tief durch. Sie roch den vertrauten Duft von frisch gewaschener Bettwäsche und Sex. Viel Sex, heftigem Sex, Sex, der noch nicht länger als eine Stunde her war. Nicht, dass Juliane Letzteres riechen konnte, aber erinnern konnte sie sich recht gut. Bei dem Gedanken daran musste sie kurz lächeln.

Dann maulte sie: »Sag bloß, du musst zum Dienst?« Das letzte Wort ging in einem erneuten, herzhaften Gähnen unter.

»Ja, min Deern. So sieht dat us«, gab Henni ebenfalls gähnend zur Antwort und küsste Juliane auf die Stirn. Dann knipste sie die Nachttischlampe an. »Ich muss nach Ahrenshoop. Wohl ein Unfall mit Todesfolge. Du kennst ja das Procedere. Schlaf noch ein bisschen.« Wieder gab es einen Kuss auf die Stirn, gefolgt von Hennis ironischem Hinweis: »Tja, loslassen müsstest du mich schon auch noch.«

»Quatsch, bleib doch einfach hier. Tot ist tot. Der rennt doch nicht mehr weg.« Juliane griff noch fester zu.

»Scherzkeks«, kam es zurück, begleitet von einem Schmunzeln. »Im Übrigen ist der der eine die, und ich habe Bereitschaft und nicht frei, wie du . . .« Ehe Henni den Satz beenden konnte, klingelte erneut das Telefon. Diesmal war es Julianes.

Diese zog sich die Bettdecke gänzlich über den Kopf und stieß ein dumpfes Stöhnen aus. Dann erschien ihr nackter Arm, tastete nach dem Telefon, und schließlich tauchte Julianes Kopf ebenfalls auf.

»Franke. Wer stört?«, knurrte sie unwirsch in ihr Handy. »Oh, Kriminalrat Matthiesen!« Mit einem Ruck saß sie senkrecht im Bett. »Entschuldigung, aber . . . mmh, ja, schon klar. Aber wieso macht das denn nicht Stralsund? Das Kommissariat in Barth könnte doch . . . Ja, versteh schon. Bin gleich dort. Halbe Stunde vielleicht.«

Henni, die dem Gespräch aufmerksam zugehört hatte, grinste breit, und ihre hellblauen Augen funkelten belustigt durch die Gläser ihrer eckigen, dunkelblauen Brille. »Na, auch den Jackpot geknackt?«, feixte sie und fuhr sich durch ihr stoppelkurzes blondes Haar.

»Mmmh«, knurrte Juliane. »Ahrenshoop. War wohl doch kein Unfall – sagt zumindest Madame le Professeur.«

»Na, wenn es Frau Professor Jahnke sagt, dann wird es wohl stimmen. Und wieso musst du dorthin? Du hast doch frei.« Henni schlug die Bettdecke zurück und schüttelte ihr Kissen auf, wobei ihr Blick fragend auf Juliane ruhte.

Von dieser kam einen Augenblick lang nichts. Stattdessen hing ihr Blick an Hennis nacktem Körper. Mittelgroß, kräftig gebaut, mit fraulichen Kurven und recht üppigen Brüsten machte Henni eine ausgesprochen gute Figur. Kein Mensch nahm ihr ab, dass sie bereits zweiundvierzig war. Unter ihrer fraulichen Weichheit verbargen sich jedoch mehr trainierte Muskeln, als Juliane je haben würde, wie sie sich schon mehrfach neidlos eingestanden hatte. Überhaupt – Henni war alles, was man sich von einer Frau wünschen konnte: attraktiv, intelligent, witzig, charmant, handwerklich begabt. Weshalb diese Frau ausgerechnet mit ihr zusammen war, würde ihr wohl immer ein Rätsel bleiben. Juliane seufzte.

»Jule? Alles gut bei dir?« Henni schlüpfte in ihre Hausschuhe – zwei kuschelige Schafe mit schwarzen Knopfaugen und brauner Nase, deren Plüschohren abstanden – und sah Juliane erneut fragend an: »Warum musst du gleich noch mal nach Ahrenshoop?«

Juliane gab sich einen Ruck und blickte Henni in die Augen. »Ach so, ja, also eigentlich sind die aus Barth zuständig, aber die haben gerade eine Grippewelle. Und mein lieber Chef, der Herr Kriminalrat Matthiesen, meint, ich würde doch gleich um die Ecke wohnen.«

»Der gute Herr Matthiesen.« Henni griente. »Was ist denn aber mit den anderen aus deiner Abteilung? Sollte Ehlers nicht Dienst haben?«

»Sollte, aber bei seiner Frau haben die Wehen eingesetzt. Sie ist erst im siebenten Monat. Und Brandt ist noch an der Autoschieberbande dran. Der hat wirklich zu tun. Das verstehe ich schon. Außerdem«, Juliane machte eine vage Handbewegung, »Einbruch und eine Tote – das wird sich sicherlich schnell klären lassen. Matthiesen sagte was von massenhaften Spuren. Den Dilettanten fange ich doch im Handumdrehen.« Sie schwang die Beine nun ebenfalls aus dem Bett.

»Na prima. Warum ich da noch hinfahre, wenn Matthiesen das schon alles weiß«, knurrte Henni, nun schon auf dem Weg zur Tür. »Ich gehe unten ins Bad. Willst du dann auch einen Tee?«

Juliane schüttelte energisch ihre halblangen dunklen Locken. »Bloß nicht. Dein Gebräu bringt mich noch mal um. Ich brauche einen harmlosen Kaffee.«

Zehn Minuten später standen die beiden Frauen in der gemütlichen kleinen Küche und schlürften Tee und Kaffee aus großen Pötten. Juliane trug Turnschuhe zu ausgeblichenen Jeans, dazu ein rotes Sweatshirt, das schon bessere Tage gesehen hatte. Sie hatte bereits ihren dunkelgrünen Parka übergeworfen und sich einen rot-hellbraun karierten Schal nachlässig um den Hals gewickelt. Die Nächte waren Anfang April noch ziemlich kühl.

Ihr eigenes Desinteresse für Kleidung und Mode stand im krassen Gegensatz zu Hennis ausgesuchtem Geschmack. Das wurde Juliane wieder einmal klar, als sie Henni musterte, während sie ihren Kaffee schlürfte. Henni wirkte wie einem Modekatalog für die norddeutsche Powerfrau entsprungen. Zwar trug sie ebenfalls helle Jeans, doch diese waren zweifelsfrei sündhaft teuer gewesen. Aus ihrem dunkelblauen Pullover lugte ein schneeweißer Hemdkragen hervor. Außerdem hatte sie sich ein rotes, mit weißen Ankermotiven bedrucktes Tuch um den Hals geschlungen. An den Füßen trug sie kniehohe Lederstiefel mit großen Schnallen an den Seiten. Ihr kurzes blondes Haar lag, als hätte sie jedes einzeln aufgereiht. Da stand nichts ab oder wagte sich gar zu wirbeln. Wie Henni das in der kurzen Zeit geschafft hatte, blieb wohl auch eines der ungeklärten Geheimnisse der Menschheit.

Verlegen fuhr sich Juliane durch ihr eigenes Haargestrüpp, das sich wieder einmal erfolgreich gegen die Bürste gewehrt hatte. Eigentlich fand sie Hennis lässig-eleganten Look einfach zum Niederknien. Doch zum Anhimmeln war sie gerade zu müde.

Sie stellte ihren Schietwetter-Pott, in dem sogar der Flutstand eingezeichnet war, noch halbvoll in die Spüle. Hennis Kapitän gesellte sich dazu.

