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Inhalt: Nicht genug, dass Arno Schmidts Ehe in Trümmern liegt, verliert er auch noch seinen Job und leidet an Burnout. Seine einzige Stütze in dieser schweren Zeit ist ihm sein Freund Caro Ass, wären da nicht noch einige Freundinnen, die ihm über die schwerste Zeit hinweghelfen und seine Idee, aus seiner rührseligen Geschichte einen Roman zu machen, erschiene ihm der Stoff dafür nicht derart banal.
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Norbert Johannes Prenner
Wir sind Unikate, Mann
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Impressum neobooks
Wir sind Unikate, Mann
Roman
Norbert Johannes Prenner
Wie alles anfing
Als würde der Herr des Universums, selbst verwirrt durch die unendlichen Weiten des Weltalls mit seinen Aber- und Abermillionen von Sternen und Planeten in der endlos scheinenden interstellaren Materie auf seinen unergründlichen Wegen auf uns unglückselige Erdenwesen vergessen haben, dachte Arno, als er die Zeitung, in der er soeben mit mehr oder weniger großer Aufmerksamkeit gelesen hatte, beinahe verzweifelt über die Flut der mutlos machenden Berichte und Statistiken, in denen nur von Preissteigerungen und negativen Zukunftsprognosen, von politischer Freunderlwirtschaft und unverschämten Abfertigungsplänen von Managergehältern aus mühsam abgezweigten Steuertöpfen, dem Verschleudern des Budgets gewissermaßen der letzten Wochen und Monate die Rede war, sinken ließ. Wie konnte das passieren?
Hätte der Schöpfer nicht längst lernen können aus all‘ dem Elend, den Intrigen, den Kriegen der letzten Jahrhunderte und Hungersnöten auf den Kontinenten, den Festländern und den Inseln, den glückseligen und weniger glückseligen, und sollte es immer so weiter gehen mit den Ausbeutern und den Ausgebeuteten und dem endlosen Stillen der Wunden, der seelischen und der körperlichen, wenn wir schon nicht selbst daraus gelernt haben? Ist nicht einmal genug damit, oder hatte sich der Chefdesigner dieses geheimnisvollen Kosmos tatsächlich zurückgezogen, sich aus der Verantwortung gestohlen, wenn er sie überhaupt jemals übernommen hatte, was in manchen Fällen zu bezweifeln sei, meinte Arno, und er gedachte der letzten Weltkriege, des 11. September und des Tsunami, und er dachte an den Vietnam- und Irakkrieg, und an den Konflikt in Tibet und an die EM, die noch bevorstand und überhaupt.
Und waren bis dato nicht Tonnen von Papier beschrieben worden, mit weisen Sprüchen und Ratschlägen an die kommenden Generationen, mit dem Auftrag, ihr sollt es besser machen als wir, man wäre wieder einen Schritt weiter gekommen im Umgang mit uns selber, wir zeigen euch, was wir falsch gemacht haben, macht ihr es besser, hieraus führt ein Weg den wir euch beschreiben und so fort, begann er sich zu fragen und ließ die Zeitung seine Beine hinab gleiten, wo sie auf dem schwarz-weiß gekachelten Fußboden liegen blieb, ohne dass er überhaupt Anstalten gemacht hätte, sie aufzuheben, zu sich heranzuziehen um weiter darin lesen zu wollen. Wie hatte ihm neulich Professor Wasner geraten? Sie sind zu anspruchsvoll, lieber Freund, als ihr Gespräch auf gegenwärtige Literatur gekommen war. Sie rechnen nicht mit dem gewöhnlichen Publikum, sondern meinen, alles Geschriebene müsste an eine Elite gerichtet sein.
Irrtum! Ihre Erwartungshaltung in dieser Sache ist zu hoch, um nicht zu sagen, schlichtweg überzogen. Das, was Sie vom gängigen Schrifttum erwarten, kann als Postulat, nennen wir es eine notwendige Annahme, wenn es überhaupt ein solches gegeben hat, in der Tat nicht erfüllt werden, weil seine Funktionalität eine andere geworden ist. Und was hatte er noch gesagt? Das ehemalige Postulat der Literatur, die Bestellung kritisch-moralischen Bodens, läge nun in der Option, nachdem ihre politische Funktionsbestimmung obsolet geworden sei, in gewisser Weise freigestellt zu sein, ja, sich sogar in tendenziösen und wechselhaften Gegenläufigkeiten üben zu dürfen, wie sie es in einer offenen Gesellschaft zu tun gewohnt wäre. Sie müssen Literatur in einem völlig anderen Licht sehen als Sie es bisher gewohnt waren, in einem anderen Licht!
Arno stützte sein Kinn in seine linke Hand, in jene mit der Narbe, die er sich zugezogen hatte, als er als Kind, um einen unbedeutenden Graben zu überwinden, diesen übersprungen und, um nicht zu unsanft auf der anderen Seite aufzukommen, sich mit dieser Hand abgestützt hatte um den Fall zu bremsen, just dort, wo eine alte Glasscherbe unsichtbar, weil flaschengrün und gut getarnt aus dem hohen Gras ragte, welche sogleich eine böse Wunde, einen tiefen Schnitt sozusagen, sichtbar für alle Zeiten, der längs durch seinen Daumenballen gegangen war, hinterlassen hatte. Er betrachtete die helle, vom Daumen hin zur Pulsader gezogene Narbe, und mit einem Mal schien alles in seiner Vorstellung plötzlich so gegenwärtig und klar, wie damals alles ausgesehen hatte, der feuchte Graben, davor die hohe Linde, an die hundert Jahre alt, die mittlerweile gefällt worden war, um das Verbreitern der Straße zu gestatten, das Haus, in dem sein Freund bis zum heutigen Tage wohnte.
