Zeit der Versuchung - Toni Lucas - E-Book

Zeit der Versuchung E-Book

Toni Lucas

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Beschreibung

Der Australienexpertin Sarah Jansen werden zwar die Fördergelder für ihr neuestes Projekt nicht bewilligt, doch sie erhält unerwartet die Chance, sich gemeinsam mit der attraktiven, aber seltsam distanzierten Fotografin Florentine auf eine Reise quer durch den australischen Kontinent zu begeben. Beide kommen sich näher und scheinen durchaus füreinander geschaffen, wenn da nicht noch Carmen, Sarahs langjährige Partnerin, und Marisol, Florentines tote Geliebte, wären. Es beginnt eine Zeit der Versuchung, in der sich jede der Frauen darüber klarwerden muss, was wirklich für sie wichtig ist.

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Toni Lucas

ZEIT DER VERSUCHUNG

Roman

Originalausgabe: © 2010 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-064-6

Coverfoto:

Gibt es für dich eigentlich nur deine Arbeit?« Die andere Frau trat einen Schritt auf sie zu und stand nur noch einen Wimpernschlag von ihr entfernt.

Sarah konnte ihren Duft wahrnehmen. Herbe Frische, wie eine Sommerwiese nach einem kühlenden Regen. Sie musste schlucken.

Die andere legte ihr sanft die Hand auf die Wange. Diese feste, warme Hand mit den langgliedrigen Fingern, deren rosa schimmernde Nägel tadellos manikürt erschienen. Mit dem Daumen glitt sie zart über Sarahs zum Protest ansetzende Lippen.

Das unerwartete vertrauliche ›Du‹ erschreckte Sarah ein wenig, jagte ihr jedoch auch kleine prickelnde Stromstöße durch den Körper. Ehe sie sich in der Lage sah zu reagieren, spürte sie schon die seltsam kühlen Lippen der anderen auf ihren eigenen. Dieser plötzliche Kuss traf sie mit solcher Wucht, dass sie haltsuchend nach der Tischkante tastete.

Es war die Tischkante des Schreibtisches ihres Dozentinnenbüros in der Universität, und bis eben hatte sie Florentine von Koch, die sich jetzt über sie beugte, noch gesiezt.

Florentine vergrub ihre Finger in der blonden Fülle von Sarahs Haar. Sarah wollte abwehrend die Hände heben, landete aber direkt unter Florentines Hemd. Die plötzliche Berührung der fremden, warmen Haut ließ sie zusammenzucken.

Sarah rang nach Atem. »Nicht doch. Ich muss gleich . . .«

Florentine legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Du hast kein Interesse?« Ihre Stimme klang ein wenig rau, ihr Atem ging schwer.

»Nein . . . Ja, aber doch nicht jetzt und schon gar nicht hier.« Sarahs Busen wogte ein wenig, während sie noch immer nach Luft rang.

»Schade.« Dieses heiser hervorgepresste Wort ging beinahe in Florentines nächstem Kuss unter. Gleichzeitig hatte sie ihre Hände unter Sarahs Po geschoben und sie mit Schwung gänzlich auf ihren Schreibtisch befördert.

Noch einen Augenblick lang versuchte Sarah halbherzig Widerstand zu leisten, doch Florentines Hände und ihre Lippen schienen genau zu wissen, was ihr guttat. Da kapitulierte Sarah, das heißt, eigentlich schaltete sie nur ihr sektumwölktes Gehirn ab, und ihr Körper gab sich seufzend Florentines zielstrebigen Händen hin.

Nur peripher nahm sie wahr, wie diese ihr hastig die Bluse aufknöpfte und ihr Gesicht hingebungsvoll in ihrem Busen versenkte. Sie genoss jede Berührung der wandernden, leckenden Zunge, die feuchte, kühlende Spuren auf Sarahs brennender Haut hinterließ. Nur wenig überrascht fühlte sie, wie Florentine ihr den ohnehin kurzen Rock gänzlich nach oben schob, ihr die Hände auf die Pobacken legte und sie mit bestimmter Geste auf ihren Oberschenkel zog.

Sarah stöhnte leise auf. Der raue Stoff von Florentines Hose löste ein ganzes Gefühlsfeuerwerk in ihr aus. Da war das seltsame Aneinanderreiben der Feinstrümpfe und des Leinens, das einen merkwürdig prickelnden Ton hervorrief. Das heftige Kratzen auf der nackten Haut zwischen dem Rand der Strümpfe und dem Slip erregte sie besonders. Ihre Haut brannte, sandte Wärmestrahlen in ihren Unterleib, der sie direkt in ihre Mitte zu reflektieren schien. Sie fühlte klebrige Feuchtigkeit quellen. Ihre Perle musste sich schon, verwundert durch die unerwartete Aktivität, neugierig nach oben gereckt haben, empfand Sarah das durch Florentines Oberschenkel hervorgerufene Reiben ihres Slips doch besonders intensiv. Sie begann ihr Becken rhythmisch zu bewegen.

Inzwischen hatte sich Florentine daran gemacht, sich im weichen Fleisch von Sarahs Schulterbeuge zu verbeißen. Auch ihre Hände waren nicht untätig und massierten Sarahs stoffumspannte Brüste sanft und nachdrücklich, während die Daumen sich liebevoll mit den immer stärker hervortretenden Nippeln beschäftigten.

Sarah spürte Florentines heißen, vor Anstrengung und Erregung keuchenden Atem nur noch von Ferne an ihrem Ohr. Ganz tief in ihr braute sich schon das sehnsüchtig erwartete Gewitter zusammen. Da fühlte sie, wie sich elegante Finger suchend ihren Schenkel entlangtasteten, den schmalen Steg des Slips beiseite schoben und –

Doch das entscheidende Vordringen blieb aus. Florentines Finger schienen sich zwischen den weitgeöffneten Lippen wohlzufühlen. Sie badeten voller Entzücken, tauchten manchmal hinab bis zum Eingang, um dort begehrliche Kreise zu ziehen, gleich darauf wieder aufzutauchen und erneut mit dem Spiel zu beginnen. Da half es auch nichts, dass Sarah ihre Schenkel einladend öffnete und versuchte den Fingern entgegenzukommen.

Schließlich verlor sie die Geduld. »Mach schon!« Sarah hatte Mühe, diese Worte hervorzubellen, noch mehr Mühe aber machte es ihr, nicht vor Gier den Verstand zu verlieren.

Sie hätte Florentine töten können, als diese ihr mit kühler Arroganz ins Ohr raunte: »Wer wird denn so gierig sein. Hat es Frau Doktor so nötig?«

Zu Sarahs Entsetzen stellte diese Verrückte ihre Bemühungen nun ganz ein. Sie nahm den Kopf ein wenig zurück, um der Frau unter sich in die Augen schauen zu können. Ein spöttischer dunkler Blick, dem zweifelsohne eine gehörige Portion Begierde beigemischt war, vermengte sich mit Sarahs bettelndem Grün.

»Bitte!« Sarahs Stimme klang verzweifelt.

»Braves Mädchen.« Wieder traten Florentines Finger in Aktion.

Schon wollte sich Sarah mit zufriedenem Seufzen dem fortgesetzten Genuss hingeben, da spürte sie Florentines Zähne an ihrem Ohrläppchen, und nur den Bruchteil einer Sekunde später knurrte diese ihr einige derart derbe Sätze ins Ohr, dass es ihr fast die Sprache verschlug.

Sie fühlte siedende Röte in sich aufsteigen, Blut pulsierte in ihren Ohren – da stieß Florentine zu. Wieder und wieder. Ein Stakkato an Stößen, das Sarah getragen von einer eruptiven Erschütterung auf dem Schreibtisch zurückließ, während Florentine sich lächelnd über sie beugte und ihr kosende Worte ins Ohr flüsterte.

Ihr nunmehr liebevolles Gurren wurde von kleinen Fingerbewegungen begleitet, Lidschlägen nur, die jedoch Sarah stets aufs neue zusammenzucken ließen. Sie hielt die Augen geschlossen, konzentrierte sich ganz auf jede Bewegung, wollte den Augenblick festhalten. Ihre Hände hatte sie noch immer in Florentines Hemd verkrallt und die Beine hinter ihrem Rücken verschränkt.

