Federnlesen - Johanna Romberg - E-Book
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Federnlesen E-Book

Johanna Romberg

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Beschreibung

Die Sehnsucht nach blauen Federn, die Bewunderung für frostfeste Rotkehlchen, das sinnliche Vergnügen, aus einer Wolke von Zwitscherlauten einzelne Arten herauszuhören: Ein Jahr begleiten wir die preisgekrönte Journalistin und Hobby-Ornithologin Johanna Romberg dabei, wie sie die Welt unserer heimischen Vögel erkundet. Dabei vermittelt sie uns Wissenswertes über die Genies der Lüfte und bringt uns die Magie des Beobachtens näher. Wer das Buch liest, sieht die Welt plötzlich mit anderen Augen: Er erlebt den Moment der Freude, wenn man einen Vogel benennen kann, macht die Erfahrung, dass die eigenen Sinne mit jeder Beobachtung schärfer - und er selbst bewusster und glücklicher wird.

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Seitenzahl: 400

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

EINLEITUNG

Rätselvogel im Gegenlicht

Wie ein Huhn eine Lebensfrage auslöste

KAPITEL 1

Singstunde mit Rotkehlchen

Vom Beobachten mit den Ohren, und wie man es am besten lernen kann

KAPITEL 2

Am Ende des Weges wartet vielleicht eine Röhrennase

Wie ein Vogelbuch mir half, Wanderungen mit meinen Eltern zu überstehen

ZUGEFLOGEN

Kraniche

KAPITEL 3

Die Ringeltaube, das Multitalent

Warum manche Vögel häufiger sind als andere, und was wir Menschen damit zu tun haben

ZUGEFLOGEN

Heckenbraunelle

KAPITEL 4

Sehschule mit Kolmsen und Blomsen

Wie man mithilfe der Meisen den richtigen Umgang mit Ferngläsern lernt

ZUGEFLOGEN

Singdrossel, Zaunkönig, Tchibo-Vogel

KAPITEL 5

Murphy und der Herrgottsvogel

Wie man Spechte im Wald aufspürt – oder auch nicht

ZUGEFLOGEN

Futterhausgäste

KAPITEL 6

Holt die Tänzer zurück auf die Wiesen!

Warum es dem Kiebitz und seinen Verwandten schlecht geht, und wie man ihnen helfen könnte

ZUGEFLOGEN

Landlerche und Stadtlerche

KAPITEL 7

Die Fluffis haben es am liebsten schäbbich

Was Vögel in die Stadt zieht, und weshalb man sie oft an den seltsamsten Ecken entdeckt

ZUGEFLOGEN

Tropfenvogel und Prinzengirlitz

KAPITEL 8

Überflieger auf Kollisionskurs

Warum Rotmilan und Mäusebussard durch Windkraft gefährdet sind

ZUGEFLOGEN

Turmfalke und Kinderfragen

KAPITEL 9

Kaspar und Raissa proben den Abflug

Wie eine Frankfurter Spezialklinik abgestürzten Mauerseglern zur Rückkehr in die Luft verhilft

ZUGEFLOGEN

Heckenbraunelle, die zweite

KAPITEL 10

Was macht das Goldhähnchen an der Hummerbude?

Vom Zugvögelbeobachten auf Helgoland

ZUGEFLOGEN

Vogel des Jahres

KAPITEL 11

Erleuchtung in Türkisblau

Wie ich Blauracke und Bienenfresser am Ende doch noch zu sehen bekam

KAPITEL 12

Kein Huhn in Sicht, aber die Lerche singt

Abschlusskonzert in der Lüneburger Heide

DANKSAGUNG

LITERATUR

VÖGEL VON A BIS Z

Über dieses Buch

Die Sehnsucht nach blauen Federn, die Bewunderung für frostfeste Rotkehlchen, das sinnliche Vergnügen, aus einer Wolke von Zwitscherlauten einzelne Arten herauszuhören: Ein Jahr begleiten wir die preisgekrönte Journalistin und Hobby-Ornithologin Johanna Romberg dabei, wie sie die Welt unserer heimischen Vögel erkundet. Dabei vermittelt sie uns Wissenswertes über die Genies der Lüfte und bringt uns die Magie des Beobachtens näher. Wer das Buch liest, sieht die Welt plötzlich mit anderen Augen: Er erlebt den Moment der Freude, wenn man einen Vogel benennen kann, macht die Erfahrung, dass die eigenen Sinne mit jeder Beobachtung schärfer - und er selbst bewusster und glücklicher wird.

