In den eigenen Mauern - Mara Dissen - E-Book

In den eigenen Mauern E-Book

Mara Dissen

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

"Wer ist es, verdammt noch mal?" Ich konnte meine Wut über ihre Sturheit kaum zügeln. "Bleib ruhig, Klaus. Es wird alles so ablaufen, wie wir es als eingespieltes Team verinnerlicht haben." Wie sollte ich ruhig bleiben, wenn ich zu Mordermittlungen in meinem eigenen Wohnhaus gerufen wurde? Hauptkommissar Klaus Helmer ist seit Jahren Leiter einer Mordkommission, einer festen, dauerhaften Einheit, die durch akribische Arbeit hohe Erfolgsquoten einfährt. Ein Mord in Helmers unmittelbarem Umfeld stellt das Team jedoch vor ungeahnte emotionale Belastungen. Schon bald führen die Ermittlungen zu einem weiteren Mord, der bereits fünfzehn Jahre zurückliegt. Verbindungen zu den beiden Fälle scheinen bei Helmers Kollege, Kommissar Patrick Burger, zusammenzulaufen, sodass er im Mittelpunkt der Ermittlungen steht. Doch auch enge Freunde und Verwandte der Opfer geraten in den Fokus der Beamten.

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Mara Dissen

IN DEN EIGENEN MAUERN

Mara Dissen

IN DEN EIGENEN MAUERN

Krimi

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Valesca Dolle-Koch

Umschlag:© 2023 Copyright by Valesca Dolle-Koch

Verantwortlich

für den Inhalt:Valesca Dolle-Koch

Lily-Braun-Str. 16G

12619 Berlin

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhalt

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

EPILOG

Der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich nicht bei der ersten Begegnung, sondern bei der letzten.

(Unbekannt)

PROLOG

Als ich vor neun Jahren beschloss, meinen Wohnsitz in diese Stadt zu verlegen, befasste ich mich ausführlich mit ihrer Geschichte und Architektur. Das Landgerichtsgebäude, ein Koloss aus dem Jahre 1881, mit einer imposanten Breite von über neunzig Metern, zog mich sofort in seinen Bann. Oft habe ich das von Grund auf restaurierte Gebäude aus dem einzigen Grund betreten, die Leichtigkeit und Transparenz der Eingangshalle auf mich wirken zu lassen, eine den Raum durchflutende Helligkeit, die in so krassem Widerspruch zu dem äußeren Bollwerk steht. Zu keinem Zeitpunkt machte ich mir Gedanken, wie es hinter den unzähligen Türen, die stets geschlossen gehalten wurden, aussehen könnte. Bis ich eines Tages gezwungen war, durch eine dieser Türen, einen dieser Räume zu betreten.

Er ist von beeindruckender Größe, funktional, nüchtern, auf schlichte Weise würdig gestaltet und hat so wenig von der Leichtigkeit der Eingangshalle. Dieser Saal, der Schwurgerichtssaal, flößt Respekt ein, was man bei Verhandlungen um Tötungsdelikte erwartet.

Mit gesenktem Kopf sitze ich auf einem harten Holzstuhl, der mit einem Riegel an der rückwärtigen Wandverkleidung befestigt ist. Mir schießt kurz der Gedanke durch den Kopf, dass man wohl befürchtet, Menschen könnten bei einer möglichen Flucht auch noch Teile des Mobiliars unter dem Arm mit nach draußen schleppen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich mir für diese irrwitzige Vorstellung ein leichtes Lächeln abgerungen. Hier, auf meinem fest verankerten Stuhl, ist jedoch nur Ernsthaftigkeit angezeigt.

Mein Nacken schmerzt, die Muskulatur ist verkrampft. Ich sollte meine starre Körperhaltung aufgeben. Zögernd hebe ich meinen Kopf um wenige Zentimeter, wohl darauf bedacht, nur den linken Teil des Saales in mein Blickfeld zu nehmen. Auf einem Podium, das die gesamte Breite des Raumes einnimmt, steht ein massiger, pultähnlicher, durchgängig geschlossener Tisch, amerikanische Weißeiche, schwer, dauerhaft. Es werden scheinbar in dieser Stadt noch viele Tötungsdelikte erwartet, durchfährt mich erneut ein unangemessener Gedanke.

Die Mitglieder der Schwurgerichtskammer haben bereits ihre Plätze eingenommen. Zwei Berufsrichter, eine Berufsrichterin, eine Schöffin, ein Schöffe, aufgereiht, nach fester Sitzordnung. Die Richterin wird von den zwei Richtern flankiert, was eine herausgehobene Stellung unterstreicht und mir verdeutlicht, dass sie den Vorsitz hat. Einer der Richter schaut zu mir herüber, um seinen Kopf sofort in die andere Richtung zu drehen, als er meinem Blick begegnet. Alle anderen Mitglieder blättern noch geschäftig in vor ihnen liegenden Unterlagen. Sie haben sich vor der Verhandlung scheinbar nicht ausführlich mit meinem Fall beschäftigt, stelle ich seltsamerweise leicht enttäuscht fest.

Mein Blick richtet sich wieder auf meine Hände. Irritiert betrachte ich die dünne Blutspur, die sich auf meinem Zeigefinger ihren Weg bahnt. Erst jetzt spüre ich den Schmerz. Ich habe mir unbewusst in den letzten Minuten vor lauter Anspannung die Nagelhaut mit meinen Fingernägeln abgerissen. Ich möchte das Blut ablecken, schrecke aber davor zurück, als ich bemerke, dass der Richter mich wieder im Blick hat und beobachte stattdessen, wie einzelne kleine Blutstropfen auf meine Hose fallen. Es scheint eine willkommene Ablenkung von dem Geschehen um mich herum zu sein.

Bisher habe ich es geschafft, die rechte Seite des Gerichtssaales standhaft zu ignorieren, spüre jedoch, wie mein innerer Widerstand bröckelt. Im Zeitlupentempo hebe ich erneut meinen Kopf, strecke meinen Oberkörper und nehme in Augenschein, was ich nicht sehen wollte.

Die Stühle im Zuschauerraum stehen dicht an dicht in mehreren Reihen hintereinander und sind bis auf den letzten Platz besetzt. Wahrscheinlich hat das Fassungsvermögen dieses Saales für den Ansturm der Zuschauermassen nicht annähernd ausgereicht. Was hätte ich auch anderes erwarten sollen, bei einer Anklage dieses Ausmaßes.

Langsam lasse ich meine Augen über die erste Sitzreihe schweifen. Die Plätze sind Vertretern der Presse vorbehalten. In den nächsten Reihen sitzen überwiegend ältere Leute, die wahrscheinlich schon lange vor Öffnung des Saales angestanden haben, um auf jeden Fall einen Platz zu ergattern.

Erleichtert will ich mich wieder abwenden und dann sehe ich sie. Seltsam

zusammengerückt, nahezu Schulter an Schulter, scheinen die zwei Frauen einander Halt zu geben. Erwartungsvoll blicken sie aus angespannten Gesichtern zu mir herüber, wollen Antworten auf Fragen, Antworten von mir, dem zuständigen Ermittler, Antworten, die ich nur schwer aussprechen kann.

Eine Stimme reißt mich aus meinen Beobachtungen. Irritiert schaue ich zum Richtertisch. Die Richterin hat das Blättern in ihren Unterlagen eingestellt. Ich höre, wie sie meinen Namen ausspricht. Ich glaube, eine gewisse Gereiztheit in ihrem Ton zu vernehmen. Wahrscheinlich spricht sie mich schon zum wiederholten Mal an.

