Der Besucher - Norbert Johannes Prenner - E-Book

Der Besucher E-Book

Norbert Johannes Prenner

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Beschreibung

Der passionierte Träumer und Einzelgänger Norman Moll ist nicht Kurgast sondern vorübergehend bloß alljährlicher Besucher des noblen Kurhotels Villa Langstein, in dem ihm in dieser Saison völlig überraschend eine vermeintliche Jugendliebe zu begegnen schien. Das Verhalten dieser attraktiven Frau, Sybilla Trinks, bestätigt ihn allerdings wenig in seiner Annahme, sich immer schon gekannt zu haben, scheint sie sich jedoch in seiner Psyche umso besser auszukennen als er selbst, was ihn zutiefst verunsichert. Nichtsdestotrotz ergeht sich Moll in allerlei erotischen Fantasien um ihre Person, hinterlässt sie ihn doch immer öfter in der Vorahnung einer möglichen intimeren Beziehung. Einer der Kurgäste, Bodo Rabitsch, ein geübter Hypokrit, der neben seiner Gattin auch seine langjährige Liaison im Nebenzimmer einquartiert hat, nervt ihn in der Rolle des stets belehrenden Besserwissers ganz besonders und erinnert ihn an jene unliebsamen Autoritäten seiner Kindheit, gegen die er stets rebellierte. Ein junger Mann, Johannes Manon, repräsentiert unter den Mitbewohnern quasi sein Spiegelbild, bloß mehr als zwanzig Jahre jünger. In einer stürmischen Gewitternacht stirbt plötzlich Rabitsch´s kranke Frau völlig unerwartet. Ein Stubenmädchen findet sie mit einem Polster auf ihrem Gesicht leblos in ihrem Bett liegend. Kommissar Braumüller versucht den Fall noch in der Nacht durch Zeugenbefragungen der anwesenden Gäste zu klären. Wurde Rabitsch´s Gattin tatsächlich ermordet? Doch erst der nächste Morgen bringt Gewissheit darüber.

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Seitenzahl: 278

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Norbert Johannes Prenner

Der Besucher

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Impressum neobooks

Kapitel 1

Grüner Chiffon

Auf einem sanften Hügel, etwas abgelegen vom Treiben jener Klein-stadt, in der seit Jahrhunderten Salz gehortet und in alle Winkel des Landes verfrachtet worden war, erhoben sich die weißen, weithin sichtbaren Sandsteinsäulen der Villa Langstein im warmen Licht der untergehenden Abendsonne, mit ihrem mächtigen Stylobat, den ge-waltigen Architraven und verspielten Friesen, deren Kannelierung sich gegen den Hintergrund der dunklen, mehrteiligen französischen Fenstertüren in der Illusion eines Reliefs wie gefaltetes Papier scharf abzugrenzen begonnen hatten. Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtete ein italienischer Baumeister dieses zweistöckige Gebäude nach dem ursprünglichen Plan eines Deutschen, der bis zum heutigen Tag unbekannt geblieben ist, trotz der zahlreichen Bemühungen, die typischen Merkmale seines Stils anhand der Fensterformen, an der Ornamentik oder der Wellenlinie des Giebels und nicht zuletzt wegen seines schwungvollen, turmartigen Schornsteins mittels zahlloser ver-gleichbarer Beispiele ähnlicher Architektur festmachen zu wollen.

Die Aufteilung der stattlichen Räume hatte sich zwar seit einigen nicht sehr glücklichen Umbauten etwas verändert, war aber im Großen und Ganzen in seiner Ursprünglichkeit genauso erhalten geblieben, wie sie vor hundertzwanzig Jahren war, bis auf die Einbauten der neuen Errungenschaften im sanitären Bereich oder etwa in der Elektrifizierung. Nach wie vor befanden sich die Empfangsräume im Erdgeschoß, durchzogen von ungewöhnlich breiten, weinroten, grob struktu-rierten Sisalteppichen, auf denen Staub oder Schuhabdrücke auch für längere Zeit unentdeckt bleiben konnten und dadurch dem Betrachter den Eindruck vermittelten, als würde hier täglich penibelst gesaugt. Dem war allerdings nicht immer so, was nicht heißen sollte, dass das Reinigungspersonal nachlässig gewesen wäre. Die eigentlichen Appartements lagen somit im ersten und zweiten Stockwerk verteilt, ihrer Größe nach verschieden hintereinander angeordnet, auch über die Ecken des Hauses aufgeteilt, manche mit Balkon, andere wiederum ohne.

