Der blaue Koffer der Familie Samosch - David Dambitsch - E-Book

Der blaue Koffer der Familie Samosch E-Book

David Dambitsch

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Beschreibung

Dieses Buch zeichnet die Geschichte einer jüdischen Familie von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der 1970er-Jahre nach, die Geschichte moderner Europäer, die aufgrund von Antisemitismus und nationalsozialistischer Herrschaft aus ihren Lebensentwürfen gedrängt, ihrer Habe, ihrer Heimat und teilweise ihres Lebens beraubt wurden. Das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, wurde sogar noch im Nachhinein relativiert und infrage gestellt. Während des NS-Regimes teilten sich die drei Cousins Fritz, Walter und Hans die Besitzrechte an der Familienbuchhandlung im damaligen Breslau. Walter lebte zu der Zeit schon im damaligen Palästina, Fritz floh in die Niederlande, wurde im KZ inhaftiert, aber dank des Mutes seiner österreichischen Frau gerettet. Hans wurde zum Verkauf der Buchhandlung gezwungen, floh mit seiner Ehefrau ebenfalls in die Niederlande, beide wurden von dort deportiert und schließlich für tot erklärt. Nach dem Krieg entsteht ein Briefwechsel zwischen Walter und Fritz. Es geht darin um das Überleben und um Lastenausgleich für das verlorene Geschäft. Doch auch der Käufer der Buchhandlung unter dem NS-Regime hat Ansprüche auf Lastenausgleich gestellt. Dieser Streit währt bis Ende der 70er-Jahre, als Walter längst gestorben ist und Fritz schon aufgegeben hat. Vertreter der Täter und der Opfer kommen in Briefen zu Wort.

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David Dambitsch

Der blaue Koffer der Familie Samosch

Briefe und Erinnerungen

David Dambitsch

Der blaue Koffer der Familie Samosch

Briefe und Erinnerungen

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Onkel Fritz

Samosch Sämtliche Bücher

Buchhandlung N. Samosch im 19. Jahrhundert

Fritz, Walter und Hans – Kindheit und Jugend der dritten Generation

Zwischen Wien und Breslau – Wege als Buchhändler

Shoah und Krieg

Entrechtung

Verfolgung

Keine Stunde Null

Briefe 1956–1965

Briefe 1958

Nach dem Krieg

Nachwort

Dank

Anhang

Verzeichnis der Familienmitglieder

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Endnoten

Impressum

Dem Andenken vonFritz und Hans Samosch, Walter Samoschund der gesamten Samosch-Familie gewidmet.

Für Silke, Sophie mit Christopher,Nava Rose und Levi Aaron undHannah Dambitsch mit Dario Schmock.

»›Nein!‹, nie soll ein anderes Kind durchleben müssen, was ich durchleben musste, Kindheit, ›Nein!‹, tobte, brüllte es in mir, es darf nicht sein, dass diese Kindheit ihm – dir – mir widerfährt, ja, und damals fing ich an, meiner Frau meine Kindheit zu erzählen, vielleicht auch mir selbst, ich weiß es nicht, […]«1

Aus: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind,Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest

Vorwort

Als eine Kette in der jüdischen Tradition kennt David Dambitsch den biblischen Auftrag, der für die jährliche Feier des jüdischen Pessachfestes von zentraler Bedeutung ist: Erzählt euren Kindern die Geschichte des ersten Beispiels von Judenhass, Diskriminierung, Vertreibung und Flucht aus dem Ägypten des Pharaos, wo die Juden jahrhundertelang sicher und geachtet waren. Diese Geschichte gipfelt in der Erteilung von Vorschriften, die für alle gelten sollen. Im weiteren Sinne vertrauten die Juden im Vorkriegseuropa darauf, dass das Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch für sie gelten würde.

Sachor, die Aufgabe, sich an die Geschichte der Verfolgung und des jüdischen Lebens zu erinnern, ist von zentraler Bedeutung für die jüdische Tradition und für die Art und Weise, wie Juden ihre Geschichte erleben. Ele Esskera: Ich werde dieser Menschen am Schabbat und an jüdischen Fest- und Gedenktagen gedenken, ganz gleich, wie lange sie gelebt haben. Sie sind Teil der gelebten jüdischen Erfahrung des letzten Jahrhunderts, und sie leben in der Erfahrung der Generationen weiter, die nach der Shoah geboren wurden, wie David Dambitsch. Er erzählt ihre Geschichte, bevor sie verloren geht, verpackt in den Koffern von Menschen auf der Flucht. Im Hebräischen ist das Wort für Geschichte nicht zufällig Toldot, »Generationen«, verbunden durch eine persönliche Geschichte, die Teil eines größeren Ganzen ist. David Dambitsch hat die Aufgabe, die Geschichte seiner Verwandten zu erzählen und sie damit dem Vergessen zu entreißen, für seine Kinder und alle seine Leser:innen hervorragend erfüllt.