Der Zeitpunkt meines Auftritts ist gekommen.

KAPITEL 1

2020

Die Stunden zogen sich wie Kaugummi. Ich saß in meinem kleinen Büro und hackte wenig motiviert die letzten Sätze eines längst überfälligen Berichts in den Computer. Ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, angelte ich mit zwei Fingern das restliche Stückchen Zuckerkuchen von dem Teller in meiner Reichweite und schob mir die krümelige Angelegenheit genussvoll in den Mund. Ich hörte, wie hinter meinem Rücken die Tür geöffnet wurde, was mich nicht aus der Ruhe brachte.

„In fünf Minuten, Klaus,“ rief Kira und hatte den Raum genauso schnell wieder verlassen, wie sie ihn betreten hatte. Ihr Satz war nicht als Frage oder Aufforderung zu verstehen, sondern stand für eine schlichte Information, die keiner weiteren Erklärung bedurfte. Die tägliche Teambesprechung war angesagt.

Meine Kollegin Kira Landsberger und ich gehörten der Mordkommission an. Wir waren eine besondere Truppe, die vor zehn Jahren gebildet worden war. Zu ihr zählten sechs Ermittler, ein Chef und eine Schreibkraft. Wir unterschieden uns von vielen anderen Städten dadurch, dass wir eine feste, dauerhafte Einheit bildeten und bei Gewaltdelikten nicht erst Fachleute aus einzelnen Wachen zu einer Sondereinheit zusammengerufen werden mussten.

Ich war seit neun Jahren bei der Mannschaft. Nach meiner Versetzung von Süddeutschland nach Niedersachsen war ich unmittelbar dieser Spezialtruppe zugewiesen worden. Mit meinen neununddreißig Jahren zählte ich damals zu den Senioren. Da unser Chef seit geraumer Zeit schwer erkrankt war, hatte man mir die kommissarische Leitung der Einheit übertragen. Unser Chef wurde zwischenzeitlich in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, seine Stelle aus finanzieller Erwägung jedoch nicht neu ausgeschrieben, sodass ich mit nunmehr achtundvierzig Jahren immer noch das Anhängsel kommissarisch mit mir herumtrug.

Unser Tätigkeitsbereich war enorm. Wir waren zuständig für jeden vollendeten oder versuchten Mord, Totschlag, für Entführungen, erpresserischen Menschenraub, Amoklauf und Geiselnahme. Die ständige Konfrontation mit Elend, unvorstellbarer Gewalt und seelenloser Brutalität hatte uns zu einem einzigartigen Team zusammengeschweißt. Wir konnten untereinander Gefühle rauslassen, was uns stärkte, mit Grausamkeit und Verzweiflung umgehen zu können. Unser Zusammenhalt führte zu akribischer Arbeit und hoher Erfolgsquote. Es brachte jedoch auch mit sich, dass unser Privatleben oft wochenlang zurückstehen musste.

Bis zu dem einen Tag, an dem sich alles veränderte, wollte keiner hier weg.

Ein unumstößliches Ritual waren unsere täglichen Teambesprechungen in unserem Mannschaftsraum. Es gab keine festen Zeiten, sie wurden von Tag zu Tag festgelegt. Wenn wir an einem aktuellen Fall arbeiteten, trafen wir uns zweimal täglich. Wir tauschten uns untereinander aus, was Tatort, die Umfeldbefragung und Zeugensuche ergeben hatten. Wir stellten uns immer wieder die Fragen: Was ist passiert? Wie? Und warum? Dutzende Theorien wurden durchgespielt, variiert und verworfen.

Unser gemeinsamer Raum war nicht sonderlich groß, wurde beherrscht von einem quadratischen, unförmigen Tisch in der Raummitte, um den herum Alle Platz fanden. Auf ihm standen stets diverse Laptops, darüber hinaus war er belegt mit unzähligen Aktendeckeln und Notizzetteln. Dazwischen lagen gewöhnlich Päckchen mit Keksen, Schokolade, Sticks und anderem ungesunden Zeug als vermeintlicher Nervennahrung. Das Whiteboard an der rückwärtigen Wand hatte sich im Laufe der Zeit für Fotos der Opfer, der Zeugen und Verdächtigen als zu klein erwiesen, sodass wir immer häufiger die angrenzende holzverkleidete Wand mit einbezogen. Die Luft in dem Raum war oft abgestanden, was uns meistens erst auffiel, wenn wir ihn wieder verließen.

Ich hatte nicht auf die Uhr geschaut, aber die fünf Minuten waren gefühlsmäßig abgelaufen. Entschlossen schob ich den Stuhl zurück, um mich auf den Weg in den Mannschaftsraum zu machen. Erschreckt fuhr ich herum, als die Tür erneut aufgerissen wurde, womit ich nicht gerechnet hatte.

„Vergiss unsere Teamsitzung. Draußen liegt eine Leiche rum und es sieht ganz so aus, als würde sie genau auf uns warten, echt, nur auf uns.“ Kira grinste mich übertrieben burschikos an und war auch schon wieder verschwunden.

„Alles klar“, rief ich ihr hinterher, obwohl zu diesem Zeitpunkt nie etwas geklärt ist. 

Ich schnappte mir meine Lederjacke von der Stuhllehne, kontrollierte den Sitz meiner Dienstwaffe und eilte zur Tür, die ich bei meiner enormen Beinlänge mit nur wenigen Schritten erreichte. Beim Verlassen des Raumes beugte ich mich leicht nach vorne, um mir an der Türfüllung nicht den Kopf anzustoßen. Mit einer fahrigen Handbewegung schob ich die lange Haarsträhne, die mir in die Stirn gerutscht war, an ihren angestammten Platz, mittig auf meinem Kopf, zurück. Bei meiner Größe von einem Meter sechsundneunzig ist es für mich zur Gewohnheit geworden, bei Hindernissen, die meinem Kopf zu nahekommen, automatisch eine verkrampfte, geduckte Haltung einzunehmen, auch wenn keinerlei Gefahr einer Karambolage besteht. In diesen Situationen muss ich mit meinem grotesk verbogenen, schlaksigen Körper, der baumelnden Haarsträhne in meinem Gesicht stets eine Lachnummer darstellen, sonst hätten mir die Kollegen nicht den Spitznamen Bandy verpasst.

Auf dem Flur herrschte geordnete Geschäftigkeit. Außenstehende hätten wahrscheinlich von unkoordiniertem, chaotischem Gerenne gesprochen, aber in unserer Truppe hatte jeder seine festen Aufgaben und wusste sie in kürzester Zeit umzusetzen.

Mein Büro befand sich am Ende des Ganges. So konnte ich registrieren, dass zwei meiner Kollegen fast gleichzeitig auf den Flur traten und im Begriff waren, das Gebäude mit zwei unförmigen Metallkoffern zu verlassen. Sonja, unsere Schreibkraft, rief etwas hinter ihnen her, woraufhin einer der Kollegen ihr dankend zuwinkte. Kira Landsberger stand auf halber Höhe, hielt in einer Hand ihr Handy und nestelte etwas nervös mit der anderen Hand an ihren Haaren herum. Für gewöhnlich trug sie bei der Arbeit im Kommissariat ihre dunkelblonden, langen, glatten Haare zu einem Zopf geflochten. Bei Einsätzen fasste sie ihre Mähne jedoch zu einem Pferdeschwanz zusammen. Kira ist nicht allzu groß, schlank, mit einer eher zarten Figur, was ihr mit ihren dreiunddreißig Jahren etwas Mädchenhaftes verleiht. Ein Zopf, behauptete sie damals, würde ihr jugendliches Erscheinungsbild unterstreichen, wodurch sie bei Außenkontakten einen Autoritätsverlust befürchtete. Kira täuschte sich. Mit ihrer zupackenden, direkten Art strahlt sie auch heute noch Durchsetzungsvermögen aus.