Über die Autorin

Johanna Romberg, Jahrgang 1958, wuchs im Ruhgebiet auf. Sie studierte Schulmusik und Hispanistik in Köln und Sevilla, bevor sie 1985/1986 die Henri-Nannen-Journalisten-Schule besuchte. Seit 1987 ist sie Redakteurin und Autorin des Magazin GEO. Für ihre Reportagen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 1987 bekam sie den Egon-Erwin-Kisch-Preis (2. Preis) für eine Geschichte über die Emscher, ein Nebenfluss des Rheins. 1993 den dritten Preis für das Porträt einer Moskauer Gemeinschaftswohnung. 2013 folgte der Georg-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus und 2015 der Journalistenpreis der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Johanna Romberg hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Mann in der Lüneburger Heide.

JOHANNA ROMBERG

Federnlesen

Vom Glück, Vögel zu beobachten

Mit Illustrationen von FLORIAN FRICK

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2018 by Johanna Romberg und Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ann-Kathrin Schwarz, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin unter Verwendung eines Motivs von © Florian Frick

Illustrationen im Innenteil: © Florian Frick

eBook-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-5599-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Meinen Eltern

STEINHUHN UND ALPENSCHNEEHUHN

EINLEITUNG Rätselvogel im GegenlichtWie ein Huhn eine Lebensfrage auslöste

Seit 52 Jahren lebe ich mit einer offenen Frage.

War es ein Schneehuhn? Oder doch ein Steinhuhn?

Dass es ein Huhn war, steht fest. So viel konnte ich damals schon erkennen, im Juni 1964. Wenige Wochen zuvor hatten mir meine Eltern ein Kinderfernglas und ein Bestimmungsbuch geschenkt, Titel: Was fliegt denn da? Unter der Frage war ein dicker roter Dompfaff abgebildet, dahinter folgten jede Menge Farbtafeln mit wenig Text. Das war mir nur recht, denn ich war gerade erst dabei, lesen zu lernen.

Der Vogel, den wir an diesem Junitag entdeckten, flog nicht, sondern saß nur still auf einem Felsen, leider etwas zu weit weg auch für die stärkeren Feldstecher meiner Eltern. Seine Silhouette, die sich in der Nachmittagssonne klar abzeichnete, erinnerte an ein Huhn. Unter der Rubrik »Hühnervögel« verzeichnete mein Vogelbuch acht Arten, die sich jedoch alle ziemlich ähnlich sahen. Den Fasan immerhin konnten wir gleich ausschließen – der hatte einen langen Schwanz, der dem Vogel X fehlte. Eine Wachtel könne es auch nicht sein, entschied meine Mutter, denn die sei, laut Bestimmungsbuch, nur so groß wie eine Drossel. Also zu klein.

Erst die Angaben neben den Farbtafeln halfen uns, die Zahl der möglichen Arten weiter einzugrenzen. Die römischen Ziffern bezeichneten das Verbreitungsgebiet, und XI stand für Hochgebirge. Da befanden wir uns gerade auf einem Plateau in den Kärntner Alpen. In diesem Lebensraum kamen, laut Buch, nur zwei Hühnerarten vor: Alpenschneehuhn und Steinhuhn. Aber welches hatten wir vor uns?