Als engagierter Journalist mit 40 Jahren Berufserfahrung, ist David Dambitsch in der Lage, genau die Fragen zu stellen, die den Interviewpartnern die Möglichkeit geben, eine Geschichte zu erzählen. Er hört gut zu, er ist gut vorbereitet, er recherchiert Fakten und Hintergründe. Wenn man seine Interviews hört oder nachliest, entdeckt man Erzählungen, die überraschen und neue Perspektiven eröffnen. Zusammen sind sie nun selbst Geschichte geworden. Wie wir von Herodot, dem Vater der Geschichtsschreibung, wissen, ist Geschichte letztendlich eine Sammlung mitreißender Erzählungen, für die man Quellen hat, in schriftlicher Form oder aus mündlicher Überlieferung. Eine Geschichte, die Neugierde auslöst.

In Der Blaue Koffer der Familie Samosch tut er genau das, wenn er die wechselvolle Geschichte seiner jüdischen Vorfahren erzählt. Die Familie liebt Bücher, genau wie der Autor. Seine Familie war jüdisch und natürlicher Teil einer zentraleuropäischen Gesellschaft. Die Erzählung beginnt im 19. Jahrhundert in Breslau, damals Hauptstadt von Deutsch-Schlesien und heute Wroclaw in Polen. Sie reicht bis in die Gegenwart mit den Kindern und Enkelkindern. Die Shoah gibt der Geschichte eine dramatische Wendung. Gewissheit weicht Flucht und Vertreibung, Ghettos, Durchgangs- und Konzentrationslagern. Die Überlebenden landen in Amsterdam, Palästina, den Vereinigten Staaten und Deutschland. Sie gestalten ihr Leben neu, wobei sie meist vergeblich versuchen, ihr geraubtes Eigentum wiederzuerlangen.

Vor neunzig Jahren, im Mai 1933, wurden in ganz Deutschland Bücher verbrannt, und wo Bücher verbrannt werden, werden am Ende auch Menschen verbrannt, wie Heinrich Heine im Zusammenhang mit der Verfolgung von Muslimen im mittelalterlichen Spanien schrieb. Das Schicksal von Davids Onkel Fritz, Buchhändler und Bücherfreund, bestätigt die Worte Heines – wie im Buch nachzulesen. Haben Fritz Samosch und seine Cousins Hans und Walter die Erzählung Buchmendel von Stefan Zweig oder das Werk von Joseph Roth gekannt? Es sind die Lieblingsautoren des Verfassers, die beide den aufkommenden Sturm beschrieben und genau wie die Samoschs die Flucht ergriffen. David Dambitsch ist der Chronist einer bewegenden Familiengeschichte.

Rabbiner Edward van Voolen, Berlin 10. Mai 2023

Einleitung

In diesem Buch geht es um moderne Europäer, die aufgrund von Antisemitismus und nationalsozialistischer Herrschaft aus ihren Lebensentwürfen gedrängt wurden. Sie wurden ihrer Habe, ihrer Heimat und teilweise ihres Lebens beraubt. Das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, wurde im Nachhinein relativiert und infrage gestellt.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen fünf Cousins aus zwei jüdischen Familien des aufstrebenden Mittelstands vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Verbunden sind die Fünf durch den jungen Buchhändler Fritz Heinrich Samosch. Der Wiener erbte zusammen mit seinen zwei Cousins aus der Familie seines Vaters in Breslau eine Buchhandlung. Auch zur Familie seiner Mutter hatte er ein herzliches Verhältnis und sah sogar auch seinen jüngsten Cousin regelmäßig in Berlin, wo sein Onkel als Richter arbeitete. Doch dieses bürgerliche Leben von Fritz, inspiriert durch die neuen internationalen Ideen in den Bereichen von Kunst und Literatur, geriet immer weiter in den Strudel nationalsozialistischer Verfolgung und riss alle Menschen aus seiner Umgebung schließlich mit sich. Nach dem Krieg musste er dann erleben, wie unrechtmäßig geschaffene Tatsachen letztendlich akzeptiert und zur Grundlage für die Nachkriegsordnung wurden.

In diesem Buch wird die Geschichte einer jüdischen Familie aus Breslau (heute: Wroclaw) von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1970er-Jahre erzählt. Für die Bürger im Wroclaw von heute ist es ein verschüttetes Erbe, doch erzählt es viel von Sentiments, die fortwirken, die die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte zu Recht belasten, die bis jetzt unausgesprochen bleiben. In einem vereinten Europa muss dieses Thema zur kulturellen Verständigung gehören.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die Familie Samosch im Buchhandel tätig. Ihr Geschäft lag an der Ecke Szewska-/Kolarskastraße, wo heute ein Plattenbau steht. Als Wroclaw noch Breslau hieß, hatte das Geschäft die Doppeladresse Kupferschmiedestraße 13 und Schuhbrücke 27. Das Haus selbst war 1843 fertiggestellt worden. Der legendäre Theaterkritiker Alfred Kerr gehörte zu den Nachbarskindern:

»Die Erinnerung an bunte Glasfrüchte haftet mir aus der frühesten Kinderzeit. Auch an einem Fenster›Tritt‹ mit meiner Großmama, in der alten Schubrücke. Der Duft aus den Chemikalienfässern in diesem ersten Wohnhaus. Und salzige Tränen über einen Leierkastenmann, an dem wir dort beim Spaziergang vorbeischritten, ohne dass man ihm was gab. […] Als wir in der Schubrücke wohnten, besaß mein Vater in dem alt-hübschen Hause Ring Nr. 7 seine Weinhandlung. Anfang der siebziger-Jahre zogen wir in den neuen Teil Breslaus, an die stolzeste Stelle, gegenüber dem Stadttheater, Schweidnitzer Straße 27. Dort hab’ ich meine schönste Kindheit verbracht.«2

Während des NS-Regimes teilten sich die drei Cousins Fritz, Walter und Hans Samosch die Besitzrechte an dem Familienunternehmen. Walter, der Zionist, lebte damals bereits im damaligen Palästina, heute Israel. Fritz lebte in Wien, floh in die Niederlande, wurde im KZ Westerbork inhaftiert und dank des Mutes seiner österreichischen Frau gerettet. Hans wurde in Breslau zum Verkauf der Buchhandlung gezwungen, floh über Wien ebenfalls in die Niederlande, wurde von dort nach Sobibór deportiert und am 14.5.1943 für tot erklärt.

Nach dem Krieg schrieben sich Walter und Fritz regelmäßig Briefe zwischen Holland und Israel. Es geht darin um das Leben nach dem Überleben und um Lastenausgleich: Der deutsche Staat zahlte nämlich allen Heimatvertriebenen eine Geldsumme für Flucht und erlittene Schäden. Doch für Fritz und Walter gab es ein Problem. Der Profiteur des unter den Nazis erzwungenen Verkaufes hatte ebenfalls Ansprüche auf Lastenausgleich an die Behörden gestellt. Rechtlich vertreten durch die Heimatvertriebenenverbände ging der Streit bis Ende der 70er-Jahre. Da war Walter schon gestorben und Fritz hatte längst aufgegeben. Für Walters Witwe Sara war Breslau weit weg.

Onkel Fritz

Wenn man als Kind in eine Familie hineingeboren wird, nimmt man erst einmal alles als selbstverständlich und gegeben hin. Dann, während des Prozesses des Heranwachsens, beginnt man von sich auf andere zu schließen und stellt im günstigsten Fall ziemlich schnell fest, dass diese Vorgehensweise immer zum Irrtum führt.

Dass meine Familie irgendwie anders war, habe ich während meiner Grundschulzeit im West-Berlin der 60er-Jahre schnell festgestellt. Wer nämlich damals seine Tanten und Onkeln selten sah, hatte Verwandte »drüben« in der DDR, oder die Eltern scheuten das stundenlange Warten an den Grenzkontrollpunkten nach Westdeutschland.

Keiner meiner Mitschüler hatte allerdings – so wie ich – Verwandte in New York, Paris, Mailand und den Niederlanden. Von denen hatten sich die einen in den Staaten überhaupt erst kennengelernt, die anderen waren nach einer überstürzten Eheschließung aus dem zerbombten Berlin nach Frankreich geflohen, nach dem Krieg emigriert oder noch während der Zeit des NS-Regimes auf der Flucht durch Europa irgendwo gestrandet.

»Halbjüdisch« hatte man die »Rasse«kategorie genannt, die die Nazis für meinen Vater und seine Schwestern erfunden hatten. Das bedeutete für ihn und seine Geschwister die Unmöglichkeit, ein Abitur oder ein Studium zu absolvieren oder einen sogenannten »Arier« oder eine »Arierin« zu heiraten. Im Berlin des NS-Regimes hieß das auch, beständig Angst zu haben, doch noch deportiert zu werden oder wegen geringster Vergehen Unglück auch über alle anderen zu bringen. Dass ich also eigentlich auch viele jüdische Verwandte hatte, wusste ich damals nicht mit Gewissheit, sondern nur ungefähr. Mein Vater hatte mir von der Familie nur im Allgemeinen erzählt.

Mit dem Wort »Krieg« verband ich deshalb auch schon früh Geschichten: Mein Vater erzählte von auf der Flucht erschossenen Freunden, von Hunger, Angst und Versteck. Vieles wurde nur angedeutet, rutschte ihm eher heraus, als dass er es wirklich beschrieb. Schon als Kind wusste ich um die Lücken im Hinblick auf meine Informationen. Als ich mich dann später als Jugendlicher dazu entschloss, Journalist zu werden, ist mir diese Erkenntnis geblieben. Sie begleitet mich bis heute. Das vorliegende Buch ist das Produkt jahrzehntelanger Recherchen, und dennoch blieb vieles offen. Es waren wirre Zeiten.

Fritz Heinrich Samosch3, Cousin meines Vaters, einziges Kind der einzigen Schwester meines Großvaters, lernte ich nur einmal persönlich kennen. Die Familie feierte gerade die Hochzeit einer Cousine. Man hatte alle aus ganz Europa in ein Landstädtchen in Holland eingeladen. Die Sonne schien, man saß auf den üblichen Gartenklappstühlen der 70er-Jahre zusammen, aß, trank und unterhielt sich. Ich selbst war damals 16 Jahre alt und hatte natürlich auch schon von Onkel Fritz gehört. Er war 25 Jahre älter als mein Vater. Den damals 74-Jährigen erlebte ich als zierlichen, gepflegten, grauhaarigen Mann.