Als ich sie erreicht hatte, beendete sie ihr Haarstyling und blickte vom Handy auf.

„Sind die anderen schon im Bus?“, stellte ich die überflüssige Frage.

„Hm.“ Ohne sich vom Fleck zu bewegen, fuhr sie sich auffallend unruhig mit dem Handrücken über den Mund, als wollte sie imaginäre Krümel abstreifen.

Es war ungewöhnlich, dass Kira nicht bereits tatkräftig mit den Kollegen das Gebäude in Richtung Tatort verlassen hatte. Bei ihr liefen die ersten Informationen zusammen, die sie weiterzugeben hatte. Zu diesem Zeitpunkt fielen die Angaben meistens sehr spärlich aus. Aber jede Kleinigkeit sollte uns mental auf das Bevorstehende einstellen, was uns meistens jedoch nicht ansatzweise vor uns selbst schützte. Zu einfallsreich waren die Täter beim Ausleben ihrer Gewalttaten, zu grausam oft die Anblicke ihrer hinterlassenen Tatorte.

Auch jetzt unternahm Kira keinerlei Anstalten, sich zum Ausgang zu begeben. 

„Alles in Ordnung mit dir?“ Ich wartete einen Moment, erhielt aber keine Antwort. Da Kira wieder auf ihr Handy schaute, verrenkte ich meinen staksigen Körper, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Ohne eine Miene zu verziehen, ließ sie ihr Handy blitzschnell in der Hosentasche verschwinden. Ihr Verhalten verunsicherte mich. Kira und ich hatten über die Jahre hinweg eine Freundschaft aufgebaut, die auch außerhalb unseres Dienstes Bestand hatte. Wenn wir in schwierigen Ermittlungen steckten, verbrachten wir mehr Zeit miteinander, als sie mit ihrem Lebenspartner und ich mit meiner Frau. Mit Kiras Art, Probleme zu verarbeiten, war ich somit bestens vertraut. Und Kira hatte Probleme, das war nicht zu übersehen.

„Ihr seid ja immer noch da“, hallte die Stimme unserer Schreibkraft über den Flur. Als ich mich umdrehte, war Sonja schon wieder in ihren Bereich entschwunden.

„Komm.“ Nur dieses eine Wort, aber immerhin, Kira schien sich gefangen zu haben. Ich beschloss, später näher auf sie einzugehen. Jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt.

„Kira, ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt. Reiß dich zusammen. Wir reden später. Los jetzt.“

„Mit mir ist nichts, absolut nichts, aber ich muss dir sagen…“

„Behalt’s für dich, sag es mir später“, fuhr ich ihr leicht gereizt über den Mund. „Wo müssen wir hin?“

„Stadtquartier.“

Mein Körper versteifte sich. Ich hielt den Atem an, wollte nicht glauben, was doch so klar und unmissverständlich ausgesprochen worden war.

„Hausnummer zwei. Ich konnte es dir nicht später sagen.“

Das Rauschen in meinen Ohren steigerte sich zu einem Orkan.

KAPITEL 2

2020

Mit gleichmäßigen, tiefen Atemzügen brachte ich meinen Körper wieder halbwegs unter Kontrolle.

„Was ist passiert? Wer?“ Es gelang mir nicht, den flehenden Unterton in meinen Fragen zu unterdrücken. 

„Komm schon. Die anderen warten.“

Mein Drängen nach Auskunft stieß bei Kira auf taube Ohren. Sie vertrat stets die Meinung, dass wir jederzeit und ausnahmslos professionell zu handeln hätten und dazu gehörte für sie das Einhalten festgelegter Abläufe. Informationen, und waren sie noch so spärlich, wurden stets im Beisein aller auf dem Weg zum Einsatzort bekanntgegeben. So wollte sie es auch bei der in den Raum geworfenen Tatortadresse handhaben. Abweichungen waren in Kiras Denk- und Handlungsweise nicht vorgesehen.

„Wer ist es, verdammt noch mal? Mach schon.“ Ich konnte meine Wut über ihre Sturheit kaum zügeln, hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt.

„Bleib ruhig, Klaus. Niemand von deinen Leuten. Okay? Es wird alles so ablaufen, wie wir es als eingespieltes Team verinnerlicht haben.“ Sie schaute kurz zu mir auf, versuchte in meinem Gesicht zu lesen, wollte noch etwas anfügen, entschied sich dann jedoch anders. Entschlossen drehte sie sich um und marschierte mit schnellen, festen Schritten zur Ausgangstür. 

Wie sollte ich ruhig bleiben, wenn ich zu Ermittlungen in meinem eigenen Wohnhaus gerufen wurde?

Der Mordbus, wie wir unser Fahrzeug nannten, war mit allem bestückt, was man für die Spurensicherung benötigen könnte, und stand mit laufendem Motor startbereit auf dem Parkplatz. Mein Kollege Tom Kunze saß auf einer der Rückbänke. Er nestelte an seinem Gürtel herum, versuchte, ihn um seine schlanke, drahtige Gestalt enger zu schnallen, was den Eindruck vermitteln sollte, dass er Kiras und meinem Zuspätkommen keine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Das unaufhörliche Wippen seines rechten Beines verriet eine andere Sprache. Mit seinen achtundzwanzig Jahren war er der Benjamin in unserer Truppe und neigte schnell dazu, vorweg zu stürmen. Sich in Geduld zu üben, fiel ihm noch schwer und Geduld war in unserem Beruf zwingend erforderlich.

Kira versuchte, sich an Tom vorbei zu zwängen, um sich zwischen ihn und unseren Kollegen Simon Fasel zu quetschen, obwohl auf den hinteren Bänken noch ausreichend Platz vorhanden war. Simon brummte leicht missmutig vor sich hin. Gutmütig wie er war, nahm er jedoch in Kauf, dass sein schwerer, unförmiger Körper zusammengedrückt wurde. Wahrscheinlich fiel seine Missfallensbekundung auch nicht lauter aus, weil er befürchtete, von uns wieder einmal mit seiner Körperfülle frotzelnd aufgezogen zu werden. Er war einundvierzig Jahre alt und hatte es noch nicht aufgegeben, gegen sein Übergewicht anzukämpfen.

Für mich stand außer Frage: Kira suchte Abstand zu mir. Erregt packte ich sie hart am Handgelenk, zog sie unsanft aus dem Wagen zurück auf die Straße und schob sie an Toms Rücken vorbei auf die Rückbank. 

„Du tust mir weh. Spinnst du?“, fauchte sie und funkelte mich mit ihren großen, blauen Augen verärgert an.

Natürlich hätte ich mir dieses dreiste, unkollegiale Vorgehen sparen können, aber ich brauchte Informationen, Einzelheiten, die mich aus meinem Schockzustand befreien sollten. Jetzt musste es raus, sie sollte mir nicht mehr entkommen. Ich sah, dass uns Ferdinand Hirschau, der heute als Fahrer an der Reihe war, im Rückspiegel beobachtete.

