Der Blutschwur - Susanne Jarosch - E-Book

Der Blutschwur E-Book

Susanne Jarosch

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Beschreibung

Unerwartet überfallen fremdländische Kämpfer das friedliche Land, plündern und morden und auch König Onno fällt in der Schlacht. Heerführer Hagen übernimmt die Geschicke des Landes und erinnert sich an die Prophezeiungen einer alten Frau. Zwei Kinder, geboren in des Königs Todesstunde, würden dem Land helfen und es vom Feind befreien. Bald darauf geraten die Worte der Alten wieder in Vergessenheit. Eines Tages erscheinen zwei junge Männer in der Festung, um dort das Soldatenhandwerk zu erlernen. Die beiden Freunde haben geschworen, gegen den Tyrannen zu kämpfen, und gerade der unerschrockene Ragnar scheint sich von diesem Vorhaben nicht abbringen zu lassen.

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Der Blutschwur

Ragnar-Trilogie

Band 1

Susanne Jarosch

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - herzsprung-verlag.de

© 2021 – Herszprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat + Herstellung: CAT creativ - cat-creativ.at

Titelbild: © germancreative

ISBN: 978-3-98627-000-1 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-98627-001-8 - E-Book

*

Inhalt

Einleitung

Treue und Freundschaft

Lebt wohl, Söhne!

Die Festung

Die Ausbildung

Die Prüfung

Die Hexe

Die Herrin des Waldes

Tage der Freude

Hagen und Ragnar

Gefährliches Vorhaben

Neuigkeiten

Erkenntnisse und Entscheidungen

Ragnar und Nelda

Gang ins Ungewisse

Herwards große Worte

Die Säuberung

Die Kunde

Siegreiche Heimkehrer

Die Autorin

Buchtipp

Impressum

*

Einleitung

„Wer seid ihr? Was wollt ihr?“, fragte ein Bauer verstört, als drei Fremdländische in einer eisigen Winternacht in sein Haus gestürmt kamen. Ohne Antwort schritt einer der Männer hämisch grinsend und mit gezückter Waffe auf ihn zu. „So lasst uns doch in Frieden!“, flehte der Bauer und stellte sich gleich schützend vor seine Frau.

Der Fremde aber zeigte kein Erbarmen. Wortlos rammte er seine Waffe tief in den Leib des armen Mannes. Er zog sein Schwert wieder heraus und stieß ihn hinterher zur Seite, um auch die Frau zu töten. Kurz darauf waren die Schreie der verängstigten Ehefrau verstummt und der Krieger wandte sich ab und verließ das Haus.

Die beiden anderen Eindringlinge kümmerten sich nicht um die Sterbenden, sondern stiegen die Treppe nach oben. Dort fanden sie deren Töchter, die sich in ihrer Kammer versucht hatten, zu verstecken. Sie ergriffen die Mädchen, schändeten sie brutal, um sie letztendlich wie ihre Eltern mit dem Schwert zu töten. Hinterher verließen die grausamen Männer grölend und lachend wieder diesen Ort.

In dem Dorf, das die Fremden in dieser Nacht überfallen hatten, herrschte ein heilloses Durcheinander. Bewohner, die nicht rechtzeitig fliehen konnten oder kein gutes Versteck fanden, verloren oft auf entsetzliche Weise ihr Leben. Dabei war es den Kriegern gleichgültig, wer ihnen zum Opfer fiel. Sie schlugen tot, was ihnen über den Weg lief.

Es war aber nicht der einzige Ort, den die Fremden in jener Nacht und in den kommenden Tagen überrannten. Die Krieger, woher sie auch so plötzlich gekommen waren, schienen diesen blutigen Angriff schon lange geplant zu haben. In kleinen Heeren überfielen sie zur gleichen Zeit viele Orte. Es war ihr Ziel, das Land zu schwächen, indem sie mordeten und zerstörten. Und ihr Anführer Harm wollte den Herrschersitz erobern, um schließlich das Land zu besitzen. Am vierten Tag ihres Feldzuges trafen sie sich alle wieder – weit im Landesinnern. Zu einer Macht geschmolzen, zogen sie zur Festung und erwarteten dort den König des Landes.

Die Schneefälle der letzten Tage hatte das Land indes in einen weißen Mantel gehüllt. Eingebettet im Schutz der Berge schlummerte es mit seinen vielen Wäldern, weiten Wiesen, dem breiten Fluss und dem schönen See friedlich vor sich hin. Jahrzehnte wurde es in drei Generationen von gerechten Königen regiert. Der letzte Krieg lag schon so lange zurück, dass nur noch die Ältesten davon berichten konnten. Mit den Nachbarländern pflegten sie so gut wie keinen Kontakt. Nur hin und wieder überschritt manch einer die Grenzen und bereiste dort die umliegende Gegend.

Den Menschen fehlte es in diesem Land an nichts. Die Erde war fruchtbar. Sie waren fleißig und geschickt und aufgrund ihrer anspruchslosen Lebensart gab es wenig Streit oder Neid unter der Bevölkerung. Doch trotz ihrer friedliebenden Art legten die Könige stets wert auf gut ausgebildete Soldaten. Nichts lag ihnen näher als die Freiheit und man wollte das Volk immer gut beschützt wissen. Vor diesem überraschenden Angriff aber konnte der letzte König Onno sie trotzdem nicht bewahren.

In der Nacht, in der das Schicksal seinen Lauf nahm, pfiff ein eisiger Wind über das Land. Der König lag wach in seinem Gemach. Er war ruhelos und etwas ließ ihn erahnen, dass Schlimmes geschehen würde. Onno hatte schon früh den Thron bestiegen. Sein Vater starb, da war er erst fünfzehn Jahre alt. Aber trotz seiner Jugend konnte er schon bald beweisen, dass er bereits Manns genug war, die Führung des Landes zu übernehmen. Er war klug und mutig und das Wohl der Menschen lag ihm am Herzen. So war es dann auch kein Wunder, dass er in jener Schicksalsnacht als Erster mit erhobenem Haupt durchs Tor schritt und sich gemeinsam mit seinen tapferen Soldaten dem Feind stellte.

