Der Besitz - Mara Dissen - E-Book

Der Besitz E-Book

Mara Dissen

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Beschreibung

…Der schrille Ton in meinem Kopf steigert sich ins Unerträgliche, übertönt die Stimmen, aber sie sind nicht weg, machen nur Pause, werden wiederkommen. Ich weiß es. Wild gestikulierend schlage ich um mich, möchte mich befreien…" Seit Monaten kämpft Herbert Schnabel wieder mit den Dämonen seiner Krankheit, die er glaubte, mit Hilfe seiner antipsychotischen Medikamente, endgültig besiegt zu haben. Misstrauisch verfolgt er die Medikamentenvergabe, die seine Frau unerwartet an sich gerissen hat. Kann er ihr trauen oder hat sie sich den Menschen angeschlossen, die ihn in seinem Verfolgungswahn um seinen Besitz bringen möchten? Verzweifelt stemmt er sich gegen seine Wahnvorstellungen, bis er die Gewissheit hat, dass die Verbrechen, die in seiner unmittelbaren Umgebung begangen werden, der Realität entspringen. Unaufhaltsam setzt sich eine Spirale aus Lügen, Selbstzweifeln und Gewalt in Gang, die auch vor Blutvergießen nicht Halt macht. Es stellt sich für den Ermittler, Hauptkommissar Balzer, die Frage, ob Herbert zum Täter oder zum Opfer wurde.

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Mara Dissen

Der Besitz

Thriller

Mara Dissen, 1950 geboren, war jahrzehntelang in leitender Funktion im Bildungswesen tätig. 2014 erschien ihr erster Kriminalroman. Mit der Veröffentlichung vier weiterer Krimis ist sie dem Genre treu geblieben. Mara Dissen lebt mit ihrem Mann in Braunschweig.

Bereits erschienene Bücher:

Aus der Mitte der Dunkelheit

Im Schatten der Gitter

Im Strom des Bösen

Todbringende Entscheidung

Du bist böse

DER BESITZ

Mara Dissen

Impressum

Texte: © Copyright by Mara DissenUmschlag:© Copyright by Valesca Dolle-Koch

Verlag:Valesca Dolle-Koch

Lily-Braun-Str. 16G12619 Berlin

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1

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Leben ist das was passiert, während du beschäftigt bist, andere Pläne zu machen.

(John Lennon)

PROLOG

Die Gegend ist in diffuses Licht gehüllt. Es ist diese Tageszeit, nicht mehr hell, noch nicht dunkel, die Zeit, die Angst macht, verunsichert, nicht jeden Menschen, nicht überall, aber hier auf diesem Platz schon. Er ist groß. Tiefe Schlaglöcher, in denen sich Wasser gesammelt hat, durchziehen die betonierte Fläche. Gerahmt von einem grauen, riesigen Stahlskelett, Überbleibsel einer ehemals prosperierenden Fabrikanlage, scheint es von hier kein Entrinnen zu geben. Unkraut hat sich an den Betonrändern seinen Weg gebahnt, strebt dem Licht entgegen. Die Kräuter stehen hoch, unberührt, zeigen keine Spuren von Zerstörung, sind scheinbar Zeugen, dass es sich hier um einen einsamen, längst vergessenen Ort handelt. Die ungeordnet abgestellten Polizeifahrzeuge offenbaren eine andere Sicht.

Hauptkommissar Clemens Balzer und seine Kollegin Sofie Kolb stehen neben den weitgeöffneten Türen des Leichenwagens. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen, die Hände fröstelnd tief in den Taschen vergraben, versuchen sie vergeblich, sich vor dem feinen Sprühregen zu schützen. Angespannt starren sie auf die Gestalt, die leblos, mit seltsam verdrehten Gliedern auf einer nassen, brüchigen Betonplatte liegt. Mit steinernem Gesicht tritt Clemens Balzer zur Seite, macht den Mitarbeitern des Bestattungsinstituts Platz.

„Was hast du für uns?“, wendet sich der Kommissar an den Gerichtsmediziner Klaus Wenzel, der sich noch ein letztes Mal über den Leichnam beugt.

„Wir haben eine Brieftasche bei dem Opfer gefunden.“ Mürrisch, ohne sich aufzurichten, zeigt er auf einen Polizisten, der sich ihnen mit einem Asservatenbeutel nähert.

Kommentarlos nimmt Balzer den Beutel entgegen, wendet sich ab und kehrt zu seinem Fahrzeug zurück. Betroffen schaut er auf den Personalausweis des Opfers und schiebt ihn nach einigen Sekunden energisch in die Brieftasche zurück.

„Verdammt. Die Suche nach dir kam zu spät. Wir hätten das wissen müssen. Wir hätten das verhindern können“, nuschelt er vor sich hin und versteckt seinen Hals noch tiefer im Mantelkragen.

1

Der riesige Supermarkt, gelegen an einer stark befahrenen Durchgangsstraße, ist nicht nur Anlaufstelle für Bewohner des Stadtteils, sondern wird auch von vielen Pendlern angesteuert. Wie jeden Samstagvormittag ist der Parkplatz nahezu vollständig belegt. Nach einer freien Lücke suchende Autofahrer umkurven Kunden, die mit beladenen Einkaufswagen zu ihrem Auto eilen. Angestauter Frust aus der zurückliegenden Arbeitswoche, zu hohe Erwartungen an das bevorstehende Wochenende oder einfach nur die Lust auf Randale, lassen immer wieder ungezügelte Aggressionen hervorschießen. Während sich unmittelbar hinter der Einfahrt zwei Autofahrer durch die geöffneten Seitenfenster lauthals um einen Parkplatz streiten, schneidet nur wenige Meter entfernt ein Fahrer den Weg einer älteren Frau, indem er sein Auto in rasantem Tempo vor ihren Einkaufswagen setzt.

„Ich bin ihm wohl zu langsam,“ kommentiert sie das Verhalten erfrischend ruhig und abgeklärt, wobei sie einer vorbeieilenden Frau zulächelt, vielleicht eine Antwort erhofft. Eine Reaktion bleibt jedoch aus, zu sehr ist das Bestreben der Frau auf das schnelle Erreichen des Supermarktes ausgerichtet.

Ohne ihre Umgebung weiter zu beachten, stürmt sie durch die weit geöffnete Eingangstür, greift sich einen der bereitstehenden Einkaufskörbe, zwängt sich an zwei kleinen Kindern vorbei und taucht in den Kundenströmen unter. Nur kurze Zeit später steht sie, den Einkaufskorb mit Knabberzeug beladen, unschlüssig vor den Warteschlangen an den Kassen, um sich sodann wahllos anzustellen.

„Roswitha?“ Erschreckt zuckt sie zusammen und starrt irritiert auf den Mann, der sie erwartungsvoll, aber auch verunsichert, von der Seite betrachtet.

„Hinten anstellen,“ ertönt eine knorrige Stimme vom Ende der Schlange.

„Ja doch, gleich, Moment bitte. Mensch, Roswitha, ich habe dich erst gar nicht wiedererkannt. Will jetzt nicht sagen, dass du dich stark verändert hast, oh sorry.“ Verlegen hüstelnd wendet er den Kopf zu dem Mann am Ende der Reihe, der zusehends unruhiger wird. „Aber es liegen ja nun ein paar Jährchen dazwischen,“ fügt er schnell als Erklärung hinzu.

„Entschuldigung, aber ich weiß wirklich nicht, wer…“ Mit einem lauten Aufschrei beendet Roswitha ihren begonnenen Satz. „Mensch Peter, Peter Faulhaber, ich werd verrückt.“ Mit beiden Händen umfasst sie die Schultern des Mannes, schiebt ihn auf Armlänge von sich und lässt ihre Augen ungeniert an seinem Körper entlanggleiten. Ein leichtes Schmunzeln zeigt sich auf ihrem Gesicht. Ihr scheint zu gefallen, was sie ausgiebig taxiert hat.