„Alles klar bei euch da hinten? Dann kann’s ja endlich losgehen.“

Es gehörte in unserer Truppe zum unausgesprochenen Gesetz, sich nicht in Dispute unter Kollegen reinzuhängen. Auseinandersetzungen wurden von den Beteiligten stets selbständig bereinigt. In diesem Augenblick kam es mir allerdings so vor, als hätte mich Ferdinand einige Sekunden zu lange beobachtet. Ich schätzte meinen Kollegen Ferdinand. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen biederen, leicht weltfremden, zurückgezogen lebenden Einzelgänger halten können. Er hielt sich zwar im Hintergrund, jedoch nie, ohne den Überblick zu verlieren. Ergaben sich doch einmal Probleme, so hatte er sich schon als kompetenter Vermittler erwiesen. Ich begegnete seinem Blick im Rückspiegel mit aufgesetzter, abweisender Mimik. Ich brauchte keinen Vermittler, ich wollte keinen Vermittler.

Energisch löste Ferdinand die Handbremse und legte den Gang ein. In dem Moment fiel mir auf, dass unser Kollege Patrick Burger noch nicht im Wagen saß.

Als ich nach meinem Umzug vor neun Jahren zu unserer Einheit stieß, stand Patrick noch im Dienst eines anderen Bundeslandes. Ein Jahr später wechselte er nach Niedersachsen und wurde unserer Truppe zugewiesen. Wir verstanden uns auf Anhieb hervorragend. Alles passte einfach ideal. Wir waren im gleichen Alter, hatten weitreichende Diensterfahrung, wurden getragen von Ehrgeiz, wenn auch mitunter zu verbissen und waren sportbegeistert.

Unsere Frauen waren sich auf privaten Treffen nähergekommen. Sie ergänzten sich hervorragend und waren viel zusammen unterwegs. Unsere Freundschaft bekam auch durch den Umstand Halt, dass beide Familien in einfachen Unterkünften wohnten und nach Wohnungen suchten, die uns einen gewissen Luxus und vor allem Geborgenheit boten. Als in unserer Stadt ein ehemaliges Militär-Lazarett zu luxuriösen Wohnungen umgebaut wurde und auf dem riesigen, naturbelassenen Gelände weitere exquisite Bauten hochgezogen wurden, griffen wir zu und bezogen vor einigen Jahren mit unseren Familien Wohnungen im selben Wohnblock. Bei unserem Gehalt hätten Patrick und ich die Kosten kaum tragen können. Meine Frau hat jedoch einen guten Job beim Finanzamt und auch Patricks Frau trägt zum Lebensunterhalt bei, sodass es bisher beide Familien irgendwie geschafft haben.

„Halt, wir sind noch nicht vollzählig. Patrick fehlt doch noch. Sind hier heute alle verrückt?“, schrie ich lauter als beabsichtigt durch den Wagen. 

„Patrick ist schon am Tatort.“ Kira sprach ruhig, sachlich, emotionslos. Sie hatte ihre Verärgerung bereits abgeschüttelt, war in einen anderen Modus getreten.

„Wie, er ist schon am Tatort? Was macht er da allein? Warum sitzt er nicht hier mit uns im Bus?“ Irritiert suchte ich in Kiras Gesicht nach Antworten auf viel zu viele Fragen und fand nur eine starre Maske. Tom blickte kurz über die Schulter, schaute aber sofort wieder in Fahrtrichtung, als er sich davon überzeugt hatte, dass ich Kira nicht an den Kragen gegangen war.

„Wenn du nicht gleich deine Infos lieferst, sind wir am Ziel, bevor wir wissen, was wir da sollen“, murmelte er leicht genervt und trommelte mit seinen Fingern an die Scheibe.

„Patrick hat uns aus einer Wohnung in eurem Wohnblock angerufen. Die Wohnung gehört einem gewissen Armin Sanders. Der Mann wurde von einer Nachbarin tot in seiner Wohnung aufgefunden. Patrick hat mitgeteilt, dass eindeutig ein Gewaltverbrechen vorliegt. Die Nachbarin…“

„Armin Sanders tot? Eine Nachbarin hat ihn gefunden? Was für eine Nachbarin? Wer ist das? Wie heißt sie?“ Ich konnte einfach nicht an mich halten.

„Nun lass sie doch mal ausreden. Wenn du ständig rumquatscht wird die Situation für dich auch nicht leichter.“ Simon hatte sich zu mir umgedreht, was ihm bei seiner Körperfülle sichtlich schwerfiel. Ferdinand beobachtete mich irgendwie lauernd im Rückspiegel und konzentrierte sich sofort wieder auf den Straßenverkehr. Tom legte mir seine Hand auf die Schulter. Tom, unser junger Heißsporn, wollte mich beruhigen. Ich schlug seine Hand energisch weg. 

Natürlich kannten meine Kollegen meine Privatadresse und mir wurde schlagartig bewusst, dass sie bereits vor mir unseren Einsatzort von Kira erfahren hatten. Sie wollten mich schonend vorbereiten, aber auf was? Was verbarg sich hinter Ferdinands Satz: <Die Situation wird für dich auch nicht leichter?> Mein Blick fiel in den Rückspiegel. Weit aufgerissene, etwas zu eng stehende braune Augen, getrennt durch eine kräftige Nase, fleischige, wohlgeformte Lippen, die unter der enormen Anspannung unaufhörlich zuckten. Ein Gesicht, dass mir fremd erschien, mein Gesicht.

„Also wer? Welche Nachbarin hat Sanders gefunden?“, quetschte ich hervor, bemüht, meine Erregung in den Griff zu bekommen.

„Erika, deine Frau, hat Patrick gerufen.“

„Meine Frau hat Patrick gerufen?“, echote ich fassungslos.

„Ja.“ Knapper konnte Kiras Antwort nicht ausfallen.

„Meine Frau hat Armin Sanders tot in seiner Wohnung aufgefunden? Wie das denn?“, stammelte ich ungläubig und suchte Antworten in den Gesichtern meiner Kollegen.

„Nein, nein, hat sie nicht. Hör doch richtig zu. Deine Frau hat Patrick ge-ru-fen. Sie hat diesen Armin Sanders aber nicht in seiner Wohnung tot aufgefunden. Das war Judith, Patricks Frau Judith. Sie…“

„Patricks Frau Judith hat Armin Sanders gefunden?“, wiederholte ich leicht dümmlich. „Wenn Judith diesen Sanders gefunden hat, wieso hat sie dann nicht die Polizei verständigt? Warum hat das meine Frau gemacht?“, unterbrach ich meine Kollegin ungehalten.

„Das werden uns die beiden Frauen bestimmt gleich mitteilen können“, beendete Kira ihre Ausführungen tief nach Luft schnappend.

„Wird ja ein richtiges Familientreffen“, murmelte Tom, der mit seinen ironischen, mitunter auch schwer zu ertragenen sarkastischen Sprüchen häufig den Nagel auf den Kopf traf. Als er zu einer weiteren flapsigen Bemerkung ansetzen wollte, fing er Kiras warnenden Blick ein und zog es vor, zu schweigen.

Eine seltsame, lauernde Stille breitete sich im Bus aus. Ich versuchte, Kiras Angaben eine Logik zu entnehmen, konnte für mich jedoch keine sinnvolle Ordnung erkennen.