Erst nach einer ganzen Weile gaben sie einander frei, Sarah, indem sie langsam die Beine senkte, Florentine, indem sie vorsichtig ihre Finger aus ihr herausgleiten ließ. Das leise schmatzende Geräusch holte Sarah ein wenig in die Wirklichkeit zurück.

Als sie sich endlich hochrappeln konnte, stieß sie mit dem Ellbogen die Uhr auf ihrem Schreibtisch um. Hastig griff sie danach, warf einen Blick drauf und stieß entsetzt hervor: »Verdammt! Schon nach vier! Ich hatte um viertel vor einen Termin bei Professor Carstensen. Er wird mich lynchen!«

Das angesammelte Endorphin verließ fluchtartig ihren Blutkreislauf und ließ sie mit überklarem Verstand zurück. Sie schaute entsetzt an sich hinunter und nahm ihren desolaten Zustand wahr. Jacke und Bluse waren offen, der Rock zerknittert und hochgeschoben, ihr Slip völlig durchnässt. Sie hatte einen Schuh verloren, und ihre Locken hingen ihr schweißfeucht ins Gesicht, der Hauch Make-up, den sie ausnahmsweise aufgetragen hatte, wirkte verschmiert.

Sarah rutschte eilig vom Schreibtisch, hastete um ihn herum und zog aus einer Schublade einen frischen Slip hervor.

Florentine grinste. »Sieh einer an. Die gute Frau Doktor hat vorgesorgt.«

Sarah schnappte unwirsch zurück: »Dafür war der eigentlich nicht bestimmt. Und hör endlich auf mit diesem albernen Frau Doktor!«

Sie versuchte sich notdürftig mit einem Papiertaschentuch zu trocknen. Als sie sich bewusst wurde, wie wenig vorteilhaft ihre Haltung auf Florentine wirken musste, drehte sie ihr den Rücken zu, musste jedoch umgehend feststellen, dass auch ihre rückwärtige Ansicht nichts weniger als vorteilhaft sein konnte. So richtete sie eiligst ihre Kleidung, durchsuchte fieberhaft die nämliche Schublade nach einem Kamm, fand ihn schließlich und ordnete rasch ihr Haar. Dabei warf sie abwechselnd einen Blick auf die Uhr und auf Florentine.

Die hatte sich ebenfalls ein Taschentuch genommen und tupfte sich demonstrativ ihre linke Hand ab. Gerade als sie ansetzen wollte, etwas zu äußern, kam Sarah ihr zuvor.

»Sag jetzt bloß nichts! Ich bin sowieso gleich am Durchdrehen. Am besten, wir vergessen das Ganze hier einfach.« Aufgebracht warf sie ein letztes Taschentuch in den Papierkorb. Sie wirkte völlig konfus.

Florentine von Koch war die Ruhe selbst. Sie lehnte an der Tür. Gleichmütig knöpfte sie sich die Weste zu und zuckte die Schultern. »Wenn du meinst. Schade eigentlich. Ich hätte auf eine Revanche gehofft. Vielleicht heute Abend, bei mir?« Ein Glitzern machte sich in ihren Augen breit.

Doch Sarah schien sie gar nicht gehört zu haben. »Du, ich muss jetzt wirklich los. Von diesem Gespräch hängt für mich eine Menge ab.« Sie schnappte sich eine Aktenmappe. »Könntest du bitte . . .?« Sie wies auffordernd auf die Tür.

In aller Seelenruhe stieß Florentine sich ab und öffnete die Tür, um dann den Raum zu verlassen.

Sarah folgte ihr so hektisch, dass sie aufeinanderprallten, als Florentine unvermutet vor der Tür stehenblieb.

»Was?« Irritiert hob Sarah die rechte Braue. Dann deutete sie verstehend den Gang hinunter. »Die Toiletten sind dort, falls du dich frischmachen möchtest. Für mich ist es dafür zu spät, leider.« Ihr Unterton klang noch immer grollend.

Schon wollte sie in die entgegengesetzte Richtung davoneilen, als Florentine sie am Arm festhielt. »War schön, dich kennengelernt zu haben.« Ihre Stimme klang weich, fast ein wenig bedauernd.

Sarah errötete. »Ganz meinerseits.« Das Rot und der unbeholfene Satz verliehen ihr etwas unschuldig Mädchenhaftes. »Danke!« Damit eilte sie endgültig davon.

Hektisch ließ sie einen Gang nach dem anderen hinter sich, bis sie völlig außer Atem vor einem kleinen Konferenzraum anlangte. Sie hielt kurz inne, atmete tief durch und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Dann zog sie noch einmal Rock und Jacke straff, fasste ihre Aktenmappe fester und griff ohne zu klopfen nach der Türklinke. Als sie eintrat, wurden gerade Stühle gerückt und Wasserflaschen geöffnet. Gemurmel füllte den Saal. Einige Köpfe wandten sich ihr zu, nickten grüßend, als sie sie erkannten, und drehten sich dann wieder ihren ursprünglichen Gesprächspartnern zu.

Zu ihrer unsäglichen Erleichterung konnte Sarah feststellen, dass sich der Beginn der Sitzung offensichtlich verzögert hatte. Carstensen selbst war noch nicht einmal da. Sie ließ sich beruhigt auf einen der Stühle fallen.

Als Sarah nach und nach zur Ruhe kam, spürte sie, wie ausgepowert sie war. Was für ein Nachmittag. Florentine. Beim Gedanken an sie musste sie unwillkürlich lächeln. F-l-o-r-e-n-t-i-n-e. Der Name zerschmolz ihr wie edles Nougat auf der Zunge. Sarah schluckte und fühlte eine kleine Begierde. Sie musste verrückt gewesen sein. Aber es hatte ihr gutgetan. Sie hatte sich etwas gegönnt. Punkt. Aus. Das war’s. Es war kaum anzunehmen, dass sie sich so schnell wieder über den Weg liefen.

Ein sanfter Stoß in die Rippen holte Sarah aus ihren Gedanken. Almuth Lorenz, sie lehrte englische Literaturgeschichte, hatte sich unbemerkt neben sie gesetzt und sah sie nun eindringlich von der Seite an. »Was ist denn heute mit dir los?«

Sarah blinzelte ein wenig erschrocken. »Wie meinst du das?«

»Na, du siehst so rosig aus und guckst ein bisschen weltentrückt. Alles in Ordnung?«

»Ja, sicher doch. Was soll schon sein?« Sarah klang ärgerlich. Im Grunde mochte sie Almuth ganz gern. Sie war ein Stück älter, mindestens fünfzehn Jahre, und hatte sich schon immer berufen gefühlt, Sarah unter ihre Fittiche zu nehmen. Manchmal tranken sie einen Kaffee zusammen und hechelten den neuesten Klatsch durch, oder sie sprachen ganz allgemein über ihre aktuellen Arbeiten.

»Ich dachte, vielleicht ist mal ein Lover in Sicht.« Almuth schmunzelte genießerisch.

Auch das noch. Almuth und ihr Lieblingsthema! Wann würde sie je damit aufhören? Zwar hatte es Sarah noch nicht über sich gebracht, ihr mitzuteilen, dass es sogar etwas mehr gab als das, was Almuth einen Lover nannte. Dennoch hatte sie ihr mehr als einmal deutlich zu verstehen gegeben, dass sie über dieses Thema nicht zu sprechen wünschte. Deshalb verdrehte sie auch jetzt die Augen.

Das Eintreten von Professor Carstensen enthob sie jeder weiteren Antwort. Es war schon erstaunlich, wie so ein kleiner Mann immer wieder einen derart großen Auftritt hinbekam. Er rauschte förmlich herein und verbreitete den Eindruck höchster Wichtigkeit. Sarah zunickend meinte er: »Tut mir leid wegen unseres Termins, aber der hat sich sowieso erledigt.«

Sarah stutzte. Was? Wieso? Es ging um die Vergabe von Geldern für ein Forschungsprojekt, eine Reise nach Australien zu Forschungszwecken, die Sarah gern finanziert haben wollte, um endlich einmal wieder aus dieser muffigen Universität herauszukommen. Und das hatte sich jetzt erledigt? Sie seufzte. Am liebsten wäre sie gegangen. Die ganze Sitzung drehte sich um die Vergabe von Geldern, aber nun wohl nur noch an andere. Doch sie musste warten, bis die Sitzung beendet war.