Peter Faulhaber ist groß und schlank. Das modisch frisierte, volle braune Haar umrahmt ein Gesicht mit erstaunlich glatter Haut. Der fast farblose Teint sticht hervor und verleiht der Mimik des Mannes etwas Maskenhaftes. Ein größeres, dunkles Muttermal unterhalb der Schläfe unterbricht das makellose Erscheinungsbild. Reflexartig hebt er seine rechte manikürte Hand und bedeckt damit den braunen Fleck. Nicht nur seine tadellos gepflegten Hände, sondern auch seine körperbetonte Jeans und die locker über der Schulter hängende, dem Farbton des Hemdes angepasste Jacke, lassen keinen Zweifel aufkommen, dass es sich bei Peter Faulhaber um einen Menschen handelt, der auf sein Äußeres viel Wert legt.

„Bleib locker. Ich habe dich auch nicht gleich erkannt. Wir sind älter geworden, klar doch. Du bist aber noch der Gleiche, sehe ich doch sofort. Immer schick und dabei freundlich zuvorkommend, möchtest gefallen und eitel bist du auch noch immer. Du kannst deine Hand ruhig runternehmen. Der Schönheitsfleck macht dich nur interessanter.“ Lachend zieht sie den Mann zu sich heran und knufft ihn in die Seite.

„Hei, wird das da vorne noch mal was? Sie sind dran. Legen Sie endlich Ihren Kram auf das Band oder suchen Sie sich für Ihr Begrüßungstheater einen anderen Platz,“ echauffiert sich hinter ihnen schnoddrig, lautstark eine Frau.

„Komm, erledige das hier schnell an der Kasse. Ich warte da vorne auf dich und lade dich in das kleine Bistro ein.“ Lachend schiebt er sich an der Schlange vorbei, sorgsam darauf bedacht, keinem Menschen zu nahe zu kommen.

„Wie lange ist das jetzt her, mein Gott? Komm, setz dich.“

„Warte, ich geh nur kurz an den Tresen und suche mir ein Teilchen aus. Ich habe heute noch nicht gefrühstückt.“

Es gefällt Peter Faulhaber, wie sich Roswitha schlank und grazil an den Bistrotischen vorbeischlängelt, dabei ihre schulterlangen, blonden Haare mit einer lässigen, leichten Kopfbewegung zurückwirft, sich selbstbewusst, mit fordernder Gestik über den Tresen beugt, um ihrer Bestellung Nachdruck zu verleihen. Sie legt einen formvollendeten Auftritt hin, den Auftritt einer Frau, die es gewohnt ist, die Blicke auf sich zu ziehen. Sie versteht sich darauf, durch sportlich lockeres Outfit ihren wohlgeformten Körper zu unterstreichen, wünscht sich Anerkennung und nimmt dafür auch Ablehnung in Kauf.

„So, da bin ich. Mein belegtes Brötchen kommt gleich. Die Getränkebestellung nehmen sie am Tisch auf. Ach Mann, ich habe gar nicht gefragt, ob du auch etwas essen möchtest. Wie lange das her ist? Wir uns nicht gesehen haben?“, beendet sie nach Luft schnappend ihren Redeschwall. Peter Faulhaber versucht noch einen genüsslichen Blick auf ihre großen, ausdrucksstarken blauen Augen zu werfen, bevor sie den Kopf nach unten neigt, um ihre enge, modische Jeans an den Waden glattzuziehen. Als sie sich wieder aufrichtet, schaut sie den Mann mit leicht gekräuselter Stirn frech, eine Spur zu herausfordernd an, was Peter Faulhaber schmunzelnd zur Kenntnis nimmt. Das sorgfältig, vielleicht etwas zu stark geschminkte Gesicht, ist nahezu faltenfrei. Die ausgeprägten, tief über der Nase eingegrabenen Zornesfalten entgehen Peter jedoch nicht.

„Ich habe gerade mal nachgerechnet. 1997 haben wir Abitur gemacht. Dann haben wir uns dreiundzwanzig Jahre nicht gesehen und doch wiedererkannt. Wahnsinn.“

„Nee, Peter, so ganz stimmt das nicht. Auf dem Klassentreffen, fünf Jahre nach dem Abi, ging ganz schön heiß her zwischen uns, vergessen?“

„Oh man, nee, was glaubst du denn? Wollte es eben nur elegant übergehen,“ fällt Peters Lachen eher verhalten aus. „Bist du verheiratet, wenn wir jetzt schon auf der Beziehungsebene sind?“

„Ja, heiße jetzt Schnabel. Quatsch, nicht erst jetzt, schon seit fünfzehn Jahren.“ Energisch rückt Roswitha ihren Stuhl dichter an den Tisch heran und legt mit einer schroffen Geste ihre Unterarme auf der Platte ab. Für einen kurzen Moment verengen sich ihre Augenlider zu einem schmalen Spalt.

„Schnabel, der Name passt überhaupt nicht zu dir. Du hattest zwar schon immer einen losen Schnabel, aber dein Mund erinnert eher an eine süße Frucht als an ein hackendes Tier.“

„Wow, bitte keine plumpe Anmache hier,“ rügt Roswitha ihr Gegenüber halbherzig, wobei sie kokett ihren Kopf flüchtig in den Nacken legt.

„Sorry, war nur als Ablenkung gedacht. Ich hatte das Gefühl, dass dir das Thema Ehe nicht so angenehm war.“ Schweigend betrachtet Roswitha ihre zusammengefalteten Hände, bleibt eine Antwort schuldig.

„Und du, bist du verheiratet?“, versucht sie, von sich abzulenken.

„Ja, ich bringe es aber nur auf gut zehn Jahre. Kann mir vorstellen, dass noch etliche dazukommen. Läuft richtig gut zwischen meiner Frau und mir. Zu Kindern haben wir es leider nicht gebracht. Hat einfach nicht geklappt. Ist jetzt auch zu spät, sind ja schon beide über vierzig. Themenwechsel, okay? Was machst du beruflich?“

„Ich habe ein paar Semester Pharmazie studiert. Heute bedauere ich, dass ich mein Studium nicht abgeschlossen habe. Seit einigen Jahren arbeite ich in der Krankenhausapotheke des Städtischen Klinikums. Aufgrund meines fehlenden Abschlusses bin ich natürlich nicht mit speziellen Fachgebieten, wie Pharmazeutischer Chemie oder Technologie, befasst. Ich bin eher so etwas wie ein Lagerarbeiter, Bestandsaufnahme usw. Aufgrund meiner Vorbildung werden mir aber immer wieder Aufgaben überlassen, die schon in den Bereich der Lehre und Herstellung fallen. Das erfolgt natürlich inoffiziell, darf keiner von wissen.“

„Und dann vertraust du mir hier so ein Geheimnis an. Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen, bewundere aber auch deine Freimütigkeit, nach der langen Zeit, die wir uns nicht gesehen haben.“ Peter Faulhaber scheint irritiert, neigt seinen Kopf zur Seite und betrachtet seine ehemalige Klassenkameradin nachdenklich.

„Ach, so eine große Sache ist das nicht und hinter vorgehaltener Hand wissen Alle Bescheid. Alle sind zufrieden. Die einen haben weniger Arbeit, und ich bin nicht nur mit Handlangertätigkeiten gelangweilt. Mitunter helfe ich auch bei meinem Mann im Büro aus. Er hat eine Autowerkstatt. Kinder haben wir auch keine. Ich wollte keine, so einfach können manche Dinge sein.“

„Fehlt nur noch, dass du jetzt Punkt und Schluss sagst, Roswitha. Du wirkst nicht gerade zufrieden.“ Erwartungsvoll beugt sich Peter Faulhaber vor, um bei ihrer Antwort die Feinheiten von Mimik und Gestik nicht zu übersehen.