„Erika hat also im Kommissariat angerufen, direkt auf Patricks Durchwahl. Warum, verflixt noch mal? Sie ist meine Frau. Warum hat sie nicht mich angerufen? Und es ist ja wohl auch ein Unding, dass Patrick dann allein zum Tatort gefahren ist? Er hat hier mit uns im Bus zu sitzen. Was soll das? Kann mich mal einer aufklären?“ Ich bemühte mich, ruhig und gelassen zu klingen, hörte aber selbst den vorwurfsvollen Unterton heraus.

„Patrick hat sich heute Morgen krankgemeldet. Er war zuhause. Da liegt es doch auf der Hand, dass deine Frau den Polizisten informiert, der gleich nebenan wohnt, also so zu sagen greifbar ist. Du weißt genau, dass Patrick nie ohne uns zu einem Tatort gefahren wäre. Du warst gerade etwas neben der Spur.“ Kira hatte mich während ihrer Ausführungen nicht aus den Augen gelassen. Demonstrativ wandte sie sich sodann dem Geschehen auf der Straße zu. Ihr Verhalten hatte etwas Finales.

Mein emotionaler Ausbruch war mir unangenehm. Schließlich wusste jeder, dass Patrick und ich nicht nur Kollegen waren, sondern uns auch eine enge Freundschaft verband. Peinlich berührt, glaubte ich zu schrumpfen, überragte Kira und meine Kollegen jedoch nach wie vor um Kopfes Länge. Hätte ich mich nicht so von meinen Gefühlen leiten lassen, wäre mir eingefallen, dass Patrick sich bereits am Vorabend unwohl gefühlt, unseren gemeinsamen Feierabendlauf abgesagt hatte. Aber weshalb hatte Judith ihren kranken Mann nicht selbst zuhause informiert, sondern meine Frau Erika um Hilfe gerufen? Wieso wusste meine Frau Erika, dass Patrick krank zuhause war? Und überhaupt…, Judith entdeckte diesen Sanders tot in seiner Wohnung? Kiras Zurechtweisung führte dazu, dass ich meine Überlegungen für mich behielt.

„Kennst du den Toten, diesen Armin Sanders?“, durchbrach Simon meine kreisenden Gedanken.

„Ja, er ist, also war, mein Nachbar, in der Wohnung schräg über mir. Patricks Nachbar dann natürlich auch. Wir wohnen ja alle im selben Wohnblock. Wie man sich eben so kennt.“

KAPITEL 3

2020

Unser Bus hatte sich dem Wohnkomplex, meinem Zuhause, genähert und Ferdinand begann bereits mit der Suche nach einer Parkmöglichkeit. Ich wusste natürlich aus eigener Erfahrung, wie nervig sich die Suche gestalten konnte. Auf dem Gelände erstrecken sich sechs Wohnblocks, viergeschossig, u-förmig um eine aufwendig angelegte Gartenanlage erbaut. Die Architekten hatten bei der Gestaltung der gediegenen Anlage den Freizeit- und Erholungsaspekt in den Vordergrund gestellt. Die Planung des benötigten Parkraums hatten sie wissend auf ein inakzeptables Minimum zusammengeschrumpft. Es blieb Ferdinand keine andere Wahl, als auf der Zufahrt zu parken und dabei mit den Reifen die Pflanzen auf einem der penibel gepflegten Rabatten platt zu machen. Wir waren im Einsatz. Ich würde es wahrscheinlich später dem Gärtner erklären müssen. Warum ließ ich mich davon ablenken?

„Kira, welcher Anblick erwartet uns in der Wohnung?“, beeilte ich mich zu fragen, bevor wir den Wagen verließen.

„Du meinst wegen…“ Sie beendete den Satz nicht. Als sie meinem ängstlichen Blick begegnete fuhr sie leicht genervt fort: „Ich weiß es nicht. Patrick hat den Anruf bei mir kommentarlos beendet.“

„Geht doch mal ein paar Schritte zur Seite, am besten ganz weg. Mann oh Mann, wie soll man denn hier arbeiten?“, dröhnte uns bereits beim Betreten des Treppenhauses die tiefe Bassstimme des Rechtsmediziners Doktor Fritz Klaproth entgegen. Kira stürmte die Stufen hoch, als wollte sie die verlorene Zeit wieder aufholen. 

„Wo müssen wir hin? Welche Etage?“ Simons Frage hing unbeantwortet in der Luft. Kiras Zielstrebigkeit enthielt die unausgesprochene Aufforderung, ihr zu folgen und meine Kollegen hetzten ihr hinterher.

„In den dritten Stock“, murmelte ich leise. Unschlüssig verharrte ich auf dem ersten Treppenabsatz und starrte auf eine geschlossene Wohnungstür, meine Wohnungstür. Augenblicklich spürte ich meinen Hausschlüssel in der Hosentasche, fühlte, wie er sich nahezu in meinen Schenkel grub. Ich widerstand der Versuchung, den Schlüssel hervorzuziehen und ins Schloss zu stecken, nahm aber gleichzeitig wahr, dass sich meine Hand dem Klingelknopf genähert hatte. Ich zögerte. Wie sollte ich meiner Frau entgegentreten? Was hatte sie an verstörenden, grausamen Bildern in Sanders Wohnung aufnehmen müssen? Und warum sie und nicht Patrick, der Polizist von nebenan, verfolgten mich die bohrenden Fragen.

„Klaus, wo bleibst du?“ Toms Stimme hallte durch das Treppenhaus und machte mir schlagartig klar, dass ich mich mit Fragen beschäftigte, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweitrangig waren. 

Unser Wohnblock verfügt über geräumige Vierzimmerwohnungen, die aber scheinbar nicht geeignet sind, eine größere Anzahl von Menschen aufzunehmen. Denn Simon und Ferdinand standen dicht gedrängt, gemeinsam mit meiner Frau Erika und Patricks Frau Judith, auf dem Flur. 

„Wir müssen warten bis der Doc fertig ist. Er hat uns aus dem Zimmer geschmissen. Er meint, es sei darin zu eng für ihn, wenn wir alle da rumschleichen.“

„Was machen dann die Frauen noch hier?“, fuhr ich Simon gereizt über den Mund. Ich schob ihn beiseite und näherte mich meiner Frau. Sie stand offensichtlich unter Schock. Die Arme verkrampft an den Körper gepresst, die Hände zu Fäusten geballt hatte sie dem Wohnraum demonstrativ den Rücken zugekehrt. Ihre Augen irrten in der Gegend umher, versuchten mich zu fixieren und fanden keinen Halt. Erika hat einen blassen Teint, der durch ihre schulterlangen, schwarzgefärbten Haare noch hervorgehoben wird. In dieser belasteten Situation erschien mir ihre Haut noch blasser, nahezu weiß und durchsichtig. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass ihr die dichten, tiefschwarz gefärbten Augenbrauen nicht stehen, ihrem feisten Gesicht noch mehr Fülle, eine eigenartige, nicht vorteilhafte Form verleihen. Ich nahm mir vor, ihr bei Gelegenheit meine Entdeckung schonend beizubringen, verwarf meinen Gedanken jedoch sofort wieder. Erika mag ihren rundlichen Körper, steht zu ihrem Aussehen, Kritik wäre absolut unangemessen. 