Die Zimmer für das Personal waren allesamt im Dachgeschoß untergebracht, während sich im Keller weitere Räume befanden, die nicht zuletzt der technischen Seite der Pension zugetan waren, wie etwa der Heizraum, eine Sauna von durchaus respektabler Größe und sogar eine kleine Schwimmhalle, deren längliche schmale Fenster, in Stehhöhe angebracht, gerade noch den Blick nach draußen erlaubten, welche jedoch von oben leicht Einblick ins Innere gewährten. Von hier aus konnte man über eine kleine Treppe direkt auf den rückwärtigen Terrassenteil gelangen, auf welchem in der gemäßigten und wärmeren Jahreszeit acht bis zehn hölzerne Liegestühle aufgestellt waren, je nach Bedarf, allesamt mit einheitlich beigem Gradlleinen bespannt, deren Holz und Stoffe von der Sonne bereits ziemlich ausgebleicht waren. Über die gewaltige Freitreppe an der Vorderseite des Hauses aber gelangte man direkt in einen grün tapezierten Vorraum, der gleichzeitig auch als Garderobe diente. Von diesem Vorraum aus führten vier Stufen von weißem Carrara-Marmor in den großen Salon, der alle Voraussetzungen für ein gemeinsames, gemütliches Zusammensein, als ideale Kulisse für das allabendliche Bridge oder alle möglichen Arten gesellschaftlicher Zusammenkünfte bot. Wände und Decke waren in zart olivgrünem Putz gehalten, deren oberer Abschluss von durchgehenden, golden angehauchten Figurenreliefs unterhalb der Stuckdecke gebildet wurde, die im Laufe der Jahre ihren edlen Glanz bis auf die Reste freskenhaft wirkender Gebilde verloren hatten und – bemühte man etwas seine Fantasie, konnte man darin sogar ihre ursprünglichen Darstellungen aus der griechischen Mythologie wohl etwas genauer erkennen. Mit Sicherheit jedoch Götterreste, die nunmehr nur noch fragmentarisch über die Kräfte der Natur und über die Menschen herrschten, völlig losgelöst von ihren Familienbanden, durch den Zahn der Zeit ihrer Funktionen enthoben, in ihrer hierarchischen Ordnung vollkommen zerrüttet, verblichen. Zwölf göttliche Gestalten schienen es, in stereotyper Anordnung immer wieder abgebildet, zwölf und zwölf, und wieder dieselben zwölf. Manche besser, manche eben schlechter erhalten. Ein abgetakelter Zeus, eine Hera ohne Kopf, ein Poseidon ohne Dreizack, nur mit Stiel, und beinahe jeder Hermes ohne Flügel, bis auf einen, den an der Ostseite, im dunkelsten Winkel des Raumes.

Auf diesem Relief schienen sie sterblich, die Unsterblichen. Vergänglich, und ihre Ordnung, selig zu sein, frei von Krankheit und Tod, schien aufgehoben. Dem Menschen war es nicht möglich, zu ihnen aufzusteigen, und trotzdem gelang es dem Verwalter immer wieder, sich zu ihnen in luftige Höhen emporzuschwingen, um etwas von den immer wieder herunterhängenden Vergoldungen anzukleben. Dadurch wurde auch er unsterblich, durch den Nachruhm seiner waghalsigen Taten quasi, jedes Mal die schwankende Leiter zu erklimmen, wie er nur dem tapferen Krieger, dem tüchtigen Staatsmann oder dem begnadeten Dichter zuteilwerden konnte. Es waren nicht nur die Treppen, die Galerie, die teilweise um den Salon in zwei Meter neunzig angebracht war, mit Regalen versehen, in denen unzählige Bücher ihr Zuhause gefunden hatten, sondern auch einige Wandverbauungen mit eingebauten Borden aus oliv gefärbtem Ahorn, die dazu beitrugen, durch ihren homogenen Gesamteindruck jenes wärmende Gefühl zu vermitteln, wie nur Holz es vermag, und welches mit jenem der Geborgenheit am ehesten beschrieben werden kann. Wäre da nicht der großzügig angelegte Kamin gewesen, von grobem weißen Putz angeworfen, mit dunklen Holzbalken drum herum, der all dieser Pracht mit einem einzigen Blick den Rang abzulaufen vermochte, wobei sich die blassen Gesichter der Heilung und Erholung Suchenden regelmäßig bei dessen Feuerschein in unnatürlich gesundes Rot zu färben begannen, nur leider eine Illusion zwar, in manchen Fällen sogar vergeblich, gewiss - war dieser erst einmal entzündet, was an kühlen Tagen von allen Gästen durchaus gerne gewünscht wurde.

Obwohl nun diese Villa im Sinne secessionistischen Kunstdenkens in einer einheitlichen Grundkonzeption komponiert war, entstand durch-aus nicht der Eindruck einer einheitlichen Wirkung auf den Betrachter, sondern vermittelte, ganz und gar vielfältige, kraftvolle Stilvariante zu sein, die sich in allen übrigen Räumlichkeiten eigendynamisch entfaltete.

Inmitten also dieser architektonischen Pracht jenes postromantischen Salons pflegte Norman Moll seinen traditionellen Fünf-Uhr-Tee zu nehmen, alleine. Man war noch zu Anwendungen, und der gesellschaftliche Teil des Tages, besser gesagt, der des Abends, pflegte gewöhnlich erst gegen neunzehn Uhr seinen Anfang zu nehmen und konnte, ungehindert von Personal oder Verwaltung, oft bis tief nach Mitternacht dauern. Moll war der einzige Gast, der nicht der Rehabilitation wegen hierhergekommen war, ganz und gar nicht. Viel mehr zog es ihn bereits viele Jahre, beinahe magnetisch, auf der Suche nach Ruhe und aus Gründen der Erlangung vollkommener Kontemplation regelmäßig in dieses gastliche, vornehme Haus, wie etwa ausgedehnter Spaziergänge wegen, rund um den See, oder gar auf einen nicht allzu hohen Berg. Nicht jedoch zuletzt auch wegen des Klimas einer zu-meist hervorragenden Konversation, die sich ihm an bestimmten Zeiten des Tages wie auch der Nachtstunden stets darbot, des ewigen Gehens müde geworden, hingegen den Geist gefordert sehen wollend. Moll lehnte sich behaglich in einem cremefarbenen Samtfauteuil zurück, blickte, in einer seine abgenutzten Halswirbel schonenden Weise zur Decke empor und fühlte sich in dieser arkadischen Welt mit ihren Malereien, Skulpturen und bunten Glasfenstern, dieser Scheinwelt symbolischer Kunstideale künstlich geschaffener Götter, reinster Zynismus, dachte er nebenbei, dies obendrein in einem Land monotheistischen Glaubens, entrückt in ein Traumsein, was manchen Men-schen ebenso wiederfahren sein mochte, und welches sich seit Jugend schon in ihm manifestiert hatte, war es ihm manchmal geglückt, sich unbeobachtet aus dem alles tötenden Alltag fortstehlen zu können.