Statt einer Antwort folgt ein lautes, sich unangenehm ausdehnendes Schweigen. Der anfänglichen Unbekümmertheit ist Verunsicherung gewichen. Dankbar nimmt der Mann die Unterbrechung durch die Bedienung auf und lässt sich wieder zurücksinken. Angespannt beobachtet er, wie Roswitha genüsslich in ihr Baguette beißt und keine Anstalten unternimmt, das Schweigen zu beenden.

„Steht bei dir eine Feier ins Haus? So, wie dein Einkaufskorb mit Knabberzeug gefüllt war?“, kann sich der Mann mit einer erneuten Frage nicht länger zurückhalten.

„Peter, du bist viel zu neugierig, so direkt neugierig, wenn du verstehst, was ich meine.“ Lächelnd schüttelt sie ihren Kopf, was den Eindruck eines Tadels hinterlässt. „Mein Mann lädt immer mal wieder treue Kunden in seine Werkstatt ein, Smalltalk, Getränke, Gulaschsuppe, über Catering natürlich, und dann dieses Knabberzeug, das er vergessen hatte zu besorgen.“ Roswitha legt ihr angebissenes Baguette auf den Teller und klopft mit flacher Hand auf ihre Einkaufstasche, die sie neben dem Stuhl abgestellt hat. „Stammkunden halten, neue gewinnen. Mein Mann nennt das Marketing. Soll er, wenn es ihn glücklich macht. Wie weit es das Geschäft ankurbelt, kann ich nicht beurteilen, wage aber zu bezweifeln, dass es irgendetwas bringt. Na, zufrieden?“ Roswitha führt die Kaffeetasse an den Mund und setzt sie nach zwei kurzen Schlucken wieder auf dem Tisch ab. Scheinbar gelangweilt schaut sie sich im Bistro um und unternimmt keine Anstrengung, ihre Gleichgültigkeit zu verbergen.

„Ob ich mit deinen Antworten zufrieden bin, ist doch unwichtig. Du musst mit deinem Leben im Einklang stehen, das ist wichtig. Und, entschuldige, das scheint mir bei dir nicht unbedingt der Fall zu sein. Du warst doch immer quirlig, schnell für alles zu begeistern, auch wenn es manchmal der größte Blödsinn war, immer so, so…“

„Wie, immer so, so…?“, unterbricht Roswitha ihn gereizt. „Wir haben uns jahrelang nicht gesehen, sitzen mal gerade wenige Minuten hier am Tisch, und du willst dir ein Urteil über meine Lebenssituation, meine Psyche oder was auch immer bilden. Deine geschwollenen Worte, ‛mit deinem Leben im Einklang stehen’, geht`s noch?“ Leicht atemlos greift sie nach ihrem Baguette, führt es zum Mund, legt es jedoch wieder auf den Teller zurück. „Erzähl mir lieber mal, was du so beruflich machst,“ wendet sie sich mit sichtlich beherrschter Stimme an Peter, ohne ihn dabei anzusehen.

„Ich arbeite für eine Versicherung.“

„Bei einer Versicherung? Aber doch wohl nicht im Außendienst?“

Peter lässt sich Zeit mit seiner Antwort, zupft einen imaginären Fussel von seinem Hemdsärmel und richtet seinen Oberkörper auf.

„Im Außendienst, ja. Aber auch Büroarbeit, das lässt sich überhaupt nicht trennen, was denkst du denn?“ Sein Tonfall ist bestimmt und leicht trotzig, was Roswitha nicht entgeht.

„Oh, entschuldige. Ich wollte deine Arbeit nicht runterziehen,“ rudert sie zurück. „Du warst doch aber ein super Schüler, schnelle Auffassungsgabe, hervorragende Merkfähigkeit, schwierige Zusammenhänge zu kombinieren, war kein Problem für dich. Am meisten habe ich deine Wissbegierde bewundert. Du musstest alles immer hinterfragen und Lösungen suchen. Ich hätte mir vorstellen können, dass du auf der Erfolgswelle schwimmst und natürlich dann auch im Geld. Wird mit diesem, wie soll ich sagen, Job, ja wohl nicht der Fall sein.“

Peter Faulhaber betrachtet ausgiebig seine Hände, während er versucht, seiner Verärgerung Herr zu werden.

„Du entschuldigst dich und merkst gar nicht, dass du meine Arbeit im gleichen Atemzug erneut als minderwertig beschreibst und mich dadurch abqualifizierst.“ Roswitha saugt mit einem scharfen, unangenehmen Geräusch die Luft ein, setzt zu einer erneuten Äußerung an und wird durch Peters schnell erhobene Hand davon abgehalten.

„Ach, was soll`s. Du hast mich wahrscheinlich zutreffend beschrieben. Mit meiner Wissbegierde, wie du es nennst, ging bei mir auch der Mut zur Risikobereitschaft einher, die Dinge hinterfragen, ändern wollen und dann fatalerweise die Gefahren unterschätzen. Das hat sich für mich als teuflische Mischung erwiesen. Hab vor Jahren mein mittelständisches Unternehmen und damit auch meine Gesundheit in den Sand gesetzt. Ich fahre physisch auf Sparflamme und das ist gut so. Ich habe es meiner Frau versprochen, und, was sage ich dir, sie hatte recht. Uns geht es ausgezeichnet. Sieh mich doch an.“ Lachend schlägt er sich mit beiden Fäusten auf die breit heraus gestreckte Brust. „Du musst dir über deine abfälligen Bemerkungen also keine Gedanken machen. Alles gut…Meistens jedenfalls,“ fügt er, kaum vernehmbar, nach einer kurzen Pause an.

Roswitha Schnabel wischt sich mit einer Papierserviette die Baguette Krümel aus den Mundwinkeln und wirft die Serviette achtlos auf den Tisch. Ihr kurzer, verstohlener Blick auf die Armbanduhr ist Peter Faulhaber nicht verborgen geblieben.

„Tja, dann müssen wir wohl wieder unseren Verpflichtungen nachgehen,“ bemüht er sich mit belegter Stimme, schnell ihrem abrupten Abgang zuvorzukommen. Es gelingt ihm jedoch nicht, seine Enttäuschung über ihr offensichtliches Desinteresse an seinen sehr persönlichen Ausführungen zurückzuhalten. Verärgert stellt er mit einem kurzen Blick auf Roswitha fest, dass ihr seine Missstimmung nicht entgangen ist.

„Ja, war schon komisch, unser Gespräch. Andere, die sich nach so vielen Jahren wiedertreffen, unterhalten sich über die damalige Zeit, schwelgen in Erinnerungen, so nach dem Motto: Weißt du noch? Na ja, wenigstens weiß ich jetzt, dass es dir trotz allem gut geht. Ist doch super, was will man mehr.“ Entschlossen rutscht Roswitha an den vorderen Rand der Sitzfläche, bückt sich nach ihrer Tasche und lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihr an weiteren Informationen über Peter nicht gelegen ist.

„Du hast dich irgendwie nicht verändert, bist noch immer stark auf dich fokussiert. Du schaffst es dabei unverständlicherweise, dass sich die Menschen für dich interessieren.“ Mit leichtem Kopfschütteln hat sich Peter von seinem Stuhl erhoben. „Lass stecken. Ich habe dich doch eingeladen.“

„Oh danke,“ beendet sie unbeeindruckt von Peters Worten die Suche nach ihrem Geldbeutel und erhebt sich ebenfalls. „Was hast du denn für eine Firma gehabt?“ Ihre Frage kommt unerwartet, gleichgültig vorgetragen und wird von ihm als halbherzige Gegenwehr auf seinen verbalen Angriff gewertet.