Die Kirche und die Schule vor dem Platz, sicht- und greifbar, als wäre alles wirklich. Nur der Platz selber, Schulhof seinerzeit, war nicht mehr lehmig und aufgeweicht vom Dauerregen der letzten Wochen, sondern säuberlich asphaltiert und eingezäunt, mit Rastern weiß gekennzeichnet als Stellplatz ständig wechselnder parkender Fahrzeuge. Kein Kind durfte hier spielen, nicht so wie früher, als man bis in die Dämmerung hinein umher tollen durfte, ungestört, nicht verjagt von einer Technik, die ursprünglich der rascheren Fortbewegung dienen sollte und dieses Verhältnis sich im Lauf der Zeit längst umgekehrt hatte und der Mensch dem Dämon der Mobilität hinterher hetzte, schon lange nicht mehr ausschließlich, um aus irgend einem Grunde von da nach dort zu gelangen, nein, oft schon allein bloß um des Fahrens Willen.
Oft gar nur dem Rausch der Geschwindigkeit folgend, als sich sein Blick nach Sekundenlanger Zeitreise plötzlich wieder zu klären begann, sich die Vorstellungen dieser Erinnerungen in Nebel aufzulösen begannen und er wieder nur auf die schwarz-weißen Kacheln am Boden starrte. Als Kind hatte Arno stets an den Wahrheitsgehalt alles Geschriebenen geglaubt, wobei er sich die infantile Ehrfurcht davor sehr lange, ja, als Erwachsener sogar noch bewahrt hatte, wie alles, was gedruckt war, für ihn von ungemein wichtiger Bedeutung schien, unumstößlich, für die Ewigkeit gemacht, von Menschen, die sich ihrer Verantwortung darüber, wenn darauf bestanden wurde, das Unumstößliche darzustellen, voll bewusst waren. Umso enttäuschter schien er, als sich auch diese Vorstellung von der Existenz einer für alle gültigen Wahrheit als unerfüllbare Traumvorstellung entpuppt hatte und heißem Dampf gleich sich zu verflüchtigen anschickte.
Und er, vielleicht später als andere, die ernüchternde Entdeckung gemacht hatte, dass es mit der Übertragung von Wahrheit und ihrer Wirklichkeit nicht weit her sei. ganz besonders aber fürchtete er seither das Dogma des Boulevards und seines Diktates, nicht nur das für den kleinen Mann, mit dem eine Art Verpflichtung zur Lektüre einherzugehen schien, wie auch zu Texten des täglichen Gebrauchs, und diese Texte schrien ihn an, stachen ihm ins Auge, sobald er sie, wenn auch bloß flüchtig, überflogen hatte, so leuchteten ihm einzelne Passagen aus dem Schriftbild hervor, als wären sie in Signalfarbe gedruckt, Stellen zumeist, die das Normative eines halbwegs logischen vernünftigen Satzes überschritten hatten und das Außerordentliche signalisierten, Wichtiges in ihrem Leuchten transportierten, wie Arno glaubte.
Was über das Syntaktische hinausging und dem Semantischen zuzuordnen war, jener Beziehung zu dem, was zwischen den Zeichen und ihrer Bedeutung mitgeliefert worden war. Für Arno eine Welt, eine Luftbrücke zwischen dem schalen Alltag und jenseits aller Dumpfheit unselektiven Konsumierens von Werten, welche im Ranking ihrer Wichtigkeit für ihn tagtäglich zunehmend an Bedeutung zu verlieren begonnen hatten. Aber es war auch eine Welt, dachte Arno, eine Welt in der er leben musste, mit Menschen, die ihresgleichen wie Tiere in Kellern zu halten pflegten, aus Gründen niederster Triebbefriedigung, oder aus Angst, sie könnten ihnen weglaufen oder vor lauter Einsamkeit, oder einfach nur, wie man sich eben einen Hund hält, in einem Land, in dem die Lüstlinge und die Voyeure die Schlagzeilen diktierten, die Schlüssellochgucker, die Scheinmoralisten und Abzocker.
Die Ehrabschneider und Selbstbeweihräucherer und die Besserwisser, die Gutestuer und Schlechtredner und solche, die über andere gerne urteilten und sie belehren wollten, ohne dass sie jemand danach gefragt hatte. Ein Land, in dem ganz einfach immer schon alles möglich war, auch das Unmögliche. Arno riskierte einen vagen Blick auf die am Boden liegende Zeitung und tat, als ob er gar nicht die Absicht hätte, weiter darin zu lesen jedoch - er konnte gar nicht anders, als den Buchstaben folgen, die ihn in immer engere Schluchten und Geröllhalden neuer Absätze führten, auf denen er hinab glitt bis ans Ende der Seite, wo er schließlich verwundert darüber seinen Kopf schüttelte, dass das alles geschehen konnte, was eben bisher geschehen war und man einander nicht helfen konnte es zu verhindern, was zu verhindern Wert gewesen wäre, um das Versäumnis nachzuholen, diese Welt zu einer besseren gemacht zu haben.