Im Gegensatz zu den Streitern des Landes trugen die Krieger mit den meist rotblonden langen Haaren und den wilden Bärten kaum Rüstung. Diese Männer waren groß gewachsen und von kräftiger Statur. Benötigte doch einer etwas zum Schutz, so war es vielleicht ein Brustpanzer oder ein Helm.

Kaum standen sie sich gegenüber, lieferten sie sich auch schon eine erbitterte Schlacht. Viele Männer beider Fronten mussten ihr Leben lassen und so sahen nur noch wenige die Mittagssonne am Himmel erstrahlen.

Während der Schlacht bemerkte Harm, dass er es an diesem Tage nicht schaffen würde, die Festung zu erobern. Die Soldaten kämpften verbissen und erwiesen sich als ebenbürtiger Gegner. Darum rief der fremde Anführer bald seine verbleibenden Männer zu sich und zog mit ihnen wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Onnos Soldaten bejubelten den plötzlichen Abzug der Krieger, doch genauso rasch verstummten sie wieder. Sie fanden ihren König. Erschlagen, im blutroten Schnee, inmitten vieler gefallener Gefährten.

Die Nachricht von Onnos Tod ereilte das Volk und ließ es in große Verzweiflung fallen. Die Bewohner seines Reiches hatten Angst vor den Kriegern und weiteren Überfällen und ohne ihren geliebten König wussten sie nicht, wie es weitergehen sollte.

Onno hatte nie geheiratet und besaß weder Nachkommen noch Geschwister. Auch sonst kam niemand in Betracht, der den Thron hätte besteigen können. Die Trauer und der Schmerz der Menschen legten sich wie eine dunkle, schwere Wolke über das Land. Dort hing sie fest und schien nicht weiterziehen zu wollen.

In all der Hoffnungslosigkeit übernahm Kommandant Hagen die Rolle des Anführers. Der König hatte ihm stets vertraut und ihn deshalb schon früh zu seinem engsten Berater ernannt. Und auch die Soldaten schätzten ihn als Mensch und Führer.

Hagen steckte selbst in tiefer Trauer, er hatte bei den Überfällen seine Frau und deren ungeborenes Kind verloren. Aber als Soldat hatte er einmal ein Versprechen gegeben und darum schluckte er seinen Kummer hinunter und widmete sich ganz und gar seiner neuen Aufgabe.

In den Tagen nach Onnos Tod kamen viele und suchten bei Hagen Trost und Beistand. Tag und Nacht zermarterte er sich das Hirn, wie man all den Witwen, Waisen und Obdachlosen helfen konnte. Eines Nachts fiel ihm dann wieder eine längst vergessene Geschichte ein.

Es geschah zu jener Zeit, da war Hagen ein junger Soldat und hielt am Eingang zum Thronsaal Wache. In der Geburtsstunde von Onno kam zu dessen Vater Odo eine alte Frau mit hellseherischen Fähigkeiten. Aufgeregt stürzte sie auf den König zu und berichtete ihm besorgt von ihren Schattenbildern.

Flüsternd sprach sie zu ihm: „Mein Herr, ich habe letzte Nacht schlimme Dinge gesehen! Euer Sohn wird in einer blutigen Schlacht den Tod finden! Für den Prinzen gibt es keine Hoffnung und auch dem Volk droht Folter und Unterdrückung! Einzig zwei Kinder, die in den letzten Stunden eures Sohnes geboren werden, können dem Land und den Menschen einmal helfen und es befreien!“

König Odo wollte der Alten aber keinen Glauben schenken und schickte sie erbost fort. Im Zorn schrie er ihr hinterher: „Eure Träume machen mir keine Angst! Ich werde es zu verhindern wissen! Mein Sohn wird mir ein würdiger Nachfolger! Und im Kampf wird er seinen Mann stehen und das Schwert siegreich führen!“

Doch Odo verstarb früh, wie auch seine Frau. Und die Wächter des Thronsaals hatten schwören müssen, nie ein Wort über die Alte und deren Geschichte zu verlieren. So erfuhr Onno nie von der Vorhersage.

All das war Hagen nun wieder eingefallen. Die ganze Nacht lag er wach und überlegte, wie Säuglinge ein ganzes Land vor einer grausamen Macht befreien könnten. Am frühen Morgen sandte er dann Reiter aus in der Hoffnung, sie würden diese Kinder vielleicht finden.

Diese kamen aber nicht sehr weit. In den meisten Teilen des Landes herrschte nur noch der Tod und die Trauer und etwas weitaus Schlimmeres ließ sie schließlich eiligst wieder nach Hause kehren. Fassungslos überbrachten sie Hagen schreckliche Neuigkeiten. „Hagen, Säuglinge konnten wir keine finden! Aber wir mussten dafür Entsetzliches erkennen!“

„Sagt, was habt ihr gesehen!“

„Der Feind hat sich die Dörfer nahe der Berge unter den Nagel gerissen! Er belagert diese und fängt bereits an, große, hölzerne Wände darum zu bauen!“

Erschüttert über diese Nachricht verbannte Hagen die Worte der Alten rasch aus seinem Kopf und wandte sich gleich weitaus dringenderen Aufgaben zu. Er entsandte Boten, die Männer aus den freien Teilen des Landes zum Dienst als Soldaten ermutigen sollten. Die Burg selbst ließ er bis auf ein paar wenige Räume schließen. Drum herum entstand eine Kaserne für jene, die tapfer genug waren, den Weg des Soldaten zu gehen. Vor der Festung errichteten Obdachlose eine Siedlung. Dort fanden viele ein neues Heim und Schutzsuchende erhielten jederzeit Asyl.