»Fährst du mit mir, oder nimmst du deinen?«, erkundigte sich Henni wie nebenher.

Juliane schüttelte den Kopf. »Ich nehme meinen. Ich muss später noch ins Büro und vielleicht noch mal in meiner Wohnung vorbei.«

»Okay. Wenn du hier wohnen würdest, hättest du es einfacher, aber . . .«

»Nicht jetzt, Henni!«, fuhr Juliane ihr unwirsch dazwischen, besann sich aber und ergänzte mit einem schwachen Lächeln: »Ich freue mich wirklich über dein Angebot. Und ich überlege es mir. Bestimmt. Lass mir einfach Zeit.« Ihre grünen Augen sahen Henni so flehentlich an, dass diese wortlos nickte.

Weiterhin schweigend traten sie hinaus in die feuchte Kühle der Aprilnacht. Henni warf einen prüfenden Blick in den Kofferraum ihres knallroten Jeep Renegade, ob sie auch wirklich alle notwendigen Utensilien dabeihatte. Zufrieden brummend drehte sie sich dann zu Juliane um, gab ihr einen kleinen Kuss und meinte: »Bis nachher. Soll ich Bescheid sagen, dass du gleich kommst?«

»Nee, lass mal. Das merken sie schon auch so.« Juliane war es noch immer ein wenig unangenehm, wenn ihre Kollegen mitbekamen, dass Henni und sie ein Paar waren. Gerade an Tatorten. Wobei es natürlich mehr als praktisch war, einen heißen Draht zur Kriminaltechnik zu haben. Aber gerade das hatte ihr der eine oder andere schon mal spöttisch unter die Nase gerieben, wenn sie ihre Ergebnisse zufällig schneller hatte als ein Kollege. Auf Sprüche wie »Na, wieder mit der KT im Bett gewesen, um an die Ergebnisse zu kommen?« konnte sie gut verzichten.

Während Henni in ihrem Jeep die ungepflasterte Auffahrt von ihrem reetgedeckten Bauernhaus zur Straße hinaufjagte, dass die Steine nur so zur Seite spritzten, lenkte Juliane ihren kleinen, silbernen Golf vorsichtig hinterher. Er hatte schließlich schon genug Beulen.

In Ahrenshoop war die angegebene Adresse relativ leicht zu finden. Die VillaSeeblick stand auf einem Hügel hinter der Düne unweit des Ortseinganges. Vor ihren Toren herrschte bereits hektisches Gewimmel – zumindest für diese frühe Morgenstunde.

Juliane stellte ihren Golf ein wenig abseits ab. Dann blieb sie stehen, um das vertraute, aber doch merkwürdig surreal erscheinende Gewusel zu betrachten. Das Blaulicht zweier geparkter Polizeiwagen sandte beharrlich seinen flackernden Schein in die Dunkelheit. Eine Gruppe von etwa zehn Neugierigen drängte sich am Absperrband. Einige der Gaffer trugen Bademäntel über ihren Pyjamas. Offensichtlich hatte sie das Blaulicht wie Nachtfalter aus den Betten gelockt.

Juliane sah Hennis Jeep mit geöffneter Heckklappe innerhalb der Absperrung stehen, daneben zwei weitere Fahrzeuge der Kriminaltechnik. Drei Gestalten in den unvermeidlichen weißen Kapuzenoveralls, auf deren Rücken bedrohlich schwarz der Schriftzug POLIZEI prangte, schleppten Koffer und Gerätschaften die Toreinfahrt hinein. Juliane versuchte auszumachen, welcher der drei Aliens Henni war, doch es gelang ihr nicht.

»Juliane! Gut, dass du da bist. Ich habe schon gewartet.« Polizeihauptmeister Hinnerk Clasen, ein Mittvierziger mit gutmütigem Lächeln und einer Uniform, die stets so exakt saß, dass es Juliane beinahe Unbehagen bereitete, war unbemerkt an sie herangetreten.

»Hinnerk, schön, dich zu sehen«, begrüßte sie den hünenhaften Mann mit einem Lächeln und ehrlicher Freude. Sie hatte mit Hinnerk schon bei einigen Fällen zusammengearbeitet. Dabei hatte er sich als kompetent und vertrauenswürdig herausgestellt, etwas, das sie nicht über alle Kollegen sagen konnte. Sie schielte auf den Notizblock, den er in den Händen hielt. »Hast du schon was für mich?«

»Klar doch. Also, die Tote heißt Clarissa von Eckberg . . .«

Juliane pfiff leise durch die Zähne. »Auch das noch. Blaues Blut zum Blaulicht. Jetzt wird mir mal wieder jeder die Hölle heißmachen, damit die vornehmen Kreise hier nicht unnötig beunruhigt werden.« Sie verzog verächtlich die Mundwinkel.

»Du musst mich schon ausreden lassen«, beschwerte sich Hinnerk. »Eigentlich heißt sie Karla Eggert. Dreiundvierzig. Sie hat die VillaSeeblick vor etwa zehn Jahren gemeinsam mit einer Geschäftspartnerin gekauft – Letztere hat sie übrigens auch gefunden. Seitdem veranstalten sie hier Lebenskunst-Seminare.« Beim letzten Wort schaute Hinnerk Juliane prüfend an, so als sei er sich nicht ganz sicher, ob ausgerechnet sie etwas mit diesem Begriff anfangen könne.

Doch Juliane verzog keine Miene, machte lediglich: »Aha.«

Dozierend fuhr Hinnerk fort: »Du weißt schon – Ayurveda, Tantra, Schwitzhüttenbesuche, Baumumarmen und so was.«

»Baumumarmen?« Juliane zog die Augenbraue hoch. »Du veralberst mich doch.«

»Nein, gar nicht. Steht in einem ihrer Flyer. Meine Frau wollte mal einen Ayurvedakurs belegen. Hatte sich dann aber erledigt, als sie die Preise gesehen hat.« Selbst im Halbdunkel konnte Juliane sein erleichtertes Lächeln sehen.

»Weißt du den Namen ihrer Geschäftspartnerin?«, erkundigte sie sich beiläufig.

Hinnerk nickte. »Sicher.« Er blätterte in seinem Block. »Constanze Spangenberg. Das ist hier eine ganz alte Familie. Die findest du übrigens sogar drüben auf den Grabsteinen der alten Schifferkirche.«

»Was du so alles weißt . . .« Juliane schüttelte ehrlich verwundert den Kopf. »Gehen wir rein?« Sie machte sich daran, unter der Absperrung durchzukriechen, die Hinnerk ihr galant anhob. Dann stutzte sie. »Wer ist das denn?« Sie wies auf eine junge Frau in Polizeiuniform, die plötzlich winkend auf sie zugestürmt kam.

»Oh . . .« Hinnerk schien etwas peinlich berührt. »Das ist Frauke Ott, also Polizeimeisterin Ott. Sie hat noch ein bisschen Welpenschutz.« Verlegen kratzte er sich an seinem perfekt rasierten Kinn.

Frauke Ott blieb außer Atem vor ihnen stehen und sprudelte hervor: »Polizeihauptmeister Clasen, ich habe die Namen aller Schaulustigen.« Sie wedelte mit ihrem Block und wirkte ziemlich aufgeregt. »Soll ich jetzt draußen bleiben oder mit hineingehen?«

»Ihre erste Tote?«, erkundigte sich Juliane ein wenig amüsiert.

»Ja«, platzte es aus Frauke Ott heraus, wobei sie so heftig nickte, dass ihr die Schirmmütze über die dunkelbraunen Augen rutschte. Als sie sie verlegen zurückschob, konnte Juliane sehen, dass dunkle Röte ihr Gesicht überzog.