Zeitvertreib
Und ich dachte, wir sind dich los, Mann? lachte Caro. Arnos persönlicher Seelenarzt und zog heftig an seiner Zigarette. - Irrtum! Das hättest du dir so gedacht, wie? Arno holte sich den Stuhl näher ran und setzte sich.- Was liegt an? Hast du nasse Socken oder hat dich deine Herrin wieder einmal verlassen? - Herrin! Was heißt hier Herrin? Hat es jäh den Anschein gegeben, als stünde ich unterm Pantoffel?, grinste Arno.- Aber Schiss hast du, gib’s zu, versuchte Caro ihn in die Ecke zu drängen. - Constance ist eine Frau, die eben weiß, was sie will. Und das ist nicht unbedingt etwas Negatives. Oder findest du? Und überdies ist sie in Paris. Dienstlich. - Na, dann geht es uns ja prächtig. N‘ Bier, oder was Stärkeres?- Noch zu früh. Einen Verlängerten, aber schwarz bitte, rief er der Kellnerin zu.- Hätt‘ ich auch gern, brummte Caro in sich hinein. - Hast du heute keinen Dienst, fragte Arno.- Doch, fünfzehn Uhr. Dienstag. Heißt ja schon so.
Die Caro Ass Show. Direkt über’s Ohr in die Haut gespritzt, du kennst mich ja!- Ja, sagte Arno beiläufig, Kraftradio, ich weiß! Er nahm eine Zigarette aus dem Päckchen, welches er in der linken Hemdbrusttasche bei sich trug und zündete sie an. Die Kellnerin, ein Typ mit blonden Haaren, Arschgeweih und tiefer gelegter Hose, stellte das Tablett unsicher auf den kleinen Tisch, den Hintern, den die engen Jeans kaum noch zu verdecken mochten, Caro zugewandt, der nie eine Gelegenheit auszulassen schien hinein zu starren, auf das zarte Pfirsichartige, was sich ihm hier bot.- Fall nicht gleich rein, grinste Arno, als sie weg war.- Hast du das gesehen? Hast du das gesehen, Mensch? raunte ihm Caro aufgeregt zu. Ich spinn‘ doch am hellen Tage! Da muss ich …Er war aufgesprungen und der Serviererin nachgeeilt. Arno beob- achtete, wie er sie ansprach. Aus ihrer Mimik und Gestik war zu erkennen, als wäre sie von dessen Charme ganz offensichtlich beeindruckt.
Die Buchung war geglückt und Caros Konto im Plus. Siegessicher kehrte er an den Tisch zurück. Denise! seufzte Caro, ich werde in einer Denise sein. Ohohoho! Ich werde ihr Höhlensystem erforschen. Jaaa, Mann, ich bin doch im Grunde ein wissenschaftlicher Typ! Übrigens, immer schon gewesen! Nicht waahhr?, fügte er flüsternd hinzu.- Weißt du, was du bist? Ein haltloser Triebtäter. Aber ich kann‘s dir nicht verübeln. Diese Welt ist nun einmal so. Und wir beide werden sie auch nicht ändern, oder?, und sie lachten.- Also, erzähl schon! Wo bist du gewesen? Arno überlegte kurz, nahm einen Schluck Kaffee und sagte dann: Eigentlich war ich gar nicht weg. Ich hab‘ mich einfach in meinem Loch verkrochen.
Einmal abschalten, du verstehst? Ach übrigens, ich bin gefeuert!, fügte er emotionslos an.- Ah! entfuhr es Caro. Und mit welcher Begründung?- Nun, man ist mit meiner Arbeit nicht mehr zufrieden, das ist der Grund. Außerdem haben sie ein paar Neulinge an Land gezogen, die besser wären als ich, tatsächlich! Und überdies müssen sie denen weniger zahlen, und anschaffen lassen sie sich auch leichter als unsereins. Hat was, nicht? Und darüber hinaus braucht man mir dadurch weniger Abfertigung zahlen, wenn sie mich jetzt loswerden, du verstehst?- Merkwürdige Gesellschaft, grinste Caro. Die Arbeitsämter platzen aus allen Nähten, es gibt keine Jobs, die Älteren schmeißen sie vorzeitig raus. Was für eine Scheißwelt! Man sollte den Politikern und den Typen auf den Führungsebenen die fetten Löhne streichen und die Kerle in Arbeitskleidung stecken, damit sie am eigenen Leib erfahren, was eine Tretmühle ist, erzürnte er sich.
Arno lehnte sich entspannt zurück. -Trotzdem lass‘ ich mir meine gute Laune davon nicht verderben. Nun habe ich endlich wieder einmal Zeit für mich, sagte er.- Und? Was wirst du tun?- Vorläufig einmal nichts. Das muss ich erst lernen. Nach fünfundzwanzig Jahren Müh‘ und Plag ist man so was nicht gewohnt, glaube mir. Stumm starrten sie eine Zeit lang durch die große Auslagenscheibe vor ihrem Tisch auf die belebte Straße. Ein Tag wie jeder andere. Warum nicht? Besondere waren selten. Also musste man sehen, wie man mit diesem zurechtkam. Arno durchbrach die Stille. - Es haben sich einige Kunden beschwert, meinte er emotionslos.- Wie ich immer zu sagen pflege, man kann es niemandem Recht machen, reagierte Caro gelassen. Ich spüre selbst schon den Stiefel in meinem Rücken. Es gibt einen neuen Programmdirektor. Auch so ein junger Spund.