So zogen die Jahre übers Land. In den gebirgsnahen Dörfern litten die Bewohner seit der großen Schlacht unter Sklaverei und lebten in ständiger Todesangst. Harm verschwand in den Bergen in ein unbekanntes Versteck. Von dort befehligte er seine Männer, wurde selbst aber nicht mehr gesehen. Hin und wieder wagten seine Krieger einen Angriff auf die Festung. Hagens Soldaten verteidigten sie aber standhaft und so war ein Ende des Krieges nicht abzusehen.

Und die Worte der alten Frau gerieten abermals in Vergessenheit!

*

Treue und Freundschaft

Langsam verzog sich die Trauerwolke über dem Land und die Menschen begannen an vielen Orten ein neues Leben, zum Teil unter dem Schutz der Soldaten. Sie errichteten nahe der Festung, im Grenzland oder entlang des Flusses neue Dörfer. Dort fühlten sie sich sicher und fanden langsam zurück zu ihrer Unbeschwertheit. Die Menschen bestellten wieder Felder, hüteten in der näheren Umgebung das Vieh und abends besuchte der ein oder andere auch wieder einmal die Schenke. Bei einem Krug Bier wurde dann oft an die gedacht, die sich in Händen der Krieger befanden und alle hofften, es würde einmal erneut alles so werden, wie es einst war.

Es gab ein paar wenige Dörfer, die waren während der Überfälle und auch in den folgenden Jahren von jeglichen Angriffen verschont geblieben. Diese lagen zum einen hinter der Festung, im Grenzland oder auf der anderen Seite des Flusses.

Im Südosten des Landes am Fluss, einen Tagesritt vom Gebirge entfernt, lag ein besonders abgeschiedenes Dörfchen. Die meisten der hübschen Häuser waren aus Holz gebaut. Spätere wurden dann auch aus Stein errichtet, aber alle waren strohgedeckt. Im Dorf und drum herum wuchsen viele Obstbäume. Wohin man sah, gab es grüne Wiesen. Im Süden stand ein dichter Wald und dahinter lugten schon die Berge hervor, die sich bei gutem Wetter in ihrer ganzen Pracht zeigten. Am Himmel konnte man oft einen Adler kreisen sehen, der auf der Suche nach Nahrung aus dem Gebirge bis hierher geflogen kam.

Wegen des Flusses war der Boden an diesem Ort besonders fruchtbar. So hatten die Menschen dort immer von allem reichlich. Neben dem Ackerbau hielten sie Kühe, Schafe und Ziegen, aber auch Pferde. Fast jedes Kind besaß hier schon früh einen vierbeinigen Gefährten und beherrschte das Reiten.

Obwohl das Dorf dem Gebirge sehr nahe war, wurde es nie angegriffen, weshalb man meinen konnte, ein schützender Mantel umgebe es. Trotzdem hatten die Bewohner Angst vor den Kriegern und verließen nie ihre sichere Umgebung. Sie wanderten nicht im Land umher und bei Nacht hielten sie sich ausschließlich im Schutz ihrer Häuser auf. So erhielten sie Nachrichten und was es sonst noch so zu berichten gab nur von Heimkehrern, die dem Land als Soldaten dienten. Gerade viele junge Männer zog es von diesem Ort in die Festung, einzig getrieben von der Sehnsucht nach Frieden und Freiheit. Und von diesem Drang war auch Ragnar schon sehr früh befallen.

Ragnar wuchs behütet mit zwei Schwestern im Dorf am Fluss auf. Alle mochten den offenen und fröhlichen Knaben mit den dunklen Locken und den strahlend blauen Augen. Er war immer hilfsbereit und das nicht nur seinen Eltern gegenüber. Auch auf seine Schwestern gab er immer und gerne gut acht.

Ragnar liebte das Abenteuer und es gab nichts Schöneres für ihn, als allein in der Natur zu wandern. Er mochte es, mit seinem Pferd Alarith über die Wiesen zu galoppieren oder den nahe gelegenen Wald zu erkunden. Oft blieb er den ganzen Tag fort und bereitete deshalb seinen Eltern angstvolle Stunden. Sie konnten ihn nicht einmal mit Schelte und Arrest von der Lust am Umherstreifen abhalten. Er fand immer Wege und Mittel, sich fortzuschleichen. So war es recht wunderlich, dass ihm bei all seinen Streifzügen nie ein Leid geschah.

Ragnar umgab aber auch Sonderbares. Er besaß schon früh eine seltsame Anziehungskraft. Viele mochten ihn zum Freund und auch die Mädchen fanden schon bald an ihm Gefallen. Das lag nicht nur an seinem Aussehen, sondern vor allem an den unerklärbaren Ereignissen, die um ihn herum geschahen. Genauso vollbrachte er kleine Heldentaten, an denen manch ein ausgewachsener Mann gescheitert wäre. All das wiederum erschreckte die Leute auch, dann schauten sie ihn verwundert an und fragten sich, was denn nur mit dem Jungen los sei. Ragnar hingegen konnte es nicht leiden, im Mittelpunkt zu stehen, und floh darum immer und immer wieder aus dem Dorf und versteckte sich. Zu seinem achten Geburtstag schenkte ihm sein Vater Ratbod ein Holzschwert. Die hölzerne Waffe wurde sein ständiger Begleiter. Er gab es nicht mehr aus der Hand und sogar nachts ruhte es zwischen seinen Fingern oder unter dem Kissen.

Einmal bei der Kartoffelernte verlor Ragnar recht schnell die Lust am Einsammeln der Feldfrüchte. Er lief lieber übers Feld und kämpfte gegen unsichtbare Gegner. Gekonnt schwang er dabei sein Holzschwert, als wäre er ein großer und mutiger Kämpfer. Plötzlich aber erstarrte Ragnar und stierte mit zusammengekniffenen Augen ins Leere.

