Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht - Johanna Romberg - E-Book

Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht E-Book

Johanna Romberg

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Beschreibung

Aus Liebe zur Natur ist Johanna Romberg vor Jahren aufs Land gezogen. Doch seit einiger Zeit vermisst sie vertraute Vogelstimmen im Garten, Schmetterlinge und Bienen machen sich rar, und in den Wäldern vertrocknen die Buchen. Verlieren wir gerade unsere Lebensgrundlage? Auf der Suche nach Antworten trifft Johanna Romberg Menschen, die es im Kleinen schaffen, die Zerstörung der Natur aufzuhalten. Ob Nachtfalterexpertin, Gewässerbiologe oder Eulenschützer - entstanden sind poetisch erzählte Naturgeschichten, die zum Beobachten einladen und zum Handeln ermutigen.

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Seitenzahl: 360

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Inhalt

Cover

Weiterer Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

EINLEITUNG

Einladung zum Hinschauen

KAPITEL 1

Eine Seilschaft für die Uhus

Wie ein kleiner Verein vogelbegeisterter Menschen die Eifel in einen Hotspot für Eulen verwandelte. Und damit der Natur weit über die Region hinaus neue Sympathien verschaffte

KURZAUSFLUG

Die (mindestens) 100-Pflanzen-Challenge

KAPITEL 2

Das Mysterium am Kieselgrund

Wie ein Team von Gewässerkundlern sich der Rettung einer seltenen Muschel verschrieb – und dabei eine ganze Flusslandschaft wieder zum Leben erweckte

KURZAUSFLUG

Es lebe der Wildwuchs

KAPITEL 3

Wo einst die Unken riefen …

… soll wieder neues Moor entstehen. Wie Greifswalder Wissenschaftler einen fast verlorenen Lebensraum wiedererwecken – und dabei Natur- und Klimaschutz verbinden

KURZAUSFLUG

Von Beinbrech und Baustellenkräutern

KAPITEL 4

Drei Schachbretter auf Abschnitt fünf

Warum es Schmetterlingen hilft, wenn man sie zählt, und wie man Gärten schafft, in denen möglichst viele von ihnen überleben können

KURZAUSFLUG

Von einer Landwirtschaft, die Natur leben lässt

KAPITEL 5

Hartmann holt die Hasen zurück

Wie Bauern, Naturschützer und Forschende beim Projekt F.R.A.N.Z. gemeinsam nach Wegen suchen, Landwirtschaft naturverträglicher zu machen

KURZAUSFLUG

Oasen für Insekten schaffen (oder es vermasseln)

KAPITEL 6

Von Vögeln lernen, was Überlebenskunst ist

Das Wattenmeer ist einer der weltweit bedeutendsten Rastplätze für Zugvögel. Wie es Menschen immer wieder das Staunen lehrt – und weshalb sein Schutz dringlicher ist denn je

KURZAUSFLUG

Der Zauber des zweiten Blicks

KAPITEL 7

Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht

Weshalb die Natur im Dunkeln reicher, vielfältiger und bunter ist, als die meisten ahnen, und wie ihre Erkundung für eine Hobbybeobachterin zum lebenslangen Abenteuer wurde

KURZAUSFLUG

Von Verwandlungskünstlern mit und ohne Wurzeln

KAPITEL 8

Die neue Wald-Ordnung

Wie ein Förster lernte, auf die Kraft der Natur zu vertrauen – und dabei einen Wald schuf, der lebendig und ertragreich gleichermaßen ist

KURZAUSFLUG

Warum jede Art zählt

KAPITEL 9

Lasst die Biber ran!

Warum wir eine neue grüne Bewegung brauchen, die den Reichtum der Natur nicht nur bewahrt, sondern wiederaufleben lässt

Danksagung

Literatur

Register

Weiterer Titel der Autorin

Federnlesen. Vom Glück, Vögel zu beobachten

Über dieses Buch

Aus Liebe zur Natur ist Johanna Romberg vor Jahren aufs Land gezogen. Doch seit einiger Zeit vermisst sie vertraute Vogelstimmen im Garten, Schmetterlinge und Bienen machen sich rar, und in den Wäldern vertrocknen die Buchen. Verlieren wir gerade unsere Lebensgrundlage? Auf der Suche nach Antworten trifft Johanna Romberg Menschen, die es im Kleinen schaffen, die Zerstörung der Natur aufzuhalten. Ob Nachtfalterexpertin, Gewässerbiologe oder Eulenschützer – entstanden sind poetisch erzählte Naturgeschichten, die zum Beobachten einladen und zum Handeln ermutigen.

Über die Autorin

Johanna Romberg, Jahrgang 1958, wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach einem Studium der Schulmusik und Hispanistik ließ sie sich an der HENRI-NANNEN-SCHULE zur Journalistin ausbilden. 30 Jahre war sie Redakteurin und Autorin des Magazins GEO. Für ihre Reportagen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem zweimal mit dem EGON-ERWIN-KISCH-PREIS sowie dem GEORG-VON-HOLTZBRINCK-PREIS für Wissenschaftsjournalismus. Sie lebt in der Lüneburger Heide.

JOHANNA ROMBERG

Der Braune Bärfliegt erstnach Mitternacht

Unsere Naturschätze.Wie wir sie wiederentdeckenund retten können

Mit Illustrationen vonFLORIAN FRICK

QUADRIGA

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ann-Kathrin Schwarz, Berlin

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngenunter Verwendung von Illustrationen von Florian Frick

Einband-/Umschlagmotiv und Illustrationenim Innenteil: © Florian Frick

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0415-1

quadriga-verlag.de

lesejury.de

Meinen Kolleginnen und Kollegen von den Flugbegleitern.

Und allen anderen, die sich dafür einsetzen, dass die Vision vom »stummen Frühling« nie Wirklichkeit wird

SONNENAUFGANG IM VORFRÜHLINGSWALD

EINLEITUNG

Einladungzum Hinschauen

Einige Momente lang dachte ich, sie wären tatsächlich verschwunden, für immer.

Es war ein Frühjahrsmorgen, etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Ich stand im Wald, Klemmbrett, Notizzettel und Stift in der Hand, bereit, die ersten Vogelstimmen des Tages zu notieren. Wie schon in den vergangenen Jahren hatte ich einen milden, trockenen Tag Mitte März genutzt, um den nahe gelegenen Mischwald zu besuchen, in dem ich regelmäßig Vögel zähle. Die Daten, die ich ermittle, leite ich an das »Monitoring häufiger Brutvögel« weiter, ein seit 1989 laufendes Programm, an dem sich Tausende vogelkundiger Menschen in ganz Deutschland beteiligen.

Normalerweise umgibt mich im Wald eine Klangwolke aus Dutzenden Stimmen, sobald ich aus dem Auto steige. An diesem Morgen aber herrschte unheimliche Stille. Unheimlich auch deshalb, weil es bereits hell wurde; normalerweise setzt der morgendliche Chor schon ein, wenn es noch stockdunkel ist.