In dieser Situation erfasste ihn zumeist der innere Wunsch, ein Trieb beinahe schon, nach seiner Pfeife in der rechten Rocktasche zu greifen, italienischer Provenienz, um diese aus ihrem dumpfen Gefängnis zu befreien. Leidenschaftlich ertasteten seine Finger die rustizierte Struktur des Pfeifenkopfes, stets ritualisierter Berührungsablauf, und wenn es ums Design ging, schien den Italienern von je her stets das Hervorragendste gelungen, waren es Autos, Kleidung oder was sonst noch alles. Moll schätzte jene Pfeife ganz besonders und er wurde nicht müde, sie zu bewundern, sie täglich erneut zu berühren und in ihren Konturen zu erfahren, nicht zuletzt auch ihrer anthrazitenen Tönung wegen, die in ihm etwas wie die Wehmut eines verlorenen und plötzlich wiedergewonnen Horizontes auslösen konnte, hervorgerufen durch eine kleine, unscheinbare Farbauslassung am Ende des Holms, nussbraun schimmernde Lasur oder hölzerner Urgrund, dazu angetan, ihm jene süße Ahnung zu entlocken, wenngleich auch nur auf Dauer des Bruchteils einer Sekunde, ein schmaler Streifen bloß, zwischen dieser Stelle und dem Rest glänzendem Touch undurchdringlicher Steinkohle. Moll hatte sie erst vor kurzem geraucht, es war noch genügend Tabak darin vorhanden.

Geübt zog er das silberne Feuerzeug aus der schmalen Öffnung seines enganliegenden, silbergrauen Seidengilets, in der hehren Absicht, das pechschwarze Kraut darin erneut zu entflammen, welches, kaum mit dem Feuer in Berührung, sich sogleich aufbäumte in seinem Schmerz, um kurz darauf rubinrot zu erglühen. Nun galt es, die Intensität des Brandes zu bezähmen, die Rauchschwaden auf ein Minimum zu reduzieren, die Hitze einzudämmen auf ein erträgliches Maß, denn nur so konnte sich die angenehme Süße, das eigenwillige Aroma und der vollkommene Charakter dieser Mixture seinen Weg durch das Labyrinth von Molls Geschmackspapillen suchen, stets in der Hoffnung, stabiler, zumindest für eine bestimmte Zeit nachhaltiger Entwicklung der sich gleichmäßig ausbreitenden Glut entgegenzublicken. Diese zu bezähmen und zu hegen war sein Ziel, des Pfeifenrauchers innigstes Bestreben. Gleichzeitig aber lag der tiefere Sinn in der Ausprägung einer Disziplinierung, die Gifte, die ja wie Laster den Tugenden beigemischt sind, zu mäßigen, um sich ihrer, gewissermaßen als Trost, im ständigen Kampf gegen die Übel des Daseins zu bedienen.

Moll war verzückt vom Flair des Duftes, obgleich – selber zu rauchen bedeutete verminderte Wahrnehmung der Raumnote, die sich dem Passivraucher wesentlich intensiver, gleichsam als der wahre Charakter des Aromas in seiner ursprünglichsten Form offenbarte. Diese Tatsache war zwar bedauerlich, aber es störte ihn nicht weiter, hatte er immerhin das individuelle Vergnügen, warmen, wohlgeformten Holzes in seinen Händen. Darüber hatte er völlig die Zeit vergessen, nicht einmal das gleichmäßige Ticken der schweren Pendeluhr und deren Viertelschläge konnten ihn aus seinen Gedanken in die Nüchternheit des späten Nachmittages zurückholen.

So überhörte er auch das trockene Knarren der großen Flügeltür zum Salon, die sich vorsichtig geöffnet hatte, und eine schlankgewachsene Dame in glänzend grünem Chiffonkostüm hereinließ, das Haar leicht angegraut, ein weißes Leinenjäckchen über den Schultern hängend, ein Buch in der linken Hand, elfenbeinweiße Perlmuttohrklipse leuchteten kurz in einem vergessenen Sonnenstrahl auf. Sybilla Trinks dachte vorerst, Norman Moll hätte die Augen geschlossen und wäre etwas eingenickt, als dieser sich plötzlich zu ihr umdrehte und sie erstaunt ansah. Als hätte er eine Vision, und diese Frau schon – ja, als Kind schon irgendeinmal wo gesehen. Damals, 1961, als man in Gleichenberg zur Sommerfrische war. Er selbst mochte vier, oder fünf gewesen sein. So musste sie ausgesehen haben. Er war ja noch ein Knirps gewesen. Und sie - hatte sich zu ihm heruntergebeugt und ihn sanft geküsst. Unmöglich – das konnte nicht – seit damals waren fünfzig Jahre vergangen, da müsste sie ja... lächerlich! Da offenbarte sich ihm so plötzlich eine Erinnerung – einer Erscheinung gleich - und seine Hände streckten sich nach ihr hin und zogen sie sanft zu sich heran – er spürte nicht den leisesten Widerstand – er löste die Barrieren textilen Dazwischens, das sanft zu Boden glitt – transparent rosafarbenes Darunter – er berührte fremdes Gewebe - glasklare Tautropfen auf krausem Moos – ihre Achselhöhlen versandten Deoströme in heißen Wellen wiederkehrender Intervalle – dann trugen sie die Wogen der Leidenschaft hinaus aufs offene Meer der Lüste – spülte sie wieder an Land, um sie gleich darauf wieder in die offene See hinauszutragen – immer wieder – um schließlich jäh an den Strand geworfen zu werden.