Die Familie sah erstaunt zu ihm hin und Ratbod fragte besorgt: „Ragnar? Was hast du?“

Der reagierte jedoch nicht auf die Zurufe seines Vaters und stierte weiter wortlos in die Ferne. Kurz darauf hob er sein Holzschwert gen Himmel und schrie inbrünstig: „Für die Freiheit! ... Für die Freiheit!“ Dabei glich sein Gesichtsausdruck nicht dem eines Jungen, sondern dem eines kämpfenden Mannes.

Schließlich sank das Schwert wieder zu Boden und Ragnar fiel hinterher erschöpft auf die Knie. Sein Atem ging schwer, dass man meinen konnte, er hätte tatsächlich gerade einen anstrengenden Kampf hinter sich gebracht.

„Ragnar? Was ist geschehen? Was ist mit dir?“, fragte sein Vater aufgeregt.

Ragnar erhob sich und sagte ahnungslos: „Ich weiß es nicht, Vater!“ Dann rannte er wieder übers Feld und nichts war ihm mehr anzumerken.

Das Holzschwert ragte von diesem Tage an des Öfteren gen Himmel und Ragnars zorniger Blick erschreckte dabei so manchen Dorfbewohner. Immer wieder fragten sie ihn, was mit ihm geschehe und was er da mache. Doch eine Antwort blieb er allen schuldig und ließ sie ratlos zurück.

Als Ragnar zwölf Jahre als war, freundete er sich mit dem gleichaltrigen Waisen Welf an. Schon bald wurden die beiden unzertrennlich. Sie standen sich von Beginn an so nahe, dass jemand, der es nicht wissen konnte, sie gut und gerne für Brüder hielt. Das optisch ungleiche Paar, Ragnar war einen ganzen Kopf größer als Welf, unternahm fortan Streifzüge gemeinsam. Bei einer ihrer Wanderungen meinte Ragnar während einer Rast: „Ich träume davon, einmal zur Festung zu ziehen. Dort will ich Soldat werden und gegen die Krieger kämpfen! Und ich werde den Tyrannen finden und ihn töten!“

Überrascht wegen der Worte blickte Welf seinen Freund mit großen Augen an und erwiderte ihm begeistert: „Ja? Das will ich auch! Ein tapferer Soldat will ich werden! So wie Aaron es war!“

Ragnar freute sich. „Du auch? Dann lass uns doch gemeinsam gehen!“

„Ja, Ragnar! So vieles haben wir schon zusammen erlebt und unternommen! Dann lass uns auch gemeinsam in die Fremde gehen!“

„Das machen wir! Versprochen, Welf?“, fragte Ragnar, worauf ihm sein Freund antwortete: „Du hast mein Wort!“ Verschwörerisch drückten sie noch ihre Hände und von diesem Tage an war ihr Vorhaben beschlossen. Nun hatten sie ein großes Geheimnis, dass sie lange gut hüteten und dass sie nur noch enger zusammenschweißte. Bald sprachen sie täglich darüber und konnten es nicht erwarten, erwachsen zu sein, um endlich fortzugehen.

Während ihrer Ausflüge erlebten sie viele Abenteuer. Hin und wieder geriet Welf dabei aber in brenzlige Situationen. Manchmal war es sogar so gefährlich, dass es für Welf ohne Ragnars Hilfe schlecht ausgegangen wäre. So ergab es sich einmal, dass die Jungen zum Fluss gingen, um dort zu fischen. Sie liefen fröhlich an der Böschung entlang und wollten zu der Stelle, an der der Hang flacher und das Wasser etwas ruhiger wurde. Dort wimmelte es nur so von Fischen und an guten Tagen konnte man mit einer dicken Beute nach Hause ziehen. Übermütig sprang Welf an dem zum Teil sehr steilen Abhang entlang und rief Ragnar vergnügt über die Schulter zu: „Du wirst schon sehen, Ragnar! Heute fange ich den Größten!“

„Ja, lass uns einen Wettstreit machen! Aber jetzt sieh lieber wieder nach vorne und gib acht, wohin du trittst, sonst fängst du heute gar nichts mehr“, meinte Ragnar lachend.

Kaum hatte er das ausgesprochen, stolperte Welf und rutschte die Böschung hinunter. Ohne noch irgendwo Halt zu finden, stürzte er in die Fluten. Ausgerechnet an dieser Stelle war der Fluss besonders reißend und wild und ein schlechter Schwimmer, wie Welf es war, wurde einfach nur mitgerissen. Verzweifelt schrie der Junge um Hilfe. Er ruderte panisch mit Armen und Beinen, verschwand immer wieder unter Wasser und drohte letztendlich, für immer unterzugehen.

Ragnar rannte, so schnell er konnte, neben seinem Freund her. „Halte durch, Welf! Ich helfe dir!“, rief er und sprang schließlich ins Wasser. Er ließ sich mit der Strömung treiben und als der Fluss sich endlich beruhigt hatte, tauchte er rasch zu Welf hin, der sich kaum noch über Wasser halten konnte. Beherzt packte er seinen Freund am Arm und schwamm mit ihm zurück zur Böschung. Dort zerrte er den völlig erschöpften Jungen aus dem Wasser und legte ihn ins Gras.

Triefend vor Nässe lagen die beiden am Ufer und Welf musste wegen des vielen Wassers, dass er geschluckt hatte, kräftig husten. Er zitterte am ganzen Leib und meinte mit blassem Gesicht: „Danke Ragnar! Ohne dich wäre ich ertrunken!“

Der Lebensretter zwinkerte seinem Freund lächelnd zu und lief eilig zu der Stelle zurück, an der er seine Speere hatte liegen lassen. Außer der nassen Kleidung konnte man ihm nicht anmerken, dass er soeben eine kräftezehrende Rettungstat vollbracht hatte. Jeder andere hätte schnaufend vor Anstrengung neben dem Geretteten gesessen und hätte sich noch eine Weile ausruhen müssen.