Ich beobachte Natur lange genug, um zu wissen, dass die Vogelpopulation eines halbwegs intakten Lebensraums normalerweise nicht einfach spurlos verschwindet – zumal dann nicht, wenn sie, laut meinen eigenen gewissenhaften Zählungen, einige Hundert Individuen umfasst. Dennoch kroch, während ich in den schweigenden Wald hineinhorchte, Angst in mir hoch. Ich hatte in den Monaten und Jahren zuvor so viele Berichte über das fortschreitende Artensterben gelesen, so viele Warnungen vor einem bevorstehenden »stummen Frühling«, dass mir diese Stille wie ein wahr gewordener Alptraum vorkam, als wäre die Vision einer vogelfreien Zukunft auf einen Schlag Gegenwart geworden.

Es war zum Glück nur ein kurzer Schrecken. Nach einigen Minuten, die mir endlos vorkamen, ertönte aus einem Dickicht hinter mir die leicht vibrierende, glasklare Stimme eines Rotkehlchens. Das war wie ein Signal für die übrigen Vögel, die schon singbereit in den umliegenden Bäumen und Büschen hockten. Zwei weitere Rotkehlchen antworteten ihrem Vorsänger, dann setzte, noch etwas zögerlich, die erste Singdrossel ein, der erste Zaunkönig, und nach kaum mehr als einer Minute war der Wald so erfüllt von Gesang, dass ich Mühe hatte, noch einzelne Stimmen herauszuhören. Ich ließ Klemmbrett und Stift sinken und gab mich ein paar Minuten lang einfach der Klangwolke hin. Sie war so laut, so dicht gewebt, so bezaubernd, dass ich darüber alles andere vergaß – auch meine Angst vor einer vogelfreien Zukunft.

Dieses Frühjahrserlebnis liegt mittlerweile Monate zurück, aber ich erinnere mich oft daran – auch, weil es so typisch ist für die Art, wie ich Natur mittlerweile wahrnehme. Schon seit Jahren fühle ich mich in einem ständigen Zwiespalt: Einerseits kenne ich kaum etwas Schöneres, als durch eine halbwegs lebendige Landschaft zu laufen, den Vögeln zu lauschen, mich in das Muster eines Schmetterlingsflügels zu vertiefen, das Blütensortiment auf einem Wegrandstreifen zu inspizieren und darüber für ein paar Momente den Rest der Welt und mich selbst zu vergessen.

Andererseits lebe ich in ständiger Sorge, dass das, was mir seit meiner Kindheit lieb und teuer ist, früher oder später verschwunden sein könnte, ein Opfer des Ausbeutungsfeldzug, den wir Menschen – vor allem die Wohlhabenden unter uns, die überdurchschnittlich viele Ressourcen beanspruchen – gegen die Natur führen.

»Natur« ist ein weiter Begriff, der letztlich alles einschließt, was nicht von Menschen gemacht ist. Ich verwende ihn hier vor allem als Synonym für »Biodiversität«. Das sperrige Wort steht für den Reichtum des Lebens auf der Erde, der vom Kleinsten wie Pflanzengenen oder Mikroben über die Vielfalt der Tier-, Pflanzen- und Pilzarten bis hin zu ganzen Lebensräumen reicht – Landschaften und Ökosystemen, die so unterschiedlich sind wie die arktische Tundra, die Korallenriffe der Tropenregion oder auch ein Laubmischwald in der Norddeutschen Tiefebene.

In diesem Buch wird es allerdings nicht um die Naturschätze der Tropen oder der Arktis gehen, auch nicht um die Erforschung des Mikrokosmos der Gene. Sondern um den Teil der Natur, der sich ohne Hightech-Hilfsmittel und Langstreckenflüge erleben lässt: die Vielfalt vor unserer Haustür. Diese Beschränkung hat ihren Grund. Ich wollte kein Grundsatzwerk über den Zustand der globalen Biodiversität verfassen – das haben andere vor mir umfassender und kompetenter getan, als ich es je könnte. Viel lieber schreibe ich über das, was ich aus eigener Anschauung kenne oder ohne großen Aufwand erkunden kann, und ich versuche, es so zu zeigen, dass auch andere Lust bekommen, es anzuschauen.

Ich habe nämlich eine These, die auf Anhieb vielleicht schlicht klingt, von der ich aber zutiefst überzeugt bin: Wenn wir wollen, dass unsere Naturschätze überleben oder gar wiederaufleben, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass sie angeschaut werden, von möglichst vielen Menschen. »Angeschaut« nicht im Sinne von kurz hingeguckt und nebenbei zur Kenntnis genommen, sondern von bewusst und intensiv erfahren – neugierig, wissbegierig, forschend, natürlich auch besorgt und Verluste abschätzend, aber auch lustvoll, hingerissen, selbstvergessen und verliebt. Ich bin überzeugt, dass tiefe emotionale Verbundenheit das stärkste Motiv ist, sich für die Bewahrung der Natur zu engagieren. Und wenn ich Sie beim Lesen dazu anregen kann, diese Verbindung neu zu suchen oder zu stärken, dann ist ein wichtiges Anliegen dieses Buches schon erfüllt.

Dass ich mich auf die Betrachtung der heimischen Artenvielfalt und ihrer Überlebenschancen konzentriere, heißt nicht, dass ich den Rest der Welt ausblende. Im Gegenteil: Gerade als Vogelbeobachterin ist mir nur zu bewusst, wie sehr unsere heimischen Ökosysteme mit denen weit entfernter Gebiete verknüpft sind und wie sehr fast alles, was ich in meiner näheren und weiteren Umgebung beobachte, von globalen Entwicklungen beeinflusst wird. Ich kann keine hundert Schritte durch die Landschaft gehen, ohne dass mir entsprechende Fragen durch den Kopf gehen.

Die Schwalben, die sich dort auf dem Koppelzaun versammelt haben: Werden sie den Zug in den Süden überstehen, ohne abgeschossen zu werden, in einem Vogelfangnetz zu landen oder in ihrem afrikanischen Winterquartier an Hunger oder Hitzestress zu verenden? Der Admiral, der dort einsam zwischen den Distelblüten flattert: Waren vor zwei, drei Jahren nicht noch Dutzende Falter an derselben Stelle unterwegs, und nicht nur Admirale, sondern noch andere Arten? Die Eichen an der Straße zu meinem Zählgebiet, die schon im vergangenen Jahr erste braune Zweige aufwiesen: Werden sie die kommenden Dürresommer überleben?

Zugvogeljagd. Lebensraumzerstörung. Insektensterben. Klimakrise. Wer regelmäßig die Nachrichten zum Zustand der Biosphäre verfolgt, braucht starke Nerven, denn gerade in den letzten Jahren kommen sie immer mehr einem Trommelfeuer an Hiobsbotschaften gleich. Der Reichtum an Leben, der in Milliarden Jahren gewachsen ist – er wird gerade weltweit in atemberaubendem Tempo vernichtet. Längst sprechen Biologen und Ökologen vom »sechsten Massenaussterben«, das bereits jetzt ähnliche Dimensionen angenommen hat wie die fünf, die sich in vergangenen Epochen der Erdgeschichte ereignet haben. Das bislang letzte wurde vor etwa 65 Millionen Jahren von einem Kometeneinschlag ausgelöst; der darauffolgende globale Temperatursturz führte zum Aussterben nicht nur der Dinosaurier, sondern von 76 Prozent aller damals existierenden Tier- und Pflanzenarten.