„Sie haben schon zu Abend gegessen?“, fragte Sybilla Trinks freund-lich, und lächelte ihn an. Moll erschrak. „Nein - nein!“, sagte er leise, „ich war nur ein wenig – aber, so setzen Sie sich doch, bitte! Es ist noch niemand hier, wie Sie sehen, ich – bin der einzige.“ Sybille Trinks ließ sich auf das Sofa fallen. „Ach“, seufzte sie, „bin ich fertig! Ich komme eben von der Unterwassermassage. Es war viel zu warm dort drinnen. Waren Sie schon einmal...?“ „Nein“, winkte Moll ab, „ich bin nur zur Erholung hier, nicht auf Kur. Ich glaube, schon seit...“, er dachte kurz nach, „ich denke, schon acht oder neun Jahre sind es, dass ich hierher komme. Ich mag dieses Haus, das viele Grün, den See“, schwärmte er. Er legte seinen Kopf ganz zurück auf die Fauteuilkante und blickte zu den Göttern hinauf. „Waren Sie jemals in Gleichenberg?“ „In Gleichenberg? Nein“, lachte sie, „warum? Wie kommen Sie drauf?“ „Ach nichts, ich dachte nur...“, erwiderte Moll. Natürlich, wie dumm von mir - aber gleichzeitig bereute er, nicht schon eher gegangen zu sein. Nun war es zu spät. Seit er sie gesehen hatte, gestern, gleich nach seiner Ankunft schon – sie war ihm sofort aufgefallen - anmutige Grazie, dachte er – ich muss verrückt sein – ich kenne sie ja gar nicht. Wer weiß, welche Launen sie wohl haben mag – Frauen um fünfzig, ausgeprägte Persönlichkeit - sehr eigenwillig – vielleicht ist sie schon im Wechsel – sicherlich ist sie verheiratet!

Seine Augen suchten vergeblich nach dem verräterischen Ring an ihrer rechten Hand. Nichts! Vielleicht hatte sie ihn abgelegt, um ihn nicht zu verlieren, wer weiß – aber heutzutage war doch ohnehin alles egal. Eine selbstbewusste Frau tut sowieso, was sie tun muss. „Bleiben Sie am Abend hier?“, fragte sie. „Ich denke schon, vielleicht – spielen Sie Bridge? „Ich weiß nicht, ist schon lange her, dass ich... früher einmal, in Meran glaub’ ich. Ach, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob das Bridge war“, sagte sie ein wenig unsicher. Moll lächelte. „Ich bin kein guter Spieler“, meinte er, „es geht mehr darum, zusammenzusitzen, und ein wenig Ablenkung zu haben, sie verstehen?“ „Ja ja. Gestern haben sie uns ja noch nicht Gelegenheit gegeben“, sagte sie. Moll, dessen Blicke nie länger als er es ertragen konnte, in ihren grünen Augen verweilte, nahm sich vor, dieses Mal nicht auszuweichen und ihre etwas länger als bisher zu erwidern. „Ich war ziemlich müde von der Reise. Hab’ noch etwas gelesen, und dann muss ich wohl gleich eingeschlafen sein.“ Sybilla Trinks bestätigte nur mit Kopfnicken. Sie sah ihn längere Zeit an. „Hat man Ihnen die übrigen Gäste schon vorgestellt?“ „Flüchtig, flüchtig. Ich denke, es waren nicht alle. Überdies war noch Behandlungszeit, da sind sie alle weg.“ „Dann - haben Sie Herrn Rabitsch samt Gattin kennengelernt?“ „Nein, wieso?“ „Ich dachte nur, weil ...“. Sybilla Trinks hielt inne. „Was ist mit denen?“, fragte Moll, neugierig geworden. „Ach, nichts“, um nach kurzem Überlegen doch hinzuzufügen, „wissen Sie eigentlich, dass die seelischen Grausamkeiten viel ärger sind als die körperlichen?“

Moll wusste nicht, was er sagen sollte. „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Waren sie heute schon am See?“, fragte sie gleich darauf in ihrer erfrischenden Art, und blieb ihm die Antwort schuldig. Moll dachte nach. „Äh, ja, ja! Ich bin einmal herumgegangen. Hinten, auf der Seewiese habe ich auch eine Kleinigkeit gegessen, Bratwürstl! Und dann - bin ich in der Sonne gesessen, gelesen – geschaut – Leute beobachten, auch die, die aus dem Fährschiff gestiegen sind – meine Lieblingsbeschäftigung“, fügte er hinzu, „versteh’ überhaupt nicht, wieso die nicht zu Fuß gehen, bei dem herrlichen Wetter. Es ist doch alles eben, bis auf ein paar Wurzeln, die manchmal in den Weg hineinragen, aber sonst? Einigen von denen hätte es nicht geschadet“, bemerkte er. Sybilla Trinks tat ein Bein über das andere. Molls Fantasie, genährt durch unbewusst freizügig Geschaffenes, ergänzte das, was nur vermutbar war. Ihre zierliche Figur zeichnete sich noch stärker im grünen Chiffon ab als zuvor. Er wagte nicht, hinzusehen, stattdessen durchstreiften seine Augen unruhig den Salon.