Wegen des Missgeschicks bekamen die beiden zu Hause großen Ärger und auch ein paar Tage Arrest. Ratbod sagte zu seinem Sohn: „Mein Junge, du erstaunst mich immer wieder! Mir wäre es an dieser Stelle nicht gelungen, Welf aus dem Wasser zu ziehen! Woher nimmst du nur all die Kräfte?“

„Vater, ich habe es gar nicht als schwierig empfunden. Mein Freund war in Not und ich habe ihm geholfen“, erklärte Ragnar unbeeindruckt seinem Vater.

Im darauffolgenden Herbst wurden die Freunde einmal an den Waldrand geschickt, um dort Feuerholz zu sammeln. Auf ihrem Weg erzählten sie sich Geschichten, lachten viel und rannten kreuz und quer durch die Gegend. Dadurch gerieten sie immer tiefer in den Wald. Das bemerkten sie jedoch erst, als aus dem Dickicht vor ihnen verdächtige Laute zu hören waren. Erschrocken blieben sie stehen. Welf flüsterte bang: „Ich glaube, da ist ein Bär!“

„Ja! Sei still! Wenn wir uns nicht rühren, bemerkt er uns vielleicht nicht!“

Der Bär hatte sie aber längst gewittert und getrieben von seinem Hunger stapfte er bereits schnuppernd aus dem Gehölz. Zielstrebig bewegte er sich auf Welf zu, der sich ein Stück vor Ragnar befand. Ängstlich machte der ein paar Schritte zurück. Zu seinem Pech blieb er dabei an einer Wurzel hängen und fiel rücklings zu Boden. Beim Aufkommen auf der Erde schlug er dann auch noch mit dem Kopf an einen Stein und blieb benommen im Moos liegen. Der Bär lief schnurstracks auf Welf zu und stellte sich vor ihm brüllend auf die Hinterbeine. Er ruderte mit den Vordertatzen in der Luft und schien sich schon über die leichte Beute zu freuen.

Allerdings hatte er seine Rechnung ohne Ragnar gemacht. Der sprang mit einem furchtlosen Satz über seinen Freund hinweg und baute sich vor der haarigen Kreatur auf. Jetzt war es das Tier, das erschrocken zurückwich, und den mutigen Jungen verwirrt beäugte.

Ragnar zückte sein Holzschwert und schrie: „Wenn du ihm etwas tust, dann töte ich dich! Verschwinde!“Währenddessen fuchtelte er mit seiner Waffe wie ein kampfbereiter Soldat vor dem Feind.

Der Bär riss sein Maul weit auf, brüllte erneut und langte mit der großen Pranke nach seinem Gegner. Ragnar drohte dem Bären abermals, doch der machte keine Anstalten, zu verschwinden. Mit einem Mal erschien auf dem Gesicht des Jungen wieder dieser seltsame und zornige Ausdruck, der schon so manchen durcheinandergebracht hatte. Entschlossen und mutig stellte er sich dem Bären und als der wieder nach ihm langen wollte, rammte Ragnar schreiend und mit einem kräftigen Stoß die hölzerne Waffe in dessen Herz. Furchtlos und mit kaltem, versteinertem Blick zog er es gleich wieder heraus. Der Bär taumelte, stöhnte und winselte und sackte schließlich von dem Stich tödlich getroffen mit einem letzten Schnaufer zu Boden.

Welf setzte sich auf. Er hielt sich seinen schmerzenden und blutenden Kopf und blickte voller Bewunderung zu seinem Freund. „Ragnar, wie hast du das gemacht? Für einen Moment sah es aus, als wäre dein Schwert echt!“

Ragnar schaute auf seine Waffe. Es klebte das Blut des Bären daran. „Ich weiß es nicht! Ich habe einfach zugestoßen! Wie hätte ich dir sonst helfen sollen!“

„Jetzt hast du mir schon wieder das Leben gerettet! Ich danke dir, Ragnar!“

Ragnar grinste und erwiderte: „Du musst mir nicht danken! Irgendwann kommt der Tag, an dem du mir einmal helfen musst!“Welf nickte seinem Freund zu und ließ sich von ihm wieder auf die Beine helfen. Er war noch immer beeindruckt, während Ragnar nur meinte: „Jetzt komm, Welf, es wird bald dunkel und der Weg nach Hause ist weit!“

Die Dorfbewohner staunten nicht schlecht, als die Knaben mit dem toten Bären im Schlepptau durch den Ort gezogen kamen. Wieder einmal wunderten sich alle über die Stärke, aber auch den Mut des jungen Ragnar. So manch einer meinte inzwischen, dieser Junge müsse zu mehr bestimmt sein.

Welf liebte Ragnar wie einen Bruder, den er sich schon immer sehnlichst gewünscht hatte. Er war erst ein paar Tage alt gewesen, als er seine Eltern und Geschwister bei den Überfällen auf das Land verloren hatte. Seine Familie wollte vor den Kriegern fliehen, als die deren Dorf überrannten. Die aber kamen ihnen zuvor und erschlugen alle während der Flucht. Welf überlebte diese sinnlose und grausame Tat nur, weil ihn seine Mutter unter ihrem Kleid versteckt gehalten hatte. Eine Frau, die bei dem Überfall Witwe geworden war, fand den Säugling am nächsten Morgen schreiend vor Hunger und begraben unter seiner Mutter. Die Witwe hatte Mitleid mit ihm, nahm ihn an sich und floh mit ihm, wie viele andere auch, in die Siedlung. Sie gab ihm den Namen Welf, was junger Wolf bedeutet, und bald fanden die beiden bei einem verwitweten Bauern ein neues Zuhause.