„War gar nicht so weit entfernt von dem, was dein Mann macht. Ich hatte einen Autosalon.“ Peter Faulhaber legt einen Schein auf den Tisch und dreht sich zum Gehen.

„Moment, warte doch.“ Blitzschnell läuft sie um den Tisch herum und hält Peter am Arm fest. „Das ist doch mal was. Setz dich noch mal. Das musst du mir unbedingt erzählen.“ Ohne auf seine Ablehnung zu achten, schiebt sie ihn resolut zum Stuhl zurück. Peter lässt sich widerstrebend auf den Stuhl fallen, achtet jedoch darauf, nur an der vorderen Sitzkante Platz zu nehmen, um somit seinen Unmut und den Wunsch eines schnellen Aufbruchs kundzutun.

„Was fasziniert dich daran so? Ist es Interesse an meiner Person, meiner verlorenen Existenz oder hast du bei dem Thema etwas Nützliches für dich entdeckt?“ Peters Blick gleitet prüfend über Roswithas Gesicht und bleibt an ihren Zornesfalten hängen, die seit wenigen Minuten ihre Mimik dominieren.

„Wir haben dann vielleicht beruflich miteinander zu tun gehabt, ohne es zu wissen. Ist doch total spannend,“ strahlt sie ihn an. „Sag schon, wie hieß dein Salon und in welcher Straße? Die Stadt ist groß aber auch wieder nicht so riesig, dass wir nicht irgendwie über Autos in Verbindung gekommen wären. Kann doch sein, dass wir mal Autos von dir in der Werkstatt hatten.“

„Das glaube ich weniger. Nein, auf gar keinen Fall.“ Peter Faulhaber reagiert unwirsch und verschlossen. Es ist ihm deutlich anzusehen, dass das Thema für ihn tabu ist.

„Sag schon, wo?“

„Du kennst es nicht, war in Süddeutschland. Bin nach der Schließung erst wieder hier in den Norden gekommen. Wir können also gar keine Verbindung gehabt haben, claro?“

„Nun sei doch nicht so. Erzähl mal.“

„Es ist einfach nicht gut gelaufen. Es gab auch polizeiliche Ermittlungen, nicht nur das. So, und nun...“

„Darf es noch etwas sein?“, unterbricht ihn eine Kellnerin.

„Nein danke, wir sind am Aufbrechen.“

„Na, du bist ja lustig. Mir hast du vorhin Desinteresse vorgeworfen, jetzt widme ich mich deiner Geschichte, und du läufst davon. Wir sollten uns wieder treffen. Aber dann an einem anderen Ort, ruhiger eben. Vielleicht können wir uns ja über unsere Betriebe austauschen, du über deinen gehabten und ich über unseren laufenden. Na, was meinst du?“ Lauernd wartet Roswitha auf eine Antwort, die sie zufrieden stellt.

„Ich verstehe nicht. Was soll das, Roswitha. Ich rede nicht über meine frühere Arbeit und den ganzen Mist. Und du hast vorhin auf mich nicht den Eindruck gemacht, dass dein Herz an der Werkstatt deines Mannes hängen könnte.“

„Wer weiß? Vielleicht haben wir beide doch ein gemeinsames Interesse an dem Thema Auto, speziell seiner Vermarktung, versteht sich. Vielleicht kommen wir ins Geschäft.“ Lauernd beobachtet sie Peters Mimik, versucht, die Wirkung ihrer Worte auf den Mann zu erfassen. „Hier ist meine Karte, ruf mich doch einfach an. Ich verlasse mich auf deine unstillbare Wissbegierde,“ verleiht sie ihren Worten Nachdruck, nachdem von ihm keine Reaktion erfolgt. „Ich muss jetzt aber wirklich los. Das Knabberzeug, du weißt schon.“ Ohne sich umzudrehen, stürmt sie zum Ausgang. An der Tür bleibt sie kurz stehen, dreht sich lächelnd um und wedelt Peter lässig mit der Hand einen Abschiedsgruß zu. Sie weiß, dass ihr ein nachhaltiger Abgang gelungen ist.

Kopfschüttelnd schaut Peter Faulhaber hinter Roswitha Schnabel her, betrachtet die Karte in seiner Hand und schiebt sie in seine Hosentasche. Den Mann, der sich in den Schatten der Eingangstür drückt und ihn dabei nicht aus den Augen lässt, sieht er nicht.

2

Der Platz, auf dem ich noch vor einer Stunde geparkt hatte, ist belegt. Ich gehe davon aus, dass es ihr nicht auffallen wird. Wenn doch, muss mir eine Ausrede einfallen, weshalb ich mein Auto umgeparkt habe. Zitternd springe ich aus dem Wagen und schmeiße die Tür hinter mir ins Schloss. Ich hoffe, dass sie meine Nachricht auf ihrem Handy gelesen hat und meiner Bitte, noch bei der Apotheke Magnesiumtabletten zu kaufen, nachgekommen ist. Ein vollkommen unsinniger Auftrag, aber er würde mir Zeit verschaffen. Ihr Wagen ist weit und breit nicht zu entdecken. Sie hat meine Nachricht also bekommen. Trotzdem ist die Zeit knapp.

Im Laufschritt sprinte ich über den Kundenparkplatz. Wie jeden Samstagmittag ist er nur mit wenigen Fahrzeugen belegt. Die meisten Kunden möchten ihren Wagen spätestens am frühen Samstag abholen, damit sie am Wochenende wieder über ihn verfügen können. Das bedeutet noch einmal Stress für meine Mitarbeiter, aber jetzt ist vorrübergehend Ruhe eingekehrt. Der geschäftliche Teil ist für heute abgeschlossen.

Wie jedes Jahr habe ich meine Kunden in die Werkstatt eingeladen. Das Ganze läuft unter dem Motto: <Backstage-Nicht nur Schmieröl>. Einen ersichtlichen Kundenzuwachs bringt es nicht. Vielleicht kann ich damit aber meine Stammkundschaft binden. Mit dieser Argumentation verteidige ich den Tag vor meiner Frau.

Roswitha findet die Veranstaltung albern. Ich brauche diese Treffen. Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe, wer sich in die Sitze der Autos drückt, die mir für kurze Zeit überlassen werden. Manche Fahrzeuge haben verdreckte Scheiben, sodass ich annehme, dass sich die Besitzer mir nicht zeigen wollen. Aber sie müssen, können ja während der Reparatur nicht im Wagen sitzenbleiben. Andere scheinen es so eilig zu haben, dass sie nur kurz ihr Fahrzeug abgeben, sogleich davonstürmen, und ich keine Gelegenheit habe, sie zu studieren. Ich glaube, sie schieben wichtige Termine nur vor, um den direkten Kontakt mit mir zu vermeiden. Es stimmt nicht, was ich Roswitha vorgaukele. Ich führe das Fest nicht zwecks Kundenbindung durch. Wenn ich ehrlich zu mir bin, veranstalte ich das Ganze nur, um im Rahmen einer kleinen Geselligkeit, vielleicht einige der Kunden zu erreichen, die sich mir bisher beharrlich entzogen haben. Dann kann ich mir die Zeit nehmen, die mir unbekannten Wesen zu beobachten. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass ich mir ihre Gesichtszüge einpräge. Nein, viel wichtiger sind Mimik, Gestik, Körperhaltung. Das sind für mich die entscheidenden Wiedererkennungsmerkmale eines Menschen. Und die Stimme natürlich. Sie verändert sich über Jahre hinweg nur unwesentlich.

Ich fiebere der heutigen Einladung schon seit Wochen entgegen. Ich habe eine Liste angefertigt, mit den Menschen, die sich nahezu im Verborgenen halten. Sie sind ja nicht namenlos, auch nicht gesichtslos, ich verfüge nur nicht über die mir wichtigen Wiedererkennungsmerkmale dieser Kunden. Und ich muss wissen, wer mir bedrohlich werden könnte.