Dann aber schien Frauke einzufallen, dass sie einer Zivilperson wohl keine Rechenschaft schuldig war. Sie legte die Stirn in Falten und hob ein wenig unwirsch an: »Aber das . . .«

»Frauke«, schaltete sich Hinnerk ein, ehe sie weiterreden konnte, »das ist Kriminalhauptkommissarin Franke. Sie wird jetzt übernehmen. Du bleibst hier und passt auf die Leute auf. Klar?«

»Klar.« Fraukes Begeisterung hielt sich hörbar in Grenzen. Enttäuscht trollte sie sich zurück auf ihren Posten.

Juliane durchschritt die große Toreinfahrt beinahe mit Ehrfurcht. Sie registrierte die Gegensprechanlage mit Kamera, die in einen der beiden wuchtigen weißen Torpfeiler eingelassen war. Auch bemerkte sie den Stacheldraht auf der weißen Mauer, die das Anwesen umgab.

Die Auffahrt zur Villa im italienischen Stil oben auf dem Hügel hatte etwas Hochherrschaftliches. Links und rechts des Weges wechselten sich sorgfältig gestutzte Buchsbäume in Kugelform mit beinahe schon monströs wirkenden Marmorschalen ab. Darin blühten offenbar bereits erste Stiefmütterchen, doch das war in der Dunkelheit nur zu erahnen. Das Knirschen der kleinen weißen Kieselsteine unter Julianes Turnschuhen und Hinnerks Stiefeln hallte gespenstisch durch die Nacht.

Von der Auffahrt führte eine breite Freitreppe hinauf zu dem säulenumstandenen Eingang. Die Tür stand offen. Ein weiterer Streifenpolizist, den Juliane nicht kannte, hielt Wache. Sie hielt ihm ihren Dienstausweis vor die Nase.

»KHK Franke. Moin, moin.«

Er legte grüßend die Hand an die Mütze und fragte dienstbeflissen: »Brauchen Sie Handschuhe?«

Juliane wehrte freundlich lächelnd ab: »Danke, hab schon«, und zog ein Paar aus der Innentasche ihres Parkas. Dann wandte sie sich an Hinnerk. »Wo ist sie?«

»Drüben im Wohnzimmer. Ich bring dich hin.«

»Das hört sich ja nach einer längeren Reise an«, griente Juliane.

»Wart’s ab«, orakelte Hinnerk. »Ist drüben im Ostflügel.«

»Ah, im Ostflügel, verstehe.« Juliane bewegte unbehaglich den Kopf hin und her. Das hier war so gar kein vertrautes Pflaster für sie.

Sie durchquerten die große Eingangshalle, von der eine weitere breite Treppe nach oben führte. Rechts davon erstreckte sich ein geräumiger Gang in den Ostflügel, wo sie schließlich zum Wohnzimmer kamen.

Das heißt, Wohnzimmer war ein ziemlich prosaischer Ausdruck für das, was Juliane nun vor sich sah: einen hohen Saal über zwei Etagen mit Kaminecke, Sitzecke und Treppe hinauf zum Schlafzimmer im zweiten Stock, von wo aus man von einer Art Balkon das gesamte Zimmer überblicken konnte. Durch die riesige Fensterfront dämmerte langsam der Morgen herein. Man konnte sogar schon einzelne Gischtkämme des Meeres sehen. Juliane war durchaus beeindruckt.

Doch das währte nur kurz. Ihre Aufmerksamkeit wurde mit professioneller Routine von den im Raum verteilten Gestalten in Weiß angezogen. Diese wuselten um ein Epizentrum herum, das sich offensichtlich nahe dem Kamin befand.

Juliane durchmaß den Raum – und stand vor der Toten. Clarissa von Eckbergs Körper lag seltsam verdreht gegen einen schweren, marmornen Couchtisch gelehnt. Der Kopf hing seitlich nach links unten geneigt. Das hellblonde Haar war blutdurchdrungen. Einzelne Strähnen hingen beinahe bis zum Boden hinab. Die Arme lagen weit abgestreckt links und rechts vom Körper. Das rechte Bein ragte nach vorn, und an der Zehenspitze baumelte ein Schuh an einem einzelnen Riemen. Er hatte den wohl höchsten Bleistiftabsatz, der Juliane je untergekommen war. Der andere Schuh lag unweit des linken Beines, das leicht angewinkelt war. Die Tote trug ein weißes, togaähnliches Gewand, das Juliane kurz an eine verunglückte Taube denken ließ. Sie holte tief Luft.

Über der Toten kniete Frau Professor C. Jahnke, ihres Zeichens Rechtsmedizinerin am Rostocker Institut für Rechtsmedizin. Die Endfünfzigerin lehrte hauptsächlich an der Universität, ließ es sich jedoch nicht nehmen, regelmäßig an Tatorten aufzutauchen. Realitätenschau nannte sie das gelegentlich.

»Ah, Juliane! Sie hat man also heute auch aus dem Bett geholt.« Frau Professor Jahnke musterte Juliane mit wachem Blick, als wolle sie überprüfen, ob diese schon aufnahmefähig sei. Juliane war nicht überrascht, dass Professor Jahnke sie mit Vornamen ansprach. Sie war dafür bekannt, bei anderen gern auf jegliche Titel und Nachnamen zu verzichten. Wehe jedoch dem, der selbiges bei ihr wagte. Es sollte schon Kollegen gegeben haben, die daraufhin wochenlang auf ihre Obduktionsergebnisse hatten warten müssen.

»Moin, moin, Frau Professor. Sieht ja gar nicht gut aus. Wie lange liegt sie denn wohl schon da?«

»Nun . . .« Professor Jahnkes feingeschnittenes Gesicht verzog sich zu einem süffisanten Lächeln. »Ich bin zwar nicht das Orakel von Delphi, aber der Lebertemperatur nach zu urteilen, ist sie wahrscheinlich seit etwa sechs Stunden tot.«

»Okay. Also starb sie gegen zehn?«, rutschte es Juliane heraus.

Professor Jahnke wiegte vage den Kopf. »Wahrscheinlich zwischen neun und zehn. Sehen Sie«, sie zeigte mit dem behandschuhten Zeigefinger auf die Handgelenke der Toten, »mit irgendwem hatte sie wohl eine Auseinandersetzung. Jemand hat sie dort und dort gepackt.«

»Und dann geschubst? Sie ist ausgerutscht und auf den Tisch geknallt.« Juliane beugte sich nun ebenfalls über die Tote. »Genickbruch?«

Professor Jahnke nickte. »Vermutlich.«

»Könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein? Die beiden streiten sich, Frau von Eckberg rutscht aus – bei diesen Schuhen würde mich das nicht wundern –, der andere lässt sie vor Schreck los, und zack, Exitus?«

»Also, meine liebe Juliane. Spekulieren mag ja Ihr Metier sein. Meins nicht. Schauen Sie mal hier.« Professor Jahnke nahm dem Kopf der Toten vorsichtig in beide Hände und hob ihn leicht an. »Was sehen Sie?«

»Würgemale?« Juliane fühlte sich wie eine Schülerin in der Prüfung.

»Genau. Und hier?« Frau Professor hob ein Augenlid der Toten.

»Petechiale Blutungen?«

Ein Nicken gab ihr recht.