Carstensen verlas die Liste mit den zu verteilenden Geldern und erntete je nach Üppigkeit der Gaben zufriedenes Gebrummel oder entrüstetes Aufstöhnen. Wie immer ignorierte er beides und ließ sich auf keinerlei Diskussion ein.

Da faltete er auch bereits seinen Zettel zusammen und verabschiedete die Anwesenden. Er warf einen Blick zu ihr. »Sarah, du bleibst bitte noch hier. Über dein Vorhaben sprechen wir im Anschluss.«

Hatte er nicht gesagt, das hätte sich erledigt? Was denn nun?

Die anderen verließen den Raum. Endlich waren Carstensen und sie allein. Er jedoch kramte weiter in seinen Unterlagen.

Sarah räusperte sich. »Und?«

Carstensen blickte nur kurz hoch, schaute auf seine Uhr und lächelte Sarah dann blicklos zu. »Einen Moment. Ich erwarte noch einen Gast.«

»Einen Gast?« echote Sarah. Was sollte das denn nun wieder?

Doch kaum hatte sie das gedacht, klopfte es fest an der Tür. Carstensens Züge erhellten sich freudig, und er sprang auf, um dem Ankömmling entgegenzugehen. »Das wird sie sein!« verkündete er mit sichtlicher Begeisterung.

Sarahs Züge blieben unbewegt. Das änderte sich jedoch schlagartig, als sich die Tür öffnete und sie die Gestalt im Türrahmen erkannte. Ihr verschlug es für einen Augenblick den Atem, ja sie hatte das Gefühl, dass sogar ihr Herzschlag kurzzeitig aussetzte. Dunkles Rot schoss ihr bis unter die Haarwurzeln.

»Meine liebe Frau von Koch, liebe Florentine!« Eifrig führte er sie zum Tisch, an dem Sarah noch immer regungslos saß und sich bemühte ihre Gesichtszüge vor dem Entgleisen und ihre Gedanken vor dem Kollaps zu bewahren. »Sarah, darf ich dir Florentine von Koch vorstellen? Sie ist Lektorin des Terra-Anonyma-Verlages. Frau von Koch, das ist Frau Dr. Sarah Jansen, die junge Kollegin, von der ich Ihnen erzählt habe.«

Langsam löste sich Sarahs Erstarrung. Ihr summte der Kopf, dagegen war die Titelflut, die da gerade herniedergeprasselt war, auch nicht gerade hilfreich. Sie stand auf und reichte Florentine mit dünnem Lächeln die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen«, bemerkte sie beherrscht, und zu Carstensen gewandt fügte sie hinzu: »Wir haben uns bereits kurz auf der Party gesehen.«

Carstensen hatte die Angewohnheit, vor der Vergabe der Gelder bei einer kleinen Veranstaltung Sekt ausschenken zu lassen. Er meinte, dann wären seine Mitarbeiter entspannter und würden die Vergabe der Gelder gelassener sehen.

Während Sarah auf dieser Party herumgestanden und sich gelangweilt hatte, war ihr Florentine ins Auge gefallen, eine Fremde, die an einem Pfeiler gelehnt hatte. Schlank und hochgewachsen hatte sie eine androgyne Schönheit ausgestrahlt, die Sarah verwirrt hatte. Gleichzeitig hatte sie hervorragend in ihr Beuteschema gepasst, wie sie sich wieder einmal verschämt hatte eingestehen müssen.

Die Fremde hatte eine schmal geschnittene Hose aus hellem Leinen getragen, dazu eine passende Weste und ein hüftlanges, dunkelblaues Jäckchen. Unter den Ärmeln hatten die losen Manschetten eines weißen Hemdes genauso hervorgelugt wie der Hemdsaum unter dem Jackensaum hervorgedrängelt war. Fast ein wenig L-Word-Chic. Aber das war ja nicht das Schlechteste.

»Suchen Sie mich?« hatte die Fremde sie plötzlich angesprochen, nachdem Sarah sie kurz aus den Augen verloren hatte.

Sie hatte sich als Florentine von Koch vorgestellt, meinte aber, der Name wäre ursprünglich ein anderer gewesen, keine Spur einer adeligen Herkunft. »Meine Großmutter versuchte mir immer einzureden, es käme von van Gogh. Meinen Mitschülern gegenüber kam die Story gut. Zumindest bei denen, die Ahnung von abgeschnittenen Ohren hatten«, hatte Florentine lachend erläutert.

Das Ende der Geschichte war der Quicky auf Sarahs Schreibtisch gewesen, der ihr nun die Schamesröte ins Gesicht trieb.

Florentine nahm Sarahs Hand mit professionellem Lächeln. »Ganz meinerseits.«

Der Druck ihrer Hand schien völlig dem Anlass angemessen, doch Sarah hatte das Gefühl, eine Starkstromleitung zu berühren. Hastig zog sie ihre Hand zurück.

Carstensen schaute etwas irritiert zwischen beiden hin und her, wobei er über den Rand seiner Brille lugte. »Sie kennen sich bereits?« Doch er fasste sich schnell. »Na wunderbar. Da können wir ja gleich zum Wesentlichen kommen. Nehmen Sie doch Platz.«

Während Carstensen Florentine einen Stuhl unterschob, ließ sich Sarah wieder auf den ihren fallen. Was wurde hier eigentlich gespielt? Hatte Florentine von all dem gewusst? War das Ganze abgekartet? Aber woher sollte Carstensen wissen, dass sie Frauen bevorzugte? Sie sprach in der Abteilung grundsätzlich mit niemandem über ihr Privatleben.

Wirre Gedanken rasten wie ein Sandsturm durch Sarahs Kopf. Sie fühlte, dass ihr schlecht wurde.

Carstensen indessen tat ganz aufgeräumt. »Also Sarah, folgendes: Wie du weißt, sind unsere Gelder wie immer knapp bemessen, und ich habe wirklich keine Möglichkeit gesehen, ein Budget für deine Reise zusammenzubekommen. Aber«, er hob beschwichtigend die Hand, da er sah, dass Sarah aufbegehren wollte, »da ich durch Frau von Koch gute Kontakte zum Terra-Anonyma-Verlag habe, kann ich dir vielleicht trotzdem behilflich sein.« Er nickte Florentine zu, die geschäftig ihre Unterlagen sortierte. »Meine liebe Florentine, wenn Sie so nett wären und das Verlagsangebot erläutern würden.« Carstensen überschlug sich fast vor Liebenswürdigkeit.

Florentine hingegen blieb davon gänzlich unberührt, fast schien es, als nahm sie den Professor gar nicht wahr. Sie lächelte Sarah einmal kurz zu und räusperte sich. »Also, unser Verlag ist daran interessiert, einen kommentierten Bildband über Australien herauszubringen. Darin soll ein möglichst breites Spektrum der australischen Kultur enthalten sein, aber auch der dortigen Flora und Fauna ergänzt durch ebenso informative wie unterhaltsame Texte. Aus diesem Grund wird der Verlag einem Autoren sowie einem Fotografen einen dreimonatigen Aufenthalt in Australien finanzieren. Herr Professor Carstensen hat Sie uns als Australienexpertin empfohlen, uns aber gleichzeitig auch von Ihrer Forschungsarbeit berichtet. Sollten Sie sich entschließen können, dieses Projekt zu unterstützen, sponsert Ihnen der Verlag im Gegenzug einen weiteren sechswöchigen Aufenthalt zur völlig freien Verfügung. Selbstverständlich erhalten Sie auch einen angemessenen Autorenvertrag, der Sie an den Einnahmen des Buches beteiligt.«

Florentine hatte ihr Anliegen knapp und präzise vorgetragen. Nun klappte sie den Aktenordner mit einer abschließenden Handbewegung zu und sah Sarah fragend an.