1 | Fritz Heinrich Samosch, sein Neffe David Dambitsch und dessen Vater Wilhelm bei einem Familientreffen in den Niederlanden, 1975

Zeitlebens, so wusste ich, hatte er schlecht sehen können, was ihn nicht davon abgehalten hatte, der Literatur sein Leben zu widmen. Er sprach leise, ohne Akzent, weder holländisch noch wienerisch, was ich damals für selbstverständlich hielt. Fritz hatte nach dem Tod seiner ersten Frau eine sehr viel jüngere Frau aus Indonesien geheiratet, voller Wärme, Charme und Humor umhegte sie ihren Mann. Überhaupt gingen alle sehr respektvoll und vorsichtig mit Onkel Fritz um. Bei dem Fest erzählte man sich gegenseitig Anekdoten von früher, von den Sommerferien in Potsdam während der Weimarer Republik, die die Familie jedes Jahr gemeinsam in der Villa der Generalleutnant-Witwe Anna von Hertzberg, einer befreundeten Adelsfamilie, verbracht hatte. Man sprach von dem vergangenen Lebensgefühl vor den Toren Berlins, behütet in wirtschaftlich abgesicherten Verhältnissen. Sogar mein Vater, der sich selten beeindrucken ließ, schaute ein bisschen zu seinem älteren Cousin auf: Als Buchhändler war dieser unendlich belesen, zehn Sprachen soll er fließend gesprochen haben. Es war ein fröhliches Zusammensein. Man erzählte an diesem langen Wochenende nichts vom Krieg, von den Toten, dem Unrecht der Zeit. Doch ich wusste es bereits. Fritz war etwas Furchtbares geschehen, irgendetwas im Konzentrationslager.

Wir sollten uns nicht wiedersehen. Mit 16 Jahren beginnt das eigene Leben und man sucht seine eigenen Wege. Zwar hörte ich durch meinen Vater immer wieder von Onkel Fritz und Tante Daisy, doch die Scheidung meiner Eltern ließ über Jahre hinweg alles, was mit Familie zu tun hatte, nicht mehr an mich heran. Als Onkel Fritz im Jahr 1983 starb, kondolierte die Berliner Restfamilie Tante Daisy nur noch per Brief, nach Holland machte sich keiner mehr auf. Das Interesse am Leben meines Onkels, meiner Familie insgesamt, wurde schließlich zu einer der Motivationen, mich journalistisch mit den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und deren Folgen zu beschäftigen.

Jahre vergingen. Ich gründete selbst eine Familie, mein Vater starb. Ich veröffentlichte mein erstes Buch Im Schatten der Shoah – Gespräche mit Überlebenden und deren Nachkommen. Dann klingelte eines Tages das Telefon. Ein älterer Mann aus Aachen war am anderen Ende der Leitung – damals sprach man noch analog miteinander – und fragte, ob ich tatsächlich David Dambitsch sei. Ich bestätigte ihm noch einmal meinen Namen und erfuhr, dass er im Auftrag von Daisy aus den Niederlanden anriefe. Sie suche mich seit Jahren, um wieder mehr Kontakt zur Familie ihres ersten Ehemannes aufzunehmen. Nun sei er für seine 86-jährige Freundin auf die Post gegangen und habe das Berliner Telefonbuch gewälzt, so erklärte er mir weiter. Der einzige »Dambitsch« in Berlin sei ich. Natürlich fielen mir Onkel Fritz und Tante Daisy sofort wieder ein. Die Freude war groß, doch gab mir dieses Telefonat auch einen Stich. Denn – wie ich mittlerweile wusste – hatten vor dem Zweiten Weltkrieg sieben Familien mit dem Namen Dambitsch – polnisch für, wie mir gesagt wurde, »Eichenbaum« – in der Stadt gelebt. In der zweiten Generation gab es nur noch mich. Mehrere sentimentale Telefonate mit Tante Daisy folgten. Schließlich fuhren wir zu Besuch, meine Frau, meine Töchter – damals 12 und 7 Jahre alt – und ich.

Deetje Samosch-Beelt, genannt Daisy, lebte damals in einer kleinen Wohnung in Beverwijk nordwestlich von Amsterdam – meine Töchter waren sofort von ihr fasziniert und nahmen sie mit Beschlag: Denn Daisy war so ganz anders als alle anderen der Tanten, sie stammte aus Indonesien, ihre Mutter war noch Sklavin gewesen. Meine Töchter fühlten sich sofort wie in einem Abenteuerroman: Wer war nur Josephine Baker, der Daisy so ähneln sollte? Egal, noch eine Geschichte, aunty Daisy! Sie hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes Fritz noch einmal geheiratet, doch er war die große Liebe ihres Lebens geblieben. – Der feinsinnige, kluge, fast erblindete Fritz. Immer wieder fand Daisy Familienähnlichkeiten zwischen unseren Töchtern und ihrer Schwiegermutter Rose, die sie zwar niemals kennengelernt hatte, der sie sich aber tief verbunden fühlte. Denn Rassismus war der farbigen Daisy genauso oft in ihrem Leben zwischen Indonesien und den Niederlanden begegnet wie der deutschen Jüdin Rose im Wien des Antisemiten Karl Lueger.