»Also hat sie jemand erwürgt und dann gegen den Tisch geworfen? Seltsam. Eigentlich legen die Täter ihre Opfer danach einfach ab. Weshalb diese Wut? Könnte der Täter auch eine Frau gewesen sein, so vom Kraftaufwand her?« Juliane sah Frau Professor Jahnke fragend an.

»Möglich, aber eher ungewöhnlich. Außerdem habe ich da noch etwas für Sie.« Professor Jahnke legte der Toten den Kopf wieder sanft auf den Boden. Dann deutete sie auf den Hinterkopf. »Sehen Sie das hier? Hier hat ihr jemand einen Hieb verpasst. Irgendwas Schweres, Scharfkantiges.«

»Drei mögliche Todesursachen? Das hatte ich aber lange nicht. Muss ja ein Heidenlärm gewesen sein.« Juliane rieb sich nachdenklich mit dem Zeigefinger den Nasenrücken. »Sonst noch was?«

»Das war’s fürs Erste. Den Rest erfahren wir wie immer erst im Sektionsaal.« Die Rechtsmedizinerin erhob sich mit verblüffender Behändigkeit und streifte sich die Kapuze ab. Als sie stand, wurde Juliane zum wiederholten Male bewusst, wie zierlich diese taffe Frau eigentlich war. Ihr aschblondes Haar war im Nacken zu einem dicken, straffen Zopf gebunden. Der durchdringende Blick ihrer grau-grünen Augen zeugte von einem unbändig starken Willen, dem man besser nicht in die Quere kam.

»Danke Ihnen«, beeilte sich Juliane deshalb zu sagen. »Ich warte dann auf Ihren Bericht.«

Als Professor Jahnke ihre Sachen zusammenpackte, kamen die Kollegen mit der Bahre für den Abtransport der Toten herein. Rasch machte sich Juliane auf, um sich bei Henni nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Sie fand sie oben im Schlafzimmer, wo sie gerade dabei war, Fenster und Türklinken abzupinseln.

»Und? Habt ihr schon was?«, fragte Juliane, wohl einen Tick zu laut. Erschrocken fuhr Henni herum.

»Weib! Musst du dich so anschleichen? Sei froh, dass ich hier nichts kaputtgemacht habe.« Sie deutete mit dem Pinsel auf einen gerade frisch abgeklebten Fingerabdruck.

»’Tschuldige. Aber ernsthaft, habt ihr irgendwas gefunden, womit die Tote einen kräftigen Schlag abbekommen haben könnte?«

Henni schüttelte den Kopf, was in ihrer Schneemannmontur eher merkwürdig aussah und noch dazu raschelte. »Auf dem Couchtisch stand eine Kanne und eine Tasse Tee. Roch merkwürdig. Wohl irgendein Kräutermix. Sonst nichts. Nur jede Menge Fingerabdrücke.«

»Und hier oben?« Juliane wies auf das karg eingerichtete Schlafzimmer, dessen Ausstattung sie erst jetzt richtig wahrnahm. Im vorderen Teil fand sich lediglich ein riesiges, rundes Bett, an dessen Seiten gläserne Nachttische standen. Zwei der Kopfkissen war schwarz bezogen, zwei weiß. Der obere Teil des Lakens war ebenfalls schwarz, der untere weiß. Der Bettbezug selbst war grau-weiß gestreift.

»Wow«, entfuhr es Juliane, »muss ja ein Vermögen gekostet haben.«

»Mhm, so um die fünftausend. Das ist ein Shogazi. Damit hatte ich auch mal geliebäugelt.«

»Das ist nicht dein Ernst! Wieso hast du Abstand genommen?« Juliane legte den Kopf schief wie ein neugieriger Vogel. »Am Preis hat es ja sicherlich nicht gelegen.« Es klang kein bisschen ironisch.

»Nein, aber es hätte nicht in mein Schlafzimmer gepasst. Wir hätten dann immer drumherum krauchen müssen. Außerdem hatte ich Bedenken, dass ich nachts die Orientierung verliere. Weißt du noch, damals, als wir in diesem Turmzimmer das runde Bett mit Baldachin hatten? Wie hieß die Burg gleich?« Henni zog nachdenklich die Nase kraus und schmunzelte spitzbübisch.

»Henni!«, rügte Juliane ein wenig peinlich berührt. Sie konnte sich ebenfalls sehr gut erinnern. Aber doch nicht hier! An einem Tatort! Sie räusperte sich. »Sagst du mir vielleicht was zur Spurenlage?«

»Klar doch. Also, Spermaspuren gibt es schon mal keine. Dafür aber – Überraschung, Überraschung . . .«

»Vaginalflüssigkeit?«, fiel ihr Juliane ins Wort.

»Genau.« Erstaunt hob Henni eine Augenbraue. »Woher weißt du das?«

»Ist keine große Kunst, wenn man bedenkt, dass sie eine Geschäftspartnerin hat. Irgendwas Interessantes in den Schränken?« Juliane deutete mit dem Kinn auf die weißen Sideboards an den Wänden.

»Nein, meist nur das Übliche. Unterwäsche et cetera. Die Garderobe der beiden ist dort drüben im Ankleidezimmer. Da sind die anderen gerade dabei.«

»Und was ist das Unübliche?«, hakte Juliane interessiert nach.

»Na, ich würde nicht sagen unüblich.« Henni ging hinüber zu einem Sideboard und zog eine der Schubladen auf.

»Oh! Das. Verstehe. Nein, das ist wirklich nicht so unüblich.« Fast ärgerte sich Juliane, dass sie rot geworden war. Dass sich in der Schublade ein paar Sextoys, Gleitgel und ein Harness befanden, darauf hätte sie auch selbst kommen können.

Unschlüssig drehte sie sich um ihre eigene Achse und ließ ihre Blicke noch einmal durch das Zimmer schweifen. »Und sonst gibt es nichts?«

»Ich weiß ja nicht, was du erwartet hast«, gab Henni zurück, »aber nein, gar nichts. Wenn man davon absieht, dass diese Wohnung ein klitzekleines bisschen zu groß und so gemütlich wie eine Bahnhofshalle ist, gibt es hier bisher nichts Auffälliges. Aber das will ja nichts heißen.«

Juliane nickte gedankenverloren. Wie gern hätte sie einen simplen Raubmord gehabt, mit einem Täter, der so trottelig gewesen war, sequenzenweise DNS zu hinterlassen und seine Fingerabdrücke auf jede erdenkliche Türklinke zu stempeln. »Ich geh dann mal wieder nach unten.«

Henni brummte nur kurz zustimmend und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Unten im Wohnzimmer hatte das geschäftige Treiben der weißen Overalls ein Ende gefunden. Vermutlich waren sie nun alle im Rest des Ostflügels verteilt. Lediglich Hinnerk Clasen stand wartend neben der Tür.

Juliane ging auf ihn zu. »Hinnerk, weißt du, wo Constanze Spangenberg ist? Ich würde ihr doch gern schon mal die eine oder andere Frage stellen.«

»Sie ist in einem der Gästezimmer im Westflügel. Muss wohl ziemlich durch den Wind sein.« Hinnerk Clasen drehte seine Schirmmütze zwischen den Händen. »Ist auch kein Wunder, wenn man nach Hause kommt und findet seine Frau so vor.« Er deutete auf die Stelle, an der mit weißem Klebeband der Fundort der Leiche markiert worden war.

Erstaunt hob Juliane die Brauen. »Du wusstest, dass die beiden mehr als nur Geschäftspartnerinnen waren?«

»Sicher doch. Constanze Spangenberg war völlig aufgelöst, als ich hier eintraf. Aus ihr war kein vernünftiges Wort herauszubekommen. Sie hat nur geweint und Meine Frau, meine Frau! Tun Sie doch was! gerufen. Hab ich dir das vorhin nicht gesagt?« Hinnerk kratzte sich grübelnd am blonden Bürstenschnitt.