Carstensen ließ ein breites Strahlen sehen, als hätte er seine Privatschatulle geöffnet. »Na, was sagst du zu diesem Angebot?«

In Sarahs Kopf schwirrte es. Das war heute eindeutig alles zu viel für sie. Viereinhalb Monate Australien. Auf solch einen Zeitraum hätte sie nie zu hoffen gewagt. Da Florentine sie noch immer forschend anblickte, fragte Sarah mit tonloser Stimme: »Und wer bestimmt die Reiseroute?«

Florentine hob die geöffneten Hände. »Da verlassen wir uns vollständig auf Ihre Kompetenz. Ebenfalls, was den genauen Einsatz der finanziellen Mittel betrifft.«

Sarah nickte verstehend. Es klang verlockend. So eine Chance erhielt sie nie wieder. Allerdings – viereinhalb Monate gemeinsam mit einem Fotografen allein durch Australien zu ziehen, das konnte hart werden, wenn man sich nicht verstand. Oder wenn der Herr ein wenig zimperlich war. Dann würde das Ganze zur Quälerei werden. »Weiß man schon, wer der Fotograf sein wird?« Sarah blickte fragend von Florentine zu Carstensen und zurück.

»Ich.« Dieses einsame, trockene Wort knallte aus Florentines Mund wie ein Sektkorken, ohne dass sie einen Blick von Sarah gelassen hätte.

»Sie?« Sarah konnte nicht verhindern, dass Entsetzen in ihrer Stimme mitschwang. »Ich dachte, Sie seien Lektorin!«

Ehe Florentine etwas erwidern konnte, plusterte sich Carstensen bereits auf. »Oh, das hatte ich vorhin vergessen zu erwähnen. Florentine ist nicht nur eine ausgezeichnete Lektorin, sondern auch eine hervorragende Fotografin. Ich habe bereits einige ihrer Arbeiten gesehen, und ich muss sagen, ich war beeindruckt. Sarah, ich denke, ihr beide werdet ein exzellentes Team bilden.« Er stutzte. »Sehe ich da etwa ein Zögern? Das ist nicht dein Ernst. Im übrigen«, er legte Sarah jovial die Hand auf den Unterarm, »falls du dir Sorgen wegen einer Freistellung machst – du erhältst selbstverständlich ein Forschungssemester.«

Auch das schien also schon geregelt zu sein. Sarah kam sich vor wie eine Maus, die man mit einer enormen Portion Speck in die Falle locken wollte. Ihr war heiß. Sie griff nach ihrem Wasserglas und trank in langen, durstigen Zügen. Dabei wurde sie das Gefühl nicht los, dass Florentine sie nicht aus den Augen ließ.

Als sie jedoch ihr Glas absetzte, blätterte Florentine gelassen in ihren Akten. Dann zog sie einige Blätter daraus hervor. »Wir haben selbstverständlich einen Vertrag vorbereitet. Wenn Sie ihn sich genauer ansehen möchten.« Sie reichte Sarah die Papiere über den Tisch.

Wieder berührten sich ihre Hände für einen flüchtigen Moment, und Sarah betrachtete danach für eine Sekunde ihren Handrücken, ob sie etwa ein Brandmal sehen konnte. »Danke.«

»Wir benötigen Ihre Entscheidung bis nächsten Dienstag.«

»Hmm.« Sarah nickte abwesend. Sie war bereits mit der Lektüre des Textes beschäftigt.

An dieser Stelle erhob sich Carstensen. »So, meine Damen. Das wäre es dann aus meiner Sicht. Meine Arbeit ist getan. Ich war hier gewissermaßen nur der wohlwollende Bote. Alles andere sollten Sie miteinander besprechen.« Er sah demonstrativ auf seine Schweizer Armbanduhr. Seine Gestik ließ keinen Zweifel daran, dass er die Audienz für beendet hielt und gern den Saal geräumt gesehen hätte.

Sarah begriff und stopfte den Vertrag hastig in ihre Aktenmappe. Auch Florentine sammelte eilig ihre Unterlagen ein. Schon standen sie vor der Tür des Konferenzraumes, schüttelten Carstensen die Hand und sahen ihn mit fliegenden Jackettschößen davoneilen. Ein Rabenvogel auf der Flucht.

Als er außer Hörweite war, wandte sich Sarah Florentine zu, die sie freundlich anlächelte. »Und?«

»Komm mit in mein Büro!«

Der Ton von Sarahs geschnappter Aufforderung klang mehr als unheilverkündend.

Florentine grinste breit. »Schon wieder?«

Doch Sarah stand nicht der Sinn nach Frivolitäten. Sie stürzte großen Schrittes die Gänge entlang, auch wenn sie dabei in ihren spitzen Schuhen und dem engen Rock einen Genickbruch, wenigstens aber einen verstauchten Knöchel riskierte. Ihr war alles egal. Sie musste sich die Wut ablaufen.

Florentine trabte zunächst wortlos hinter ihr her. Sie war offensichtlich intelligent genug, um zu bemerken, dass jegliche Zweideutigkeiten hier völlig fehl am Platze schienen, selbst wenn sie nur dazu dienen sollten, die Atmosphäre etwas aufzulockern. Erst nach der dritten Gangbiegung wagte sie ein wenig atemlos zu bemerken: »He, ich dachte, wir fahren nach Australien. Marathon ist eine griechische Disziplin.«

»Da wirst du dich wohl dran gewöhnen müssen.« Sarah gönnte ihr nicht einmal einen Blick über die Schulter.

»Das heißt also, du nimmst das Angebot an?« Es klang hoffnungsvoll erfreut.

Doch Sarah erstickte das aufkeimende Flämmchen Hoffnung mit einer ganzen Gletscherzunge. »Davon war keine Rede.«

Florentine allerdings gab nicht auf. »Dann willst du mich also einfach so wiedersehen?«

Sie waren vor dem Ort des nachmittäglichen Kampfes angelangt. Sarah schwieg verbissen und kämpfte mit dem Schloss. Endlich hatte sie den richtigen Schlüssel gefunden und stieß mit heftigem Schwung die Tür auf. Sie deutete auf den Stuhl links vorm Schreibtisch. »Mach die Tür zu und setz dich.«

Ihr Ton klang dermaßen autoritär, dass Florentine keinen Widerspruch wagte, sondern vorsichtig die Tür schloss. Während sich Sarah auf ihrem Schreibtischstuhl niederließ, musste ihre Besucherin auf dem wackeligen Sitzgerät vor dem Bollwerk Platz nehmen. Psychologisch gesehen war jeder, der in Sarahs heilige Hallen eindrang, bereits im Aus, wenn er erst einmal saß.

Sarah taxierte die Frau vor ihrem Schreibtisch mit kaltem Blick. »Du hast es gewusst, nicht wahr? Was soll das? Wollt ihr mich fertigmachen – du und Carstensen? Du bildest dir doch nicht ernsthaft ein, dass ich nach heute Nachmittag mit dir irgendwohin fahre.«

»Ach, Sarah.« Florentine hatte sich erhoben und machte Anstalten, um das Schreibtischbollwerk herumzukommen.

Doch diese herrschte sie an: »Setz dich wieder hin. Ich will wissen, was hier gespielt wird!«

Florentine brach ihren Vorstoß ab, blieb jedoch stehen. »Du irrst dich. Carstensen hat stets nur von seiner ›jungen Kollegin‹ gesprochen. Er hat deinen Namen nie erwähnt. Sieh im Vertrag nach. Dort ist der Name noch freigelassen.«

»Ja, sicher doch. Falls ich nicht zusage. Das ist doch eine billige Ausrede.« Sarah schnaubte verächtlich.

Indessen hatte Florentine bereits zwei weitere kleine Schritte nach vorn gewagt. Vorsichtig, als befände sie sich im Angesicht eines Tigers, ließ sie sich auf der Schreibtischkante nieder. »Sarah, du musst mir glauben. Ich habe dich auf der Party nur angesprochen, weil ich das Gefühl hatte, dass du mich die ganze Zeit über beobachtet hast. Sollte ich das so missverstanden haben? Außerdem sahst du so verloren aus, wie du da an deinem Tisch gestanden hast. Ich dachte, ich sehe mein Inneres in einem Spiegel.« Bei den letzten Worten war Florentine ganz nach vorn an die Ecke gerutscht. Sie befand sich nun direkt neben Sarah und streckte bittend die Hand aus.