Immer wieder betonte sie das Glück, Kinder zu haben. Sogar unsere Siebenjährige spürte schließlich den Schmerz, der sich hinter der Freude verbarg, so sehr, dass meine Frau und die Mädchen einen Spaziergang machten, damit Daisy und ich allein sprechen konnten. Da zeigte sie mir zum ersten Mal den blauen Koffer. Dieser Koffer enthielt Dokumente, Briefe und Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann Fritz. Ich erfuhr, dass Fritz infolge seines KZ-Aufenthalts keine Kinder zeugen konnte, dass es ein Hin und Her um seine Rettung gegeben habe, dass die erste Frau von Fritz daran zerbrochen sei. Doch Daisy erzählte unzusammenhängend. Auf Vieles konnte ich mir keinen Reim machen. Und ich durfte nicht einfach selbst in diesem Koffer stöbern und mir ein Bild machen. Daisy war dieser Koffer wichtiger als der Brillantring mit hellblauen Saphiren, der der Verlobungsring ihrer Schwiegermutter Rose gewesen war. Den Ring schenkte sie mir für meine Töchter, ohne zu zögern. Doch die Erinnerungsstücke aus dem blauen Koffer wollte sie weiter hüten.

Ich bekam stattdessen den Auftrag, für sie beim österreichischen Staat Wiedergutmachung zu fordern. Ich solle – so meine Tante – ihr dann sagen, welche Dokumente ich brauchte, um nachzuweisen, dass mein in Wien geborener Onkel und seine erste Frau auf der Flucht vor dem NS-Regime nach Holland fliehen mussten und vom Österreichischen Staat als Bestandteil des NS-Regimes zuvor systematisch ausgeraubt worden seien. Ein Freund würde unter ihrer Aufsicht heraussuchen, was ich benötigen würde. Ich selbst solle beim österreichischen Staat das Beste für sie herausholen. Am 13. November 2002 legte ich los:

Allgemeiner Entschädigungsfonds4

(‘General Settlement Fond’)

Für überlebende ‘Arisierungs’-

Opfer und deren Nachkommen der

Republik Österreich

Parlament

Berlin, den 13. November 2002

NEWSLETTERAnlaufstelle des International Steering Committee für jüdische NS-Verfolgte in und aus Österreich

Sehr geehrte Damen und Herren,

o. a. NEWSLETTER entnahm ich, dass in Österreich ein Allgemeiner Entschädigungsfonds für jüdische NS-Verfolgte eingerichtet worden ist, für den Überlebende und ErbInnen antragsberechtigt sind.

Ich bitte Sie um Zusendung eines Antragformulars, verbunden mit der Bitte um nähere Information, inwieweit eventuell auch/oder der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus in und aus Österreich für einen Antrag in Frage käme.

Zur Sache: Mein Onkel Fritz Samosch, geb. 16.10.1901 in Wien, gestorben am 26.03.1993 in Amsterdam, war der Sohn von Samuel Samosch (geb. 1859 in Breslau, gestorben 1935 in Wien, beerdigt in Breslau) und Rose Samosch, geborene Dambitsch (geb. 1974 in Breslau, gestorben 1919 in Wien, beerdigt in Breslau [sic!]5).

Rose Dambitsch war die Schwester meines Großvaters, Landgerichtsrat Dr. jur. Ludwig Dambitsch.

Laut mir vorliegenden Schreiben des Magistrats der Stadt Wien, Magistratsabteilung 61 vom 25.06.2002 war mein Onkel Fritz Samosch in der Einwohnerkartei der Bundeshauptstadt Wien von 1936 als deutscher Staatsbürger verzeichnet.

Fritz Samosch lebte mit seinen Eltern von seiner Geburt an bis vermutlich 1940 in Wien, Adresse: Wien 3, Hintzerstraße 11.

Unter dem Aktenzeichen: 39496 befindet sich im Österreichischen Nationalarchiv, Nottendorfer Gasse 2, 1030 Wien die Vermögensakte aus der Zeit des Nationalsozialismus von Fritz Samosch, die mir in Kopie vorliegt. Darin finden sich u. a. das von ihm am 14.02.1939 ausgefüllte Formular ‘Verzeichnis über das Vermögen von Juden’ nach dem Stand vom 27. April 1938 und weitere Dokumente zu seiner Enteignung.