»Nein, hast du nicht.« Juliane begann langsam sauer zu werden. Weshalb wussten heute plötzlich alle mehr als sie? »Kannst du Frau Spangenberg bitte mal herunterholen? Und dann wäre es gut, die Nachbarn zu befragen.« Es klang ein wenig spitz.

»Klar, mach ich. An den Nachbarn ist Frauke schon dran.« Mit langen Schritten machte sich Clasen auf den Weg in den Westflügel.

In der Eingangshalle verbrachte Juliane eine ganze Weile damit, riesige italienische Vasen, glitzernde Kronleuchter sowie eine Replik der Skulptur Amor und Psyche von Antonio Canova zu betrachten, die inmitten des großen Raumes stand. Gerade als sie dabei war, gedankenverloren über Psyches nackte Hüfte zu streichen, schallte es von oben herab: »Ein wunderbares Stück. Nicht wahr?«

»Ja, sehr schön. Außerordentlich.« Erschrocken zog Juliane die Hand zurück und blickte in Richtung der Stimme.

Was sie sah, verschlug ihr für einen Moment dermaßen den Atem, dass sie sich nicht einmal über ihr etwas tölpelhaftes Gestammel ärgern konnte. Auf der obersten Stufe der Treppe stand eine äußerst attraktive, schlanke Frau Anfang vierzig, ganz in Schwarz. Sie trug einen ärmellosen Jumpsuit mit Neckholder aus schwarzer Seide, der von einem übermäßig breiten, ebenfalls schwarzen Gürtel zusammengehalten wurde. Ihre bloßen Füße steckten in schwarzen Riemchensandalen, deren Absatzhöhe jeder Beschreibung spottete. Constanze Spangenberg, denn nur um sie konnte es sich handeln, hatte ihr lackschwarzes Haar zu einem Knoten gebunden, der ihr tief im Nacken saß. In ihren Ohren schwangen riesige schwarze Ohrringe. Zwar betonten dunkler Mascara und ein exakt gezogener Lidstrich die funkelnde Schwärze ihrer Iris, doch Juliane konnte sehen, dass diese Frau vor nicht allzu langer Zeit geweint hatte.

Constanze Spangenberg schritt so stilvoll die Treppe herunter, als hätte sie gerade einen großen Galaauftritt. Eigentlich fehlten ihr nur noch die Zigarettenspitze und lange Handschuhe, und sie hätte ein wenig wie Audrey Hepburn ausgesehen. Als sie schließlich am Fuß der Treppe bei Juliane angekommen war, streckte sie dieser so elegant die Hand entgegen, dass Juliane einen Augenblick unsicher war, ob Constanze Spangenberg etwa einen Handkuss erwartete.

Allerdings half ihr die Absurdität dieser Geste, ihre Fassung wiederzufinden. Sie ignorierte geflissentlich die Hand, die noch immer vor ihr schwebte, und griff in die Innentasche ihres Parkas. Dann hielt sie Constanze Spangenberg ihren Dienstausweis unter die Nase.

»Kriminalhauptkommissarin Franke. Frau Spangenberg, mein Beileid zu Ihrem Verlust. Sie werden aber sicherlich verstehen, dass ich unter diesen Umständen ein paar Fragen an Sie habe. Würden Sie mich bitte in die Küche begleiten? Dort sind die Kollegen bereits fertig.«

»Oh, Kriminalhauptkommissarin.« Constanze Spangenberg hatte sich Julianes Dienstausweis genommen, ehe diese ihn hatte wegstecken können. Nun betrachtete sie ihn interessiert. »Sind Sie nicht noch ein bisschen jung für diesen Dienstgrad?« Sie bedachte Juliane mit einem solch intensiven Blick, dass dieser der Mund ganz trocken wurde.

Zu jung war sie also für diesen Dienstgrad. Na prima. Erstens war sie bereits achtunddreißig, und zweitens hatte sie ihn sich mehr als verdient. Juliane fasste sich unwillkürlich an die vernarbte Schusswunde an ihrem rechten Oberschenkel, als sie mit einem betont freundlichen Lächeln zurückgab: »Dienstgrade werden nicht nach Alter, sondern nach Leistung vergeben. Würden Sie mir jetzt bitte ein paar Fragen beantworten?« Sie nahm Constanze Spangenberg den Dienstausweis wieder aus der Hand und machte eine auffordernde Handbewegung in Richtung der Küche.

Hier war die Arbeit der Kriminaltechnik tatsächlich schon abgeschlossen. Überall klebte Fingerabdruckpuder auf dem blinkenden Edelstahl der Schranktüren. Schubladen und Schränke waren geöffnet, Mülleimer durchsucht worden.

Constanze Spangenberg schien das wenig zu beeindrucken. Mit hochgezogener Augenbraue ließ sie ihren Blick über das Chaos streifen, dann deutete sie auf die Bar aus Glas und dunklem Marmor in der Mitte des Raumes. »Setzen wir uns doch. Möchten Sie einen Kaffee?« Schon wollte sie zur blinkenden Espressomaschine gehen, da schien ihr etwas einzufallen. Mit einem fast schelmischen Lächeln und einem beeindruckenden Augenaufschlag fragte sie: »Oder darf ich da noch gar nicht wieder dran?«

Juliane war sich nicht ganz sicher, ob diese Frau bewusst mit ihr flirtete oder ob sie das einfach immer tat. Einerseits hätte sie viel für einen Kaffee gegeben. Immerhin war es inzwischen heller Morgen, und ihr Magen machte sich grummelnd bemerkbar. Anderseits fürchtete sie, dass dann die Situation ein wenig zu viel Heimeligkeit erhielt. Immerhin war Constanze Spangenberg eine Verdächtige, umso mehr, als sie sich momentan nicht gerade wie eine trauernde Hinterbliebene verhielt.

»Danke. Keinen Kaffee für mich. Ein Wasser wäre aber nett.«

Einen Augenblick später saßen die beiden Frauen, jede mit einem Glas in der Hand, auf den Barhockern und taxierten einander sorgfältig. »Frau Spangenberg«, begann Juliane schließlich und zückte ihren Notizblock, »könnten Sie mir bitte kurz schildern, wie Sie die . . . ähm, wie Sie Frau von Eckberg gefunden haben?«

Constanze Spangenberg atmete tief durch. »Wenn es sein muss. Eigentlich habe ich das ja schon vorhin Ihrem Kollegen in Uniform erzählt. Wissen Sie, das nimmt mich alles doch sehr mit.«

Eine einzelne Träne rann über ihre Wange und hinterließ dort eine leichte Spur von Schwarz. Dass Frau Spangenberg sie mit dem Handrücken wegwischte, verschlimmerte das Ganze nur. Schniefend fragte sie Juliane nach einem Taschentuch. Zu ihrer eigenen Überraschung fand diese sofort ein frisches in den Untiefen ihres Parkas und reichte es ihr.