Es war eigentlich ein idealer Tag zum Vogelbeobachten. Sonnig, warm und so still, wie es nur in Regionen jenseits der Baumgrenze sein kann, wo kein Blättchen raschelt, kein Motorengeräusch aus dem Tal empordringt. Vogel X saß da, als wollte er uns Anfängern das Bestimmen extra leicht machen. Eine gute Viertelstunde blieb er unbewegt auf seinem Felsen sitzen. Nur seine Farben konnten wir nicht erkennen, weil das Gegenlicht ihn in einen schwarzen Scherenschnitt verwandelte. Als wir versuchten, uns anzupirschen, flog er auf Nimmerwiedersehen davon, buchstäblich: Ich habe seit diesem Junitag 1964 nie wieder ein Schnee- oder Steinhuhn auch nur von fern zu Gesicht bekommen.

Vielleicht war das ein Glück. Vielleicht hat dieses namenlos gebliebene Huhn dafür gesorgt, dass ich Vögel seitdem nie wieder ganz aus den Augen gelassen habe. Dass sich mein Blick auf sie, aber auch auf die Natur insgesamt dauerhaft und unwiderruflich verändert hat.

Hätte ich die Frage »Was fliegt denn da?« an jenem Tag im Juni schon beantworten können – womöglich hätte sie sich nicht zu einer Lebensfrage entwickelt. Es war auch diese Ungewissheit, die eine leise Sehnsucht hinterließ und zugleich meine Neugierde anstachelte: Werde ich Vogel X wiedersehen? Werde ich es dann schaffen, ihn zu identifizieren? Und wie viele Rätselvögel sind noch da draußen, die ich bisher nie gesehen habe und die darauf warten, entdeckt zu werden?

Seit 52 Jahren gehe ich kaum einen Tag vor die Tür, ohne automatisch den Himmel zu scannen, auf Vogellaute zu horchen. Auf der Fahrt zur Arbeit beobachte ich Wildgänse-Formationen und kreisende Bussarde durch die Windschutzscheibe, nehme Graureiher und Störche in den Wiesen neben der Autobahn zur Kenntnis. Ärgere mich, wenn ich einen Vogel im Vorbeifahren nicht gleich identifizieren kann. Bei Spaziergängen habe ich immer ein Fernglas dabei, und wenn ich verreise, dienstlich oder privat, besorge ich mir vorher ein Bestimmungsbuch der Zielregion. Ich habe Vögel im Stadtpark meiner Heimatstadt im Ruhrgebiet beobachtet und an den Fjorden Südalaskas, in der Elbtalaue und in der Savanne von Südafrika. Im Laufe der Jahre habe ich an die vierhundert verschiedenen Arten gesehen, grob überschlagen. Das klingt nach viel, ist es aber nicht. Und dass ich die genaue Zahl nicht kenne, sagt auch etwas aus über die Art, wie ich Vögel wahrnehme und beobachte.

Ich bin nämlich, das sollte ich gleich zu Anfang klarstellen, keine Expertin, nicht einmal eine besonders systematische Vogelkundlerin. Ich habe niemals Listen über gesichtete Arten angelegt, wie man es als ernsthafter Hobby-Ornithologe eigentlich tun sollte, oder gar regelmäßig Tagebuch über meine Beobachtungen geführt. Ich habe Vögel eigentlich immer nur zum Vergnügen betrachtet und belauscht – zweckfrei, ohne wissenschaftlichen Anspruch, auch ohne den Ehrgeiz, besonders viele, seltene Arten zu »sammeln«. Eines aber war mir immer wichtig: genau benennen zu können, was ich sah oder hörte. Und mit dem Namen des Vogels auch seine wichtigsten Eigenarten kennenzulernen, zu wissen, weshalb er mir ausgerechnet jetzt und an diesem Ort begegnet war. Über Vögel habe ich mir die übrige Natur erschlossen, die Pflanzen- und, ansatzweise, die Insektenwelt. Bis heute fühle ich mich in einer Landschaft erst dann zu Hause, wenn ich ihre Fauna und Flora zumindest in groben Zügen erkundet habe.