Kommt hier hereingeschneit und denkt, er müsste den ganzen Sender mit seinen schwachsinnigen Ideen revolutionieren. Denkt, er is´ was Besonderes. Denkt ohnehin ein jeder von sich! Im Grunde hat er keine Ahnung vom Tuten und Blasen. Na ja, vom Blasen vielleicht, so wie der aussieht, die kleine Tunte, hähähähä!, machte er, und verzog dabei den Mund. Arno schien momentan weit weg in Gedanken. Caro verfolgte Denise mit lüsternen Blicken die sie zu erwidern schien, wenn sie von Tisch zu Tisch schwebte. Er war sich seiner Sache todsicher und zündete erneut eine Zigarette an Plötzlich zog er seinen Notizblock aus seinem Sakko und schrieb ein paar Sachen auf.- Fällt mir eben ein, wandte er sich Arno zu. Die haben gesagt, wegen des bisschen Cadmium und Quecksilber sollte man sich in Qingdao nicht ins Beinkleid machen, es gibt Schlimmeres.
Das sollten unsere Grünen hören, was? Blöd ist nur, wenn du dort ins Wasser fällst. Das Gelbe Meer heißt angeblich deswegen so, weil man davon Gelbsucht kriegt, wenn du hinein fällst, hähähä. Arno gähnte. - Echt! Ich möcht‘ dort nicht segeln gehen. Colibakterien, Enterokokken, Pseudomonas aeruginosa und solche Sachen schwimmen da drin herum. Pfui Teufel! Schlecht könnt‘ einem werden. - Musst ja nicht kosten davon, meinte Arno gelangweilt.- So hör‘ doch! Weißt du, was Kentern ist? Bist du jemals gesegelt? Ich sage dir, man ist schneller über Bord, als man denken kann. Ich schwör’s dir, dass dich die eigene Mannschaft eher ersaufen lässt, als dich so verseucht wieder an Bord zu holen, echt!- Spinn nicht! entgegnete Arno kühl.- Mit dir hab‘ ich es heut‘ nicht leicht, nein, nicht leicht, Mann, stöhnte Caro.
Arno angelte sich eine Tageszeitung und blätterte darin. - Treu sein, das kann ich nicht, summte Caro leise vor sich hin, Denisens Tätowierung über dem Hintern scharf im Auge behaltend, und meinte, die Zigarette nach Humphry Bogart Art im Mundwinkel: - Die Jugend heutzutage ist doch völlig verblödet, was? Fragt neulich eine Redakteurin einen Typen, hej Mann, auf dem Plakat da draußen steht, der Joint ist indisch, die Liebe französisch. Was heißt das? Und? Was antwortet der? Keine Ahnung Lady, ich bin Religionsstudent und völlig zu. Sagt irgendeine Tussi hinter ihm, das ist vielleicht OK, wenn einer Joints mag! Hähähähä, ticken die noch richtig? Die können nicht mehr denken, sag‘ ich dir. Keine Ahnung von, wie unser Lateinprofessor zu sagen pflegte, der alte Nazi, Arno, was ist? Bist du noch bei dir? Übrigens, kennst du den?
Ein Girl nennt ihr Baby Kolibri. Fragt ein Bekannter, hey du, was is´n das für´n Name? Sagt sie, das kommt daher, dass ich nicht weiß, ob es vom Kohlenhändler, vom Lichtkassier oder vom Briefträger ist. Hahhahaha!, und er bog sich vor Lachen.- Sehr witzig! Arno atmete tief durch, legte die Zeitung weg und wandte sich seinem Freund mit den Worten zu: Caro Ass, ich sag‘ dir was, sterben möchte‘ ich vor Langeweile, tot umfallen. Wieso machst du nicht einmal eine ordentliche Kultursendung? Könnte ihr nicht ein bisschen kritischer sein in der Auswahl eurer akustischen Dauerbombardements? Ein wenig Wetter, ein bisschen Verkehr, der Rest bloß unnötiges Geschwätz über dies und jenes. Ihr glaubt wohl, euer Publikum besteht ausschließlich aus Idioten, oder? - Ja, das glauben wir, lachte Caro. Die Anrufe bestätigen unsere Programmauswahl, ehrlich! Was willst du eigentlich von mir?
Soll ich Oper machen oder was? Du hast keine Ahnung, was die Leute wollen! Wir richten uns danach, was verlangt wird, verstehst du?- Und das wird verlangt? Das kannst du mir nicht erzählen. Vierundzwanzig Stunden lang Schwachsinn, Mann? - Immerhin, man kann auch abschalten!- Ach ja, sagte Arno leise. Diese Option hätt‘ ich beinah vergessen. Mit einem Handzeichen machte er sich der Serviererin bemerkbar, die sogleich herbeieilte, und bestellte nun doch vorsichtshalber einen Prosecco. Was war von diesem Tag noch zu erwarten? - Sag‘ ich ja! Du hast nichts zu verlieren? Ich bin von vier bis fünf auf Sendung. Danach kehren wir hierher zurück, schnappen uns Denise- Mäuschen und fahren mit ihr hinaus ins Grüne. Oder? - Mich lass‘ aus dem Spiel. Hast du gestern den Film mit der Dingsda gesehen?- Zufällig. Zwischen Geschirrabwaschen und Staubsaugen, lachte Caro.- Ich bin entsetzt, sagte Arno.