Anfangs war der Mann nett und darum konnte Welfs Ziehmutter auch nicht die Warnungen der anderen Dorfbewohner vor ihm verstehen. Bald erkannte sie aber, dass es ein Fehler gewesen war, beim ihm einzuziehen. Er war schon vor dem Tod seiner Frau für seinen Jähzorn bekannt und wenn er viel getrunken hatte, war er zu Frau und Welf brutal. Er behandelte sie wie seine Leibeigenen und ließ sie schwer für sich arbeiten. Ging er fort, und auch des Nachts, sperrte er beide ein. Oft nahm er die Frau, wann und wo es ihn verlangte, und es ließ ihn kalt, dass der kleine Junge dabei meist Zeuge seines Verlangens war. Die Witwe ließ alles still über sich ergehen, um den Knaben zu schützen, den sie inzwischen so sehr liebte, als wäre er ihr eigenes Kind. Und Welf tröstete sie dann immer, wenn sie vor Schmerzen jammerte, und versprach ihr weinend, sie bald von dem Scheusal zu befreien.

Als er sieben Jahre alt war, erkrankte seine Ziehmutter schwer und bald darauf verstarb sie und trennte die beiden für immer. Von da an begann für Welf im wahrsten Sinne ein Hundeleben! Der Bauer ließ ihn weiter für sich arbeiten und fünf lange Jahre musste er Schläge und Misshandlungen über sich ergehen lassen. Manchmal schlug er Welf mit den Fäusten so hart, dass hinterher dunkle, blaue Flecken seinen Körper übersäten. Einmal verlor der Junge einen Zahn und ein anderes Mal brach ihm der Bauer die Nase. Nicht selten trug er im Gesicht blutende Wunden davon. Oft verbannte der herzlose Mann Welf für eine Nacht in den dunklen und kalten Brunnen. Einsam weinte er dort unten und zitterte vor Kälte. Sehnsüchtig dachte er an diesem hässlichen Ort an seine Ziehmutter und an die Liebe, die sie ihm geschenkt hatte. Hilflos stand er in dem Wasser, das ihm meist bis zum Bauchnabel reichte, und meinte schlotternd: „Jetzt tauche ich unter und höre auf zu atmen!“So oft er es auch versuchen wollte, es fehlte ihm letztendlich der Mut dazu.

Dann aber wendete sich das Blatt. Der Bauer schlug Welf wieder grundlos und schien in seinem Wahn auch kein Ende zu finden. Der Junge lag am Boden und hielt sich seine Arme schützend vor den Körper. Irgendwann hatte der Mann schließlich genug und ließ erschöpft von dem Knaben ab. Nachdem der Peiniger von ihm abgelassen hatte, schaute Welf auf. Vor ihm lag der Stock, mit dem er soeben misshandelt worden war. Entschlossen erhob er sich und griff nach dem Stock. Der Bauer hatte das Haus verlassen und war in die Scheune gegangen.

Welf folgte ihm und als er sich hinter dem Bauern befand, bemerkte der ihn und drehte sich um. Fragend blickte er in das Gesicht des Jungen. „Was willst du? Noch mehr Schläge?“

Erst da sah er den Stock in Welfs Hände und bevor er sich noch aus der Scheune flüchten konnte, hatte ihm der Junge schon einen Schlag auf den Kopf versetzt. Vergeblich versuchte der Bauer, den weiteren Schlägen zu entkommen, und selbst als er am Boden lag, ließ Welf nicht von ihm ab. Der Junge war so von Hass und Zorn erfüllt, dass ihm die Angst und der Schmerz des Mannes gleichgültig waren. Immer wieder hieb er auf den betrunkenen Bauern ein und schrie dabei: „Stirb, du Scheusal!“Tränen liefen Welf über die Wangen und bei den letzten Schlägen spritzte ihm das Blut des Mannes ins Gesicht und auf den Körper. Erst als sich der Bauer längst nicht mehr rührte, hielt er inne. Reglos und ohne Mitleid blickte er auf den Toten.

Irgendwann wischte er sich mit dem Hemdsärmel die Tränen und das Blut aus dem Gesicht und schloss seine Augen. Tief und fest sog er die Luft der Freiheit in sich ein. Als er seine Lider wieder öffnete und auf den toten Mann vor sich schaute, wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Er wusste, dafür würde er schwer bestraft werden und so floh er Hals über Kopf vom Hof. Er rannte ohne Ziel querfeldein. Auf seiner Flucht verbrachte er eine Nacht in einem verlassenen Dorf, die andere in einem Wald.

Tagsüber lief und lief er, als wären sie schon hinter ihm her, und so flüchtend begegnete er schließlich einem Reiter. Der war ein heimkehrender Soldat namens Aaron. Er gab dem verängstigten Jungen erst einmal zu essen und trinken. Während der kleine Flüchtling gierig speiste, musterte Aaron ihn. Der Soldat sah das Blut überall auf dem Körper und musste wissen, was dem Jungen mit den braunen, langen und zerzausten Haaren widerfahren war. „Was ist geschehen?“, fragte er.

Erschrocken blickte Welf den freundlichen Mann an, aber statt ihm zu antworten, brach er zitternd und weinend zusammen. Aaron zog den verletzten Welf in seine Arme und strich ihm tröstend übers Haar. Eine Zeit lang saßen sie nur so da, dann aber fing der Soldat an, zu erzählen: „Ich bin auf dem Weg nach Hause. Lange war ich fort! Aber nun zieht es mich wieder in die Heimat. In meinem Dorf würde es dir bestimmt gefallen. Es liegt am Fluss, umgeben von kräftigen, grünen Wiesen, mit vielen Obstbäumen. Im Süden steht ein schöner Wald und man kann die Berge in der Ferne sehen. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen!“

Welf blickte den Mann schluchzend an und erwiderte ihm schließlich. „Danke! Ich würde dich gerne begleiten!“

Von diesem Tag an lebte der junge Welf zusammen mit Aaron bei dessen Schwester Mabel und deren Familie. Aaron hatte viele Jahre dem Land als Soldat gedient. Er hatte sich bereits in der großen Schlacht geschlagen und nun, nach etlichen weiteren Kämpfen, war er es leid und auch müde und er sehnte sich nach einem ruhigen und friedvollen Leben. Aaron war ein freundlicher und sanfter Mann, fand jedoch nie eine Frau, was für ihn selbst aber nicht weiter schlimm war. Dafür kümmerte er sich nun fürsorglich um Welf und schenkte ihm Geborgenheit. Die seelischen Wunden des Jungen verheilten mit der Zeit, vergessen ließ das Leid sich aber nicht. Welf erzählte seinem Ziehvater nie von der traurigen Kindheit, einzig Ragnar erfuhr einmal davon. Bis er sich ihm anvertraute, vergingen jedoch fünf Jahre.