Der Vergleich der Gegenwart mit dieser lange zurückliegenden Apokalypse scheint nicht übertrieben: Nach Berechnungen der Weltnaturschutzorganisation IUCN gehen zurzeit jeden Tag hundert Arten für immer verloren – das entspricht dem Tausend- bis Zehntausendfachen dessen, was die Evolution im gleichen Zeitraum auf natürlichem Wege »aussortieren« würde. Und es sind nicht allein die Arten, die verschwinden oder an den Rand des Aussterbens geraten – es ist die schiere Masse an Lebewesen, die vernichtet wird.

Seit 1972, also in wenig mehr als der Hälfte eines Menschenlebens, sind 68 Prozent aller Wirbeltiere vom Erdboden verschwunden – Säugetiere, Vögel, Fische und Amphibien. Und allein seit der Jahrtausendwende sind weltweit knapp zwei Millionen Quadratkilometer noch intakter Wildnis zerstört worden – ein Gebiet, das der Größe von Mexiko entspricht. Damit sind nicht nur Lebensräume für unzählige Pflanzen und Tiere verloren gegangen, sondern auch Grundlagen für menschliches Leben: Wälder, die Wasser speichern und Hitzewellen mildern, Moore, die vor Hochwassern schützen und Kohlenstoff um ein Vielfaches effektiver speichern als Wälder, Insektenschwärme, die unschätzbare Bestäubungsdienste leisten, Mangroven und Seegraswiesen, ohne die wesentliche Teile der Welternährung zusammenbrechen würden, weil sie als Kinderstube für Fische unersetzlich sind.

Vor einiger Zeit hat der Weltbiodiversitätsrat IPBES die wichtigsten Treiber der globalen Zerstörung ausgemacht – zu ihnen zählt, nicht überraschend, der menschengemachte Klimawandel. Am gravierendsten jedoch wirken sich direkte Eingriffe in die Natur aus: etwa die Rodung von Wäldern zur Gewinnung von Acker- und Weideland, unregulierte Jagd und die Plünderung der Meere durch industrielle Fischerei.

Manchmal wünschte ich mir, ich könnte die Hiobsbotschaften zum Thema Natur einfach ausblenden und zur Tagesordnung übergehen – so, wie es viele andere ja auch tun, nicht zuletzt die vielen Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die diesen Zerstörungen tatenlos zusehen oder sie gar aktiv vorantreiben. Aber das Nicht-Hinsehen käme mir wie ein Akt der Resignation vor, ein Eingeständnis, dass der Untergang unserer Lebensgrundlagen nicht mehr aufzuhalten ist. Und das glaube ich nicht. Nicht etwa aus blindem Zweckoptimismus, sondern weil im Strom der schlechten Nachrichten immer wieder auch solche auftauchen, die zumindest bei mir einen Funken Hoffnung erzeugen.

Diese Nachrichten handeln, zum Beispiel, von den 48 Tierarten, die in den vergangenen Jahrzehnten vor dem Aussterben bewahrt werden konnten – dank des internationalen Übereinkommens über biologische Vielfalt von 1993, in dessen Folge zahlreiche wirksame Schutzprogramme gestartet wurden. Sie handeln von den Tropenwäldern Costa Ricas, deren Fläche in nur dreißig Jahren verzehnfacht wurde und mittlerweile die Hälfte des Landes einnimmt; von den Meeresschutzgebieten, die mittlerweile 7,47 Prozent der globalen Ozeane umfassen – was immer noch viel zu wenig ist, aber doch ein Hundertfaches jener mageren 0,7 Prozent, die um das Jahr 2000 herum für Fischfangflotten gesperrt waren.

Hoffnung weckt auch die im Mai verabschiedete EU-Biodiversitätsstrategie. Und der Beschluss, ab Mitte der 2020er Jahre ein Zehntel des gesamten EU-Haushalts in den Erhalt der biologischen Vielfalt zu investieren – rund dreißig Mal so viel wie bisher. Wie segensreich sich diese Finanzspritze für viele bedrängte Arten auswirken könnte, beweisen schon jetzt europaweite Projekte wie das zum Schutz des Rebhuhns, an dem sich neunzig landwirtschaftliche Betriebe in fünf Ländern beteiligen. Auf den deutschen Versuchsflächen, die von Biologen der Universität Göttingen betreut werden, haben sich die Populationen des scheuen, in vielen Regionen ausgerotteten Vogels nicht nur stetig erholt, sondern teils sogar vervielfacht.

Deutschland ist, entgegen landläufiger Meinung und trotz einer starken grünen Partei, durchaus kein Musterland des Naturschutzes. Auch die Nachrichten von hier sind größtenteils unerfreulich; sie handeln von schwindenden Lebensräumen und kaum gebremstem Flächenfraß, von Biodiversitätsstrategien, die ihre Ziele immer wieder krachend verfehlen, von einer Agrarlobby, die mit aller Macht gegen die Reform eines natur- und klimafeindlichen Subventionssystems kämpft, und von immer länger werdenden Listen gefährdeter Tiere und Pflanzen – zurzeit gilt jede dritte von insgesamt 48.000 in Deutschland heimischen Arten als gefährdet.

Aber auch in unserem Land gibt es in Sachen Naturerholung immer wieder Lichtblicke. Einer der hellsten der letzten Jahre war für mich jener Februartag des Jahres 2019, als in den Medien Bilder langer Menschenschlangen auftauchten, die sich vor bayerischen Rathäusern gebildet hatten. Dort lagen Unterschriftenlisten für das bundesweit erste »Volksbegehren Artenvielfalt« aus. Insgesamt 1,8 Millionen Menschen unterschrieben die Forderungen, die Naturschützende in ganz Deutschland seit Jahrzehnten vergebens erhoben hatten: unter anderem einen massiven Ausbau des Ökolandbaus, eine naturschonende Bewirtschaftung staatlicher Wälder, einen Stopp des Pestizideinsatzes auf staatlichen Flächen und die bessere Vernetzung von Biotopen. Die große Resonanz bewegte auch die bayerische Landesregierung zum Einlenken: Sie überführte die Forderungen des Volksbegehrens in ein Gesetz, das wenige Monate später verabschiedet wurde. Seine Umsetzung wird, wie es zurzeit aussieht, noch einige Jahre hartnäckiger kleinteiliger Überzeugungsarbeit erfordern, aber die Wende hin zu einem wirksameren gesetzlichen Schutz der Natur ist, wie es aussieht, unumkehrbar. Und das Vorbild Bayern hat Nachahmer gefunden: In den vergangenen Monaten sind weitere Volksbegehren gestartet worden – und haben, etwa in Niedersachsen, bereits zu besseren Naturschutzgesetzen geführt.