Zielstrebig steuere ich auf den Geschäftsbereich zu. Die Eingangstür lässt sich nur schwer öffnen. Ich weiß es seit Monaten und habe mich bisher nur dazu aufraffen können, das Schloss zu ölen, was das Problem nicht behebt. Die Tür ist verzogen. Mit Kraft stemme ich meine Schulter gegen den Rahmen, bis sich die Tür mit einem Ruck öffnet, sodass ich, für Sekunden haltlos, in den Raum stolpere. Es ist ein tägliches Ärgernis, das sich durch ein paar Handgriffe abstellen ließe. Es gibt jedoch zu viele Baustellen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mir fehlt die Kraft. Und außerdem besitze ich nicht die erforderlichen finanziellen Mittel. Das ist falsch. Ich habe sie. Ich muss unbedingt mit Roswitha reden.

Unentschlossen stehe ich im Empfangsbereich. Skeptisch betrachte ich den Tresen, an dem die Kunden die Reparatur und Wartung ihrer Fahrzeuge in Auftrag geben und die Zahlungsmodalitäten erledigen. Altmodisch, längst aus der Zeit gefallen, mit abgestoßenen Ecken und Kanten ragt das Monstrum in den Raum hinein. Ohne Karla Tönns dahinter, die sich stets standhaft bemüht, mit einem Lächeln die Aufträge entgegenzunehmen, wirkt der Platz heute noch ärmlicher, irgendwie abgewrackt. Ja, Karla, die gute Seele. Ich sollte sie aber nicht unterschätzen. Ich weiß, zu welchen verbalen Ausbrüchen sie fähig ist, auch zu Handlungen?

Das Mobiliar in dem Raum ist nicht einheitlich. An der Längsseite steht ein auffälliger Schreibtisch hinter dem Sven Wiesner sitzt und als Bindeglied zu den Monteuren die Kunden berät. Sven ist von allen Mitarbeitern am längsten bei mir beschäftigt. Schnell hatte sich zwischen mir und Sven eine Freundschaft entwickelt. Im Laufe der Jahre ist Sven jedoch immer stärker zum Eigenbrötler geworden. Ich weiß, dass er lange Zeit über verschiedene Datingagenturen versucht hat, eine Partnerin zu finden. Seine Bemühungen haben jedoch nie zu einer ernsthaften Beziehung geführt, sodass er sich in einem Singleleben eingerichtet hat. Ich habe keine Ahnung, woran seine Suche letztendlich gescheitert ist. Er ist nicht gerade mit anziehender Schönheit gesegnet. Das spärliche Haar, auf einem langgezogenen Kopf, trägt er stets glatt zurückgekämmt, wodurch die roten Pigmentflecke in seinem Gesicht deutlich sichtbar werden. Der ungewöhnlich lange Hals ruht auf knochigen Schultern, wie auch sein gesamter Körperbau als lang und schlaksig zu bezeichnen wäre. Vor Jahren konnte Sven sein wenig attraktives Äußeres noch mit Witz und Unternehmungsgeist vergessen lassen. Heute sucht er die Schwachstellen bei anderen. Meine hat er gefunden. Uns verbindet schon lange keine Freundschaft mehr.

Svens Schreibtisch wurde vor nicht allzu langer Zeit bei Ikea angeschafft. Roswitha hatte den Kauf in die Hand genommen. Sie wollte sich nicht länger schämen, war ihr Argument. Bei dem Anflug von Veränderung blieb es sodann. Es war keine Verbesserung. Der Tisch passt nicht in eine Werkstatt. Es ist ein Schreibtisch für ein Jugendzimmer, ein weibliches Jugendzimmer und verleiht dem gesamten Raum eine groteske Note.

Meine schon vorhandene Unruhe wächst, als ich mich dem Arbeitsbereich in der hintersten Ecke zuwende. Paul Klann ist für den Verkauf zuständig und versucht unermüdlich, Autoreifen und Diverses an den Mann zu bringen. Es ist nur eine Teilzeitstelle. Ich werde Paul trotzdem nicht halten können. Vielleicht kann Sven seine Arbeit mit übernehmen.

3

Auf dem Parkplatz wird eine Autotür zugeschlagen. Roswitha ist angekommen. Sie ist mir so vertraut, dass ich sie sogar an der Art und Weise erkenne, wie sie eine Autotür schließt. Selbstverständlich glauben Ehemänner, Eigenheiten ihrer Partnerin zu kennen, zumindest die auffälligsten. Ich allerdings, kenne alle individuellen Merkmale meiner Frau, habe Roswitha studiert, die Gesamtheit ihrer Persönlichkeit in Einzelteile zerlegt und unwiderruflich abgespeichert.

Wir waren wie füreinander geschaffen, als wir uns vor unendlich langer Zeit bei einer dieser unbeschwerten, schnell aus dem Ufer laufenden Partys kennenlernten. Roswitha hatte gerade mit ihrem Pharmazie Studium begonnen. Ich hatte für mich nie ein Studium in Erwägung gezogen. Ganz davon abgesehen, dass ich für ein Studium nicht die erforderlichen schulischen Abschlüsse vorweisen konnte, stand für mich von klein auf fest, dass ich in die Autobranche einsteigen würde. Die Werkstatt meines Vaters lief damals gut, nein, das ist untertrieben, sie lief sehr gut. Er hatte sich auf die Wartung und Reparatur von Oldtimern spezialisiert und sich damit eine Marktlücke erschlossen. Die Kundschaft war von seinem Know-how überzeugt. Sein Wissen und seine Unbekümmertheit zog aber auch viele Möchtegerne mit ihren Sportwagen an, denn mein Vater verstand sich auf das Aufmotzen von Autos, oft über den Rahmen der Legalität hinaus. Ich hatte auf den angesagten Partys eigentlich nichts zu suchen, wäre ohne den Ruf meines Vaters wahrscheinlich links liegen gelassen worden. So aber war ich als gefragter Hipster jederzeit gern gesehen. Meine Freundschaft zu einem der voll gefragten Discjockeys gereichte mir ebenfalls nicht zum Nachteil. Mein Äußeres hat damals genauso wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie meine mickrige Erscheinung heute. Mit dem Ruf meines Vaters im Rücken erlaubte ich mir ein selbstbewusstes, lockeres Auftreten, mit dem ich die Menschen für mich gewinnen konnte. Rückblickend muss ich festhalten, dass auch mein getunter Sportwagen dazu beitrug, mein Ansehen auf einem höheren Level zu halten.

Roswitha fehlte auf keiner Party, war beliebt und begehrt. Man hätte sie durchaus für vergnügungssüchtig und oberflächlich halten können, wären da nicht auch Charakterzüge wie Ehrgeiz, Zielstrebigkeit und vielleicht damals schon Abgebrühtheit durchgeschienen. Anfangs hielt sich Roswitha mir gegenüber zurück, mied ein Zusammentreffen mit mir, was sich bei Feiern auf kleiner Fläche nicht immer als einfach erwies. Ich ließ sie nicht aus den Augen, war fasziniert von ihrem Aussehen, ihrer lockeren, geschickten Art, mit der sie die Menschen für sich einnahm, wagte aber aus irgendeinem Grund nicht, mich ihr zu nähern. Es entging mir jedoch nicht, dass auch sie mich beobachtete. Und dann, eines nachts, passierte es. Sie stellte sich neben mich, zog mich wie selbstverständlich am Arm von der Gruppe weg, mit der ich gerade im Gespräch war und flüsterte mir etwas ins Ohr, was ich nicht verstand. Erst als ich ihr ins Gesicht sah, wurde mir klar, was sie von mir erwartete. Wir liebten uns nur wenige Meter entfernt in meinem Cabrio.