Fritz Samosch emigrierte meines Wissens nach 1940 in die Niederlande. Nach der Okkupation der Niederlande durch Nazi-Deutschland wurde er in das KZ Dachau [sic!] deportiert und dort sterilisiert. Er überlebte wie durch ein Wunder und lebte nach 1945 bis zu seinem Tod 1983 in den Niederlanden. Seine Witwe lebt dort bis heute. Allerdings gestattet ihr Gesundheitszustand eine derartige Anfrage nicht mehr. Daher habe ich mich als einziger lebender, direkter Verwandter von Fritz Samosch an Sie gewandt mit der Bitte, inwieweit ich als nachfolgender Erbe von Fritz Samosch antragsberechtigt bin. Für eine Information Ihrerseits danke ich im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen,

David Dambitsch

Es ging hin und her, beschäftigte mich Monate, alle waren bemüht, aber nichts ging wirklich voran. Zwar hatte ich bereits im Dezember desselben Jahres das »Antragsformular für den Allgemeinen Entschädigungsfonds« in Händen gehalten, hatte mich bis Februar 2003 durch das über 30 Seiten lange Formular auch durchgequält und immer wieder, zwischen Beverwijk und Berlin telefonierend und Briefe schreibend, alle Beweise gesammelt, diese sogar einen Monat später ergänzt: Tante Daisy hatte noch mehrmals in den Koffer geschaut und immer neue Unterlagen gefunden. So kam unter anderem heraus, dass Fritz im KZ Westerbork und nicht in Dachau – wie ich ursprünglich dachte – zwangssterilisiert worden war. Auch stieß ich in diesem Zusammenhang erstmals auf die Buchhandlung in Breslau, heute Wroclaw, die meinem Onkel zu einem Drittel gehört hatte. Doch dann kam alles ins Stocken.

Man überlegte, gewichtete, dachte drei Jahre lang nach und entschied schließlich im März 2006, in dem Jahr in dem Tante Daisy im Dezember ihren 90. Geburtstag feiern sollte. Da war sie mir dann allerdings auch schon böse. Denn sie hielt mich für den Schuldigen an allen Verzögerungen.

Meine alte Tante verstand nicht, wieso die Republik Österreich, die immerhin bis 50 Jahre nach Kriegsende gebraucht hatte, um überhaupt ein Bundesgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus zu beschließen, nicht handelte. Als Motto hatte man sich doch vorgenommen, den wenigen noch lebenden Überlebenden und ihren Erbinnen und Erben »möglichst rasch, flexibel und unbürokratisch zu helfen« und die Mauerbach-Auktion von 1996 hatte doch genügend Geld in die Kassen gespült?!

Tante Daisy hat mir wieder verziehen, sie wurde fast 100 Jahre alt und wurde in Holland auch Dank der Zahlungen aus dem Entschädigungsfonds bis zu ihrem Tod 2015 liebevoll gepflegt. Sie vererbte mir zwei Dinge: Das eine war ein Teeservice, das Fritz und Fini sich zur Hochzeit angeschafft hatten. Es muss damals ultramodern gewesen sein – der Architekt und Entwerfer Josef Hoffmann, Mitbegründer der Wiener Secessionund der Wiener Werkstätte, hatte es gestaltet. Es überstand den Zweiten Weltkrieg, vergraben im Garten von Finis Bruder, einem Wiener Oberkellner, bis auf eine Tasse unbeschadet. Das andere war jener blaue Koffer.

Noch 2008 hatte sie diese Hinterlassenschaft für mich als Onvoorwaardelijke Opdracht – »Unbedingter Auftrag«6 schriftlich festgelegt: »Ich habe meinem ehemaligen Ehemann Fritz Samosch versprochen, […] dafür Sorge zu tragen, dass nach meinem Sterben diese Dokumente zu einer deutlich darauf Wert legenden Partei ihren berechtigten Platz finden sollen. Es sind keine Mitglieder der Samosch-Verwandtschaft […] mehr bekannt am Leben. Das einzig noch lebende Mitglied in der direkten Linie der Dambitsch Verwandtschaft, das mir bekannt ist, ist Herr David Dambitsch.« Bis heute ist mir weder aus dem Samosch-Familienzweig, für Fritz war es die väterliche Linie, noch aus dem Dambitsch-Zweig, für mich meine Großtante Rose, die Mutter von Fritz, jemals ein Verwandter in meiner Generation begegnet. Ich habe gesucht und nur Tod gefunden. So habe ich es als Verpflichtung angenommen, mich des Erbes meines Onkels Fritz Samosch anzunehmen. Der Inhalt des blauen Koffers bildete dabei nur den Anfang aller Recherchen. Der große Schriftsteller Hans Sahl hat es einmal so zusammengefasst: »Ein Mensch fand statt.«7

Im blauen Koffer fanden sich zunächst einmal Zeugnisse, Urkunden und Ausweise als Beweise für ein stattgefundenes Leben. Fritz Heinrich Samosch war also auch für alle diejenigen zu belegen, die ihn nicht noch persönlich kennenlernen durften. Mit allen anderen seines Jahrgangs ist er zur Schule gegangen, hat eine Berufsausbildung absolviert, besaß eine Wohnung, war verheiratet.