Es waren nicht zuletzt die Bilder des bayerischen Volksbegehrens, die mich angeregt haben, dieses Buch zu schreiben. Die vielen Tausend Menschen, die trotz Eiseskälte geduldig vor den Rathäusern Schlange standen oder sich unter dem Slogan »Rettet die Bienen« zu Demonstrationen versammelten; die Plakate und Transparente mit teils liebevoll selbst gemalten Blumen, Bienen und Schmetterlingen; die fröhlichen Aktivistinnen und Aktivisten, die in gelb-schwarz gestreiften Kostümen durch die Straßen tanzten: Sie alle haben mir und vielen anderen gezeigt, dass es ein neues, breites Interesse an Natur gibt, noch dazu eines, das sich explizit auf die Biodiversität richtet – einen Bereich der Umwelt, der selbst in den Augen ökobewusster Menschen lange als Spielwiese für etwas kauzige Spezialisten galt. Die Bilder haben mir außerdem, mehr als je zuvor, das Gefühl vermittelt, selbst Teil einer Bewegung zu sein, von Menschen, die beim Blick auf die Vielfalt des Lebens dieselben widerstreitenden Gefühle empfinden wie ich: einerseits Liebe zu ihr, Begeisterung über ihre Schönheit, andererseits tiefsitzende Angst vor ihrem Verlust.

Dieses Buch ist der Versuch, den Zwiespalt zwischen Liebe und Angst zumindest an einigen Stellen zu überbrücken. Herauszufinden, wie sich die Freude an der Vielfalt des Lebens bewahren lässt, ohne die Sorge um sie zu verleugnen – und damit eine Realität auszublenden, zu deren Erforschung ich mit meinen Vogelzählungen ja selbst ein klein wenig beitrage.

Der realitätsnahe Blick erfordert es, dass ich vorab etwas eingestehe – auch, um keine falschen Erwartungen an dieses Buch zu wecken: Ich glaube, dass es auf absehbare Zeit keine wirkliche Erlösung aus dem Zwiespalt geben wird. Ich kenne keinen wirklich naturverbundenen Menschen, den nicht die Sorge um die Zukunft der lebendigen Vielfalt umtreibt, und ich bin nicht wenigen begegnet, bei denen diese Sorge zuweilen in Verzweiflung und Resignation umschlägt.

Was ich aber bei Begegnungen mit anderen Freundinnen und Freunden der Natur auch immer wieder feststelle: dass der Zwiespalt zwischen Liebe und Sorge anspornt, sich eben nicht mit der Realität abzufinden. Sondern nach Wegen zu suchen, die Natur zu bewahren. Diese Wege – zumindest einige davon – zu beschreiben ist das zweite Anliegen dieses Buches. Es ist eine Sammlung von »guten Nachrichten«, von Geschichten, die zeigen, dass der Einsatz gegen die Zerstörung der lebenden Vielfalt nicht umsonst ist. Die aber auch deutlich machen, was genau geschehen muss, damit noch die Generation meiner Enkel und deren Nachkommen aus direkter Anschauung erfahren können, wofür das Wort »Biodiversität« steht.

Die Geschichten auf den folgenden Seiten handeln weniger von politischen Initiativen als vom praktischen Handwerk des Naturschützens, von Menschen, die sich – einzeln oder im Rahmen eines größeren Projekts – der Rettung eines Lebensraums, einer Art oder Artenfamilie verschrieben haben. Da ist etwa der Landwirt, der gemeinsam mit Forschenden aus Ökologie und Naturschutz versucht, seine konventionell bewirtschafteten Flächen naturverträglicher zu gestalten; da sind die Moorforscherinnen, die auf vielen Hundert Hektar wiedervernässter Wiesen demonstrieren, wie sich Natur- und Klimaschutz wirksam verbinden lassen. Ein Kapitel ist einem Team von Gewässerexperten gewidmet, das eine seltene Muschel vor dem Aussterben bewahrt und dadurch zugleich ein ganzes Flusssystem wiederbelebt hat, ein anderes einer Schmetterlingskundlerin, die seit Jahrzehnten gewissenhaft Daten über »Braune Bären« und andere verkannte Schönheiten der Nacht sammelt, um ihnen mehr öffentliche Aufmerksamkeit und damit auch Schutz zu sichern.

Diese und andere Geschichten stellen nur eine kleine, subjektive Auswahl dar aus den vielen, die ich ebenso gern erzählt hätte – wären meine Zeit, mein Recherchebudget und der Umfang dieses Buches nicht begrenzt gewesen. Es gibt in unserem Land, und natürlich auch außerhalb seiner Grenzen, Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen, die täglich aufs Neue demonstrieren, dass und wie Naturschutz wirkt. Die mit ihrer Energie und ihrer Hartnäckigkeit auch andere inspirieren, für die Biodiversität aktiv zu werden – und damit die Hoffnung verbreiten, dass sich deren fortschreitende Zerstörung doch noch aufhalten lässt.

Es gibt Stimmen, die diese Hoffnung für irreführend, ja kontraproduktiv halten. Erst kürzlich las ich in dem – zu Recht vielgelobten – Buch eines renommierten Wissenschaftshistorikers eine dringliche Warnung vor der Verführungskraft »guter Nachrichten« aus dem Naturschutz: Sie verleiteten dazu, die Realität zu verkennen – und den Verlust der Biodiversität als ein letztlich überschaubares Problem darzustellen, das mit gutem Willen, Idealismus und ein paar politischen Interventionen zu lösen wäre.

Die Menschen, deren Arbeit ich in diesem Buch vorstelle, sind jedoch keine Realitätsverweigerer. Sie verstehen Hoffnung vielmehr so, wie sie der Menschenrechtler und Politiker Václav Havel einst definiert hat: nicht als Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern als Gewissheit, dass das eigene Tun Sinn besitzt – egal was am Ende dabei herauskommt.

Es gibt noch einen anderen Grund, die Hoffnung auf Erhalt und Wiederbelebung der Natur nicht aufzugeben, und dieser wiegt vielleicht noch schwerer als alle Erfolgsmeldungen zusammengenommen: Das ist die Natur selbst.

Ich habe eingangs geschildert, wie die Sorge um Flora und Fauna meinen Blick auf sie prägt, so sehr, dass ich im Extremfall auf den Gedanken komme, ein Wald könnte von einem Jahr aufs andere von all seinen Vögeln verlassen worden sein. Aber es überwiegen, immer noch, die anderen Momente – solche, in denen meine Ängste wie weggeblasen sind, weil ich völlig gebannt bin von dem, was ich gerade vor mir sehe oder um mich herum höre.

Eine Kranich-Flugformation etwa, die sich quer über den gesamten Oktoberhimmel zieht. Den Messingschimmer auf den Flügeln eines auf den ersten Blick unscheinbar graubraunen Nachtfalters. Die Anmut eines Regenpfeifers, der über eine sumpfige Wiese trippelt. Die canyontiefen Furchen auf der Rinde einer vielhundertjährigen Eiche. Die Blütenvielfalt auf einer Wiese, die das Glück hatte, einige Sommer lang von Rasenmäher und Giftspritze verschont zu bleiben. Eine auf Beute lauernde Forelle, die sich mit minimalem Fächeln der Schwanzflosse gegen die Strömung behauptet. Ein für Menschenohren unhörbares Signal aus der Nacht, das der Fledermaus-Detektor aus Ultraschallhöhen in ein weiches, fast melodisches Trillern und Zirpen verwandelt – die Balzrufe einer Zwergfledermaus.

Das sind nur ein paar der Bilder und Klangeindrücke, die ich in den vergangenen Monaten gesammelt habe, bei den Recherchen für dieses Buch ebenso wie bei Exkursionen vor meiner Haustür.