Die meiste Zeit meines Lebens bin ich allein auf Beobachtungstour gegangen, bis auf die Jahre, in denen ich mit meinen Eltern unterwegs war. Es gab in meiner Bekanntschaft immer nur wenige Menschen, die meine Leidenschaft für Vögel teilten, und früher waren es noch weniger, als es heute sind. Vögel beobachten hat ja, vor allem für Jüngere, immer noch einen Coolness-Faktor, der irgendwo zwischen Bienenzüchten und Briefmarkensammeln liegt. Wer in der Öffentlichkeit ein Fernglas trägt, zieht manchmal seltsame Blicke auf sich: Aha, einer von diesen Öko-Schraten! Mir ist das von Anfang an ziemlich egal gewesen. Ich fand es, im Gegenteil, sogar ganz schön, kein Trendsetter oder gar Teil einer großen Bewegung zu sein, sondern die Vogelwelt ganz für mich allein wahrnehmen zu können, auf meine eigene Art, nach meinen eigenen Vorlieben.

Diese Freude am Alleinsein ist jedoch seit einiger Zeit gedämpft. Und die Gründe dafür sind offensichtlich.

Man muss kein ausgewiesener Vogelkundler sein, um zu merken, dass es Vögeln zurzeit nicht besonders gut geht. Kaum ein Medienbericht zum Thema Umwelt oder Natur, der ohne Stichworte wie »Bestandsrückgang«, »Artensterben«, »alarmierend« und »bedroht« auskommt. Vögel stehen in den Meldungen besonders häufig im Fokus, zum einen, weil sie zu einer Klasse von Lebewesen gehören, die weltweit verbreitet ist, zum anderen, weil sie besonders sichtbar sind. Wenn Insekten, Amphibien oder bestimmte Pflanzenarten verschwinden, dann fällt das häufig nur einigen Spezialisten auf. Wenn aber Vogelstimmen verstummen oder der Himmel leerer wird, dann merken das auch Menschen, die die Natur nicht so systematisch beobachten. Und weil Vögel nicht nur für sich stehen, sondern auf vielfältige Weise eingebunden sind in das Ökosystem, in dem sie leben, ist ihr Verschwinden immer ein Alarmsignal für dessen Gesamtzustand.

Ich habe kein besonders gutes Gedächtnis für Zahlen, aber eine habe ich mir doch gemerkt: 421 Millionen. So viele Vögel sind in den vergangenen dreißig Jahren aus Europas Wäldern, Feldfluren, Dörfern, Städten, Küstengebieten und Flusslandschaften verschwunden. Das hat eine Langzeitstudie mehrerer europäischer Vogelschutzorganisationen ergeben, die auf den Daten Tausender systematischer Beobachtungen und Zählungen beruht. 421 Millionen: Das heißt, dass wir seit 1985 ein Drittel aller Vögel unseres Kontinents verloren haben.

Die Gründe für diese dramatischen Einbußen sind die gleichen, die seit Jahrzehnten genannt werden, wenn es um den Verlust von Naturreichtum und Artenvielfalt geht. Die Zerstörung wertvoller Biotope. Die fortschreitende Intensivierung der Landwirtschaft. Die zunehmende Zersiedelung der Landschaft und die damit einhergehende Zerschneidung von Lebensräumen. Die nach wie vor erbarmungslose Vogeljagd in vielen Ländern. Und der Klimawandel, der vor allem spät heimkehrenden Zugvögeln zu schaffen macht, weil die Insekten, die sie fressen, sich früher als sonst entwickeln.

Es gibt, zum Glück, viele Menschen, die dieser Entwicklung nicht gleichgültig zusehen. Die ihre Stimme erheben, für Natur im Allgemeinen und Vögel im Besonderen, und sich auf verschiedenste Weise für den Schutz einzelner Arten wie auch den ganzer Biotope einsetzen. Aber es sind eben immer noch zu wenige, verglichen mit der großen Anzahl derer, die Vogelgezwitscher nur als Hintergrundmusik wahrnehmen und Natur insgesamt allenfalls als angenehme Spaziergangskulisse.