Sarah zuckte zurück und rollte mit ihrem Stuhl die paar Zentimeter in die Ecke. »Und das hier?« Sie deutete auf die Karte und ihre kleine Sammlung an der Wand. »Das hast du natürlich völlig übersehen.« Ironie tropfte fast sichtbar von ihren Lippen.

Florentine senkte schuldbewusst den Kopf und schwieg einen Moment. Dann sah sie Sarah fest in die Augen. »Was hätte ich denn machen sollen? Fragen: Oh, sind Sie etwa die, die nach Australien will? Falls ja, muss ich jetzt leider gehen, der guten Sitten wegen. Falls nein, hätte ich gern Sex mit Ihnen.«

»Zum Beispiel.«

Jetzt klang Florentine ernsthaft aufgebracht. »Sarah, das ist doch nicht dein Ernst! Nun tu doch nicht so prüde. Du hättest schließlich auch nein sagen können. Aber es hat dir Spaß gemacht. Oder sollte ich mich da so sehr irren? Das ist schon ein bisschen unfair, mir jetzt die ganze Schuld zuzuschieben. Meinst du nicht auch?«

Ganz allmählich verflog Sarahs Groll. Diese gutaussehende Frau hatte ja im Prinzip recht. Der Punkt jedoch war, dass sie heute zum ersten Mal ihre Freundin betrogen hatte. Zum ersten Mal in vier Jahren. Wie sollte sie das erklären? Beiden. Sie hatte es stets vermieden, Arbeit und Privates zu vermischen, weil sie wusste, dass es nur Ärger gab. Wenn sie jetzt auch noch fast fünf Monate gemeinsam mit Florentine nach Australien fuhr – nicht auszudenken, was passieren würde.

Sarah fühlte, dass diese anscheinend so smarte Frau eine derart starke Anziehungskraft auf sie ausübte, dass es mehr als nur das Projekt bedrohen würde, wenn sie dem nachgab. Und sie würde schwach werden. Keine Frage.

»Sarah?«

Erschrocken zuckte sie zusammen, war sie doch unbeabsichtigt in tiefes Grübeln verfallen. »Ja?«

»Ich würde es sehr bedauern, wenn aus dieser Reise nichts wird.« Florentines Stimme wehte wie eine sanfte Brise zu ihr herüber. »Es könnte uns beide beruflich weiterbringen. Können wir den Nachmittag nicht einfach streichen? Vielleicht sollten wir einfach noch mal anfangen. Wie wäre es mit übermorgen Nachmittag gegen drei? Treffen wir uns im Café Vis-à-vis? Ich bringe einige meiner Arbeiten mit. Dann kannst du dir selbst ein Bild machen.« Sie stutzte und lächelte leise ob dieser ungewollten Doppeldeutigkeit. »Versprich mir, dass du es dir überlegst.«

Sarah rieb sich ihre hämmernden Schläfen. Blinzelnd und mit resigniertem Blick sah sie Florentine an. »Tu mir einen Gefallen, geh jetzt. Ich schaff’ das heute nicht mehr.«

Florentine nickte. »Du kommst am Freitag auf jeden Fall?«

»Sicher, was sonst.« Es war ein leiser Seufzer, sonst nichts.

»Tja, dann geh’ ich wohl besser. Tschüss.«

Sarahs gemurmeltes »Tschüss« traf nur noch die Tür.

Als sie endlich allein war, legte die Gemarterte stöhnend die Beine auf die Kante des Schreibtisches. Sie tat das oft, wenn sie nachdenken musste. Heute aber war diese Geste eher ihren schmerzenden Gliedern geschuldet. Aus der oberen Schreibtischschublade angelte sie eine Tafel Schokolade, den Behälter für ihre Kontaktlinsen sowie ihre Brille. Sorgfältig verstaute sie ihre Linsen und blieb dann eine ganze Weile mit geschlossenen Augen sitzen. Sie wusste nicht, was schlimmer brannte – ihre Füße, ihre Augen oder die Erinnerung an diesen Nachmittag.

Schließlich schlug sie die Lider auf, griff sich ihre Brille und öffnete die Tafel Schokolade. Genauso gierig, wie sie vorhin das Wasser getrunken hatte, schlug sie nun ihre Zähne in die von der Wärme weich gewordene Köstlichkeit. Nougat. Sofort musste sie wieder an Florentine denken. Ihr Name – wie Nougat auf der Zunge. Sarah nahm rasch die Beine vom Tisch und verstaute die angebissene Tafel im Schreibtisch. Nicht einmal Schokolade half heute.

Sie griff zum Telefon. »Hi Imke, hast du Lust, mit mir noch etwas essen zu gehen? Ich glaube, ich brauche dringend etwas Kräftiges.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang besorgt. »Ist etwas passiert? Du klingst so merkwürdig.«

»Erzähl’ ich dir später. In einer halben Stunde im Irish Harp?«

»Gut, wir sehen uns. Bis gleich.«

»Bis gleich.«

~*~*~*~

Eine Viertelstunde später saß Sarah im Pub. Sie kam nicht oft hierher. Gefühlte zwei, drei Mal im Jahr. Da der Wirt, ein rundlicher, älterer Mann, ihr jedoch mit einem erkennenden Blick grüßend zugenickt hatte, konnte das wohl aber nicht stimmen. Sarah flüchtete immer hierher, wenn sie Stress und damit Appetit auf etwas Kräftiges hatte. Spareribs und ein kräftiges Guinness. Heute würde es wohl auch noch einen Whiskey als Nachspeise geben.

Sie hatte sich in eine der typischen Nischen zurückgezogen, die durch dunkle Holzwände voneinander abgetrennt waren. Hier konnte man gut sitzen und plaudern, ohne dass einem die restlichen Gäste ständig an den Lippen hingen.

Sarah nickte nur kurz dankend, als die Kellnerin ihr ein Pint Guinness hinstellte. Liebevoll betrachtete sie die dunkle Farbe des Bieres, seine fingerbreite cremige Blume, in die der Barkeeper ein fast perfektes Kleeblatt gezogen hatte. Das Glas, beschlagen von der Kühle seines Inhalts, stand so verheißungsvoll vor ihr, dass sie diesmal die sonst von ihr so geliebte Prozedur des geistigen Vorkostens kurzerhand abkürzte und einen tiefen, langen Zug nahm. Als sie das Glas mit einem befriedigten Seufzer wieder absetzte, war es nur noch zur Hälfte gefüllt. Dafür fühlte Sarah sich so schwindlig, dass sie einen Augenblick lang die Augen schloss. Blut brauste in ihren Ohren, und sie fühlte, dass sie sich jetzt keinesfalls bewegen konnte.

Einige Zeit später wurde Sarah von einem leisen Kichern in die Realität zurückgeholt. Rasch schlug sie die Augen auf. Vor ihr stand Imke.

»Was ist denn mit dir los? Meditation an der dunklen Quelle?« Sie warf ihre Handtasche auf die Bank neben Sarah und zwängte sich dann hinterher.

Sarah schüttelte den Kopf und deutete auf das halbleere Glas vor ihr. »Es ist nur der Kreislauf. Ich habe zum Frühstück das letzte Mal etwas gegessen. Der erste Schluck war wohl etwas groß. Willst du auch ein Bier?« Schon winkte sie, wenn auch mit etwas zittriger Hand, der Kellnerin. »Magst du was essen? Ich sterbe gleich vor Hunger.«

Imke, die bereits eifrig in der Karte las, zuckte die Schultern. »Eigentlich schon. Aber ich sollte nicht.« Prüfend schaute sie an sich herunter. »Ach, was soll’s.« Sie strahlte der Kellnerin, die gerade an den Tisch getreten war, entgegen. »Spareribs bitte und ein Glas Cidre.«

Sarah ergänzte: »Ich nehme auch die Spareribs, bitte.«

Schon hatte sich Imke wieder Sarah zugewandt. »Sag mal, wie siehst du überhaupt aus? War irgendwo Fasching oder Ball der einsamen Herzen? Das ist ja so gar nicht dein Stil.« Sie grinste. »Oder hast du eine Neue, die auf Lipstick steht?«

Sarah wurde rot. Zum wievielten Mal heute eigentlich schon? Dann räusperte sie sich und erzählte kurz von der Party und der abschließenden Konferenz.