In solchen Momenten erlebe ich eine Natur, die so ganz anders ist als diejenige, die mir in den meisten Nachrichten über sie begegnet. In Medienberichten, Dokumentationen und auch vielen Büchern zum Thema Umwelt stehen die Begriffe »Natur« und »Biodiversität« fast durchweg für etwas Fragiles, Empfindsames und ständig Bedrohtes; etwas, das oft nur durch großen Aufwand und intensive menschliche Zuwendung am Leben erhalten werden kann.

Dieses Bild ist natürlich nicht falsch – das zeigen die harten Zahlen und Daten zu den Schäden, die wir der Biosphäre bereits zugefügt haben. Aber es ist eben auch ein einseitiges Bild. Denn die Natur, die ich direkt wahrnehme, ist auch dies: sinnlich, raffiniert, ungestüm, robust, expansionsfreudig, widerständig und immer wieder erstaunlich anpassungsfähig. Es sind diese Eigenschaften, die Naturschutz, der ja oft als mühselige Sisyphusarbeit dargestellt wird, zu einer so lohnenden, immer wieder faszinierenden und auch beglückenden Beschäftigung machen.

Denn die Natur, das wird oft übersehen, ist die stärkste Verbündete derer, die sich für sie engagieren. Sie verschafft ihren Schützern einen entscheidenden Vorteil gegenüber denen, die im Kampf gegen die Klimaerwärmung aktiv sind – die andere drohende Umweltkatastrophe neben dem Massensterben der Arten. Klimaschützende können die Erfolge ihrer Arbeit nur in abstrakten Zahlen messen, etwa in eingesparten Treibhausgastonnen pro Wirtschaftssektor oder Land. Und ob ihr Engagement überhaupt etwas bewirkt, lässt sich letztlich nur langfristig an globalen Indikatoren ablesen, wie an der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre, dem – hoffentlich – verlangsamten Anstieg von Temperaturen und Meeresspiegel.

Naturschützer und -schützerinnen dagegen können den Effekt ihrer Arbeit oft schon nach wenigen Monaten oder Jahren sehen, hören oder sogar mit Händen greifen. Er lässt sich, zum Beispiel, an einem Paar Hasenohren ablesen, das aus einem neu angelegten Wildkräuterstreifen am Feldrand ragt. An den seltenen Pilzen und Moosen, die einen der Natur überlassenen Wald allmählich wieder besiedeln. An der explosionsartigen Vermehrung von Libellen, Fliegen und Kleinfischen in einem Bach, der wieder frei mäandrieren darf. An der Gelassenheit einer Herde Ringelgänse, die nicht länger vor Menschen die Flucht ergreifen, weil sie gelernt haben, dass zumindest in einem deutschen Nationalpark nicht auf sie geschossen wird.

Natürlich stellen sich solche Erfolge nicht über Nacht ein. Wer sich je im Naturschutz engagiert hat oder häufiger mit denen redet, die es tun, der weiß: So leicht es die Natur ihren Verbündeten macht, so zäh und oft frustrierend sind die Auseinandersetzungen mit den Menschen, die sie immer noch in erster Linie als nutzbare Ressource betrachten und ihren Schutz als Investitionshemmnis. Wir leben eben in einem Land, in dem kaum ein Quadratmeter freier Fläche nicht von irgendwem als Ackerland, Baugrund oder Rohstoffabbaugebiet beansprucht wird; in einer Gesellschaft, die Werte immer noch vorzugsweise in Euro und Cent misst, kontinuierliches Wirtschaftswachstum als Dogma hochhält und Biodiversität im Wesentlichen in Form toter Insekten auf der Windschutzscheibe wahrnimmt.

Aber das muss ja nicht so bleiben.

Im Schlusskapitel dieses Buches habe ich meine Vision eines bundesweiten »Volksbegehrens Artenvielfalt« beschrieben. Es ist so etwas wie die Anleitung zu einer grünen Revolution, die alle bisherigen Punkt- und Etappensiege des Naturschutzes in einen Siegeszug für die lebende Vielfalt verwandeln könnte. Einer Revolution, die keinen Systemumsturz erfordert, aber dennoch eine nachhaltige Belebung unseres Landes bewirken könnte – zum Wohle nicht nur der Natur, sondern auch von uns Menschen.

Diese Vision ist zugleich ein Fazit aus den Exkursionen und Begegnungen, die in den folgenden Kapiteln beschrieben sind. Es gibt aber noch ein weiteres, das ich daraus gezogen habe, ein persönliches: Ich habe in den vergangenen Monaten wieder gelernt, wie viel Spaß das Anschauen von Natur macht. Im Prinzip wusste ich das natürlich schon, immerhin bin ich seit über fünfzig Jahren begeisterte Vogelbeobachterin. Aber Vögel bilden, mit um die 300 heimischen Spezies, doch nur einen kleinen Teil der rund 48.000 Arten, die insgesamt in Deutschland vorkommen. Ich habe gemerkt, wie sehr sich mit jeder neuen Artengruppe, die ich zumindest ansatzweise kennenlernte, mein Blick erweitert und geschärft hat. Und im Gespräch mit den naturkundigen Menschen, die ich für dieses Buch getroffen habe, ist mir immer wieder klar geworden: Das Wort »Beobachten« ist letztlich nur ein sehr allgemeiner Oberbegriff für eine Vielzahl von Möglichkeiten, die lebende Vielfalt wahrzunehmen. Und jede Sichtweise verschafft neue Erlebnisse, eröffnet eigene Wege, Erkenntnisse über Natur zu gewinnen.

Man kann sich etwa einer einzigen Art widmen, ihre Entwicklung in einer Region über Generationen verfolgen – und dabei das »Privatleben« ihrer einzelnen Individuen so gut kennenlernen wie das der eigenen Familienmitglieder. Man kann aber auch die gesamte Lebensgemeinschaft einer Landschaft ins Visier nehmen und die komplexen, oft verblüffenden Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen ihnen entschlüsseln. Wenn man etwa Vogelschwärme in einem Tausende Quadratkilometer großen Wildnisgebiet vermisst, kann man daraus Veränderungen ablesen, die sich nicht nur auf anderen Kontinenten abspielen, sondern in der gesamten globalen Biosphäre. Es ist aber auch möglich, dieselben Veränderungen durch akribisches Beobachten eines Dutzends Schmetterlingsarten zu registrieren, die sich regelmäßig in einem Garten von gerade mal einem Hektar Größe einfinden.

Oder man macht es sich zur Lebensaufgabe, eine gesamte Artenfamilie mit Tausenden von Mitgliedern zu erschließen, Schätze an Detailwissen über sie zu sammeln, sich an Mikrowundern wie der Konstruktion eines Fliegenflügels zu begeistern. Und man kann, schließlich, Natur auch aus der distanzierten Perspektive derer betrachten, die sie vor allem nutzen wollen; die nicht so sehr auf einzelne Arten achten, sondern anhand harter Zahlen analysieren, mit welchen Methoden man einen Lebensraum langfristig vital und produktiv erhält.

Mir hat die Begegnung mit diesen verschiedenen Naturanschauungen nicht zuletzt Lust gemacht, wieder häufiger selbst auf Beobachtungstour zu gehen. Was ich unterwegs erlebt habe, ist in den »Kurzausflügen« zwischen den größeren Kapiteln festgehalten. Sie führten vor allem in meine nähere Umgebung – meinen Garten, die Feldflur rund um das Dorf, in dem ich wohne, und natürlich den Wald, in dem ich regelmäßig zum Vogelzählen unterwegs bin.