Er tat, als wäre er nicht interessiert. Eine Lüge. Seine Gedanken berührten sie. Seine Hände glitten über den glänzenden Stoff - er fühlte die Wärme, die von ihrem Körper ausging - den kaum spürbaren Hauch ihres Atems. Aus dem Augenwinkel beobachtete er sie ganz genau, wie der Astronom, der indirekt sein Objekt betrachtet, um zwischen Phasen des Szintillierens, unruhiges Flackern in unterschiedlich warmer Luftschicht, hofft, für Sekundenbruchteile bloß, auch Deutlicheres wahrzunehmen. „Mein Gott, gestern – Sie haben ihn ja nicht mehr gesehen. Ist auch besser so, da haben Sie nichts versäumt. Er ist zu Mittag abgereist. Ein Russe.“ „Aha!“ „Ich kann Ihnen sagen, ein Egoist, ein Flegel, durch und durch! Völlig unbrauchbar für die Gemeinschaft! Schläft nach dem Abendessen in der Salatschüssel ein“, lachte sie. „Was?“ Moll lächelte ungläubig. “Also, nicht wirklich, aber beinahe! Die ganze Zeit über hat er nur telefoniert, sogar beim Essen, auf Russisch. Äußerst unangenehm! Es war wirklich störend, sag’ ich Ihnen. Wenn er wenigstens leise ...“ „Das kann ich mir vorstellen“, meinte Moll, „und was hatte der hier verloren?“ „Auf Kur! Jetzt entdecken sie Österreich! Und mittlerweile – ach ja, bald wird ihnen alles gehören, wenn es so weitergeht, vom Semmering bis Lech!“ „Ja ja“. „Geld hat bei dem offensichtlich keine Rolle gespielt.“ „Ich denke doch!“, lachte Moll. „Sie haben Recht. Es ging wahrscheinlich ausschließlich um’s Geld, das hat man gesehen. „Einer jener Sorte, der grundsätzlich nur am Eigennutz interessiert ist. Er hat mit niemandem von uns gesprochen. Nicht einmal gegrüßt hat er. Nichts! Kein Guten Morgen oder so, absolut nichts! Aufgewachsen in der Taiga, vermutlich.“

Moll hielt seine Pfeife in Händen, befühlte zum zehntausendsten Mal ihre Struktur. „Juri Poljewski!“, sagte Sybilla Trinks verächtlich. „Nun, ganz offensichtlicher Spross einer jener Klassen, bei denen die staatsmännischen Fähigkeiten so gut wie nicht vorhanden sind, und darüber hinaus in den Händen bloß einiger Weniger zu liegen scheinen, orientiert an der Vorstufe zur aufgeklärten Marktwirtschaft, wenn ich das richtig beurteile?“ Sie sah ihn erstaunt an und lächelte, sichtlich irritiert. Ach, mein einziger Trumpf, dachte Moll, einsame Fähigkeit subtiler Selbstdarstellung! Er, der Leptosom mit dem blassen Gesicht, fünfzig-plus, nicht-mehr-in-Frage-kommend, dem teilnahmslosen Blick, den allzu zarten Gliedmaßen, beinahe bizeps- wie auch trizepslos, schütteres Haupthaar, zumindest am Hinterkopf, Altersrundrücken, stets in der Hoffnung, seine schmalen, strengen Lippen allein wären befähigt, wortlos sogar, Signale seiner inneren Befindlichkeiten auszusenden, als Botschaften seines ständig umherirrenden Intellekts und seiner aufgewühlten Gefühlsfauna, den Ausdruck patho-logischer, seelischer Zerbrechlichkeit vermittelnd, ihr, der Göttin, mit den smaragdenen Lichtern, der feinen Nase, den - nun, nicht allzu zierlichen Füßen, den immerhin wunderschönen, ehemals dunkelblonden Haaren, zarten Schultern, die, vielleicht bloß eine Nuance breiter und - proportional zum zierlichen Becken - etwas überdimensioniert schienen, mehr, als das Ideal es ertrug. So gut wie keine Brüste! Moll war ohnehin kein Anhänger des Busenkults.

„Es fehlte am Benehmen“, sagte sie, „über das Know-How war nichts zu erfahren. Aber eines haben wir herausgehört...“. „Und zwar?“ „Dass er Technologie ein-kauft!“ „Ja, das tun sie alle.“ „Von irgendwoher muss das Geld ja kommen, mit dem er um sich geworfen hat. Zwanzig Euro Trinkgeld! Ich mein, die Trixi ist beinahe in Ohnmacht gefallen!“ „Wer ist denn die Trixi?“, fragte Moll. „Die Servierkraft. Haben Sie sie noch nicht gesehen?“ Moll schüttelte den Kopf. „Zwei Flaschen Pommery hat er alleine getrunken, an einem Abend!“ „Hatte er Besuch?“ „Selten. Oder doch! Ja, es gab so eine aufgeputzte Blondine. Ich weiß nicht ... die ist oft erst am Morgen wieder gegangen. Sie können sich denken ...!“ „Ja“. Moll setzte indes weiterhin auf indirekte Betrachtung des Objektes, welches oft völlig verwaschen und in dauernder Bewegung, ja, selbst in kurzen Abschnitten der Ruhe in ihren Einzelheiten nicht sicher erfassbar schien, eben jetzt, da Sybilla Trinks doch stark zu funkeln begonnen hatte, und allein die Stärke ihres Flackerns eine effiziente Einschätzung Molls wesentlich beeinträchtigte. Moll vermutete stark störendes Nebenlicht, was bei jeder Beobachtung stets vermieden werden sollte, etwa gar bei Restdämmerung, obwohl, Beobachtungen vor Mondaufgang durchaus zu empfehlen waren.