„So, ich wäre dann fertig“, dröhnte Dr. Klaproths Bass durch die Wohnung. Ich zuckte erschreckt zusammen. Zum wiederholten Mal an diesem Tag hatten sich meine Gedanken auf abartige Weise auf Wanderschaft begeben. Bevor ich mir selbst Vorhaltungen machen konnte, fand ich die Erklärung für mein unkonzentriertes, unprofessionelles Verhalten in der besonderen Situation der Ereignisse. Schließlich hatte ich noch nie zuvor in meinem privaten Umfeld ermittelt. Und genau hier war ich jetzt gefragt.

„Geh bitte in unsere Wohnung. Warte dort. Sobald ich fertig bin, komme ich zu dir. Dann können wir sprechen. Meinst du, du schaffst das allein?“ Um die Dringlichkeit meiner Aufforderung zu untermauern, umfasste ich die Oberarme meiner Frau und erzwang mir dadurch ihren Blickkontakt.

„Ja. Ich störe hier nur. Es tut gut, dass du da bist, Klaus.“ Mit einer flüchtigen Bewegung legte sie ihren Kopf an meine Brust, hob ihn wieder an und schaute mir offen ins Gesicht. Ich spürte, dass sich ihre Schultermuskulatur etwas entspannte.

„Kann ich Judith mit in unsere Wohnung nehmen? Das Ganze hat uns schrecklich mitgenommen. Es tut uns bestimmt gut, jetzt nicht allein zu sein.“

„Sehr gut, mach das. Kommst du wirklich klar, oder soll ich unseren psychologischen Dienst herbitten?“

„Ich schaffe das.“ Ihre Antwort kam leise, fast gehaucht und wirkte nicht gerade überzeugend. Aber ich vertraute Erika, meiner kleinen, properen, stets agilen Frau, deren Handlungsweisen allerdings mitunter auch grenzwertig waren.

Erika wandte sich bereits zum Gehen, als mir unsere Tochter einfiel.

„Wo ist Mandy?“, fuhr ich meine Frau hektisch an.

„Um diese Zeit ist sie wie immer in der Schule. Das solltest du wissen. Sie hat von diesem grauenvollen Szenarium nichts mitbekommen und heute hat sie auch Nachmittagsunterricht. Das ist gut.“ Erleichtert aber auch ein bisschen beschämt ob der Rüge meiner Frau, zwang ich mich zum wiederholten Mal zu Ruhe und Sachlichkeit.

Ferdinand hatte unser Gespräch verfolgt und Judith bereits vor Sanders Wohnungstür geführt. Judith, die attraktive, unternehmungsfreudige, stets gut gelaunte Frau meines besten Freundes Patrick, hatte sich in ein apathisches, kaum wiederzuerkennendes, willenloses Wesen verwandelt. Nahezu haltlos lehnte sie mit blutleerem Gesicht an der Wand neben der Eingangstür, von Ferdinand an den Schultern gehalten. Während sie die Oberarme an den Körper presste, streckte sie die Unterarme angewinkelt von ihrem Körper weg. Die Finger waren gespreizt, dicke, eingetrocknete Blutschlieren nicht zu übersehen. Ich war mir nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, die beiden Frauen allein, ohne fachliche Unterstützung, zurechtkommen zu lassen. Als Erika mit einer zärtlichen Geste über Judiths Kopf strich, drückte sich Judith mit den Ellenbogen von der Wand ab und schlurfte neben Erika Richtung Treppe. Ihre blutverschmierten Hände ließ sie dabei nicht aus den Augen. Ich unterließ es, sie nach dem Grund ihrer verschmutzten Hände zu fragen und wusste, dass ich einen Fehler beging.

„Du weißt schon, dass wir den beiden heute noch mächtig auf den Zahn fühlen müssen?“, flüsterte mir Ferdinand zu.

„Nein, weiß ich nicht. Bin vollkommen neu im Geschäft und während der Ausbildung habe ich gepennt.“

„Willst du jetzt so weitermachen? Deine Kollegen anmotzen? Was ist los mit dir?“

Nein, so konnte ich nicht weitermachen. Ich musste so schnell wie möglich dieFragen klären, die mir seit Beginn des Einsatzes im Kopf herumschwirrten, Fragen, die offensichtlich meinen Privatbereich berührten.

Ich betrat als Letzter Sanders Wohnzimmer. Patrick versperrte mir die Sicht. Er stand groß, breitschultrig, die Hände tief in den weiten, ausgeleierten Taschen seiner Jogginghose vergraben, mit dem Rücken zu mir, stocksteif neben der Tür. Er hatte mir mal verraten, dass er sich in den viel zu großen Jogginganzug vergrub, wenn es ihm schlecht ging, er sich vor der Außenwelt unsichtbar machen wollte. Es stand außer Frage: Patrick ging es nicht gut. Sein Gesicht war in Richtung Fenster gewandt. Der Blick auf die vertrauten markanten Züge, die stark ausgeprägten Kieferknochen, wodurch er stets aussah, als würde er die Zähne zusammenbeißen, blieb mir verwehrt. An seinem Hinterkopf hatte sich aus seinen braunen, modisch kurzgeschnittenen Haaren ein kleiner Wirbel selbstständig gemacht, der mir bisher noch nie aufgefallen war. Es schien, als würde Patrick auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen hochinteressanten Vorgang beobachten. Mein Kollege Patrick Burger war hart im Nehmen. Obwohl wir im gleichen Alter sind, hatte ich oft bewundert, wie abgeklärt und professionell er sich an Tatorten verhielt. In Sanders Wohnung war von diesen Eigenschaften nur wenig zu spüren.

Vorsichtig schob ich mich an Patrick vorbei. Bei dem Anblick, der sich mir bot, setzte meine Atmung aus.

KAPITEL 4

1996

Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür hinter den letzten Gästen, die sich endlich zum Gehen aufgerafft hatten, ins Schloss. Ihr lautes, schrilles Lachen hallte von den hohen Wänden des Treppenhauses zurück. Es entfernte sich nur langsam und hinterließ in der Wohnung eine geräuschvolle Stille. 

„Na, Frau Burger? Wie fühlt man sich so als frisch gebackene Ehefrau?“, durchbrach Patrick flüsternd die eingekehrte Ruhe. Zärtlich umfasste er die Taille der Frau, der er vor wenigen Stunden ewige Treue geschworen hatte, der Frau, mit der er alt werden wollte. Groß, sportlich, Selbstbewusstsein und Willensstärke ausströmend stand er vor ihr und versuchte, die neue Beziehungsebene zu verinnerlichen. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie ihren Kopf an seine Brust. An seinen muskulösen Körper geschmiegt, wirkte sie klein und zierlich, fast zerbrechlich, auf seltsame Weise hilfsbedürftig. Langsam hob sie ihren Kopf und schaute Patrick mit ihren grünen, ausdrucksstarken Augen ernst und leicht verunsichert an.

„Sabine, wir sind Mann und Frau, wir sind verheiratet. Das ist einfach nur geil, superaffengeil, Hochspannung pur, das kribbelt in meinem ganzen Körper. Du willst das auch spüren, gib es zu, sag es, los, sag es.“ Lachend ließ er seine Finger über ihren Rücken gleiten, ließ sie massieren, kneten, kneifen, bis Sabine sich kichernd aus seinen Armen befreite. Schwer atmend wollte er ihren Körper erneut umfassen, stoppte jedoch augenblicklich in seinen Bewegungen. 

„Was ist los? Guck nicht so ernst oder willst du mir schon nach einem halben Tag Gefangenschaft in der Ehe beibringen, dass du die Scheidung einreichst?“ Zärtlich strich er seiner Frau die blonde, lange Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war eine Geste, die er gewohnheitsmäßig und routiniert ausführte, wenn Sabine den Kopf senkte, und das tat sie oft, zu oft, empfand Patrick.