Alle Kapitel, die großen wie die kleineren, haben eines gemeinsam: Sie verstehen sich als Einladungen, die Begegnung mit der Natur zu suchen. Es gibt, zum Glück, immer noch so viele Möglichkeiten, ihr nahezukommen.

Manchmal sogar so unverhofft nahe, wie es gleich im folgenden ersten Kapitel beschrieben wird.

UHU

KAPITEL 1

Eine Seilschaft für die Uhus

Wie ein kleiner Verein vogelbegeisterter Menschendie Eifel in einen Hotspot für Eulen verwandelte.Und damit der Natur weit über die Region hinausneue Sympathien verschaffte

Schau ihnen nicht in die Augen! So lautet die erste und wichtigste Regel für den Umgang mit Uhus, und es ist zugleich eine der schwersten. Denn die Augen eines Uhus ziehen Blicke magnetisch an: orangerot, wie von innen leuchtend, kreisrund und fast so groß wie Ein-Cent-Münzen, wenn sie ihr Gegenüber mit voller Aufmerksamkeit fixieren. Das Gegenüber bin ich, einen Augenblick lang, bevor ich mich losreiße. Aber dieser Sekundenbruchteil reicht, um sich vorzustellen, wie es einem Beutetier ergeht, das ins Visier eines solchen Vogels gerät. Die Vorstellung hat selbst an diesem strahlenden Maitag etwas Unheimliches.

Wie die Augen ein erspähtes Tier abscannen wie Suchscheinwerfer – Uhus erkennen die Umrisse einer Maus im Dunkeln selbst dann noch, wenn andere Beutegreifer längst schwarz sehen. Wie diese Maus – es kann auch ein Vogel, Igel oder Jungfuchs sein – noch ahnungslos herumtrippelt, während die scharfen Uhu-Ohren in Parabolspiegelmanier die Entfernung zu ihr messen. Wie dann die Flügel, die sich dank raffinierter Schalldämpfung fast geräuschlos bewegen, zum Sinkflug ansetzen; wie die Maus vielleicht in allerletzter Sekunde ihren Lufthauch über sich spürt, sich umwendet – und gerade noch einen orangegelben Schimmer sieht, bevor sich zentimeterlange Krallen wie Krummdolche in ihren Leib bohren.

Wer in die Augen eines Uhus blickt, erkennt, dass die Redensart »Wenn Blicke töten könnten« in der Natur nicht nur im Konditional gilt.

Bis zu diesem Vormittag kannte ich Uhus nur aus Zoos; was ich über sie weiß, habe ich gelesen oder mir erzählen lassen. Das gilt übrigens auch für die anderen Eulenarten, die bei uns heimisch sind. Obwohl ich seit Jahrzehnten Vögel beobachte, waren meine Begegnungen mit Eulen stets selten und flüchtig. Da war die Waldohreule, die vor Jahren einige Sommernächte lang mit ihren Jungen nachts unseren Garten besuchte. Der Steinkauz, den mein Sohn während einer Autofahrt in der Türkei in einer Felsnische erspähte – ich wäre glatt daran vorbeigefahren. Die Sperlingskäuze, deren hohes Pfeifen ich bei einer Exkursion mit befreundeten Vogelkennern hörte; ich hätte sie kaum selbst entdeckt, schon weil ich nachts für gewöhnlich nicht allein in den Wald gehe.

Und jetzt sitze ich zum ersten Mal einem freilebenden Uhu gegenüber – und darf ihn nicht direkt ansehen.

Der Grund dafür leuchtet jedoch unmittelbar ein; gerade hat ihn mir Stefan Brücher erklärt, der Eulen-Experte, den ich an diesem sonnigen Morgen Ende Mai zu einer Rundfahrt durch mehrere Uhu-Reviere in der Eifel begleite. Wenn Uhus anderen Raubtieren begegnen, sagte er, fühlten sie sich ihrerseits bedroht. Und für Uhus seien alle Wesen Raubtiere, deren Augen wie ihre direkt nebeneinanderliegen – statt, wie bei den meisten anderen Vögeln und Säugetieren, seitlich am Kopf. Dass Menschen sie zumeist mit Sympathie betrachten, macht für die Vögel keinen Unterschied. Auch nicht für das Küken, das Brücher jetzt behutsam in die Hand nimmt, an einem Waldrand oberhalb eines Steinbruchs nicht weit von Maria Laach.

Das Küken braucht sogar besondere Rücksicht, denn es hat gerade den ersten Schock seines Lebens zu verkraften: Vor wenigen Minuten ist es aus seinem Nest geholt worden, zusammen mit dem zweiten Küken aus dem Gelege, und in einem dunklen Rucksack hierher verfrachtet worden, um vermessen, gewogen und beringt zu werden.

Dass es ein Küken ist, erkennt man an dem graubraunen Federflaum, der seinen Körper einhüllt. Sonst aber hat dieser Vogel kaum etwas Kükenhaftes an sich, im Gegenteil: Obwohl nur wenige Wochen alt, ist er schon ein richtiges Trumm, knapp so groß wie eine Krähe. Und die Krummdolchkrallen an den fingerdicken Beinen, der zentimeterlange Hakenschnabel: Sie sehen bereits jetzt so aus, als könnten sie mühelos ein Kaninchen zerteilen. Oder einen Menschenfinger durchbeißen. Und diese Augen … nein, nicht schon wieder hineinsehen.

Aber hören können wir das Küken jetzt: ein leises Fauchen und ein trockenes Knacken, erzeugt mit dem Schnabel, der ruckartig auf und zu geklappt wird. Eine Drohgebärde, die Stress anzeigt, sagt Brücher. Trotzdem wehrt sich der junge Uhu kaum gegen den Zugriff der Menschenhände: Sein Küken-Instinkt lehrt ihn, bei Gefahr eher stillzuhalten. Das zweite Küken, das noch im Rucksack steckt, gibt nicht mal einen Mucks von sich.

Einen wehrlosen Vogel in einen stockdunklen Rucksack zu stecken – das klingt erst einmal grausam. Ist aber für den Vogel eher entspannend, erfahre ich: Im Dunkeln prasseln keine optischen Reize auf die hochempfindlichen Eulenaugen ein; zudem fühlen sich die Vögel sicherer vor Feinden.

Ich habe leider nicht sehen können, wie Stefan Brücher die Uhus gefangen und eingepackt hat, denn dazu hätte ich mich über die Abbruchkante des Steinbruchs lehnen müssen, der direkt neben uns knapp dreißig Meter tief abfällt. Das Nest der Uhus befindet sich senkrecht unter uns, in einer Felsnische im oberen Teil des Hangs. Den Anfang der Fangprozedur habe ich noch mitbekommen: wie Stefan Brücher sein Kletterseil an einem Baum befestigt und sich dann vorsichtig abgeseilt hat, in der Rechten einen Kescher von knapp einem halben Meter Durchmesser. Was sich danach abgespielt hat, schildert er mir, als er wieder zurück ist.