Was muss ein Drehbuchautor für einen Stress haben, in ein einziges Drehbuch so viel gesammelte Scheiße zu packen, wie einem nicht einmal in ein paar aufeinanderfolgenden Leben widerfahren kann? Abgesehen von der Arroganz der Hauptdarstellerin, noch dazu ständig die berühmte Mama kopieren zu wollen. Peinlich das Ganze, echt. Ein so ausgeklügelter Mist wird auch noch verfilmt! Es überrascht einen nicht mehr, dass die eigene Mutter mit dem zukünftigen Bräutigam der Tochter pennt, dass die Rivalin ermordet und die Leiche verbrannt wird, das schicke Töchterlein nebenbei auch noch schwanger ist, selbstverständlich eine schwierige Schwangerschaft, klar! Und das alles in einem einzigen Film, ich halt’s nicht aus! Und ich finde den Aus-Knopf nicht! Caro grinste und sah Arno von der Seite an. - Du solltest dir deine Erregtheiten bis übermorgen aufheben, wenn Constance wieder zurückkommt. Findest du nicht? bemerkte er zynisch.
In der näheren Umgebung
Das Haus, in dem Arno wohnte, stammte aus den Aufstiegsjahren zur Metropolstellung dieser Stadt, einer Zeit, in der ebenso die zweite Hochquellenwasserleitung als auch die Stadtbahn erbaut worden war, die längst dem modernen U-Bahnprojekt Platz gemacht hatte und deren rote Zuggarnituren in seiner Erinnerung ebenso rasch auf- und untertauchten, wie sie in den zahlreichen im Oberbau geführten Teilabschnitten auch schon wieder in den unergründlichen Katakomben ihrer Tunnelöffnungen verschwunden waren, höhlenartige Löcher der legendären Stadtbahnbögen, in die er als Kind stunden-, ja, tagelang gestarrt hatte wenn es der Regen nicht zuließ, dass man auf die Straße durfte, um darauf zu warten, wann denn endlich der nächste Zug aus dem gespenstischen Backsteindunkel auftauchen würde, dem immer ein sirrendes Geräusch und erst wellenartige Bewegung der Oberleitung vorausgegangen waren, was ihn aufs Äußerste zu fesseln vermocht hatte.
Dieses Haus hier aber hatte zwei Weltkriege überlebt, relativ unbeschadet, friedlich eingebettet zwischen Barockem und Gründerzeit, mit vier Erkern auf die Straße vorn raus und einem feuchten, dunklen Garten an der rückwärtigen Front und nicht nur dieses, sondern die meisten ihrer Bauart standen in krassem Gegensatz zum plötzlichen Paradigmenwechsel der Zwischenkriegszeit und ihren Wohnbauprogrammen, so wie jener Gemeindebau mit Durchhauscharakter an der Ecke der Quergasse, trauriges Relikt profanen Strukturdenkens. Diese Gasse also, alles andere als verkehrsberuhigt, bot mit seinen kleineren Häusern in diesem Abschnitt ein beinahe ländliches Wohngefühl, mit dem Obst- und Gemüseladen, dem Frisörladen, der Trafik und immer denselben Menschen, denen man täglich begegnete.
Arno genoss die Nähe dieser Menschen ebenso wie die der City und ihren zahlreichen Parks, die Nähe der Bildungs- und Kultureinrichtungen mit ihren Angeboten, die er von Zeit zu Zeit auf seine Weise für sich zu nützen pflegte. Die Wohnung in jenem Hause, in der zuvor ein jüdisches Ehepaar gewohnt und in derselben ein stattliches Alter erreicht hatte, und, nachdem die nationalsozialistische Gemeindeverwaltung es sich auf geniale Unart erspart hatte, ihre angekündigten Wohnbauprogramme auch durchzuführen, indem sie ganz einfach die Wohnungsnot durch die Vertreibung der Wiener Juden eben auf ihre Art gelöst hatte, dieses Ehepaar also dem Holocaust Gott sei Dank entgangen war, schien ihm günstig zu sein, dazu noch großzügig angelegt, mit Stuckdecke und dreifenstrigem Erker, Wohn- und Nebenzimmern, Küche und WC, jedoch ohne Badezimmer ausgestattet.