»Ach das.« Imke zuckte abschätzig die Schultern »Das ist doch jedes Jahr das gleiche Theater.« Dann verschränkte sie die Unterarme auf der dunklen Holztischplatte und blickte Sarah erwartungsvoll an. »Nun erzähl schon. Weshalb bin ich wirklich hier?«

Sarah lächelte amüsiert. Das war Imke. Immer da, wenn sie sie brauchte, voller Energie und kam stets ohne Umschweife auf den Punkt. Sie beide kannten sich bereits seit dem Gymnasium. Beste Freundinnen seit der fünften Klasse. Das musste ihnen erst einmal jemand nachmachen. Nach dem Abi hatten sich ihre Wege kurzzeitig getrennt. Imke hatte Jura studiert und führte nun eine eigene Kanzlei für Wirtschaftsrecht. Sarah konnte ihr grenzenlos vertrauen. Wann immer sie Probleme hatte – Imke war für sie da.

Das Beste jedoch: Imke war so was von hetero, dass es schon wieder beruhigend anmutete. Noch dazu, da Sarah sie in keiner Weise sexuell attraktiv fand. Sie hatte schon häufiger darüber nachgegrübelt, weshalb das so war. Sicher, sie hatten im pubertären Überschwang der siebenten Klasse, lange bevor Sarah ihre Vorliebe für Frauen entdeckt hatte, ein wenig herumexperimentiert. Ein ungeschickter Kuss, ein von Kichern begleiteter Griff unter die Bluse der anderen. Aber es war irgendwie lau gewesen, ohne jegliches Prickeln. In stummer Übereinkunft hatten sie es nie wieder versucht.

Imke war zwar nicht gerade eine klassische Schönheit, aber die Männer standen auf sie. Sie war leicht untersetzt, kämpfte ständig mit ihren Pfunden. Ihr kupferrotes Haar vernachlässigte sie sträflich und hielt es auf praktischer halber Länge, so dass ihre Standardgeste das Zurückstreichen einer widerspenstigen Strähne hinter ein Ohr bildete. Wie Sarah hatte sie grüne Augen, nur heller, und Gesicht und Körper bildeten ein Eldorado für Sommersprossen. Auch in Kleidungsdingen hätte Imke sicherlich Nachhilfe gebraucht, aber die Nachlässigkeit, mit der sie irgendwelche völlig unmodischen Dinge über sich warf, hatte schon wieder etwas Apartes. Auch war sie immer guter Laune, die sie sich durch fast nichts verderben ließ und die sie mit Sicherheit anziehend machte.

Noch einmal nahm Sarah einen Schluck vom Guinness. »Mein Antrag wurde genehmigt. Ich werde nach Australien fahren.« Sie blickte Imke erwartungsvoll an.

»Aber das ist doch prima. Glückwunsch. Und weshalb siehst du dann aus, als hätte man dich zu sieben Jahren Bergwerk verurteilt?«

Knurrend erzählte Sarah von dem Deal mit dem Terra-Anonyma-Verlag. »Ich wollte mich eigentlich nicht für so einen Kommerzquatsch verkaufen. Und die paar Wochen, die ich für meine Arbeit habe, werden hinten und vorn nicht reichen. Was soll dabei herauskommen?«

Sie wurden kurz unterbrochen, da die Kellnerin mit dem Essen kam. Ohne Imkes Antwort abzuwarten, begann Sarah zu essen.

Nachdem Imke ihr ein paar Minuten schweigend beim Schlingen zugeschaut hatte, ohne ihr eigenes Essen anzurühren, hakte sie vorsichtig nach. »Also, so wie du isst, musst du eine verdammte Wut haben. Wen verspeist du denn da gerade?«

Sarah, die genüsslich an einer Rippe nagte, hielt erschrocken inne. »Oh, entschuldige bitte. Ich habe dir nicht mal Guten Appetit gewünscht.« Verlegen legte sie die Rippe auf ihren Teller zurück und wischte sich die Finger an der Serviette ab.

Imke begann schweigend mit dem Essen, ohne Sarah jedoch aus den Augen zu lassen.

Die Stille legte sich immer drückender auf sie, doch Sarah starrte noch immer stumm auf ihren Teller. Dann hob sie langsam die Augen. »Ich habe Carmen heute zum ersten Mal betrogen.«

»Du hast was?« Imke verschluckte sich vor Überraschung fast an einem Stück Fleisch. »Mein braves altes Mädchen. Du bist fremdgegangen? Dass ich das noch erleben darf! Los«, sie rückte etwas näher an Sarah heran, »erzähl mir all die schmutzigen Details.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

Doch Imke ließ nicht locker. »Nun mach schon. Du willst auch immer alles über meine aktuellen ›Beischläfer‹ wissen.«

Sarah biss sich verlegen auf die Lippen. Das Wort Beischläfer hatte sie geprägt, als sie endgültig den Überblick über Imkes äußerst abwechslungsreiches Liebesleben verloren hatte und mit ihrer privaten Statistik nicht mehr hinterhergekommen war. Seitdem sprach sie über die entsprechenden Herren nur noch als Beischläfer. Selbst Imke hatte sich das inzwischen angewöhnt. Eine andere Funktion hatten die Männer bei ihr meist aber auch nicht.

In dürren Worten und zögernd nach neutralen Begriffen suchend begann Sarah ihren nachmittäglichen Ausflug auf den Schreibtisch darzulegen. Doch schon allein bei dem Gedanken an Florentine und ihre edlen Finger bemerkte sie, wie ihr wieder heiß wurde und sie nervös mit ihrem Besteck auf dem Teller herumstocherte.

Imke indessen hörte ihr mehr als vergnügt zu und aß mit sichtlichem Appetit. Als Sarah dann geendet hatte, fragte sie kauend: »Und wo bitte ist der Zusammenhang zwischen Australien und deinem Quicky?«

Sarah trank ihr Glas leer, winkte der Kellnerin nach einem zweiten und bemerkte nach dieser effektvollen Pause trocken: »Der ›Quicky‹ fährt mit nach Australien. Florentine ist die Fotografin.«

Da musste Imke so schallend lachen, dass sich die anderen Gäste verwundert nach ihnen umschauten. Noch immer in ihre Serviette prustend griff sie nach Sarahs Hand. »Na, was Besseres kann dir doch gar nicht passieren. Endlich Australien, regelmäßiger Sex, eine schöne und offensichtlich intelligente Frau und das Ganze auch noch bezahlt! Wo genau bitte liegt jetzt dein Problem?«

»Eben da.« Sarah wusste nicht so genau, ob sie mitlachen sollte oder ob sie wütend war. »Was soll ich denn Carmen sagen? Immerhin leben wir seit vier Jahren zusammen.« Sie wirkte hilflos, und eine blonde Strähne fiel ihr ins gerötete Gesicht.

»Ich höre immer, ihr lebt zusammen. Mal ehrlich, wie oft im Jahr seht ihr euch? Dreimal für vier, fünf Wochen? Dann fliegt sie wieder los, um irgendwo noch ein paar alte Steine auszubuddeln. Also unter Beziehung verstehe ich etwas anderes.« Als Imke sah, dass Sarah protestieren wollte, fügte sie beschwichtigend hinzu: »Ja, ja, ich weiß, ich bin nicht gerade Expertin für Beziehungen. Aber mal ernsthaft. Du willst das Carmen doch nicht wirklich erzählen. Vielleicht in deiner nächsten Mail, so nach dem Motto: He Schatz, mir geht’s gut. Hab’ mal eben mit einer anderen geschlafen. Muss dich aber nicht beunruhigen, wir fahren nur zusammen nach Australien. Mensch Sarah, da hast du endlich mal jemanden, mit dem du deine Arbeit und dein Bett teilen kannst, und dann machst du so ein Drama daraus. Also ich wüsste, was ich tun würde. Gehst du wenigstens am Freitag zu ihr hin ins Vis-à-vis?«

»Ach, ich weiß noch nicht. Aber vermutlich ja.«

»Na, das ist doch ein Wort. Und jetzt lass uns noch einen schönen Abend haben.« Erleichtert winkte Imke der Kellnerin.