„Ja, ich spüre auch was, Angst“, flüsterte sie, ohne den Kopf zu heben. „Bist du ganz sicher, dass wir das zusammen schaffen? Dass wir immer zusammenhalten? Dass du…“

„…, dass ich immer für dich da sein werde, dich immer und überall beschützen werde,“ unterbrach Patrick seine Frau abrupt. „Mensch, Sabine, bitte nicht heute, lass es bitte. Es ist unser großer Tag. Wir hatten eine schöne, kleine Feier mit unseren Freunden. Jetzt sind wir nur für uns da. Ich habe dir die ganzen Jahre bewiesen, dass du dich auf mich verlassen kannst. Und jetzt zum Beispiel kannst du dich darauf verlassen, dass ich dich so schnell nicht wieder loslasse.“ Lachend umfasste er sie erneut, hob ihren zarten Körper an und drehte sich mit ihr im Kreis, wobei ihre Beine nahezu schwerelos in der Luft schwebten.

„Hör auf, setz mich wieder ab.“

„Erst wenn du versprichst, deine dunklen Gedanken zu vertreiben. Für den Rest des Tages wird gelacht. Versprichst du das?“ Kurz nach Luft schnappend erhöhte er das Drehtempo.

„Patrick, lass mich sofort runter. Hier ist es viel zu eng. Gleich geht was zu Bruch.“

„Okay, mit diesem Argument hast du gewonnen.“ Behutsam setzte er Sabine auf dem Boden ab und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Das angestrengte Lächeln, das sie ihm entgegenbrachte, war ihm bestens bekannt. Er wusste, wie fragil ihre aufgesetzte Fassade war.

„Naja, die Wohnung ist klein, aber es ist unser erstes gemeinsames Reich, und ich fühle mich sauwohl hier.“ Angespannt beobachtete er Sabines Reaktion, war auf einen ihrer Gefühlsausbrüche gefasst, dessen Intensität selten vorhersehbar war.

„Ja, wir haben versucht, das Beste draus zu machen.“

„Wir haben versucht, das Beste draus zu machen? Sabine, das war kein Versuch, es ist einfach das Beste. Schau dich doch mal um. Die beiden Sessel in Leichtbauweise im klassischen Retro-Blümchen Design, nur noch schwer zu erwerben. Und dann erst diese Beistelltischchen aus echtem Lattenholz, gerade noch zweckdienlich zum Obsttransport benötigt und nun durch uns nachhaltig genutzt. Die nackten Glühbirnen ohne Lampenschirme sind der letzte Renner. Und dann erst unser Schlafzimmer. Matratzen von IKEA, ich wiederhole: Echte Matratzen. Wir können später einmal das Bettgestell dazu anschaffen, aber für Frischvermählte gibt es doch nichts Praktischeres, als auf dem Boden zu schlafen. Wilde Nächte, man läuft nicht Gefahr, aus dem Bett zu stürzen.“ Lachend zog Patrick seine Frau erneut in seine Arme.

„Ist ja gut. Hol dich wieder ein.“ Entschieden schob sie ihn von sich. Ihr Lächeln war nicht mehr aufgesetzt. Patrick wusste, er hatte wieder einmal gewonnen. Wie lange ihre Unbekümmertheit anhalten würde, wagte er schon lange nicht mehr vorauszudenken.

„Wir räumen jetzt hier das Schlachtfeld auf, das unsere Gäste hinterlassen haben, und dann sollten wir vielleicht unsere Matratzen ausprobieren?“ Patrick wollte nach Sabines Handgelenk greifen. Sie entzog sich ihm, indem sie sich schnell nach einem leeren Glas bückte, das mangels Abstellmöglichkeiten neben Flaschen und Schälchen mit Knabberzeug auf dem Boden stand.

„Hast du gerade gesagt, du fühlst dich in unserer Wohnung sauwohl? Das ist ja wohl nicht schwierig, bei dem Saustall, den deine Kumpel hier hinterlassen haben. Wenn wir mit dem Aufräumen fertig sind, müssen wir uns unbedingt auf den Matratzen von den Strapazen ausruhen. Du hast wie immer recht, Großer.“ Laut lachend griff Sabine nach einer mit Zigarettenstummeln überquellenden Blechdose und kippte den stinkenden Inhalt in eine Plastiktüte.

Patrick atmete tief ein und befreite sich von seiner Anspannung mit einem lauten Jubelschrei. Er war sich sicher, dass der Tag, ihr großer Tag, ohne weitere emotionale Schwankungen harmonisch in den Abend und eine Nacht voller Zärtlichkeiten übergehen würde.

„So, das wäre geschafft.“ Patrick stand am Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt, und schaute auf die Hofanlage, als Sabine mit einem leeren Eimer die Wohnung betrat. „Hast du die Mülltonnen gleich gefunden? Das nächste Mal bringe ich den Müll runter, okay?“

„Ziemlich verdreckt da unten bei den Tonnen. Nicht nur bei den Tonnen. Würde mich nicht wundern, wenn es auf dem Hof nur so von Ratten wimmelt.“ Sabine hatte sich neben ihn gestellt und starrte mit versteinerter Miene auf den grauen gegenüberliegenden Häuserblock. 

Patricks Körperhaltung veränderte sich schrittweise. Sein Hals zog sich in die Länge, seine verschränkten Arme lösten sich, baumelten scheinbar entspannt neben seinem Körper, wären da nicht seine Hände, die sich zu Fäusten ballten, Fingerknöchel, die brutal hervorsprangen. 

„Das Thema hatten wir schon zu Genüge. Ich dachte es wäre durch“, zischte er zwischen den Zähnen hervor, ohne seine Frau dabei anzusehen. Nach wenigen Sekunden wandte er sich vom Fenster ab und ließ sich in einen der abgewetzten Sessel fallen, der bedrohlich unter seinem Gewicht knackte. Mit einem tiefen Seufzer taxierte er seine Frau, die ihren Platz am Fenster nicht verlassen hatte und ihm den Rücken zuwandte. Er wusste, was ihn gleich erwartete: Ein Gesicht, gezeichnet von einem gehörigen Maß Angst und großer Verunsicherung. Es war ihm hinlänglich bekannt. Als sich Sabine zu ihm umdrehte, wurde seine Erwartung nicht enttäuscht.

„Ich weiß, aber diese Gegend ist einfach nur schrecklich, und sie wird nicht besser, nur weil wir darüber gesprochen haben.“

Patrick stützte seine Ellenbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. Es war nicht erforderlich, seine Frau weiter im Auge zu behalten. Ihr Schluchzen war vorprogrammiert und würde in wenigen Sekunden einsetzen, unabwendbar.