Inzwischen waren aus den Knaben junge Männer geworden. Ragnar trug sein schwarzes, gelocktes Haar nun ein wenig länger und hin und wieder rasierte er sich auch. Trotzdem waren Spuren eines schwarzen Bartes immer zu erkennen.

Welfs Haarpracht hatte sich in den Jahren dagegen nicht groß verändert, nur dass an manchen Stellen kleine Zöpfchen herauslugten. Die hatte ihm einmal Ella, Ragnars jüngere Schwester, hineingeflochten und Welf gefielen sie so gut, dass er sie nicht mehr öffnete. Das Rasieren mochte er nicht so gerne und darum wucherte in seinem Gesicht schon ein dichter Bart. Welf war zwar noch immer kleiner als Ragnar, dafür aber wesentlicher muskulöser und kräftiger in der Statur. Allerdings war es sein Freund, der weiterhin die anderen erstaunte.

Sie hatten in all den Jahren des Heranwachsens nie aufgehört, über ihre Reiseabsichten zu sprechen. Inzwischen war ihr Vorhaben auch kein Geheimnis mehr. Täglich musste ihr Umfeld darum damit rechnen, dass die jungen Männer einmal fortgehen würden.

Eines Tages lagen sie im Schatten der Mittagssonne unter einem Apfelbaum und ruhten sich von der Feldarbeit aus. Ragnar kaute gerade genüsslich auf einem Grashalm, als Welf ihm ohne Vorankündigung offenbarte: „Ich habe vor langer Zeit einen Mann getötet!“

Fragend sah ihn sein Freund an. „Hat er das gerade wirklich gesagt?“, dachte sich Ragnar, während Welf seinen Blick nicht vom Himmel nahm und dann auch weitersprach.

Er erzählte von seiner ermordeten Familie, von seiner Ziehmutter und von dem brutalen Bauern. „Nachts im Stall konnte ich wegen der Schmerzen oft nicht schlafen. Grundlos schlug er mich mit der Faust oder hieb mit einem Stock auf mich ein. Er riss mir büschelweise die Haare aus und er tat Dinge mit mir, die waren so grässlich, dass ich es wohl nicht mehr vergessen kann, aber auch nie darüber sprechen will! Aber das Schlimmste waren für mich die Nächte im Brunnen. Dort befielen mich große Ängste und ich fühlte mich so schrecklich allein! Bald jede Nacht wünschte ich nicht nur ihm, sondern auch mir den Tod!“

Ragnar unterbrach seinen Freund nicht und hörte ihm aufmerksam zu. Welf schluckte schwer. An seiner Wange lief eine einzelne Träne hinunter. „Dann habe ich es getan! Ich schlug ihn tot! Die Schmerzen, die er mir zugefügt hatte, gab ich ihm mit jedem Hieb zurück!“

Ragnar war erschüttert, geschockt und zornig zugleich. Mitleidvoll legte er eine Hand an den Arm seines Freundes. Gerne hätte er auch etwas zu ihm gesagt, doch im Augenblick fehlten ihm die Worte.

Es war schwül an diesem Tag und kaum mehr auszuhalten. Mit einem Mal war es auch seltsam still. Keinen Vogel hörte man singen und nicht einmal das Brummen der Fliegen. Wortlos erhob sich Ragnar und baute sich vor Welf auf.

Der blickte ihn darauf verwirrt an und als er sah, dass sein Freund auch noch ein Messer hervorzog, erstarrte er. „W…was hat er vor?“, fragte sich Welf besorgt.

Ragnar schaute auf ihn hinunter. Zorn konnte man in seinem Gesicht sehen, aber er wirkte auch irgendwie teilnahmslos. Stoisch richtete er seinen Blick auf das Messer, um es dann im nächsten Moment durch die Innenfläche seiner linken Hand zu ziehen. Stumm schaute er auf die blutende Hand, ballte sie wenig später zur Faust und hob sie in die Höhe. Langsam suchte das Blut seinen Weg und lief an seinem Arm hinab. Ragnar richtete seinen Blick auf Welf, der sich gerade vom Boden erhob, und äußerte mit lauter Stimme: „Hier schwöre ich dir bei meinem Blut, ich werde Rache nehmen! Für dich und für all die Menschen, die leiden mussten oder es noch immer tun! Ich allein werde den Tyrannen töten, der die Schuld trägt für Tod … Trauer … und Schmerz!“

Stramm und ehrfürchtig hatte Welf den Worten seines Freundes gelauscht. Die Sonne warf in diesem Moment gerade ihre Strahlen durch den Baum und hüllte Ragnar in ein warmes und wundersames Licht. Da befiel Welf das Gefühl, sein Freund sähe aus wie ein König. Welf war so beeindruckt von dem, was eben geschehen war, dass er um das Messer bat. Hinterher schnitt er sich ebenfalls, ohne zu zögern, in die Hand. Er hielt sie Ragnar hin, der sie gleich umschloss und schwor ihm: „Und ich schwöre dir, Ragnar, ich werde dir immer treu zur Seite stehen! Bis zu meinem Tode!“

Stolz und gleichermaßen berührt schauten sie sich in die Augen und drückten ihre blutenden Hände fest und besiegelten damit ihre Freundschaft auf ewig.

*

Lebt wohl, Söhne!