Kapitel 2

Das Ekel

Da! Da war es, das störende Nebenlicht, in Gestalt Bodo Rabitschs - eben zur Tür herein-gekommen! Jetzt blieb nicht mehr viel Zeit, über Angst nachzudenken, Sybilla Trinks könnte ihm, Moll, zuwenig Aufmerksamkeit widmen, dem Mann Norman Moll nämlich, und nicht bloß ihrem konversationellen Gegenüber. „Sie kommen oft mit unlauteren Mitteln zu Reichtum“, stellte sie sachlich fest, „guten Abend Herr Rabitsch“, begrüßte sie diesen. Rabitsch küsste das Händchen. Moll machte „kleinen Diener“, stellte sich kurz vor, um rasch noch einen Satz anzubringen: „ Ich meine, fahren Sie einmal auf der Ostautobahn! Man ist im Vergleich ein armer Schlucker! Aber, trotz allem, das Image von diesen Leuten ist miserabel, egal, von wo sie kommen. Man hört das ja überall, auch aus den Skigebieten. Sie werden alleine schon ihrer Herkunft und ihres Vermögens wegen skeptisch betrachtet. Damals, vor dem Fall des Stacheldrahtes..“. Sybilla Trinks begann plötzlich zu lachen. Aber Moll fuhr fort: „Also, bis vor einigen Jahren, da – hat man uns mit ihrer Anwesenheit verschont, bis auf einige wenige. Aber heute, jetzt - brauchen sie nicht mehr wie verrückt zu singen, Cello oder Schach zu spielen, nein! Heutzutage dürfen sie auch so ausreisen!“, dabei musste er lächeln.

„In Moskau hat man ihnen verboten, das Verb ‚erobern’ zu gebrauchen, wenn sie hier Geschäfte machen. Negativ konnotiert, Sie verstehen? – Vor sechzig Jahren haben sie bei uns schon einmal alles abgebaut und mitgenommen“, setzte er noch schnell nach, „ganze Industrieanlagen bringen sie derzeit in ihre Gewalt!“ Sie nickte. Rabitsch, der seinen Kopf vorerst etwas schräg hielt, um den hoch Interessierten zu mimen, hörte aufmerksam zu, noch aber schien die Zeit seines Auftrittes nicht gekommen, sodass er sich damit begnügte, nur verwundert sein Haupt zu schütteln. Sein dichtes, dunkles Haar war kräftig im Wuchs und an den Schläfen bloß leicht von weißen Strähnen markiert, trotz seiner siebzig Jahre. Moll hatte es sogleich neidvoll bemerkt. „Und ich sage Ihnen, mir hat der Kerl richtig Angst gemacht! Diese kurze Affenfrisur, mit den hohen Winkeln im Stirnbereich, die breiten Schultern, kurzer, stämmiger Nacken – und ganz besonders diese nach oben hin spitz zulaufenden Augenbrauen, dreieckig – mephistophelisch irgendwie! Immer im schwarzen Seidenanzug. Und dazu noch dieser stechende Blick, eiskalt, berechnend, so, als würde er andauernd irgendetwas auskundschaften wollen – und trotzdem so nichtssagend, ich weiß nicht“, sagte sie, „einmal abgesehen von den abstehenden Ohren!“ „Ja ja, der Rubel rollt langsam aber stetig nach Westen! Wir können seinen Feldzug nicht aufhalten. Wie sagte Ennius einst? Wie ähnlich ist uns doch das häßlichste Tier, der Affe – aber wieso stört Sie eigentlich die äußere Gestalt so sehr? Ich würde sagen, der Mensch besitzt doch immerhin auch Vernunft und Geist! Mag sein, dass es bei diesem Exemplar, von dem Sie erzählen, so ist, wie mit einem Baum, dem alles Überflüssige oder Nutzlose doch bloß hinderlich ist, nicht wahr? Ein Mann muss nicht immer schön sein, denken Sie nur daran, was Torberg über uns Männer verbreiten ließ!“ Sie schmunzelten.

Rabitsch schien keine Ahnung davon zu haben, wo von sie überhaupt sprachen. Er selber sagte noch immer nichts. Sybilla Trinks stand auf. „Ich denke, ich gehe einmal kurz nach oben – ein wenig frisch machen. Es ist noch Zeit bis zum Abendessen. Wenn Sie mich entschuldigen würden?“ Die beiden Herren erhoben sich. Sie stand auf, griff nach ihrer Badetasche und, eben in der Absicht zu gehen, wandte sie sich noch einmal Norman Moll zu: „Ach, es wird Ihnen nicht aufgefallen sein, aber ich heiße Trinks, Sybilla Trinks“. Moll errötete. Wenn er nicht schon gestanden wäre, er wäre wohl mit einem Satz aufgesprungen. „Mein Gott, es tut mir furchtbar Leid, ehrlich! Aber – unsere kleine Konversation war wohl so aufregend für mich, dass ich darüber beinahe – ja, wirklich sogar – gestatten Sie – Norman Moll.“ „Ich weiß, ich habe vorhin zugehört. Na dann, bis später!“ lachte sie. Rabitsch grinste bis zu den Ohren und verbeugte sich. „Gnädige Frau!“, rief er hinterher, dann rieb er sich die Hände und wandte sich Moll zu. „Sie sind gestern angekommen?“

In diesem Augenblick betrat Fräulein Trixi den Salon, zierlich, brünett, kurzes schwarzes Röckchen, weiße Bluse, rote Wangen, freundlich lächelnd und fragte artig: „Guten Abend, die Herrschaften. Haben Sie irgend-einen Wunsch?“ Das also war besagte Trixi, dachte Moll, der sich den Tee allein auf seinem Zimmer gemacht hatte, mittels Tauchsieder, und in den Salon mitgebracht hatte. Rabitsch blühte förmlich auf, seine Nase begann zu glänzen, die Augen traten aus ihren Höhlen, als hätten sie die Absicht, das junge Ding mit Haut und Haar zu verzehren. „Das ist lieb von Ihnen, mein Kind, vielleicht ein Achterl, ja? Bitte!“ Moll war wunschlos. „Nein, doch, vielleicht – einen kleinen Kognak. Vielen Dank!“ Fräulein Trixi schwirrte ab. „Herr Moll, Sie kommen aus Wien? Hör‘ ich sofort an der Aussprache. Sie waren schon öfter hier, ist ja auch eine schöne Gegend. Ich sag‘ ja immer, man muss die Zeit ausnützen, die schöne Jahreszeit meine ich, wer weiß, wie lange wir das alles noch genießen können? Stimmt‘s? Ach Sie rauchen ja, na, also kann es Ihnen nicht so schlecht .... ach, stimmt, Sie sind ja nur zur Erholung hier, hab‘ ich beinahe vergessen. Also ich hab‘ das schon lange aufgegeben! Führt ja doch zu nichts!“ Er lachte kurz auf. „Was haben Sie denn da für einen Tabak? Ah ja, kenn‘ ich! War ja nie Pfeifenraucher, im Büro - Sie verstehen, nur Zigaretten. Aber dafür von den Feinsten!