Manchmal beneide ich diese Leute, weil sie sich keine Sorgen machen, nicht darunter leiden, die fortschreitende Verarmung und Monotonisierung ihrer Umwelt mit ansehen zu müssen. Und dann wieder bedauere ich sie: weil sie nicht merken, wie viel ihnen entgeht. Natur wahrzunehmen, ist ja zuallererst ein Genuss, ein ästhetisches Vergnügen. Selbst unsere gezähmte, regulierte, über Jahrhunderte von Menschenhand überformte mitteleuropäische Landschaft ist immer noch so unendlich reich, vielfältig, aufregend, bezaubernd, wunderschön. Diese Schönheit aber kann man nur genießen, wenn man sich ihr zuwendet, sie im Wortsinn »zur Kenntnis nimmt« – sich also die Mühe macht, die Vielfalt der Arten wahrzunehmen und zu unterscheiden.

Wie wenige Menschen das tun, ist mir vor einiger Zeit wieder eindringlich bewusst geworden, an einem Abend Anfang Mai.

Ich stand auf dem Bahnhof einer norddeutschen Kleinstadt und wartete auf meinen Anschlusszug nach Hause. Neben dem Gleis lag eine dieser Brachflächen, wie Vögel sie lieben: verwahrlost und unscheinbar, überwuchert mit Holunder- und Schlehengestrüpp. Gut zwei Dutzend Vogelstimmen tönten daraus hervor. Ich erkannte Amseln und Rotkehlchen, Blau- und Kohlmeisen, Zaunkönige, eine Singdrossel. Und eine weitere Stimme, die ich lange nicht gehört hatte, die mich aber auf der Stelle die Wartezeit vergessen ließ.

Es war eine Nachtigall, und sie war in Bestform. Sie hatte das ganze Repertoire drauf, das ihren Gesang so unverwechselbar macht: die prallen, kehligen Triller, die virtuosen Tonsprünge über mehrere Oktaven, die Flötentöne, so klar und gerade, wie sie kein anderer heimischer Vogel hervorbringt. Und das alles in einer Lautstärke, die ausreichte, den gesamten zweihundert Meter langen Bahnsteig zu beschallen. Außer mir hörte ihr jedoch niemand zu. Die etwa zwanzig Wartenden, die neben mir auf dem Bahnsteig standen, guckten auf ihre Smartphones oder ins Leere; ihre Blicke verrieten, dass der Vogelgesang unbemerkt an ihren Ohren vorbeirauschte.

Ich war kurz versucht, einige Leute neben mir anzusprechen, hören Sie doch nur, diese Stimme, dies ist vielleicht die einzige Gelegenheit in diesem Jahr, sie zu erleben! Aber dann malte ich mir die möglichen Reaktionen aus, befremdete Blicke, amüsiertes Lächeln, genervtes Abwenden, und ich ließ es lieber.

An diesem Abend fasste ich jedoch einen Entschluss: Ich will meine Begeisterung für Vögel nicht länger für mich behalten. Sondern sie weitergeben, in einer Form, die möglichst viele erreicht und im Idealfall auch ansteckt.

Dass ich keine besonders systematische Beobachterin bin, sagte ich schon. Um ein Buch über Vögel zu schreiben, braucht es aber natürlich ein System. Einen roten Faden, zumindest einen soliden Ausgangspunkt. Um diesen zu finden, habe ich als Erstes mein altes Exemplar von Was fliegt denn da? herausgesucht. Das Vogelbuch, mit dem meine Eltern und ich damals, im Juni 1964, das Schnee-oder-Steinhuhn zu bestimmen versuchten.

Ich hatte das Buch schon lange nicht mehr in der Hand gehabt. Für den Beobachtungsalltag taugt es kaum noch, weil es ziemlich zerfleddert ist, außerdem ist es zum Teil nicht mehr aktuell: Die Vogelwelt Mitteleuropas hat sich seit 1964 in vieler Hinsicht verändert, manche Arten sind verschwunden, andere dazugekommen, einige haben mittlerweile neue Namen, andere Verbreitungsgebiete oder sogar veränderte Zuggewohnheiten.