Nachdem Constanze Spangenberg sich geräuschvoll geschnäuzt und vorsichtig ihre farblädierten Augen abgetupft hatte, begann sie zu erzählen. »Also, wie ich bereits Ihrem Kollegen gesagt habe, bin ich gegen dreiviertel zwei nach Hause gekommen. In der Halle brannte noch Licht, was durchaus ungewöhnlich ist. Normalerweise macht Clarissa gegen zwölf eine letzte Runde durch das gesamte Haus, löscht alle Lichter und geht anschließend zu Bett. Meistens jedenfalls.« Constanze Spangenberg lächelte ein wenig tränenverschleiert. »Diesmal aber war alles noch beleuchtet. Ich löschte das Licht in der Halle und bin dann in die Küche, weil ich Durst hatte. Irgendwo glaubte ich, ein Geräusch zu hören. Ich habe nach Clarissa gerufen, sie hat sich nicht gemeldet. Dann bin ich ins Wohnzimmer . . . und . . .« Constanze Spangenberg rang sichtbar um Fassung, tupfte erneut ihre Augen mit dem Taschentuch ab. »Und dann habe ich sie da liegen sehen . . . so seltsam verdreht, wie eine Marionette . . . Ich bin zu ihr hin, habe ihren Puls gefühlt, aber da war nichts. Da habe ich den Rettungsdienst gerufen.« Sie schniefte und sah Juliane tränenumflort an. »Hätte ich es anders machen sollen?«

»Nein, gar nicht. Überhaupt nicht.« Juliane überflog konzentriert ihre Notizen. »Sie sagten, Sie kamen gegen dreiviertel zwei nach Hause. Wo waren Sie denn?«

Constanze Spangenberg nippte an ihrem Wasserglas. »Ich war unten im Hotel Ostseeperle. Dort wurden an diesem Abend die Unternehmerinnen des Jahres ausgezeichnet. Eigentlich hat Clarissa den Preis erhalten, und wir wollten zusammen hingehen. Aber Clarissa hat sich in letzter Zeit nicht so gut gefühlt. Da bin ich allein hin und habe den Preis für sie entgegengenommen.«

»Von wann bis wann waren Sie dort?«

»Die Veranstaltung begann um acht. Ich war so gegen halb acht dort. Kurz nach viertel zwei bin ich schließlich gegangen.«

»Kann irgendjemand Ihre Angaben bezeugen? Ich meine, wann Sie gegangen sind . . . hat Sie jemand auf dem Nachhauseweg gesehen? Sie wissen, ich muss das fragen«, fügte Juliane beschwichtigend hinzu.

Constanze Spangenberg blies ein wenig ratlos die Wangen auf. »Clarissa hat mich weggehen sehen. Aber das nützt mir jetzt sicherlich nichts. Und heimwärts? Der Taxifahrer natürlich. Sie können gern bei der Taxizentrale nachfragen. Aber warum hätte ich Clarissa etwas tun sollen?« Eine kleine Pause, dann fuhr sie leise fort: »Sie war mein Yang, ich war ihr Yin. Wir waren schon so lange zusammen, mehr als fünfzehn Jahre. Unsere Geschäfte laufen gut, mehr als gut sogar. Ohne einander – ich weiß gar nicht, wie mein Leben jetzt weitergehen soll.«

Verzweiflung malte sich in ihrem ebenmäßigen Gesicht, doch Juliane ließ das ungerührt. Zu oft schon hatte sie bühnenreife Vorstellungen gesehen, die sich tatsächlich als reines Theater erwiesen hatten.

»Eines wüsste ich dann noch gern, Frau Spangenberg. Wenn Ihre Geschäfte so gut laufen, wieso war hier im Haus niemand außer Ihrer – Lebenspartnerin?« Juliane hob beim letzten Wort fragend die Stimme und sah ihr Gegenüber neugierig an.

Diese nickte. »Ja, wir waren seit acht Jahren verpartnert. Das war uns eine Herzensangelegenheit.« Sie stockte einen Moment, dann fügte sie ganz pragmatisch hinzu: »Na ja, und seit einer Weile hilft es natürlich auch bei der Steuer.« Dann besann sie sich auf die eigentliche Frage. »Und was das leere Haus betrifft – eigentlich hatten Clarissa und ich vor, letzte Woche in den Urlaub nach Madeira zu fahren. Einfach mal ein paar Tage ausspannen. Das machen wir jedes Jahr um diese Zeit.« Constanze Spangenberg hielt verlegen inne, schluckte und ergänzte dann etwas leiser: »Also, das haben wir jedes Jahr so gemacht. Deshalb gab es keine Seminare und Veranstaltungen. Betriebsferien sozusagen. Das Personal hatte frei.«

»Das Personal?«, hakte Juliane hellhörig nach.

»Ja, unsere Haushälterin, die Gärtnerin, unsere Kursleiter, die Reinigungsfirma und das Küchenpersonal.« Constanze zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Was glauben Sie, wie man ein solches Haus, ein solches Unternehmen wie das unsere sonst am Laufen hält?« Sie wies mit eleganter Geste um sich, als hätte sie nicht nur diese Villa, sondern das ganze Universum zu managen.

»Ich glaube erst mal gar nichts. Ich sammle lediglich Fakten«, gab Juliane mit fast beiläufiger Gelassenheit zurück. Dabei musterte sie Constanze Spangenbergs feingeschnittene Züge, ob sie dort möglicherweise ein verräterisches Zucken, ein nervöses Blinzeln oder Ähnliches entdecken konnte. Aber nichts dergleichen. Alles, was sie sah, war das verweinte, schöne Gesicht einer sonst äußerst selbstbewussten Frau.

Einer Frau, der ihre Fragen langsam auf die Nerven zu gehen schienen, erkundigte sie sich doch ein wenig spitz: »Haben Sie nicht langsam genug Fakten gesammelt? Ich bin wirklich sehr müde. Diese Nacht war die schlimmste meines Lebens. Ich würde mich gern etwas hinlegen.« Die Geste, mit der sie sich erschöpft an die Stirn fasste, hätte Steine zum Weinen gebracht.

Bei Juliane löste sie tatsächlich ebenfalls etwas aus – Mitleid und das Bedürfnis, diese Frau tröstend in den Arm zu nehmen. Erschrocken über diese nicht ganz so professionelle Regung gab sie etwas brüsk zurück: »Wir haben es gleich. Wenn Sie mir bitte noch die Namen und Adressen Ihrer Angestellten aufschreiben könnten?«

»Sicher, wenn Ihnen das weiterhilft. Ich schicke Ihnen die Liste ins Kommissariat.« Sie nahm einen Block und einen Stift aus einer der Küchenschubladen und machte sich eine Notiz.

Juliane indessen rutschte von ihrem unbequemen Barhocker, vertrat sich die Beine und ließ den Blick noch einmal rundum schweifen. Einmal abgesehen vom kriminaltechnischen Chaos hätte Henni sicherlich viel dafür gegeben, hier einmal kochen zu dürfen. An einer Wand hing büschelweise getrockneter Beifuß, Thymian, Rosmarin. Daneben prangten Knoblauchzöpfe, Chilischoten und Zwiebeln. In kleinen Tontöpfchen verbargen sich Estragon, Kümmel, Oregano und einiges mehr an Gewürzen. Um sie herum blitzten die verschiedensten Küchenmaschinen, vor denen es Juliane schon deshalb grauste, weil es vermutlich Monate dauerte, bevor man die Gebrauchsanleitung gründlich gelesen hatte. Wenn sie selbst kochte, musste es schnell und einfach gehen – Messer, Gabel, Löffel, Topf und Pfanne. Mehr brauchte sie meist nicht an Gerätschaften. Wenn das nicht reichte, taugte das Rezept auch nichts.

Ihr Blick wanderte weiter zu den großen Fenstern, die den weiten Blick hinaus auf den inzwischen sonnenbeschienenen Strand und das Meer freigaben. Wunderbar, wenn man sich einen solchen Blick leisten konnte. Schließlich betrachtete Juliane neugierig einen kleinen, hellblauen Karton mit der Aufschrift Heaven’s Kiss. Was mochte wohl ein Himmelskuss sein? Einer von Henni? Letzte Nacht war durchaus himmlisch gewesen. Zumindest bis das Telefon geklingelt hatte.