Haben Sie was mit der Hüfte? Gestern, als ich Sie kurz nach ihrer Ankunft flüchtig gesehen habe, hatte ich den Eindruck, Sie hinken? Sie gehen so schlecht, ist mir gleich aufgefallen. Wie ich immer zu meiner Frau sage, am besten gleich zum Arzt gehen, kann man sich viel Ärger ersparen. Bei wem sind Sie in Behandlung, wenn ich fragen darf? Professor Marian? Nein, der ist ja schon in Pension. Sein Nachfolger, wie heißt denn der?“ Moll winkte ab. „Na, ich kann mich auch getäuscht haben. Schade, dass das kleine Lebensmittel-geschäft nicht mehr existiert, da vorne. Sie machen alles kaputt, diese Bürgermeister. Alles verkaufen sie. Stellen zwei Supermärkte hin, einen am Ortsanfang und einen am Ende. Und dazwischen - nichts! Wenn man kein Auto hätte - warten sie nur, das kommt auch irgend-wann, wenn man eines Tages nicht mehr alleine gehen kann, Sie verstehen? Aufgeschmissen – völlig aufgeschmissen sind wir dann, Sie werden sehen! Und überhaupt, da wird ein Hotel nach dem anderen hingebaut, egal, ob es geht. Die EU gibt das Geld, solange eines da ist, und dann? Dann sitzen wir davor, vor den Ruinen! Ist doch so, oder? Was sagen Sie überhaupt zur neuen Gesundheitsministerin? Unglaublich das! Was sich Politiker heute alles leisten, na, das hätte es bei uns geben sollen! Gottlob sind meine Kinder schon erwachsen und müssen sich dieses Theater nicht mehr antun!“

Rabitsch zupfte seine gelb getupfte Schalkrawatte zurecht und sah Moll, Zustimmung erwartend, an. Dieser war bis jetzt nicht dazu gekommen, zu antworten, da waren aus dem Vorraum Stimmen zu vernehmen. Gleich darauf öffnete sich die Tür zum Salon. Fräulein Trixi brachte die Getränke. Hinter ihr betrat ein älterer Mann den Salon. Schwarzer Trachtenjanker, helle Hose. Die Haare, schon beinahe weiß, in langen Strähnen nach hinten gekämmt, kleiner, silbergrauer Oberlippenbart. Sofort sprang Rabitsch auf, buckelte und rief mit lauter Stimme, die Moll beinahe aus seiner Betäubung holte, in der er sich befand, seitdem er dem aufdringlichen Geschwätz Rabitschs bis jetzt rettungslos ausgeliefert war: „Verehrung Graf! Behandlung für heute beendet? Wie fühlen Sie sich?“, und zu Moll gewandt, „darf ich vorstellen? Graf Otto von Traunstein, Herr Moll aus Wien!“ „Angenehm, sehr angenehm!“, sagte der Graf, „gestatten Sie, dass ich mich zu ihnen setze, meine Herren? Mein Rücken ....“, und ließ sich mit einem lauten, gedehnten „Aaaahhhh“ in einen der umstehenden Fauteuils fallen. Auch Bodo Rabitsch setzte sich wieder. „Und, welches Leiden lassen Sie sich hier auskurieren?“, wollte Traunstein wissen. Moll, gerade im Begriff zu antworten, wurde sofort von Rabitsch unterbrochen: „Nein, nein! Herr Moll ist sozusagen nur Urlauber! Ha ha ha!“ „Ah, geh‘,“ tat der Graf erstaunt, „na ja, da kann man halt nichts machen, nicht wahr?“

Moll war irritiert. Er stand auf, verschränkte seine Hände hinten am Gesäß und schritt, scheinbar gelassen, auf die Terrassentür zu. Innerlich jedoch kochte er. Er hätte diesem Rabitsch am liebsten eine heruntergehauen, aber – man war ja wohlerzogen, und so schluckte er es hinunter, um stumm hinaus in die fortschreitende Dämmerung zu starren. „Also, der ein- zige Gesunde in unserem trauten Kreis, was?“, meinte der Graf. „Niemand ist so gesund, dass er nicht ab und zu einen Arzt braucht, hab‘ ich Recht?“, lachte Rabitsch frech, „letztendlich ist so eine Untersuchung nach zwei drei Stunden schon nichts mehr wert!“ Sie lachten. Molls Hände krampften sich zu Fäusten in seinen Hosentaschen, aber er lächelte nur, Blick in den Garten gerichtet, ohne dass es der Graf oder Rabitsch sehen konnten. Schließlich aber drehte er sich doch zu den beiden um, ja, ging sogar zu ihrem Tisch zurück und setzte sich zu ihnen. Rabitsch grinste. Der Graf machte die Handbewegung eines Platzanweisers, da saß Moll bereits. „Sind Sie Deutscher?“, fragte Moll. „Wer? Was? Ich? Nein! Wie kommen Sie denn da drauf?“ „Ach, ich dachte nur. Bei uns ist das ‚von‘ ja nicht üblich“, sagte Moll. „Uralte österreichische Familie, mein Herr!“, antwortete der Graf, „sollten davon schon gehört haben. Aber – ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Herr – äh, wie war doch gleich der werte Name?“ „Moll!“ „Ah ja, Herr – Moll.“