Nachdem Arno eingezogen war, hatte er einen Benjamin in den Erker gestellt, der begierig seine Äste nach allen Seiten der Fenster ausgebreitet hatte, so, als wollte er ihm zeigen, wie wohl er sich hier fühlte und seine Arme nach dem Licht ausstreckte, welches das geräumige Wohnzimmer mit seinen schräg einfallenden Strahlen in sanftes Hell tauchte, zumindest an den Vormittagen, denn gegen Mittag verabschiedete sich die Sonne stets hinter dem hohen First des Vis-avis-Hauses und breitete ihre Schatten behutsam erst über den Teppich, dann über den Esstisch und den roten Samtfauteuil aus, von wo aus sie langsam bis hin zur Vorzimmertür krochen und den sonst so hellen Raum in Augen schonendem Rosa zurückließen, reflektierten doch vorwiegend die Rottöne der Überwurfdecke der Couch wie auch der roten Gardinen ihren Teint an die weißen Wände, ebenso wie an die Stuckdecke.
Arno liebte diese Lichtspiele ganz besonders an den im April und Mai häufiger werdenden Sonnentagen und er konnte sich nicht daran satt sehen, ja, es kam sogar manchmal vor, dass er gerade wegen dieser Spiele seine Aufmerksamkeit beim Lesen verloren hatte und sich dabei ertappte, wie seine Augen bloß den Sonnenstrahlen folgten, ähnlich wie die dünnen Ästchen des Benjamins, und auch er streckte sich dann und hob die Arme empor, die ihm vom Halten der Lektüre oft schon zu ermüden begonnen hatten, um gleich danach wieder den Zeilen jener Stelle des Textes zu folgen, den er vor sich auf den Oberschenkeln aufgebreitet hatte. Das Vorzimmer hingegen war in Dunkel gehüllt, vom engen Lichthof gegen die Sonnenflut abgeschottet, beinahe düster im Gegensatz zum glänzenden wohnzimmerlichen Überschwang und barg zwei große Wandschränke unter ihrem rundbogenartigen Deckengemäuer, in denen Arnos Garderobe ausreichend Platz fand, denen aber im Laufe der Zeit auch die Aufgabe zuteil geworden war, intimste Geheimnisse vor den Blicken allzu Neugieriger hinter wohl verschlossenen Türen zu beherbergen, wie etwa einige lichtempfindliche Whiskeysorten oder den Familienschmuck, der besser in einem Safe aufgehoben worden wäre.
Jedoch in diesem Punkt war Arno seit je her zu wenig umsichtig gewesen, trotzdem aber, bis zum heutigen Tag, vor unliebsamen Überraschungen verschont geblieben. Arno, kaum sonderlich am Leben anderer interessiert, als ausschließlich an seinem eigenen, er, der stets in der Kompliziertheit seiner nicht enden wollenden Gedankenwelten verstrickt schien, hatte in erster Linie ein Verhältnis zu Büchern, und dann noch eines mit Constance Jäger, und er liebte Constance Jäger, Übersetzerin, vierunddreißig, mittelblond, und bildhübsch, ein Tatbestand, der auf Gegenseitigkeit beruhte, von Anfang an, wie er glaubte. Liebe auf den ersten Blick, könnte man sagen.
Constance war für ihn - das Leben, zu dem er selber nicht, es ohne sie zu leben, imstande gewesen wäre. Hätte ihn der griechische Dichter Nikos Katzantsakis gekannt, würde er vielleicht Kopf schüttelnd über ihn gesagt haben: „Verstehe, zu viele Bücher!“, und hätte vielleicht gelächelt. Für Arno wäre das kein Grund zur Heiterkeit gewesen, denn Bücher waren nun einmal sein Lebensinhalt, waren für ihn das Salz des Lebens. Constance Jäger hingegen war ihm die Wonne, die sein Dasein versüßte, mit ihrem Lächeln, mit ihren wundervollen schmalen Hüften, der weichen, samtigen Haut, ihren warmen, vollen Lippen, die sie beim Küssen um die seinen, schmäleren, zu stülpen pflegte, als wollte sie ihn aufessen, ihn in sich aufsaugen, ganz, mit Haut und Haaren.
Und Arno ließ es geschehen, willenlos, ekstatisch, bis zur Erschöpfung, aus kürzester Distanz, wie bei einem Duell. Er pflegte, unter ihr und mit ihr aus Leidenschaft zu sterben. Tausende Male schon! Und er würde es noch tausende Male wollen. Constance war um Einiges jünger als er und seit längerem verreist. Seit Wochen schon wartete er mit Sehnsucht auf ihre Rückkehr aus Paris.
Vom Anspruch an die Welt da draußen
Arno hatte sich damit abgefunden, dass er von Zeit zu Zeit auf Constances Anwesenheit verzichten musste, weil sie oftmals beruflich im Ausland zu tun hatte. Er hatte sich in seinem langen Leben auch damit abgefunden, dass die Dinge einfach geschahen und die Welt ihren Lauf nahm, und dass darüber geschrieben wurde. Somit schien diese Welt für Dichter geradezu geschaffen.
Alles, dachte Arno, ist Material für sie, und sei es noch so tief, oder so trivial, so tragisch oder eben komisch. Es wäre alles nur eine Frage des ästhetischen Momentes, oder einer gewissen Lehrhaftigkeit seiner Pragmatik. Thema war alles und die Zeiten der Eingrenzung positivistischen Kerkertums ein für alle Mal vorbei. Die Umsetzung der Stoffe unterlag keinen Zwängen mehr, moralisierend zu sein, oder allzu logisch, zu rational, nein, es war möglich, über alles zu schreiben, ob das über gebrauchte Tampons war oder über angebrannte Milch, und es wurde gedruckt, egal, ob es sich auch verkaufen ließ. Auf den Versuch käme es schließlich an und Arno hatte Constance oftmals über die Schultern geblickt, um zu sehen, was sie denn gerade übersetzte und hatte aufgehört, sich zu wundern, was er an Texten zu lesen bekam.