„Hör zu, du weißt, das ist hier nur vorübergehend“, nuschelte er durch die gespreizten Finger und erhob sich widerstrebend. „In wenigen Wochen habe ich meinen Bachelor, und wenn ich dann Kriminalkommissar bin, bringe ich um die 2.500 Euro nach Hause. Du bist doch auch bald mit deiner Ausbildung fertig und bekommst bestimmt eine Anstellung in einer Praxis. Dein Chef, bei dem du jetzt deinen Praxisteil ablegst, ist doch voll zufrieden mit dir und übernimmt dich ganz bestimmt. Arzthelferinnen werden dringend gesucht. Mit unserem gemeinsamen Geld können wir uns dann eine andere Wohnung in einer besseren Lage leisten. Das wird aber dauern. Du kennst doch die Wohnungsknappheit. Du bist gerade mal vierundzwanzig und ich fünfundzwanzig Jahre alt. Wir fangen doch erst gemeinsam an und haben noch so viele Jahre vor uns. Hab’ doch ein bisschen Geduld. Sabine, wir können das nicht ständig neu durchkauen.“

„Hier ist alles so grau, kein bisschen Farbe, keine Blumen, nur verdorrter Rasen, gesprungene, verdreckte Gehwegplatten und dann diese beschmierten Treppenhäuser. Guck dir doch mal die Leute an, selbst die sind grau, aschfahl, ohne jegliche Freude und positive Grundstimmung. Die grüßen noch nicht einmal. Das könnten sie doch wenigstens tun.“ Schniefend angelte Sabine ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte sich mit hektischen Bewegungen die Tränen ab.

Patrick starrte vor sich auf den Boden. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, Zeit, die er benötigte, um seine Worte abzuwägen und wohldosiert zu verpacken. Wie sollte er ihr vor Augen halten, dass sie sich häufig in ihrer Außenwirkung nur wenig von den beschriebenen Nachbarn unterschied?

„Sabine, du bist jetzt nicht fair. Die Leute hier haben vielfach keine Arbeit, einige sind langzeitarbeitslos, müssen von Hartz IV leben. Das ist wahrscheinlich noch weniger, als wir zur Verfügung haben. Genau weiß ich das nicht, dürfte sich aber nicht wesentlich von unseren Möglichkeiten unterscheiden.“ Patrick beobachtete Sabines Mienenspiel und zögerte, mit seinen Ausführungen weiter fortzufahren. 

„Das weiß ich selbst. Aber in ihre Gesichter hat sich ein Ausdruck von Verlebtheit gefressen. Und deshalb habe ich Angst. Ich fürchte mich vor meinen Nachbarn. So, jetzt ist es raus.“ Schniefend fiel ihr Kinn auf die Brust, mit den Fingern zerriss sie ihr Papiertaschentuch in kleine Fetzen, die lautlos auf den Boden segelten. 

Patrick starrte seine Frau fassungslos an. So deutlich hatte sie ihre Ablehnung gegen das Viertel und seine Bewohner noch nie zum Ausdruck gebracht. Es schockierte ihn, mit welcher Verachtung sie über ihre neuen Nachbarn urteilte.

„Wir leben ab heute in einem sozialen Brennpunkt. Hier wohnen Kriminelle, wie auch Opfer, sprich Hilfsbedürftige. Einige Menschen arbeiten bestimmt hart, um ihre Lebenssituation zu verbessern, andere versinken durch Perspektivlosigkeit in Lethargie.“

„Ja, oder werden aggressiv, gewalttätig“, unterbrach ihn Sabine.

„Auch das ist möglich. Dann solltest du aber besser nicht ständig mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern durch die Gegend rennen. Damit bietest du dich als Opfer an. Das allerdings nicht nur hier in der Gegend. Das gilt überall. Und vielleicht kleidest du dich auch mal etwas farbenfroher und trägst nicht nur dieses Einheitsschwarz. Damit könntest du dich von unseren, nach deiner Meinung so grauen und aschfahlen Nachbarn, unterscheiden. Ein kleines Lächeln und freundlicher Gesichtsausdruck würden dich den Menschen vielleicht auch ein kleines bisschen näherbringen.“ Patrick presste seine Lippen aufeinander und hielt entsetzt die Luft an. So hatte er noch nie zu ihr gesprochen.

Sabine starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, schlug eine Hand vor den Mund und bewegte sich Schritt für Schritt rückwärts Richtung Schlafzimmer.

„Ich habe das nicht so gemeint. Sabine, bitte, bleib doch stehen. Das war absoluter Mist. Aber du musst mich auch verstehen. Wir haben uns doch beide entschieden, hier einzuziehen. Lass uns doch endlich unseren großen Tag genießen. Bitte, ich flehe dich an.“ Vorsichtig bewegte er sich auf sie zu, erstarrte in seinen Bewegungen, als sie ihre Arme ausstreckte und die Hände abwehrend anwinkelte. Hilflos musste er zusehen, wie sie sich ihm entzog.

Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in der Oberstufe des Gymnasiums waren sie ein Paar. Sabine galt in ihrer Klasse als krasse Außenseiterin. Patrick gefiel der Zustand ausnehmend gut, musste er doch nicht gegen unliebsame Nebenbuhler antreten oder auf fordernde Freundinnen Rücksicht nehmen. Anders als seine Mitmenschen störte er sich nicht an Sabines unvermittelt einsetzenden Weinkrämpfen aus nichtigen Anlässen oder einem mitunter stundenlangen, beharrlichen Schweigen ohne ersichtlichen Grund. Stattdessen genoss er ihr großes Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit, was stets auf ihre psychischen Attacken folgte. Patrick liebte Sabine vorbehaltlos und akzeptierte ihre auffälligen Verhaltensweisen als Teil ihrer Persönlichkeit.

Im Laufe ihrer Freundschaft mehrten sich jedoch seine Gedanken über ihre unkontrollierten, überzogenen Ausbrüche. Tief in seinem Inneren befürchtete er eine schwere seelische Erkrankung bei dem Menschen, den er liebte. Um sich zu beruhigen, schob er Sabines Gefühlsschwankungen auf ihre Unsicherheit im Umgang mit Menschen zurück. Er beobachtete sie beim Zusammentreffen mit anderen Personen, belauerte sie, um ihr Verhalten in ungewohnten Situationen zu erfassen. Er verwendete viel Zeit darauf, seine Beobachtungen zu analysieren, Sabine zu analysieren. Hierbei bediente er sich zunächst seines klaren Menschenverstandes. Bald jedoch recherchierte er im Internet, surfte auf dubiosen Seiten, suchte nach Deutungen und Erklärungen in Fachzeitschriften.

Nachdem er die unterschiedlichsten Diagnose- und Therapieansätze in Erwägung gezogen hatte, um sie stets wieder zu verwerfen, half ihm unerwartet seine Ausbildung zum Kriminalbeamten. Übereifrig stürzte er sich in den Ausbildungsblock Kriminologie mit den Bezugswissenschaften Psychologie, Psychiatrie, Soziologie und Pädagogik. Er hoffte, hier eine Antwort auf seine Frage zu finden, weshalb es Sabine nicht gelang, sich konform zu verhalten. Fasziniert, nahezu wie besessen, beschäftigte er sich mit Theorien zu den Ursachen konformen Verhaltens. Warum gelang es anderen Menschen in seinem Umfeld, sich den jeweiligen Anforderungen angemessen zu verhalten und Sabine nicht?

Erst nach und nach wurde ihm bewusst, dass seine Beschäftigung mit Sabines abnormen Verhaltensmustern dem Erstellen eines Täterprofils glich. Er hatte den großen Fehler begangen, Schwerpunkte seiner Ausbildung mit seinem Privatleben zu vermischen. Aufgeschreckt stellte er die Zulässigkeit seiner Nachforschungen in Frage. Von einem Tag auf den anderen beendete er seine Ursachenforschung. Er schwor sich, Sabine zeitlebens das Gefühl zu geben, ohne Vorbehalt von ihm geliebt zu werden. Er gewann die Überzeugung, dass nur er allein Sabine Halt und die erforderliche Sicherheit geben konnte.