Ehe Juliane ihren Gedanken weiter nachhängen konnte, hörte sie ein müdes: »Sonst noch was?« Hastig schüttelte sie den Kopf.

Als Constanze Spangenberg sah, dass Julianes Blick noch immer an dem hellblauen Karton hing, nahm sie ihn resolut und verstaute ihn im Küchenschrank. »Kundenpräsent«, lächelte sie. »Das sind nur Energieriegel. Ein bisschen Müsli und Traubenzucker. Die gibt es ausschließlich hier im Schulungszentrum. Also ganz exklusiv.«

Ihr Lächeln war so bezaubernd-geheimnisvoll, dass Juliane Mühe hatte, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. »Natürlich«, antwortete sie. »Kleine Geschenke erhalten die Kundschaft. Verstehe.« Kühl fügte sie dann hinzu: »Wir bräuchten übrigens noch die Bänder der Überwachungskamera.«

»Oh, die . . .« Constanze Spangenberg wiegte bedauernd den Kopf. »Da muss ich Sie enttäuschen. Die Kamera ist seit Wochen kaputt. Ich rede und rede, und keiner tut was.«

»Das ist natürlich ausgesprochen bedauerlich«, gab Juliane zurück. »Aber kommen Sie doch bitte morgen gegen zehn ins Präsidium. Wir müssten dann noch das Protokoll aufnehmen.«

»In Ordnung. Darf ich Sie noch zur Tür bringen?«

»Gern.«

Sie durchschritten schweigend den Korridor des Ostflügels. In der Halle angekommen, erkundigte sich Juliane: »Frau Spangenberg, war die Eingangstür eigentlich abgeschlossen, als Sie nach Hause kamen?«

»Nein, nur zugezogen. Ich musste meinen Schlüssel benutzen. Aber das war so üblich.«

Juliane nickte gedankenverloren. Dann fiel ihr noch etwas ein: »Sagen Sie, hatte Frau von Eckberg noch Verwandte, ich meine Eltern oder Geschwister, die zu informieren wären?«

Constanze Spangenberg nickte. »Ja, sie hat noch beide Eltern und einen Bruder. Allerdings ist der Kontakt schon seit Jahren abgerissen. Ich werde aber trotzdem versuchen, sie zu informieren.«

Juliane nickte erneut, gab dann jedoch zu bedenken: »Sind Sie sicher, dass Sie das machen wollen? Wir, also, die Polizei kann das für Sie übernehmen.«

»Nein, nein. Das geht schon in Ordnung. Das schaffe ich schon auch noch. Sonst noch etwas?« Wieder war der spitze, etwas genervte Unterton zu hören.

»Nein, eigentlich nicht. Ich würde mir allerdings gern noch das Grundstück ansehen. Darf ich?«

»Nur zu. Vielleicht mögen Sie ja irgendwann einmal einen unserer Kurse besuchen.« Es klang ein wenig kokett, doch Juliane hörte die Müdigkeit in Constanze Spangenbergs Stimme. Jetzt, bei hellem Tageslicht, konnte man sehen, dass erste Fältchen ihre Augen und ihren Mund umspielten. Das verwischte Abend-Make-up konnte da nicht mehr viel kaschieren.

Als die massive Eingangstür hinter Juliane ins Schloss fiel, fühlte sie sich, wie immer, wenn sie einen Tatort verließ, merkwürdig erleichtert. Natürlich wusste sie, dass viel Arbeit auf sie zukommen würde, doch das vorerst Schlimmste lag hinter ihr.

In die Frühlingssonne blinzelnd zückte sie ihr Handy und rief Matthiesen an. Ehe sie etwas sagen konnte, hörte sie ihren Dezernatsleiter jovial brummen: »Moin, moin, Juliane. Fall schon gelöst?« Er sprach hörbar mit vollem Mund, kaute, schluckte.

»Kriminalrat Matthiesen . . . tut mir leid, wenn ich Sie beim Mittagessen störe, aber es scheint hier doch etwas kniffliger zu werden als gedacht. Nichts mit Einbruch und Unfall oder was auch immer. Wir haben viele Zeugen zu befragen. Könnten Sie mir nicht doch noch einen Kollegen zuteilen?«

»Aber Juliane, Sie stören keinesfalls. Nur ein kleiner Brunch mit Freunden und den Enkeln. Und was den Fall angeht – Sie haben doch Clasen und Ott. Fordern Sie die mal richtig. Besonders Ott kann da sicher noch was lernen. Die will später sowieso zur Kripo. Hat mir ihr Vater erzählt. Wir spielen gelegentlich Golf.«

»Ah ja. Wenn Sie meinen.« Juliane bemühte sich um Beherrschung, aber innerlich kochte sie. Am liebsten hätte sie vor Wut ihr Telefon an die Hauswand geworfen.

»Juliane, Sie schaffen das schon. Sie sind doch mein bestes Pferd im Stall. Außerdem stehen Sie sich doch mit Henni Reuters ziemlich nahe. Das kann doch nur helfen.« Matthiesens Tonfall war jetzt regelrecht väterlich.

Wenn Sie mit nahestehen meinen, dass wir miteinander schlafen, dann haben Sie völlig recht. Ob mir das bei meinem Fall hilft, kann ich noch nicht sagen, ging es Juliane durch den Kopf. Laut sagte sie: »Aber sicher, Herr Kriminalrat. Wir lösen das ganz in Familie.«

»Sehen Sie, das klingt doch gut. Gutes Gelingen. Ich muss jetzt auflegen, meine Enkel, Sie wissen schon . . .«

Ja, Juliane wusste, dass Matthiesen ein begeisterter Großvater war. So begeistert, dass er alles stehen und liegen ließ, wenn einer der vier Dreikäsehochs auch nur mit dem kleinen Finger schnippte. Was nicht wirklich hilfreich war, wenn sie sich mitten in einem Fall befanden.

Wütend pfefferte Juliane ihr Handy in den nächsten Buchsbaum. So ein Idiot!

Als sie sich wieder beruhigt hatte, klaubte sie demütig das Handy aus dem Buchs. Dann machte sie sich auf zum Spaziergang durch das Grundstück. Das zumindest brachte sie auf andere Gedanken.

Der Garten um die Villa war offensichtlich genauestens geplant worden. In einer Ecke fand sich ein japanischer Zen-Garten mit Teehäuschen, geharkter Kiesfläche, Felsen und verschieden geschnittenen Gehölzen. In einer anderen Ecke wucherte die Wildnis scheinbar hemmungslos. Mittendrin entdeckte Juliane die Schwitzhütte, von der Hinnerk gesprochen hatte. Wieder ein wenig weiter stand sie plötzlich vor einem Barfußpfad mit unterschiedlichen Bodenmaterialien, der in einem Wassertretbecken endete. An wieder anderer Stelle wuchs Sanddorn. Auch einen Kräuter- sowie einen Rosengarten gab es.

Während Juliane so durch den Garten schlenderte, spürte sie, wie die Anspannung des Morgens von ihr abfiel. Sie dachte an Henni, die in diesem Augenblick wohl in ihrem Labor saß und Fingerabdrücke auswertete, Haarproben und vielleicht auch den ominösen Tee analysierte.