Darüber hinaus gab es Erinnerungsstücke aus Fritz’ Kindheit und Jugend in Wien: Zwei Reiseführer aus den Jahren 1931 und 1938 hatten ihn offenbar bis zum Lebensende begleitet – Erinnerungen an die Stadt seiner Kindheit, die unwiederbringlich verloren war. Noch eingerahmt in schlichtem schwarzen Holzrechteck lag eine Radierung zwischen den Papieren: Blick über die Wiener Altstadtdächer auf den Stephansdom, auf der Rückseite mit Kugelschreiber geschrieben, »Liesl samt Familie, zur lieben Erinnerung an Wien, 30. Juli 1960«. Die Familienfotos aber stammten hauptsächlich aus der Vorkriegszeit des Ersten bzw. Zweiten Weltkriegs, teilweise noch auf dicker Pappe, von einem Fotograf im Geschäft sorgfältig arrangiert, schaute man ernst und würdevoll, die Rücken stets durchgedrückt, alle trugen Festtagskleidung, um sich ablichten zu lassen in Breslau oder dem Wien der K.-u.-k.-Zeit – Fritz als Kind, als Jugendlicher, als Student, als Buchhändler in Wien; gute Stuben sind zu sehen, steife Hüte, gestärkte Schürzen, Bilder aus dem Exil im Amsterdam, der Nachkriegszeit in den Niederlanden. Und immer wieder dazwischen, wahllos durcheinandergeworfen oder vom Transport durcheinandergebracht: persönliche und staatliche Dokumente, Ausweise aus dem KZ Westerbork und Dokumente zu seiner sogenannten »Wiedergutmachung« durch Deutschland und Österreich.

Und schließlich fand ich dort – inmitten von allen diesen Erinnerungen – ein Konvolut von Briefen zwischen Onkel Fritz und seinem Cousin Walter, von dem Tante Daisy niemals zuvor etwas erzählt hatte. Erst 1956, elf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, hatten sie einander wiedergefunden: Fritz in den Niederlanden, Walter in Israel. Beide waren Überlebende der Shoah, beide konnten kaum glauben, dass es den anderen noch gab. Es begann ein intensiver, herzzerreißender Briefwechsel über fast zehn Jahre, der in diesem Buch erstmals vollständig abgedruckt ist.

In diesem Briefwechsel zwischen Fritz und Walter Samosch wird unmittelbar erfahrbar, was die hochbetagte Tante Daisy, deren Muttersprache eigentlich Holländisch war, mit der ich mich aber immer auf Englisch unterhielt, mir zuvor bei unseren Besuchen in den Niederlanden immer nur bruchstückhaft erzählt hatte. Fritz hatte ihr gegenüber natürlich von seiner Lebensgeschichte gesprochen, doch konnte sie die ganzen deutschsprachigen Dokumente, die er gesammelt hatte, selbst nicht lesen, geschweige denn einordnen. Der Sprachduktus der verschiedenen Zeitläufte blieb ihr deshalb genauso verborgen wie der detailreiche Eindruck einer Situation, der sich nur durch das Quellenstudium erschließen lässt. Deshalb waren ihre Erzählungen für meine Ohren so undeutlich geblieben. Schon bei der ersten Durchsicht des blauen Koffers verstand ich erste Zusammenhänge. Ich erfuhr den groben Sachverhalt, dass nämlich Fritz zusammen mit seinen beiden Cousins, den Brüdern Hans und Walter Samosch, 1934 von ihrer gemeinsamen Tante Rosalie Samosch in Breslau – testamentarisch vermacht – Antiquariat und Buchhandlung N. Samosch geerbt hatten. Hans Samosch hatte diese mit seiner Ehefrau Rosa Samosch-Bial übernommen und weitergeführt, denn sein Bruder Walter war bereits ein Jahr zuvor, im Februar 1933, ins damalige Mandatsgebiet Palästina geflohen. 1937 wurden Antiquariat und Buchhandlung – wie es im Nazi-Jargon hieß – von einem langjährigen Buchhandlungsgehilfen »arisiert«.

Das Antiquariat führte »Antiquitäten und Raritäten von Judaica, pflegte umfangreichen Verkauf von Schulbüchern für Volksschulen, Mittelschulen, die Universität in Breslau, bot zugleich Klassiker und allgemeine Literatur an«. Gegründet 1844 »von meinen Großeltern Samosch«, schrieb Walter Samosch, befand sich das Antiquariat »seit drei Generationen im Besitz der Familie«. Noch ein Jahr vor seinem Tod, 1967, erinnerte sich der Landwirt Walter Samosch Jahrzehnte später in Israel, als er seinen Antrag an das Lastenausgleichsamt in Deutschland für eine Familienbuchhandlung stellte, die sich nun in Polen befand, sehr präzise an die Details des Familienunternehmens:

»Nach meiner Erinnerung florierte das Geschäft sehr gut und genoss einen ausgezeichneten Ruf durch eine weitverzweigte Stammkundschaft wie zum Beispiel ältere Leute, die sich noch an ihren Schulbücher-Einkauf erinnerten. Das Geschäft hat komplette Leihbibliotheken gekauft; es hatte einen großen Umsatz an Klassikern und allgemeiner Literatur. Es gab einen großen Kreis von Interessenten an hochwertigen Raritäten, wie z. B. eine Original-Zeitung, Radierung, Lithographie in einem bestimmten Band einer bestimmten Auflage eines bestimmten Schriftstellers etc., Antiquitäten in Luxusausgaben, Kunstalben u.s.w.; Lehrbücher antiquarisch und neu für sämtliche Schulen, Lehr- und Erziehungsanstalten, Volks- und Mittelschulen, humanistisches – und Realgymnasium, Universität und Hochschule, allgemeine Lehrbücher und Fachliteratur, Kinderbücher, Jugendbücher und wissenschaftliche Werke etc.«8