Wir hatten viele Träume, wollten die Branche mit ausgefallenem Marketing rocken, ganz groß rauskommen. Wie naiv. Aber immerhin feierten wir gemeinsam die ersten, wenn auch nur klitzekleinen, Erfolge. Roswitha war der pragmatische Teil in unserer Beziehung, brach ihr Studium ab, um sich voll unserem Geschäftsmodell widmen zu können. Ich musste damit leben, mitunter als Spinner bezeichnet zu werden, aber ich gefiel mir auch in dieser Rolle. Wir ergänzten uns einfach hervorragend. Dann kam alles anders. Der Einschlag erfolgte nicht überraschend, bahnte sich lange vorher an, aber wäre das Drama, diese alles vernichtende Katastrophe auch zu verhindern gewesen? Wir hielten zusammen, damals, auf Roswitha war Verlass, damals.

Es ist mir über Jahre gelungen, meine Frau nicht als Gefahrenquelle für mich zu erleben. Seit Wochen kommen mir Zweifel, sehe sie in den Schmutz zu den anderen eintauchen.

Roswithas Absätze klacken über das Pflaster. Mit Schwung öffnet sie eines der Werkstatttore und lässt es hinter sich laut ins Schloss fallen. Wie soll ich ihr meine Freizeitkleidung erklären? Sie geht davon aus, dass ich in Arbeitsklamotten das Fest vorbereite. Ich hetze durch den Empfangsbereich, erreiche die hintere Ausgangstür, durchquere das Lager neben den Gruben und verschwinde in der Garderobe, um mir in aller Eile meinen Blaumann anzuziehen.

Auf dem Weg zu meinem Spind komme ich an dem großen, fast blinden Wandspiegel vorbei und bleibe erschreckt stehen. Der kleine, untersetzte Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht, den tiefliegenden Augen, umrahmt von dunklen, wulstigen Ringen kommt mir unbekannt vor. Er sieht alt und ausgelaugt aus. <Das bist du>, schießt es mir durch den Kopf. Schmerzhaft denke ich daran zurück, wie ich erst vor wenigen Wochen meinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert habe. Irritiert streiche ich über meine Glatze, die meinen Kopf schon seit vielen Jahren verunstaltet. Unzählige Male habe ich sie verflucht. Aber allmählich passt sie zu meiner grotesken Gesamterscheinung.

Es ist zu spät. Ich kann mich nicht mehr umziehen. Entschlossen mache ich kehrt und laufe in die Werkstatt. In letzter Sekunde schnappe ich mir einen Schraubendreher und springe in die Grube.

„Herbert, wo bist du?“

„Hier unten. Ich komme sofort hoch zu dir.“

„Herbert Schnabel, was zum Teufel machst du da? Ich dachte, du bist dabei, alles vorzubereiten. Du weißt, dass ich dir dabei nicht helfe. Ich verabscheue diese Treffen.“

„Nur ruhig, ich habe alles fest im Griff und es ist noch genügend Zeit. Hab’ nur schnell noch was überprüft. Jeden Moment müssten Karla und Sven kommen. Sie haben versprochen zu helfen.“ Schnaufend klettere ich nach oben.

„Was hast du denn erledigt, da unten in dem Dreck? In deinen guten Klamotten. Warum hast du die schon an, wenn hier noch alles aufgebaut werden muss? Du warst mit dem Auto weg.“ Misstrauisch suchend dreht sie sich zum Parkplatz um.

„Nein, Quatsch. Du kommst spät. Hast du alles bekommen?“

„Ja, und schneller ging es nicht. Es ist bekanntlich Samstag, Wochenendeinkäufe. Seit wann nimmst du eigentlich Magnesiumtabletten? Na, egal.“

Es ist mir gelungen, sie von ihrer Suche auf dem Parkplatz abzulenken. Nur mit großer Mühe kann ich meine Frage unterdrücken, wer der Mann war, mit dem sie sich im Bistro getroffen hat. Sie darf noch nicht erfahren, dass mein Misstrauen so gewachsen ist, dass ich sie seit Wochen beobachte, sie verfolge. Ich benötige noch mehr Informationen, bevor ich sie mit meinem Wissen konfrontiere. Es fällt mir schwer, sie anzusehen, ohne das Bild vor Augen zu haben, wie sie und der Fremde, sich an der Kasse in den Armen lagen. Dafür mustert mich meine Frau umso intensiver.

„Du musst was tun. Du bist dick geworden, schwabbelig trifft es wohl genauer.“ Ihr Ton ist abschätzig, tut mir weh, nein, macht mich zornig. Sie vergleicht mich mit diesem Fremden. Was soll das!

„Das machen die Tabletten. Das weißt du und dir ist auch mehr als deutlich bewusst, dass ich sie nehmen muss, hörst du? MUSS!“

„Und, Herbert, hast du sie genommen? Du machst einen sehr unausgeglichenen Eindruck.“

„Was hast du vor? Wohin möchtest du mich treiben?“

„Ich sorge mich nur um meinen Mann.“ Ihr Mund hat sich zu diesem widerlichen, ironischen Lächeln verzogen. Sie ist noch nicht fertig mit mir. „Du könntest es doch vielleicht auch einmal mit einem Haarteil versuchen, so einem Ding mit Fransen, das deine Glatze verdeckt.“

„Wer war der Mann? Ich habe euch vorhin gesehen“, brülle ich sie wutentbrannt an. Wieder ist es mir nicht gelungen, meine Vorsätze einzuhalten. Ich wollte Roswitha nicht mit meinen Beobachtungen konfrontieren. Noch nicht. Jetzt ist es zu spät.

„Ach Herbert.“ Mit einem lauten, schrillen Lachen dreht sie sich um und verlässt die Werkstatt.

Ihr Lachen hat sich in den Wänden förmlich festgefressen, hallt nach. Die riesigen Glasscheiben scheinen zu schwingen, wollen ihren Zusammenhalt verlieren, über mir einstürzen. Roswithas Stimme, ein einziger schriller Ton, er schmerzt in meinen Ohren, dröhnt in meinem Kopf. Von Panik erfasst presse ich meine Hände an meine Schläfen. Der Schmerz wird stärker, kann nicht mehr entweichen. Langsam lasse ich mich auf meine Knie sinken.

<Du weißt, dass es bald vorbei ist, aber wir kommen wieder>, höre ich die mir so vertrauten Stimmen.

4

Die dichte Wolkendecke, die am Vormittag noch den einen oder anderen Regenguss befürchten ließ, hat sich aufgelöst. Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen verheißen einen trockenen Nachmittag. Für Veranstaltungen im Freien ist Planungssicherheit eingetreten.

Das Außengelände der Autowerkstatt hat sich verwandelt. Rustikale Bänke und Biertische reihen sich aneinander. Nur schwer verdecken sie die Ölflecke, die sich über viele Jahre in den Beton gefressen haben. Auf einem langen Tapeziertisch, der unvollständig mit einer bunten Papierdecke verkleidet wurde, stapeln sich Plastikteller neben lieblos kreuz und quer abgelegten Servietten, vermischt mit Plastiklöffeln. Eine Elektroplatte hält einen riesigen Topf mit Gulaschsuppe warm. Unter dem Tisch stehen Kisten mit alkoholischen sowie alkoholfreien Getränkeflaschen. Über die Hälse wurden große Pappbecher gestülpt. Knabberzeug sucht man allerdings vergeblich.

„Wohin jetzt damit? Meiner Meinung nach brauchen wir gar keine Stühle. Die Bänke reichen doch schon.“ Schnaubend lässt Karla Tönns die beiden Klappstühle, die sie sich unter die Arme geklemmt hat, auf das Pflaster fallen.

„Spinnst du?“, fährt Sven Wiesner, von dem lauten Knall aufgeschreckt, seine Kollegin ungehalten an.