Neunzehn Jahre lagen die Überfälle auf das Land zurück. Es war Winter geworden und Ragnar veränderte sich zusehends. Sein Eid, den er Welf geschworen hatte, aber auch der Drang, Soldat zu werden, ergriffen vollends Besitz von ihm. Er wurde ernster und nur noch selten sah man ihn lachen. Der schelmische Blick in seinen blauen Augen war verschwunden und sie strahlten auch nicht mehr. Dafür blickten sie einem oft kalt und mit Zorn entgegen. Nicht selten wirkte er müde und es machte den Anschein, als magere er ab.

Nachts plagten ihn neuerdings seltsame Träume. Diese wirkten so echt, dass er immer das Gefühl hatte, er könne die Hitze des Feuers, das lodernd die Häuser umschloss, auf seiner Haut spüren. Die toten Menschen, die ihm im Schlaf erschienen, deren Jammern und der Schmerz auf ihren Gesichtern verfolgten ihn noch am nächsten Tage. Im Hintergrund seiner Schattenbilder blickten ihn oft dunkle, schöne Augen traurig an. Diese brannten sich in sein Gehirn und ließen sie ihn nicht mehr vergessen.

Die immer wiederkehrenden Schattenbilder zermürbten ihn. Nachts strich er darum oft schlaflos durch die Gegend und hoffte sehnlich auf den erlösenden Morgen. Es gab Nächte, da quälten ihn seine Träume so sehr, dass es ihn verlangte, mit seinem Kopf gegen etwas zu laufen, nur um die schrecklichen Bilder aus seinem Hirn zu verbannen.

Ragnars ständig wechselnder Gemütszustand bereitete seiner Mutter Bona große Sorgen. Bald schon erkannte sie, dass wohl die Zeit des Abschieds näher rücke. Immer dann, wenn die Laune ihres Sohnes besonders betrübt war, bemerkte sie: „Ragnar, was dir auch auf dem Herzen liegt, sprich doch mit mir!“

Aber Ragnar wollte sie nicht beunruhigen und antwortete ihr darum immer mit den gleichen Worten: „Mach dir keine Sorgen, Mutter! Es geht mir gut!“

Der Frühling hatte schließlich die Erde wach geküsst und die Freunde beschlossen, nun ihren Weg zu gehen. Bisher hatte sie die Sorge um ihre Familien, aber auch die Arbeiten, die täglich verrichtet werden mussten, davon abgehalten. Ragnar war es dann, der seinen Freund während der letzten Wintertage zu dem großen Schritt gedrängt hatte. Vorher mussten sie aber noch so einiges erledigen. Ragnar half seinem Vater, das Strohdach des Wohnhauses neu zu decken. Es hielt schon eine Zeit lang an einigen Stellen nicht mehr dicht. Ferner war die Stalltüre und eines der Scharniere gebrochen. Die Schafe mussten geschoren und so manches Feld bestellt werden.

Die Nachricht seiner Abreise überbrachte Ragnar der Familie erst am Vorabend. Sie saßen am Tisch und aßen gemeinsam. Ragnar stocherte nachdenklich in seinem Essen herum, weshalb sich seine Mutter schließlich erkundigte, warum er denn nicht esse. „Vater, Mutter, der Tag ist gekommen! Morgen werde ich fortgehen!“, erklärte er und blickte seine Eltern dabei ernsthaft an.

Obwohl sie es alle insgeheim längst gewusst und auch damit gerechnet hatten, waren sie doch über die Kunde erschrocken. Traurig schauten sie ihm entgegen. Seine Schwestern aber sprangen auf, fielen ihm um den Hals und flehten ihn weinend an: „Ragnar, nein! Du darfst nicht gehen! Bitte, bitte bleib bei uns!“

Hilfesuchend wandte sich Ragnar an seinen Vater. „Mädchen, macht es eurem Bruder nicht so schwer. Wir wussten alle, dass der Tag kommen würde! Wir müssen Ragnar ziehen lassen, auch wenn es uns noch so schwerfällt“, meinte Ratbod. „Unsere Gedanken werden dich immer begleiten!“, versprach er seinem Sohn und vermisste ihn bereits, auch wenn es den Anschein hatte, der Abschied fiele ihm nicht schwer. All die Jahre war er ihm eine große Hilfe gewesen und nun wurde ihm bang, wie er das alles ohne ihn schaffen sollte. Aber das Wohl seines Sohnes war ihm wichtig und ihm war nicht entgangen, dass der Junge sich verändert hatte. Vielleicht würde ihm eine neue Aufgabe und ein anderes Umfeld in seinem Kummer helfen.

Ragnar drückte seine Schwestern und küsste sie beide auf die Stirn. Hinterher umarmte er noch seine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Auch Welf war seinem Ziehvater in den letzten Tagen seines Aufenthalts zur Hand gegangen. Im Wald besserten sie Fallen aus und gemeinsam machten sie noch einmal Jagd auf einen Hirsch. Den Umgang mit Pfeil und Bogen hatte ihm Aaron beigebracht und inzwischen beherrschte er diese Waffe weitaus besser als sein Lehrmeister selbst. Mittags saßen sie auf einem entwurzelten Baum und teilten sich ein Brot.

„Aaron, morgen werden Ragnar und ich uns auf den Weg machen!“

Der einstige Soldat sah seinen geliebten Ziehsohn an und erwiderte: „Ja, das habe ich mir schon gedacht. In letzter Zeit warst du recht ruhelos. Du sollst wissen, Welf, ich bin sehr stolz auf dich und auch auf Ragnar. Ich glaube fest, ihr werdet gute Soldaten sein! Eines will ich dir aber noch mit auf den Weg geben. Auf eurer Reise, während der Ausbildung und vor allem in den Jahren danach werdet ihr eure Freundschaft oft dringend benötigen. Darum pflege sie und setze sie niemals aufs Spiel!“

„Ich werde deinen Rat befolgen, Vater! Sei unbesorgt, die Freundschaft zu Ragnar ist mir sehr wichtig! Und ich verspreche dir, wir werden uns bald wiedersehen!“