Um allerdings an diese sehr speziellen Informationen für einen Lastenausgleichsantrag zu gelangen, die Tante Daisy in den Niederlanden natürlich niemals zugänglich gewesen waren, bedurfte es nachhaltiger Recherchen. Erst durch Historiker erhielt ich schließlich den Hinweis, dass, sollte der »Ariseur« des Antiquariats N. Samosch den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, die Möglichkeit bestünde, dass er auch einen Antrag auf Lastenausgleich für den Verlust der Buchhandlung gestellt haben könnte. Zeitgleich erfuhr ich, dass die »Lastenausgleichsakten«, auch die von Breslau, den Zweiten Weltkrieg ebenfalls überdauert hatten und nunmehr ausgerechnet im Bundesarchiv in der Außenstelle Bayreuth – der Stadt des Antisemiten Richard Wagner – aufbewahrt wurden.

Mein Antrag auf Akteneinsicht löste dort zunächst Abwehrhaltung und Misstrauen aus. Man schob vor, Persönlichkeitsrechte des 1981 verstorbenen »Ariseurs«, der tatsächlich in Niedersachsen nach dem Zweiten Weltkrieg ein beschauliches und unbescholtenes Leben hatte führen können, könnten verletzt werden; es sei zudem unklar, ob eine solche Akte überhaupt existiere. Natürlich existiert sie.

Erst, nachdem ich auf eigene Kosten einen Recherchedienst beauftragte, war die Existenz der Akte nicht mehr zu leugnen. Es sollte dann mehr als ein halbes Jahr vergehen, bis mir endlich die Kopie der im Ganzen 314 Seiten umfassenden Akte des »Ariseurs« vorlag. Darin fand ich endlich Antworten auf all jene Fragen, die mich seit unserem ersten Besuch bei Tante Daisy in den Niederlanden beschäftigt hatten. Die Geschichte meines Onkels Fritz und die der geraubten Familienbuchhandlung wird in diesem Buch erzählt.

2 | Korrespondenz der Buchhandlung N. Samosch, Breslau mit den Nachfahren der Löbl. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart, 1919

3 | Werbung im Breslauer Jüdischen Gemeindeblatt, 31.03.1936

Samosch Sämtliche Bücher

»Verleger, Fabrikdirektoren, Großindustrielle, höhere Beamte sind zu Hunderten von Hochschulen zu Ehrendoktoren ernannt worden – das Antiquariat, diese treueste und hingebungsvollste Helferin der Wissenschaft, ist bis heute leer ausgegangen, trotzdem es ihm wirklich nicht an Männern fehlt, die den Fakultäten zur Zierde gereichen würden.«9

S. Martin Fraenkel, Die Bewertung der Arbeit des Antiquars in der Öffentlichkeit, Leipzig 1929

Mein Onkel Fritz, selbst Einzelkind, hatte zwei Cousins von mütterlicher Seite, Werner Dambitsch10, geboren 1913, und meinen Vater Wilhelm11, den Familiennachkömmling, geboren 1926. Von väterlicher Seite waren es die Brüder Walter12 und Hans13 Samosch, die Fritz als Cousins altersmäßig sehr viel näherstanden als die Dambitsch-Jungen. Sowohl die Dambitsch- als auch die Samosch-Familie stammten aus dem schlesischen Judentum. Beide Familien waren geprägt vom Reformjudentum, dessen Wiege in der ehemaligen Hauptstadt Schlesiens stand: Weltweit geht diese Glaubensrichtung des Judentums auf den berühmten Gelehrten und machtvollen Prediger Rabbiner Abraham Geiger14 zurück, der von den orthodoxer gesinnten Breslauer Gemeindemitgliedern seinerzeit allerdings so leidenschaftlich bekämpft worden war, dass er 1863 nach Frankfurt am Main übersiedeln musste. Er hinterließ allerdings deutliche Spuren am Ort seines ehemaligen Wirkens. In der 1872 zu Rosh ha-Schana eingeweihten Neuen Synagoge Am Anger 8 folgte man weiter dem liberalen Ritus. Das liberale Glaubensverständnis wurde im Umkreis der weltoffenen und assimilierten Dambitsch- und Samosch-Familien so selbstverständlich weitergegeben und gelebt, dass mein Onkel Werner, dem die Flucht nach Amerika gelingen sollte, Jahre später in New York auch davon ausging, dass jüdisch sein im 20. Jahrhundert ganz klar bedeutete, liberal zu sein: Eingeladen zu einer Bar-Mizwa wollte er seine Frau15 mit in die Reihen der Beter ins Zentrum des Gotteshauses nehmen. Sie, die bemerkte, dass die Frauen sich in der orthodox geprägten Synagoge auf dem Balkon trafen, stieg umgehend ohne ihren Mann die Treppen hinauf. Doch sie blieb nicht lange allein. Werner kam hinterher. Gott nicht gleichberechtigt neben seiner Frau zu loben, kam für ihn nicht infrage. Als egalitär gesinnter Mann wählte er deshalb solidarisch mit seiner Frau in einer orthodoxen Synagoge eben den Balkon.