~*~*~*~

Als Imke und Sarah zwei Stunden später das Irish Harp verließen, waren sie beide leicht angeheitert. Zwar hatte Sarah nicht besonders viel getrunken, aber die Wärme und die anstrengenden Ereignisse des Tages hatten unübersehbar ihren Tribut gefordert. Sie sah nicht nur reichlich derangiert aus, sie fühlte sich auch so.

Imke blieb das ebenfalls nicht verborgen. »Soll ich dich nach Hause begleiten?«

»Quatsch, ich schaff’ das schon allein. Mach dir bloß keine Umstände.« Sarahs Zunge klang schwer und stolperte unüberhörbar. Auch ihr Gang sah mehr als wackelig aus.

Imke hakte sie deshalb kurzentschlossen unter und duldete keine Widerrede. »Wenn mich nicht alles täuscht, musst du morgen ein paar deiner Studenten prüfen. Mir wäre wohler bei dem Gedanken, wenn ich dich vorher sicher in deinem Bettchen wüsste. Also komm schon.«

Sarah ließ sich kichernd und stolpernd mit wegziehen, wobei sie Imke den ganzen Weg über erzählte, wie furchtbar es wäre, mit einer Archäologin zusammenzuleben, die die Wohnung nur als eine Art Basislager betrachtete, um alle paar Monate nach Hause zu kommen und ihre Sachen und ihre Libido wieder auf Vordermann zu bringen. Sarah fuchtelte mit ihrem Zeigefinger vor Imkes Nase herum. »Weißt du, was das schlimmste ist? Nein, weißt du nicht.« Sie stolperte. »Immer wenn sie nach Hause kommt, erwartet sie, dass ich nur noch für sie da bin. Wir kommen dann kaum noch aus dem Bett heraus.«

»Und was ist daran so schlimm?« Imkes Blick spiegelte abgrundtiefe Verständnislosigkeit.

»Dass sie dann einfach wieder weg ist und mich allein zurücklässt. Sie kann mich doch nicht vier, fünf Wochen ständig vvvvvvvö. . ., oh, Verzeihung.« Sarah hickste ein wenig und hielt sich verlegen kichernd die Hand vor den Mund. »Ich meine natürlich, sie kann doch nicht so exsssessssiv mit mir schlafen und mich dann wieder verlassen. Das kann doch nicht gut sein, oder? Ich bin doch kein Spielzeug, oder?«

Imke musterte Sarah mit zur Seite geneigtem Kopf. Das war ein Teil von ihr, den sie nur äußerst selten zu Gesicht bekam. Es musste es wirklich schlimm um sie stehen, wenn sie über solch intime Dinge freiwillig sprach. »Nein, Liebchen, du bist kein Spielzeug. Deshalb sollst du ja auch diese Florentine treffen und mit ihr nach Australien fahren. Vielleicht weißt du danach, was du wirklich willst. Wir sind übrigens da.« Sie deutete auf das große, rote Backsteingebäude vor ihnen, das offensichtlich schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte und in dem Sarah gemeinsam mit Carmen eine Vierzimmerwohnung im dritten Stock bewohnte.

»Ich weiß, dass wir da sind.« Triumphierend winkte Sarah mit ihrem Schlüssel, nach dem sie schon eine Weile in ihrer Handtasche gekramt hatte. »Und genau das werde ich machen. Ich werde mit Florentine nach Australien fahren und meinen Spaß haben. Soll ich dir mal ’ne Karte schreiben?«

Imke lächelte. »Ja, Liebchen, mach das. Ich bitte sogar darum. Aber erst mal musst du dringend ins Bett. Soll ich noch mit hochkommen?«

Sarah schüttelte nur wild ihre blonde Lockenmähne und gab Imke einen freundschaftlichen Schmatz auf die Wange. »Danke dir. Bis bald. Und grüß deinen Beischläfer von mir, wer auch immer es derzeit ist.« Damit verschwand sie im dämmrigen Treppenhaus, und Imke machte sich erleichtert auf den Heimweg.

Indessen hatte Sarah müden Schrittes die drei ausgetretenen und stets knarrenden Holztreppen hinauf zu ihrer Wohnung bewältigt und so mühelos ihre Wohnungstür geöffnet, dass sie selbst überrascht war. Mit einem kräftigen englischen Fluch schoss sie ihre Pumps in eine Ecke, ließ ihr Jackett fallen und den Rock gleich hinterherrutschen. Auf dem Weg ins Bad entledigte sie sich auch ihrer Strümpfe, des Slips und des BHs. Dann stellte sie sich seufzend unter die Dusche.

Als sie barfuß und nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Bad herausgetappt kam, siegte ihr Ordnungswille über ihre Müdigkeit, und sie hängte ihr Kostüm samt Bluse auf einen Bügel an der Garderobe. Faschingskostüm! In ihrem guinnessvernebelten Hirn kreiselte es. Aber wenn sie es recht bedachte, so falsch lag Imke gar nicht damit. Brummelnd ging sie ins Schlafzimmer, dessen großes Doppelbett seltsam verloren in der Mitte stand. Es wurde Zeit, dass Carmen wiederkam.

Sarah kuschelte sich nackt unter die dünne Decke. Dann zog sie Carmens Kopfkissen zu sich herüber und bohrte ihre Nase tief hinein. Wenn sie sich Mühe gab, konnte sie auch nach zwei Monaten noch deren sinnlichen Duft erahnen. Ob sie wusste, dass sie ihr Kopfkissen nie neu bezog, bis sie wiederkam?

Sarah schloss träumerisch die Augen und dachte an Carmen. Sie dachte an ihren schlanken, muskulösen Körper, der sich über sie schob, an ihre sehnigen Arme, die sie festhielten und an die suchenden Lippen, die ihren Körper zum Glühen brachten. Beinahe konnte sie ihren warmen Atem spüren, der ihr auffordernd über die Haut strich. Sarah räkelte sich wohlig und dämmerte in einen sanften Schlummer hinüber. Das letzte, was sie wahrnahm, war Carmens Körper, der sich so angenehm an sie schmiegte, und es erschreckte sie nicht ein bisschen, als ihr plötzlich Florentines Augen entgegenlächelten.

~*~*~*~

Am nächsten Morgen saß Sarah reichlich zerknittert am Frühstückstisch. Vor ihr stand ein großes Glas Wasser, in dem zischend kleine Bläschen des sich auflösenden Aspirins aufstiegen. Gedankenleer schaute sie dem Geblubber zu, und als der Strudel schließlich versiegt schien, trank sie durstig das Glas aus. Nein, sie würde jetzt nicht an Florentine denken. Das konnte warten. Sie gönnte sich ein ausgedehntes Frühstück und vor allem viel schwarzen Kaffee. Erst dann fühlte sie sich gestärkt genug, um mit Imke zu telefonieren. Einerseits wollte sie sich für das Nachhausebringen bedanken und andererseits musste sie unbedingt herausfinden, wieviel Unsinn sie geredet hatte. Doch Imke hatte gerade einen Klienten, so dass die Unterhaltung nur sehr kurz ausfiel und Sarah nicht wirklich Aufschluss über den vorherigen Abend brachte.

Bevor sie die Wohnung verließ, warf sie noch kurz einen Blick in den Spiegel. Was ihr da entgegenblickte, befriedigte sie durchaus. Das war wieder sie – grüne Augen, die kritisch durch eine schwarz gerahmte Brille blickten, die Haare zu einem losen Zopf gebunden, helle Jeans und ein knallrotes Hemd, dessen Ärmel sie locker aufgerollt hatte. Das Ganze wurde von hellen, bequemen Sandalen vervollständigt, in denen sie auch mühelos durch den australischen Outback hätte wandern können. Sie lächelte und machte sich rasch auf den Weg zur Uni. Wie üblich nahm sie das Rad. Der Weg war nicht weit, und schneller als mit dem Auto kam sie auf alle Fälle voran.