„Was denn?“ Provozierend gleichgültig hebt Karla ihre Schultern und lächelt Sven mit aufgesetzt unschuldiger Miene an. Forschend taxiert er die Frau, mit der er nun schon über mehrere Jahre an einem Arbeitsplatz sitzt. Seine Blicke gelten nicht ihrem äußeren Erscheinungsbild, das ihm bestens präsent ist, nicht groß, nicht klein, nicht schlank, aber auch nicht dick. Wohlproportioniert hat er sie seinem Kollegen Paul Klann gegenüber einmal bezeichnet und beide Männer wussten unausgesprochen, was darunter zu verstehen war. Sven Wiesner möchte vielmehr die emotionale Verfassung seiner Kollegin einfangen. Er fürchtet ihre vordergründige Freundlichkeit, die schnell in ablehnende Aggressivität umschlagen kann, wenn sie sich falsch verstanden oder behandelt fühlt. Zu oft schon musste er als Adressat ihrer Ausbrüche herhalten, da sie sich vor Kundschaft oder ihrem Arbeitgeber maßlosen Ausschreitungen nicht hingeben kann. Beruhigt stellt Sven fest, dass er in Karlas rundem, von schwarzen, kurzen Haaren gerahmten Gesicht, keine Spuren aufgestauten Ärgers entdecken kann.

„Der Chef will die Stühle für alle Fälle in greifbarer Nähe haben. Stell sie doch einfach zusammengeklappt da an die Wand. Oder nein, schieb sie besser unter den Tapeziertisch, neben die Kästen, da ist doch noch Platz, und sie sind aus dem Weg.“

„Wenn der Chef das wünscht,“ reagiert Karla unterwürfig, wobei sie sich bemüht, ihrer Aussage einen deutlich ironischen Stempel zu verpassen, was Sven Wiesner nicht entgeht. Erneut versucht er, an ihrem Gesichtsausdruck, ihren Gemütszustand zu erfassen. Während ihre vollen Lippen zu einem verkrampften Lächeln leicht geöffnet sind, senden ihre großen, braunen Augen Kälte und Verachtung aus.

„Reiß dich zusammen, Karla. Wenn dich das alles hier ankotzt, weil dein schöner Samstag futsch ist, hättest du dich nicht freiwillig als Hilfe anbieten dürfen. Also bitte.“

„Sven Wiesner, du hast mir nicht zu sagen, was ich zu fühlen und wie ich mich zu benehmen habe. Du nicht. Schau dich doch mal an. Mit deinen Adleraugen ständig auf der Suche, irgendetwas zu erhaschen, was dich nichts angeht. Das muss so viel Kraft kosten, dass du nicht mehr richtig zum Essen kommst. Klapperdürr, ausgemergelt oder liegt das daran, dass du keine Frau hast?“

„Bist du fertig? Hast du genügend Dampf abgelassen? Dann können wir ja beruhigt in den Nachmittag starten.“ Sven dreht Karla den Rücken zu und rückt eine Bank dichter an den Tisch heran.

„Ist das alles, was du zu sagen hast? Warum wehrst du dich nicht? War doch nicht nett, was ich dir da eben an den Kopf geworfen habe. Du musst dich wehren, deutlich den Leuten ins Gesicht springen und nicht hintenrum Intrigen spinnen.“ Sven dreht sich im Zeitlupentempo um und schaut Karla direkt an.

„Ich bin nicht wie du, stoße keine Beleidigungen und Kränkungen aus. Und was das Thema Intrigen betrifft, so wäre es doch mal ganz interessant zu erfahren, mit wem du dich ständig im Gala an der Bar triffst. Ich weiß, dass ihr über die Werkstatt und den Chef sprecht. Ach, und übrigens, zur Abwechslung könntest du deine schlechte Laune auch mal dem Chef gegenüber rauskehren und nicht immer nur an mir auslassen. So viel zum Springen ins Gesicht.“

Karla starrt Sven an, schluckt hart und sucht sekundenlang nach Worten.

„Ich treffe mich im Gala mit einem Freund. Das geht dich gar nichts an. Aber da kommt dein Charakter wieder durch, überall rumkriechen und Informationen erschleichen. Woher willst du wissen, worüber ich mit meinem Freund spreche, hä? Hast du soeben einen kleinen Versuchsballon gestartet, um von mir zu erfahren, wie weit es um mich und ihn bestellt ist? Bist du etwa eifersüchtig?“ Mit einem unnatürlichen, verkrampften, lauten Lachen bückt sie sich, um die Stühle aufzuheben.

„Wir wissen beide sehr genau, dass es besser ist, wenn unser Chef von deinen Gesprächen mit deinem Typen nichts erfährt.“ Karla richtet sich ruckartig auf und starrt Sven entsetzt an.

„Keine Angst, meine Liebe, ich kann schweigen.“

„Was bist du nur…“

„Sei ruhig, da kommt Roswitha,“ unterbricht Sven sie flüsternd.

Mit durchgedrücktem Rücken und weit ausholenden Schritten überquert Roswitha den Hof. Sie strahlt Energie aus, ist gewohnt, hier, an diesem Ort, Macht auszuüben. Blitzschnell lässt sie ihre Blicke kritisch über die Aufbauten gleiten.

„Das sieht ja schon ganz gut aus. Denke, das kann alles so bleiben. Wann kommen die Gäste?“

„Eigentlich müssten die ersten jetzt langsam eintrudeln.“

„Gut. Karla, räum die Klappstühle noch weg. Was haben die hier auf dem Boden überhaupt zu suchen? Ach ja, und hier sind noch Berge von Knabberzeug. Pack die noch in irgendeine Schale, was weiß ich.“ Mit ausgestrecktem Arm hält sie Karla die Einkaufstasche entgegen, ohne die Frau dabei anzusehen.

„Herbert möchte gerne ein paar Stühle in Reichweite haben und ich denke, dass er als Chef hier die Entscheidungen trifft. Oder willst du die Führung der Werkstatt jetzt auch nach außenhin übernehmen? Wo steckt dein Mann überhaupt? Wir haben ihn noch nicht zu Gesicht bekommen.“ Karlas Stimme ist klar, hell, laut. Provozierend ignoriert sie Roswithas ausgestreckten Arm, nimmt die Tasche nicht entgegen. Aufreizend langsam schiebt sie mit der Fußspitze einen der Klappstühle zentimeterweise über den Asphalt. Herausfordernd sucht sie Blickkontakt zu Roswitha, die ruckartig den Kopf in den Nacken wirft. Das eintretende Schweigen gleicht einem Kräftemessen der beiden ungleichen Frauen. Es ist Roswitha anzusehen, dass sie hart um eine Entscheidung für ihr weiteres Vorgehen ringt.

„Ich gehe Herbert suchen.“ Ohne weiter auf die Situation einzugehen, dreht sie sich um und knallt die Tasche auf den Tapeziertisch. Mit wenigen Schritten hat sie den Eingangsbereich des Werksgebäudes erreicht und ist somit Karlas triumphierenden Blicken entschwunden.

„Was hast du mit deiner Frage gemeint, ob Roswitha die Werkstatt nun auch nach außen hin vertreten möchte?“

„Gar nichts. Was weißt du schon.“

„War vielleicht nicht klug von dir,“ murmelt Sven und schiebt wieder an den Bänken herum.