Manchmal kam ihm in den Sinn, ob es nicht so etwas wie eine vergleichbare Anatomie der Dichtung geben könnte, und ob sich daran eine Technologie ihrer Disziplinen ablesen ließe, denn im Großen und Ganzen kam ihm alles so vor, als handle es sich dabei bloß um den Versuch einer Vereinfachung der Darstellung unübersehbarer komplexer Wirklichkeiten durch Abstraktion. Jedoch, bei genauerer Überlegung meinte er, dass man ja doch nur eine Art literarisch geografische Tabulatur erstellen würde, im schlechtesten Fall mit chronologisch aneinander gereihten, uninteressanten Scheußlichkeiten unterschiedlicher Einzelschicksalhaftigkeiten. Trotzdem könnte man dabei vielleicht lediglich nur eine genetische Richtung verfolgen, vielleicht mit dem Ziel, die organische Entwicklung der Thematik zu beobachten, auf der Suche nach dem tatsächlichen biologisch literarischen Leben?
Der Mensch, dachte Arno, ist schon ein undurchsichtiges, unberechenbares Geschöpf, und gefährlich, mit Waffen ausgerüstet, mechanischen, geistigen, ein Wesen, welches sein letztes Geheimnis nicht verrät, rätselhaft, nicht kalkulierbar, und wenn er es gern sein möchte, dann ist er es immer mit Vorbehalt. Keiner kennt sich so gut, als dass man sich selber nicht immer wieder zu überraschen imstande wäre. Ein Mensch gebiert immer nur einen Menschen, einen noch nie da gewesenen, glauben wir, ein Individuum, nicht so wie beim Rind, das eben bloß irgendein Vieh ist, für den Acker bestimmt, oder zum Verzehr. Wir sind Unikate, Mann, dachte Arno, und darum machen wir so viel aufheben um uns, nehmen uns so wichtig, weil wir so einzigartig sind.
Jeder von uns ist eben anders. Aber es gibt auch scheckige Kühe, helle, dunkle, schwarze und so weiter. Wir aber denken unterschiedlich, sprechen unterschiedlich, und bilden uns ein, die Vielfalt der Originalitäten darzustellen. Wir schreiben auch unterschiedlich, wenn wir nicht gerade von einander abschreiben, und einiges davon gilt als Literatur. Anderes wiederum nicht, weil es dem Zeitgeist nicht entspricht, oder dem Normativen, oder dem Spekulativen. Arno dachte an Constance und an die Stapel Manuskripte auf ihrem Schreibtisch. Unveröffentlichtes, ungelesen, nicht eingereiht in den Kanon der Erwartungshaltungen. Das Gegenwärtige verlangt stets nach dem Neuen, danach, was wirksam ist, Wert messend ist, und je gewaltiger es ist, verschlüsselter, oder vulgärer, desto zeitgemäßer ist es.
Aber um seine Wirkung zu testen, muss es allerdings erst gelesen und verstanden werden und – es sollte möglichst vielen gefallen, denn schließlich ist es ein Geschäft, das, mit den Büchern, wenn auch kein so bedeutendes wie jenes mit dem Öl. Das Merkwürdige dabei ist, dass sich so viele an der Beurteilung beteiligen, die interpretieren, beschönigen, kritisieren, verleumden, ohne selbst auch nur eine einzige Zeile versucht zu haben, flüsterte Arno halblaut vor sich hin, was wird hier nicht alles verfälscht und umgelogen! Und er schüttelte nachdenklich den Kopf. Ist es erst einmal niedergeschrieben, hat man eine tote Quelle vor sich, und findet sich nichts Neues, wird sie ganz einfach uminterpretiert. Basta! Arno ließ von Constances Manuskriptstapel ab um es dem Besuch, der sich seit Längerem schon angesagt hatte, so bequem wie möglich zu machen und er hatte eingekauft.
Wurstaufschnitt, Kaffee, etwas Obsttorte, Cognac und einen schwereren französischen Rotwein. Professor Wasner war ein Feinschmecker und schwer zufrieden zu stellen, wenn es um’s Essen ging, auch dann, wenn es sich bloß um eine Kaffeejause handelte, und es blieb selten bei einer solchen, denn danach kam der Appetit, und Professor Wasner hatte immer Appetit, und dann wurde also die Wurst gereicht und was sonst noch so da war, und schließlich wurde der Rotwein aufgemacht, nachdem Wasner immer umständlich darauf zu verweisen pflegte, um Gottes Willen, machen Sie den nicht wegen mir auf, das kennt man ja schon, überdies wollte Arno selbst einen Schluck trinken, und dann gab’s immer noch ein Schlückchen Schärferes und so weiter und es wurde geredet, solange, bis man sich wieder einmal in ein Thema verbissen hatte, wobei es meistens bis gegen Mitternacht ging.