Unten am Nest hat er zunächst einige Momente still abgewartet, mit abgewandtem Gesicht: »Früher oder später verlieren sie immer das Interesse an mir, weil ich mich nicht wie ein Feind verhalte.« Dann hat er blitzschnell den Kescher über beide gestülpt, sie mit den Händen sanft auf den Nestboden gedrückt, damit sie nicht vor lauter Panik in den Abgrund hüpfen konnten, und sie dann einen nach dem anderen in seinem Rucksack verstaut.

Das Ganze hat, einschließlich Kletterpartie, keine zehn Minuten gedauert. Was daran liegt, dass Brücher im Laufe der vergangenen Jahrzehnte an die 5.000 Jung-Uhus gefangen und, natürlich, immer wieder heil ins Nest zurückgebracht hat.

Mit vierzehn Jahren ist er zum ersten Mal auf einen Baum geklettert, um junge Schwarzmilane zu beringen – angeleitet von seinem zehn Jahre älteren Bruder, der bereits ein erfahrener Ornithologe war. Damals, erzählt er, musste er noch zwei Paar Socken übereinander und zu große Schuhe anziehen, damit seine Füße in die Steigeisen passten. 1980, als Sechzehnjähriger, wurde er von dem Naturschützer Wilhelm Bergerhausen entdeckt, der einige Jahre zuvor die Aktion zur bundesweiten Wiederansiedlung der größten Eule der Erde in Deutschland mit initiiert hatte. Zu der Zeit waren Uhus bei uns so gut wie ausgestorben, weil Jäger sie über Jahrhunderte unerbittlich verfolgt hatten: Sie nahmen es dem »Raubzeug« übel, dass es sich an begehrtem Niederwild wie Hasen, Rebhühnern und Kaninchen vergriff. Seit damals ist in Brüchers Leben kaum ein Tag vergangen, an dem er sich nicht um Uhus und andere Eulen gekümmert hat – anfangs als Beobachter und Forscher, später immer mehr auch als ihr Anwalt und Beschützer.

Ich sehe Brücher zu, wie er ein Küken nach dem anderen auf den Arm nimmt, mit einem Messschieber zunächst die Länge ihrer Schnäbel, dann der Krallen und schließlich der Federkiele vermisst, die an den Rändern der Flügel sprießen. Wie er mit einer Zange vorsichtig eine Metallmanschette an einem Bein jedes Vogels befestigt, mit der Nummer, die beide für immer identifizierbar machen wird. Wie seine Finger in dem grauen Federflaum versinken, während er ein Küken nach dem anderen behutsam wieder in den schützenden Rucksack bugsiert. Und je länger ich ihm zusehe und -höre, desto mehr scheint mir, dass dieser Stefan Brücher ein rundum beneidenswerter Mensch ist. Weil er jeden Morgen aufs Neue mit der Gewissheit aufstehen kann, etwas Sinnvolles, Erfüllendes zu tun, das seinen Lebenszielen entspricht. Und weil er noch dazu die Erfolge seiner Arbeit alle paar Tage mit eigenen Augen sehen und mit Händen greifen kann. So wie heute, in dem Steinbruch bei Maria Laach.

Stefan Brücher leitet seit fünfzehn Jahren die »Gesellschaft zur Erhaltung der Eulen« (EGE), die sein Mentor Wilhelm Bergerhausen gegründet hat. Ich gestehe, dass ich diese Organisation bis vor Kurzem nicht kannte, obwohl Vögel schon seit vielen Jahren mein Thema sind. Was aber kein Wunder ist: Die EGE ist, was ihre Mitgliederzahl und ihr Einsatzgebiet angeht, eine überschaubare Organisation, verglichen mit den großen Naturschutzverbänden NABU und BUND. Anders als diese konzentriert sie ihre Arbeit im Wesentlichen auf eine Region, nämlich die Eifel und die Kölner Bucht. Und sie hat dabei vor allem den Schutz einer besonderen Artengruppe im Blick, nämlich der Eulen. Das liegt nicht nur an der Begeisterung der Mitglieder für diese Vögel – wobei die natürlich ein starkes Motiv ist –, sondern hat auch strategische Gründe: Uhu, Steinkauz, Schleiereulen und andere verwandte Arten haben, von allen flugfähigen Tieren, eine der größten Fangemeinden. Ähnlich wie Albatrosse, Eisvögel oder Honigbienen wecken sie auch bei Menschen Sympathien, die Fauna und Flora normalerweise nur beim Zoobesuch näher zur Kenntnis nehmen. Die EGE demonstriert geradezu lehrbuchmäßig, wie man charismatische Arten als »Eisbrecher« einsetzt, um solche Menschen für Naturschutz zu gewinnen. Und dadurch nicht nur diese Arten, sondern alle, die ihren Lebensraum mit ihnen teilen, wirksam schützt, ihnen im besten Fall sogar zu einem neuen Aufschwung verhilft.

Ich erfuhr von der EGE eher durch Zufall, beim Gespräch mit dem Mitarbeiter einer Naturschutzbehörde, den ich vor einiger Zeit bei einer Tagung kennenlernte. Wir redeten zunächst über die Themen, die Naturfreunden am meisten auf der Seele liegen: über die EU-Agrarpolitik, die nach wie vor lieber den Bau neuer Mastställe fördert, statt Leistungen für Natur und Klima zu honorieren, über die dahinschmelzenden Bestandszahlen von Insekten und Feldvögeln, über Entscheidungstragende, die den Erhalt bedrohter Tier- und Pflanzenarten nach wie vor als überflüssigen Luxus ansehen.

Ich spürte schon wieder die Melancholie in mir aufsteigen, die mich bei vielen Gesprächen über den Zustand der Natur befällt. Aber sie verflog bald wieder, weil der Mann von der Naturschutzbehörde eher heiter als resigniert wirkte. Nein, sagte er, aus seiner Sicht sei die Lage durchaus nicht hoffnungslos. Jedenfalls nicht immer und überall. Er jedenfalls kenne genügend Beispiele, die zeigten, wie sich die Dinge zum Besseren wenden ließen.

Und dann erzählte er mir von der Gesellschaft zur Erhaltung der Eulen. Ich war schon deshalb gefesselt, weil in der Erzählung immer wieder Begriffe auftauchten, die ich in Verbindung mit dem Thema Naturschutz sonst eher selten höre: »Aufschwung«, »Erfolg«, »Trendwende« und »langfristig positiv«. Ich erfuhr, dass es in den Kreisen Düren und Euskirchen einen regelrechten Steinkauzboom gegeben hat: Allein im Laufe der letzten zehn Jahre ist dort die Zahl der besetzten Brutreviere auf 352 angewachsen und hat sich damit mehr als verdoppelt, die Zahl der Jungvögel hat sich sogar fast verdreifacht. Und das, während im übrigen Nordrhein-Westfalen die Bestände der kleinen Eulen durchweg gesunken sind, teilweise um bis zu vierzig Prozent. Bei den Uhus, berichtete der Mann vom Amt, habe es sogar eine Renaissance vom Nullpunkt aus gegeben: Erst in den 1970er Jahren seien die ersten Vögel in der Eifel ausgewildert worden – Jahrzehnte, nachdem dort die Letzten ihrer Art abgeschossen oder als Jungvögel aus dem Nest genommen worden waren. Heute ist die Eifel mit etwa 200 Revieren der am dichtesten besiedelte Uhu-Lebensraum in ganz Deutschland.