„Ach was, die soll sich hier nicht so aufspielen. Und übrigens, mich nervt nicht das zerstückelte Wochenende. Ich finde diese ganze Veranstaltung idiotisch. Was soll das bringen? Neue Kunden jedenfalls nicht. Die, die schon bei uns sind, bleiben auch ohne einmal im Jahr Gulaschsuppe bei uns zu essen. Der ganze Mist kostet nur Geld und Zeit. Wir haben zu wenig Kunden. Uns geht es mies. Roswitha soll sich endlich um den Laden hier kümmern, wenn sie schon als Inhaberin eingetragen ist. Nur Madam spielen, bringt kein Geld in die Kasse. Und diese ganze Schau hier dient einzig und allein Herberts Wohlbefinden. Mit dem stimmt was nicht. Ich sag es dir. Wird immer komischer.“

„Du musst es ja wissen. Da kommt übrigens unser erster Gast. Ach, sieh mal an. Den kennst du doch besonders gut.“

Karla starrt mit entsetzt aufgerissenen Augen dem Mann entgegen und läuft, hektisch mit den Armen rudernd, auf ihn zu.

5

Die riesigen, verglasten Tore, die in die Werkstatt führen, sind fest verschlossen. Es ist somit auf diesem Weg nicht möglich, zu den drei Hebebühnen dahinter zu gelangen. Wenn sich die Gäste unter dem Motto Backstage vorstellen sollten, einen Einblick in die Arbeit eines Automechanikers zu erhalten, so würden sie einer Fehleinschätzung unterliegen. Es gibt nicht mehr allzu viel zu zeigen und vorzuführen, es ist nur noch eine Hebebühne funktionsfähig. Für die zwei noch verbliebenen, festeingestellten Mechaniker ist sie als Arbeitsplatz ausreichend.

Man hat sich scheinbar eingerichtet.

Roswitha hat das Gebäude durch den Kundeneingang betreten. Verärgert tritt sie die klemmende Tür ins Schloss, schließt sofort hinter sich ab, sorgfältig darauf bedacht, dass ihr niemand gefolgt ist. Nur flüchtig schaut sie sich in dem Eingangsbereich um. Sie weiß, dass sie Herbert in diesem, von außen einsehbaren Raum, nicht vorfinden wird. Er sucht die Abgeschiedenheit, wenn er sich auf ungewohnte Situationen vorbereiten muss. Unschlüssig geht sie an den hohen, angeschlagenen, grauen Stahlschränken vorbei, lässt die Blechregale, vollgestopft mit Aktenordnern, links liegen und bewegt sich auf die Bürotür ihres Mannes zu.

Unmittelbar davor macht sie Halt, scheint es sich anders zu überlegen und geht zu einem Schrank, der etwas abseits in einer Ecke steht. Umständlich fummelt sie in der Tasche ihrer engen Jeans herum und befördert einen Schlüssel zu Tage. Suchend blickt sie nach allen Seiten, bevor sie die Schranktür öffnet. Mit einem schnellen Griff entnimmt sie aus dem obersten Fach eine griffbereit liegende einzelne Tablette, lässt die daneben liegende Tablettenpackung in ihrer Handtasche verschwinden, holt sie wieder hervor, betrachtet sie nachdenklich, legt sie in den Schrank zurück und schlägt die Tür mit einem lauten Knall zu. Quietschend fährt sie langsam wieder auf. Verärgert schiebt Roswitha den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn zweimal um. Den breiten Spalt zwischen Tür und Füllung kann sie jedoch nicht verhindern. Durch mehrmaliges Ruckeln vergewissert sie sich, dass die Tür nicht wieder auffährt. Ihr skeptisches Kopfschütteln verdeutlicht, dass sie dem Schließmechanismus nicht traut.

Ich kann die Geräusche, die Roswitha im Nebenraum verursacht, nicht zuordnen. Vergeblich warte ich darauf, dass sie Angst bei mir auslösen. Getrennt durch eine Wand empfinde ich jedoch nichts, absolut gar nichts. Jetzt höre ich ihre Schritte, spüre förmlich, wie sie näherkommen. Und da ist sie, diese unaufhaltbare Angst, die sich wie ein Eisen um meine Brust spannt, mir die Luft zum Atmen nimmt, mir so vertraut ist, und ich doch kein Mittel finde, mich ihrer Kraft entgegenzustemmen.

„Herbert, bist du da drin?“, ruft meine Frau bereits auf dem Weg zu mir. Unerwartet leise und behutsam öffnet sie die Tür und macht nur zwei Schritte in den Raum hinein. Ich sitze auf meinem abgewetzten Schreibtischstuhl, die Arme auf der Tischplatte abgestützt, den Kopf in den Händen vergraben. Ohne sie im Blick zu haben, weiß ich, dass sie sich missbilligend in dem kleinen, vollgestopften Raum umsieht. Sie wird mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln als erstes den wackligen, hölzernen Registerschrank ins Auge fassen, sodann die altertümliche Schreibtischlampe auf meinem Tisch und zum Schluss ihren eigenen kleinen, billigen Stahltisch. Sie hat ihn ganz an die Wand in die Ecke gequetscht. Sie brauchte Platz für das einzig moderne und intakte Möbelstück in diesem Raum. Ihren Schreibtischstuhl. Wie ein Monster aus Stahl und grellblau bespanntem Tuch thront er mit hoher Rückenlehne und ausladenden Armlehnen in einem viel zu kleinen Raum, vor einem viel zu kleinen Tisch. Für meinen Schreibtisch interessiert sie sich schon lange nicht mehr.

Ich spüre, wie sie sich mir zuwendet. Sie hat ihr Begutachtungsritual beendet.

„Mensch Herbert, was machst du denn? Du musst rauskommen. Hast du dich von vorhin immer noch nicht beruhigt? Die Gäste, deine Gäste sind jeden Moment da. Wie sieht das denn aus, wenn du sie nicht empfängst? Karla und Sven haben auch schon nach dir gefragt. Sie haben die ganze Arbeit gemacht, und du hängst hier rum.“

„Ich hänge nicht rum. Ich überlege, nein, ich plane.“

„Ja, ja, das kannst du später machen. Hier nimm das.“ Roswitha hat sich mir genähert, legt fast fürsorglich eine Hand auf meine Schulter und reckt mir in der anderen Hand eine Pille entgegen.

„Ich habe meine Tablette schon genommen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher, bei der Verfassung, in der du dich befindest. Stell dich nicht so an. Du hast die Tablette in letzter Zeit zuhause doch auch von mir bekommen, und ich halte es für besser, wenn ich dir regelmäßig auch hier bei der Arbeit deine Tabletten zuteile. Dann wissen wir wenigstens zuverlässig, dass du sie eingenommen hast.“

„Wie kommst du hier an meine Tabletten?“ Ich richte mich in meinem Stuhl auf und starre meine Frau verwirrt und ungläubig an.

„Ich habe einige davon zuhause abgezweigt und hier in meinem Schrank eingeschlossen. Dann kann ich nicht nur in unserer Wohnung, sondern auch hier darauf zurückgreifen. Ach, übrigens, ich werde einen neuen Schrank kaufen, einen, den man vernünftig abschließen kann. Hier kann man niemandem trauen, und du weißt doch am besten, wie sich Misstrauen anfühlt. In dem Schrottding möchte ich meine Sachen jedenfalls nicht länger deponieren, wenn ich dir auch zukünftig hier bei der Buchhaltung helfen soll. So, und nun nimm endlich die Tablette.“

„Ich habe sie schon genommen. Wie oft soll ich das denn noch sagen.“ Mir fällt auf, dass mein Ton fast flehend klingt. „Du brauchst doch gar keinen Schrank, kannst meinen mitbenutzen. Ein neuer Schrank kostet Geld und genau darüber muss ich mit dir reden. Schau dich doch mal um, wie das alles hier aussieht.“

„Wenn du meinst, schon eine Tablette genommen zu haben, dann nimmst du heute zwei. Das hilft dir vielleicht, endlich nach draußen zu kommen und den Tag zu überstehen,“ geht sie nicht auf meine Geldsorgen ein. „Du hast dieses Treffen doch immer gewollt und planst seit Wochen. Was soll das denn jetzt? Und vor allem, was machst du dir für Gedanken?“