Jedenfalls hatte sich Arno dementsprechend vorbereitet und sich wirklich Mühe gegeben, den Tisch im Esszimmer einigermaßen angemessen zu gestalten, aber tief in seinem Innersten musste er sich neidlos eingestehen, dass Constance ohnehin alles besser gemacht hätte, keine Frage, allein schon die Auswahl des Tischtuches, vom Arrangieren des Gedeckes bis hin zum Tischschmuck gar nicht zu reden, und überdies hatte sie Wasner schon allzu oft verwöhnt, was die Sache natürlich zusätzlich erschwerte und ihm dadurch die Latte ziemlich hoch gelegt worden war. Nun also läutete es an der Tür und Arno lief hin, um sie zu öffnen und Wasner hereinzubitten. Dieser, höflich wie er war, wollte sich sogleich seiner Schuhe entledigen, wie immer dasselbe Spiel, nein, lassen Sie sie an, wirklich, es ist ohnehin trocken draußen, das macht gar nichts und Wasner wiederum, aber ich bitte Sie, das macht doch keine Umstände, und ließ sie an, wie immer.
Arno bat ihn mit einer galanten Geste ins Wohnzimmer. Wasner trat ein, setzte sich auf immer denselben Stuhl, obwohl Arno einen anderen vorbereitet und sogar schon vom Tisch etwas zurecht geschoben hatte, aber Wasner verweigerte diesen und setzte sich partout auf jenen, auf dem er eben immer saß, gerade auf den, der immer im Weg stand, wenn man in die Küche musste. Arno war es zu dumm. Er entschuldigte sich, er hätte nur kurz in der Küche zu tun, und eilte rasch dorthin, nicht nur um nach dem Kaffee zu sehen, der gottlob noch nicht durch den Filter geronnen war, sondern um sich rasch ein Glas kaltes Bier zu genehmigen, ohne dieses die Konfrontation mit Wasner für ihn unmöglich durchzustehen gewesen wäre. Wenn doch Constance hier wäre! Arno wirkte etwas verloren. Er zündete sich rasch eine Zigarette an und rauchte in hastigen Zügen, sodass ihm leicht schwindelig wurde und er sie, nur ein Viertel davon genossen, gleich wieder ausdämpfte. Constance, der Engel, hätte mittlerweile in der Küche gewirkt, während er lässigen Disput mit Wasner hätte führen können.
Aber so – zu dumm, dass er diesen Termin nicht hatte verschieben können. Außerdem war er Constances Eroberung, dieser Professor. Aber was konnte man tun? Jetzt war es zu spät. Er packte alles auf das Serviertablett und jonglierte den ganzen Plunder ins Wohnzimmer, wo Wasner sich bereits über eine offen gelassene Literaturzeitung gestürzt hatte und Arno bereits ahnte, was jetzt kommen würde. Zeit, sein Plädoyer vorzubereiten, hatte dieser ja genug gehabt. Doch nichts. Offensichtlich hatte Wasner heute noch nichts gegessen denn er wandte sich dem Obstkuchen in einer Art und Weise zu, als ginge es um ein Wettessen. Arno begnügte sich mit etwas schwarzem Kaffee und wartete, bis von Wasner das Signal zum Sprechen kam.
Diesmal dauerte es länger als sonst, möglich, dass Constances Abwesenheit daran schuld war und er sich mehr gehen ließ, als wenn sie hier gewesen wäre. Als das Mampfen schließlich doch ein Ende gefunden hatte und Wasner den Kaffee, der noch viel zu heiß gewesen sein musste, hinuntergeschüttet hatte, lehnte er sich genüsslich zurück und ermunterte Arno mit den Worten, nun, mein lieber Freund, Sie müssen auch etwas essen, finden Sie nicht, und Arno schüttelte artig den Kopf und meinte, er wäre vom Mittagessen noch so voll gewesen, was überhaupt nicht stimmte und glatt gelogen war, denn es hatte überhaupt kein Mittagessen gegeben. Egal. Wasner begann die übliche Einleitung mit einem „nicht wahr“, und dann kam eine lange Pause, und darauf folgte, es könne nicht sein, dass Literatur zu dem verkommt, was sie eben jetzt wäre, nicht wahr, nämlich Tagebuchliteratur, wie er sie nannte, und dann folgte noch ein „nicht wahr“.
Arno blieb zurückhaltend, was wiederum der Professor für sich nutzte, um fortzufahren, was in diesem Jahrhundert nicht schon alles für Unsinn geschrieben worden wäre, denken Sie an die Ekstase des Expressionismus, sagte er höhnisch lächelnd, die den Glauben an den neuen Menschen zunichte gemacht hat, nicht wahr? Und vor lauter Nüchternheit und Distanz ist sogar die Sprache dabei zu kurz gekommen. Nur ja nicht pathetisch sein, also das wäre ja ganz gegen den Zeitgeist gerichtet gewesen. Ist ja heute auch noch so, wagte Arno einzuwerfen und prüfte, die Lippen spitz, Pfeifen andeutend, den Status seiner Fingernägel. Mitnichten, lieber Freund, mitnichten! Aber wissen Sie, was ich an der heutigen Literatur vermisse? Arno schüttelte den Kopf. Ich werde es Ihnen sagen, es ist die Skepsis, die Selektion oder wenn Sie wollen, eine bestimmte Ideologie der heutigen Schriftsteller, wenn es darum geht, die sogenannte Wirklichkeit darzustellen, nicht wahr?