Sie hatten den gestrigen Tag und Abend seit längerer Zeit einmal wieder nur für sich gehabt. Juliane war vorher monatelang mit einer Serie von Banküberfällen beschäftigt gewesen, bei der es schließlich sogar einen Toten gegeben hatte. Es hatte sie und ihr Team eine Menge Arbeit, Geduld und Schlaf gekostet, bis sie die beiden Täter gefasst hatten. Das hatten Henni und sie gestern gefeiert. Sie hatten gemeinsam gekocht, Wein getrunken und waren am Strand spazieren gegangen, gleich hinter der Düne, hinter der sich Hennis Haus duckte. Dabei hatten sie viel herumgealbert, waren mit hochgekrempelten Hosenbeinen ins Meer gegangen und hatten sich gegenseitig nassgespritzt.

Zu Hause dann, als sie eng umschlungen, in Decken eingekuschelt, vor dem lodernden Kamin saßen und Sanddornglühwein tranken, hatte Henni sie urplötzlich von der Seite angesehen und in ihrer nüchternen Art gesagt: »Was hältst du davon, bei mir einzuziehen? Platz ist ja genug, und kennen tun wir uns nun auch schon eine Weile. Was meinst du?«

Juliane war so überrumpelt gewesen, dass sie erst einmal nichts gesagt hatte. Stattdessen hatte sie in ihren Glühwein gepustet, als gälte es, einen Vulkan nach seiner Eruption abzukühlen. Nach einer Weile hatte Henni ihr die Tasse aus der Hand und sie liebevoll in den Arm genommen. Dann hatte sie ihr einen Kuss gegeben und gemeint: »Jule, du musst nichts sagen. Eigentlich hast du mir bereits geantwortet. Du hast ja recht. Eigentlich ist alles gut so, wie es ist.«

»Aber nein, das ist es nicht . . . ich meine . . . natürlich ist es gut so, wie es ist«, hatte Juliane zu stottern angefangen. »Im Prinzip schon. Aber man kann es natürlich auch immer noch besser machen. Ich meine, ich bin nur so überrascht . . . weißt du, schon dass wir hier überhaupt zusammensitzen . . . ich . . .« Nach dieser sprachlichen Meisterleistung war Juliane verstummt, hatte verzweifelt die Hände vors Gesicht geschlagen und »Oh Gott!« gestöhnt.

Schließlich hatte Henni ihr die Hände weggezogen, ihr spöttisch lächelnd in die Augen gesehen und gefragt: »Bist du in deinen Vernehmungen auch so wortgewandt? Da wundert es mich nicht, dass eure Aufklärungsstatistik im letzten Jahr gesunken ist.«

»Sehr witzig.« Obwohl Juliane wütend über sich selbst gewesen war, hatte sie lachen müssen. »Tut mir leid. Ich bin wirklich unmöglich. Aber dein Angebot hat mich ein bisschen überfahren.«

Henni hatte gegrient. »Ja, ja, die einsame Wölfin hat Angst, in die Beziehungsfalle zu tappen. Ich weiß schon. Aber ernsthaft – du musst mir nicht gleich antworten. Überleg es dir in Ruhe. Wir können dich schließlich auch schrittweise an die neue Umgebung gewöhnen. Du ziehst her und behältst erst mal noch deine Wohnung. Sozusagen als Rückzugsraum. Du könntest sie erst dann kündigen, wenn du das Gefühl hast, sie nicht mehr zu benötigen.«

Juliane hatte protestiert. »Na hör mal, so gestört bin ich doch auch wieder nicht. Ich muss mir das einfach nur mal durch den Kopf gehen lassen. Immerhin wäre das ein großer Schritt.«

»Eben. Wir wären dann auch adressenmäßig ein Paar. Franke & Reuters. Für ein Briefkastenschild klingt das richtig gut.«

»Hört sich an wie eine Anwaltskanzlei«, hatte Juliane gemurrt.

Da hatte Henni sie liebevoll geküsst und ihr zärtlich ins Ohr geflüstert: »Überleg’s dir einfach. Ich zeige dir inzwischen schon einmal einen der Vorteile auf.«

Damit war das Thema erledigt gewesen, und sie hatten einen unvergesslichen Abend auf der Couch vor dem Kamin verbracht. Doch nun stand Juliane in diesem Garten einer Toten, starrte aufs Meer, kaute an ihrer Unterlippe und überlegte, was sie tun sollte.

Eigentlich wohnte sie längst die meiste Zeit über bei Henni. In ihrer eigenen Wohnung in Barth war sie immer seltener, meist nur, um ihre Kleidung zu wechseln. Warum also nicht?

Warum hatte sie solche Angst, sich zu entscheiden? War es wirklich, weil ihre Beziehung zu Henni dann sozusagen offiziell war? Was käme als Nächstes? Ein Heiratsantrag?

Juliane spürte, wie sich ihr die Nackenhärchen aufstellten. Sie war wirklich beziehungsgeschädigt. Wollte sie das Henni, ihrer geliebten Henni, die sie mehr liebte als je einen Menschen zuvor, wirklich antun? Kannten sie sich wirklich gut genug, um jeden verdammten Morgen dieses Lebens nebeneinander aufzuwachen?

Ein lautes Klatschen riss Juliane aus ihren Gedanken. Ein riesiger Möwenschiss war direkt neben ihr auf dem Kiesweg gelandet. Erschrocken sprang sie zur Seite und schüttelte drohend die Faust in Richtung Möwe: »Dich holt auch noch der Fuchs!«

Im nächsten Moment schaute sie sich ein wenig beschämt um, ob sie auch niemand beobachtet hatte. Da hatte sie doch schon wieder ein Argument gegen ihren Einzug bei Henni. Sie war der personifizierte Jähzorn. Das konnte sie niemandem zumuten.

Ein halbe Stunde später stand Juliane an der Rezeption der Ostseeperle und plauderte mit einer nicht mehr ganz jungen Rezeptionistin.

»Hatten Sie gestern Abend auch hier Dienst?«, fragte sie und versuchte, ihre Stimme sanft und ihr Lächeln strahlend wirken zu lassen. Sie wusste, dass sie das konnte und dass es half, den Leuten mehr Informationen zu entlocken, als diese eigentlich zu geben bereit waren.

»Ja, bis um zwanzig Uhr«, bestätigte die Blondine, deren Namensschild am dunkelblauen Reverskragen verriet, dass sie L. Meyer hieß. »Weshalb möchten Sie das wissen?«

Juliane schob beiläufig ihren Dienstausweis über den Tresen. »Och, rein berufliche Neugier.«

»Oh, Kriminalpolizei. Sie kommen bestimmt wegen Frau von Eckberg.«

Juliane lächelte, nun doch ein wenig überrascht. Lakonisch gab sie zurück: »Na, das hat sich ja schnell herumgesprochen. Hat das jemand vom Darßer Leuchtturm gefunkt?«

Frau Meyer schaute sie irritiert an. »Nein, nicht, dass ich wüsste. Eines unserer Zimmermädchen hat es erzählt. Die wusste es von ihrer Schwester, die wiederum neben dem Cousin eines Nachbarn von Frau Eckberg wohnt. Der hat ihr das wohl erzählt.«

»Dem Zimmermädchen?«

»Nein, ihrer Schwester.« Frau Meyer schaute Juliane mit großen Augen an. »Furchtbar, das Ganze, nicht wahr? Haben Sie schon jemanden festgenommen? Wer tut denn nur so was?«

»Tja, das wüsste ich auch gern. Kannten Sie Frau von Eckberg?« Juliane stützte sich lässig mit dem Ellenbogen auf dem Tresen ab, während sie die Rezeptionistin neugierig ansah.