Steinkauzboom! Uhu-Renaissance! Das wollte ich mir unbedingt mit eigenen Augen ansehen.

Uhus sind die größten Eulen der Welt; die Flügel eines ausgewachsenen Vogels überspannen bis zu 1,68 Meter. Weil sie aber tagsüber meist unbeweglich auf einem Ruheplatz hocken und ihr geflecktes Gefieder sie gut tarnt, sind sie selbst für geübte Beobachtende nicht immer leicht zu entdecken. Stefan Brücher muss »seine« Uhus jedes Jahr wieder aufs Neue aufspüren. Zwar weiß er, worauf die Vögel bei der Suche nach Nistplätzen achten, und er kennt jede Stelle zwischen Cochem, Bitburg und Bad Münstereifel, an der sich in den vergangenen vierzig Jahren jemals ein Paar zum Brüten niedergelassen hat – aber Uhus ziehen auch schon mal um oder besetzen neue Reviere. So muss er teils kilometerbreite Steilhänge mit Fernglas und Spektiv abscannen, ob nicht hinter irgendeinem Felsbrocken ein graubraunes Ohrbüschel hervorragt.

Meist beginnt er damit Ende Februar, wenn die ersten Paare sich zum Brüten zusammenfinden. Bis Ende Juni ist er fast täglich mehrere Stunden unterwegs, um alle Nester zu entdecken und auch das letzte darin geschlüpfte Küken zu vermessen und zu beringen. Alle 214 – so viele waren es in diesem Jahr – sind vermutlich Nachkommen jener 1.500 in Zoos und anderen Gehegen aufgewachsenen Vögel, deren Start in die Freiheit er seit 1980 begleitet hat.

1.500! Als ich diese Zahl zum ersten Mal hörte, musste ich kurz schlucken. Weil sie um ein Vielfaches höher liegt als die Zahl der Vögel, die sich aktuell in freier Wildbahn behaupten. Und ahnen lässt, dass deren erfolgreiche Rückkehr etliche Opfer gekostet hat – unter den Uhus, die ihre Auswilderung eben nicht überlebt haben.

Erst im Laufe meiner Exkursion mit Stefan Brücher wurde mir klar, dass diese Zahl eine generelle leidvolle Erfahrung widerspiegelt – eine, die viele Menschen verbindet, die sich für die Wiederansiedlung verdrängter Arten engagieren: Es ist erschreckend leicht, Natur zu zerstören. Aber sie wiederzubeleben kommt in doppeltem Wortsinn einer Lebensaufgabe gleich. Diese erfordert hohen Aufwand und langen Atem, bei ungewissen Erfolgsaussichten.

Das Uhu-Wiedereinbürgerungsprojekt stand von Anfang an unter ungewissen Vorzeichen: Würden die angeborenen Instinkte der in Gehegen aufgewachsenen Jungvögel reichen, um sich in freier Wildbahn zu behaupten? Würden sich genügend von ihnen zu Paaren zusammenfinden? Und wie kämen sie mit Zumutungen zurecht, denen ihre wildlebenden Vorfahren noch kaum ausgesetzt waren – etwa dem Straßenverkehr, Stromleitungen und anderen menschengemachten Gefahren?

Manchmal beschlich die Uhu-Schützenden die Furcht, die dritte Frage könnte beantwortet werden, bevor sich die ersten überhaupt ernsthaft stellten. In den Anfangsjahren des Projekts überstand kaum jeder zweite ausgesetzte Jungvogel sein erstes Jahr in Freiheit. Aber die Zahl derer, die durchhielten, stieg langsam und stetig. Und diese Vögel bewiesen immer wieder aufs Neue, dass sie von Natur aus fit genug für die Wildnis waren. Sie machten von Anfang an erfolgreich Jagd auf Hasen, Kaninchen, Jungfüchse und anderes Kleinwild. Bei der Partnerfindung hatten einige zwar anfangs Probleme; diese lösten die Uhu-Betreuenden jedoch meist, indem sie dort, wo einsame Männchen riefen, gezielt weibliche Tiere frei ließen.

Auch bei der Nistplatzsuche verhielten sich die Uhus wie erwartet und erhofft; sie besetzten die Orte, die ihre Spezies seit jeher zur Familiengründung vorzieht: Nischen in Felswänden und Steinbrüchen, verlassene Greifvogelnester, gut versteckte Stellen auf dem Waldboden. Aber dabei blieb es nicht. Je mehr »klassische« Nistplätze bereits von neu ausgewilderten Paaren besetzt waren, desto häufiger wichen die nachfolgenden auf Stellen aus, die aus Sicht der Menschen, die sie beobachteten, eher unorthodox erschienen: Dächer und Kreuzgänge von Kirchen, stillstehende Förderbänder in Kiesgruben, sogar Dachstühle von Müllsortieranlagen. Hatten ihre letzten freilebenden Artgenossen noch ausschließlich in entlegenen Gebirgsregionen ausgeharrt, zog es die neue Uhu-Generation sogar in Großstädte. Aus Norddeutschland etwa wurden erfolgreiche Bruten auf Schrottplätzen in Häfen gemeldet, hinter der Fassadenverkleidung von Kaufhäusern oder in Zierschalen auf Friedhofsgräbern. Lärm, Abgase, in Sichtweite herummanövrierende Kräne und Bagger – all das schien die Uhus nicht groß zu stören; selbst Menschengewusel ertrugen sie, solange sie aus sicherem Abstand darauf herabblicken konnten.

Immer wieder staunten die Menschen, die sich um die Uhus kümmerten, über die Robustheit und Flexibilität der Neuankömmlinge. Und erschraken manchmal auch ein bisschen: über die Konsequenz, mit der diese sich ihren Platz an der Spitze der Nahrungspyramide zurückeroberten. Beim Jagen kennen Uhus nämlich buchstäblich keine Verwandten; sie schlagen nicht nur Tauben, Krähen, Drosseln und andere Singvögel, sondern auch andere Eulen, etwa Waldkäuze. Sie sind imstande, ein Nest voll wehrhafter Mäusebussarde in einer einzigen Nachtstunde leer zu räumen, komplett mit Nestlingen und Altvögeln. Das schaffen sie nicht etwa, weil sie größer und stärker sind als die Bussarde – die wären körperlich sehr wohl in der Lage, Uhus zu vertreiben. Aber im Dunkeln sind die Greifvögel den großen Eulen hilflos ausgeliefert, weil deren Augen hundertmal lichtempfindlicher sind als ihre.

Die Augen, diese orangegelben Leuchtkugeln, deren Anziehungskraft selbst wir Menschen uns kaum entziehen können: Sie sind die schärfste Waffe der Uhus. Und zugleich ein Grund, weshalb über ihrer erfolgreichen Wiederansiedlung bis heute ein Fragezeichen steht. Denn ausgerechnet ihre Augen machen die Uhus besonders verletzlich. Weil sie ihre Umwelt so extrem genau wahrnehmen, reagieren sie empfindlicher und heftiger auf manche Zumutungen durch den Menschen, als andere Tiere es tun.