Auf den Gängen ihrer Fakultät herrschte hektisches Gewusel. Die Prüfungen waren im vollen Gange, und in jeder Ecke lungerten nervöse Studenten umher, die Nägel kauend oder aber mit coolem Ihr-könnt-mir-gar-nichts-Blick der Dinge harrten, die da kamen.

Sie selbst musste glücklicherweise nicht prüfen, sondern konnte sich mit dem schönen Titel Prüfungsvorsitzende schmücken. Die Prüfung selbst nahm Almuth Lorenz ab. Das ermöglichte es Sarah, sich nach der salbungsvollen Begrüßung der Delinquenten gemütlich zurückzulehnen und der Show genüsslich zu folgen. Es reichte völlig aus, wenn sie die Studenten freundlich-unverbindlich anschaute und ihnen ermutigend zulächelte. Am Ende dann handelten Almuth, Sarah sowie ein dicklicher älterer Doktor, der ebenfalls Beisitzer war und den Sarah nur vom Sehen kannte, die Prüfungszensur aus. Alles in allem verlief der Tag recht angenehm, zumal die Studenten offenbar nicht völlig der Demenz verfallen waren, sondern ordentlich gepaukt hatten.

Nachmittags saß Sarah dann ein wenig erschöpft, aber durchaus im Reinen mit sich und der Welt an ihrem Schreibtisch. Wie so oft hatte sie die Füße hochgelegt, neben ihr auf dem Schreibtisch lockte die angebissene Tafel Schokolade. Auf ihrem Schoß lag die Mappe mit dem Vertrag vom Terra-Anonyma-Verlag. Sie las prüfend Seite für Seite, Zeile für Zeile des Kontraktes, wobei sie sich immer mal ein Stückchen Schokolade griff.

Schließlich war die Schokolade alle und der Text studiert.

Entschlossen wollte Sarah die Mappe zuklappen, da fiel ihr eine Visitenkarte entgegen. Florentine von Koch, Verlagslektorin und Fotografin. Jetzt hatte sie es schwarz auf weiß vor sich. Sie legte die Mappe beiseite und verschränkte die Arme im Nacken. Der Vertrag schien ihr fair zu sein. Zwar war das genannte Budget nicht gerade üppig, aber das war nichts Neues. Es würde reichen, dessen war sie sich sicher. Sie hatte schon mit weniger auskommen müssen. Und Florentine? Eigentlich wusste sie gar nicht mehr so recht, weshalb sie gestern so hysterisch reagiert hatte. Mein Gott, was war schon passiert? Imke hatte recht. Zusammen könnten sie in Australien viel Spaß haben. Irgendwie würde sie Carmen schon verklickern, mit wem sie da wegflog.

Als Sarah tags darauf kurz vor halb vier das Vis-à-vis betrat, herrschte reger Betrieb. Das Publikum war wie immer buntgemischt. Studenten, die sich über Bücher gebeugt stundenlang an einem Latte Macchiato festhielten, vom Shopping erschöpfte Frauen, die plaudernd den Nachmittag mit einer Freundin genossen, ein paar ältere Damen, die völlig unbeschwert ihr bisschen Rente unter die Leute brachten sowie einige Pärchen, die einander gänzlich weltvergessen in die Augen schauten, während er ihr liebevoll das Händchen hielt.

Sarahs Lächeln wirkte fast ein wenig neidisch. Wann war sie das letzte Mal mit Carmen aus gewesen? Nur sie beide in romantischer Stimmung. Es musste ewig her sein. Sie seufzte. Von Anfang an hatte sie gewusst, dass es Carmen nicht lange an einem Ort halten würde. Auch sie selbst war früher häufig unterwegs gewesen. Jetzt musste sie damit klarkommen, dass sie den Großteil des Jahres allein zu Hause herumsaß und sehnsüchtig auf die gelegentlichen Anrufe via Internet und die eine oder andere Mail wartete.

Sie reckte den Hals, um nach Florentine Ausschau zu halten. Schließlich entdeckte sie sie in einer Ecke, an einem kleinen Tisch für zwei. Da Sarah durch eine der vielen Säulen des Cafés verdeckt blieb, konnte sie Florentine in Ruhe betrachten. Auch heute sah diese wieder äußerst anziehend aus. Ihr schwarzes Haar glänzte wie japanische Lackmalerei in der Sonne, und das kasackartige, beige Hemd über den dunkelblauen Leinenhosen stand ihr wirklich gut. Sie wirkte ziemlich kühl, so wie sie dort allein an diesem Tischchen saß und nachdenklich durch ihre randlose Brille auf die Unterlagen vor sich blickte. Es schien, als hätte sie eine unsichtbare Mauer um sich herum gezogen. Selbst der sonst recht forsche Kellner, der sie offensichtlich nach weiteren Wünschen befragte, hielt gebührenden Abstand.

Wollte sie wirklich diese Mauer durchdringen? Plötzlich war sich Sarah gar nicht mehr so sicher. Aber was hatte Florentine doch gleich gesagt – sie hätte ihr Innerstes wie in einem Spiegel gesehen. Vielleicht waren sie ja beide einsame Wanderer. Sie konnten zumindest versuchen eine Weile gemeinsam zu reisen.

Sarah fasste sich ein Herz, trat hinter der Säule hervor und ging zu Florentine hinüber. »Hallo, schön dich zusehen. Wartest du schon lange?« begrüßte sie sie betont unbeschwert.

Florentine schien überrascht zu sein, sie vor sich zu sehen. Doch sie fasste sich schnell, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie aufstand, um Sarah die Hand zu reichen. »Hallo, es ist schön, dich zu sehen. Ich wusste, dass dir eine Brille stehen würde.« Sie musterte Sarah von Kopf bis Fuß. »Ist das jetzt das Original oder nur die verpuppte Variante?«

Florentine fragte das mit so einem drolligen Unterton, dass Sarah nicht umhin konnte aufzulachen und aufrichtig zu versichern, dass dies definitiv das Original sei. Kostüme trüge sie wirklich nur zu auserwählten Anlässen.

Als sie dann saßen, bestellte sich Sarah einen Eiskaffee und ein Stück Erdbeerkuchen, was Florentine mit einem verwunderten Kopfschütteln und dem leisen Satz »Du scheinst wirklich süß zu sein« quittierte.

Sarah spürte, dass ihr schon wieder Röte ins Gesicht stieg, deshalb überging sie die Bemerkung einfach und sagte: »Übrigens, es tut mir leid, dass ich neulich so hysterisch war. Das ist eigentlich sonst nicht meine Art. Waren wohl die Hormone. Die fehlenden. Oder die aufgewirbelten.« Sie spürte, dass sie sich immer stärker zu verhaspeln drohte und verfärbte sich nur noch mehr.

Dass Florentine lächelnd ihre Hand auf Sarahs legte, machte das Ganze nicht gerade besser, aber zum Glück übernahm sie jetzt das Reden. »Schhh. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich wäre wohl auch hysterisch geworden, wenn ich meine Arbeit bedroht gesehen hätte. Ist schon vergessen.«

Sarah schaute sie zweifelnd von der Seite an, während sie ihr nachdrücklich ihre Hand entzog. »Du und hysterisch? Du willst mich wohl veralbern! Das ist doch ein Scherz!« Sie konnte sich wirklich nur schwer vorstellen, Florentine völlig aufgelöst und außer Fassung zu sehen.

Florentine lächelte schelmisch. »Du hast mich ertappt. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, je hysterisch gewesen zu sein. Können wir es nicht einfach dabei belassen? Hast du übrigens mal den Vertrag durchgelesen?«

Erleichtert darüber, das Thema wechseln zu können, kramte Sarah in ihrer Aktenmappe und zog den Kontrakt hervor. »Hab’ ich.«

»Und? Was meinst du dazu?« Florentine wirkte plötzlich äußerst geschäftsmäßig.