Rabitsch begann zu schwitzen und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch, auf dem in goldenen Lettern B.R. eingestickt waren, für jeden gut sichtbar. Er sah Moll streng an und erklärte: „Genau, das ist, worüber wir gestern Abend auch schon gesprochen haben, nicht wahr, Graf?“ „Eben! Schaun Sie“, begann Traunstein in väterlichem Ton, völlig entspannt, sonore Bassstimme, „im Grunde könnte mir das völlig gleichgültig sein, welcher Titel vor meinem Namen steht. Er steht ja ohnehin für sich! Und darüber gibt es überhaupt keine Debatte. Aber ein bisserl bin ich schon darüber derangiert, und es ärgert mich! Ja, es ärgert mich, dass die Leut‘ gleich so zurückschrecken davor, nicht wahr? Da wird so getan, als ob man sich dafür auch noch schämen müsst‘, so is‘ es!“ Traunstein beobachtete Molls Reaktion sehr genau, und Moll tat amüsiert über das, was er da hörte, jedoch überließ er dem Grafen das Wort. „Ich möchte sogar behaupten, dass es schließlich eine Verpflichtung ist, nicht wahr?“, fuhr der Graf fort, „seinem Namen eine gewisse Ehre angedeihen zu lassen, sag‘ ich immer.“ Und schließlich hat so ein Bürgerlicher keine Ehre im Leib, durchfuhr es Moll. Arthur Schnitzler fiel ihm ein. Nein, es musste Zivilist geheißen haben – auch egal. „Ehre? Was denn für eine Ehre?“, fragte Moll provozierend, obwohl er genau wusste, was Traunstein damit meinte. „Nun, unsere Vorfahren haben ja eine bestimmte gesellschaftliche Stellung innegehabt, und diese verpflichtet uns traditionsgemäß selbstverständlich auch heute noch, verstehen Sie?“

Moll nickte scheinbar verständnisvoll. „Mag schon sein“, erwiderte er, dem Grafen, „das war allerdings nichts Besonderes, denn innerhalb ihrer sozialen Gruppe haben sie sich ja gegenseitig immer wieder selbst ausgezeichnet und mit diversen Ämtern belehnt, wie wir alle wissen.“ Traunstein räusperte sich, er wurde etwas rot im Gesicht, während Rabitsch unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte und vom Rotwein trank, den Fräulein Trixi serviert hatte. „Herr, äh? – verzeihen Sie...“. „Moll!“ „Richtig! Herr Moll, ich erlaube mir trotzdem festzustellen, dass uns dieser Titel, auch wenn wir ihn im Sinne des sogenannten Adelsverbotsgesetzes nicht offiziell tragen dürfen, doch so etwas wie ein Privileg darstellt, nicht wahr?“ In diesem Augenblick wurde die Salontür heftig aufgestoßen, und Anna, der gute Geist des Hauses, Mittelding zwischen Krankenschwester und Zimmerfrau, gleichsam Mädchen für alles, stürmte herein: „Herr Rabitsch, verzeihen Sie, schnell, Ihre Frau – ein Asthmaanfall. Sie ist oben in ihrem Zimmer!“, stieß sie atemlos hervor, und war auch gleich wieder zur Türe hinaus. „Dass man nie seine Ruhe hat, mein Gott!“, klagte Rabitsch und verdrehte die Augen. Er erhob sich gemächlich. „Sie hat ja ohnehin ihren Inhalator mit, kann sie denn nicht...“, und zu Traunstein und Moll gewandt, bemerkte er: „Ich weiß nicht, gestern auch schon – geht halt manchmal ein bisserl zu rasch, so etwas. Da kann man halt nichts machen. Keine Ruh‘ hat man, wenn man einmal gemütlich beisammen sitzen könnte, was?“, lachte er und verließ den Salon.

Moll und der Graf sahen sich wortlos an. Vom ersten Stock her drangen Geräusche trockenen Hustens zu ihnen herunter, heftiges Räuspern. Dann Stimmengewirr. Rabitschs lautes Organ – dazwischen wieder Husten. Diese schreckliche Ahnung einer Atemnot, die aus dem ersten Stock durch den Stuck der Decke strömte, begann Norman Moll mit Angst zu erfüllen. Er trank rasch einen Schluck Kognak, den er bisher noch nicht angerührt hatte und ertappte sich dabei, plötzlich selber an Sauerstoffmangel zu leiden, ja, beinahe das Atmen zu vergessen - begann plötzlich die Panik drohenden Erstickens am eigenen Leib zu erfahren, vielleicht aus Solidarität mit Rabitschs bedau-ernswerter Gattin? Es verengten sich ihm bereits die glatten Muskeln seiner vom Tabak gereizten Bronchien, deren innere Schichten zu schwellen begannen – zähen Schleim absondernd - die Atemwege schienen enger und enger zu werden, Moll musste sich anstrengen . Ein- und Ausatmen gerieten zur Qual - er stützte seine Arme in die Hüften, um leichter Luft zu bekommen. „Ist Ihnen etwa nicht gut?“, fragte der Graf besorgt, der Moll beobachtet hatte. „Wie? Äh – nein, nein! Es ist nichts.“ Da endlich tat der Kognak seine ersehnte, muskel-entspannende Wirkung.



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