Für mich ist dieses Buch trotzdem eine unschätzbare Quelle, weil es so viele Erinnerungen wachruft – durch die Bilder, aber auch durch die persönlichen Aufzeichnungen, die es enthält. Am Anfang meiner »Karriere« als Vogelkundlerin habe ich nämlich zumindest zeitweise versucht, systematisch vorzugehen: Wenn ich einen Vogel zum ersten Mal sah, vermerkte ich dies mit Bleistift auf der zugehörigen Bildtafel im Buch, mit Datum und Ort der Sichtung. Etwa zwei Drittel der Bilder sind beschriftet. Der letzte Vermerk stammt aus dem Jahr 1974: eine Felsenschwalbe, gesehen an der Küste Nordwestspaniens. Danach kauften meine Eltern ein neues Vogelbuch; Was fliegt denn da? wanderte ins Bücherregal. Das Notieren neuer Sichtungen übernahm zunehmend meine Mutter, auch weil ich durch zu viel anderes (Pubertät und so) vom Beobachten abgelenkt war.

Während ich die Notizen las, die Bilder betrachtete, war es mir, als hätte ich ein altes Fotoalbum vor mir:

Den hab ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Was mag aus dem geworden sein?

Die hier, die ist mir erst gestern begegnet, immer wieder schön, sie zu sehen. Und diese dort fliegt mir auch täglich über den Weg, es nervt schon fast, so oft sehe oder höre ich sie. Ist es nur mein Eindruck, oder begegnen wir uns tatsächlich häufiger als früher?

Dieser hier dagegen – der hat sich rargemacht in letzter Zeit, aber vielleicht liegt es auch daran, dass ich länger nicht dort war, wo er sich bevorzugt aufhält. Ich werde nie vergessen, wie ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Ob ich ihn überhaupt wiedererkennen würde, wenn ich ihn sähe?

Je mehr Fragen mir durch den Kopf schossen, desto mehr wurde mir auch klar: Es war zwar das Stein-oder-Schneehuhn, das mein lebenslanges Interesse an der Vogelwelt ausgelöst hat, aber es waren viele Erlebnisse mit vielen verschiedenen Vögeln, die es im Laufe der Jahre immer wieder neu angefacht haben. Erlebnisse, die sich auch mit bestimmten Orten und Menschen verbinden.

Tafel 51 zeigte zum Beispiel die Haubenlerche: Ich sah die Vorortstraße vor mir, in der ich aufgewachsen bin und wo ich die ersten Vogelbeobachtungen meines Lebens machte. Tafel 172, der Wiedehopf: Ich erinnerte mich an den Garten des oberägyptischen Hotels, wo mir, völlig unerwartet, zwei Exemplare dieses seltenen Vogels vor die Füße trippelten. Tafel 324, der Kiebitz: Ich dachte an die Feuchtwiesen am Niederrhein, durch die ich mit meinen Eltern oft gewandert war und die damals förmlich wimmelten von Vögeln. Meinen Eltern begegnete ich auf fast jeder Seite. Ich sah meinen Vater vor mir, wie er die Hand hinter sein kriegsgeschädigtes linkes Ohr legte, um das Wispern eines Goldhähnchens zu vernehmen; ich hörte meine Mutter, wie sie uns die »Feldkennzeichen« der verschiedenen Hühnervögel vorlas, also die Merkmale, anhand derer man die Arten draußen in der Natur auch aus größerer Entfernung gut unterscheiden kann. Auch Vogelstimmen imitierte sie gern. Bis heute habe ich im Ohr, wie sie den Ruf der Weidenmeise nachmachte, in einem vollbesetzten Restaurant, so laut, dass man es an den Nebentischen hören konnte. Es war mir unendlich peinlich damals. Aber die Weidenmeise erkenne ich bis heute auf Anhieb, wann immer ich sie höre.

Weil es so viele Erinnerungen lebendig werden lässt, habe ich Was fliegt denn da?, mein altes Bestimmungsbuch, zum Ausgangspunkt meines eigenen Vogelbuchs gemacht. Eines Buchs, das nicht nur von Vögeln erzählt, sondern auch von meiner Beziehung zu ihnen. Von den Erlebnissen, die ich ihnen verdanke, dem Zauber, den sie auf mich ausüben, den Rätseln, die sie mir bis heute aufgeben. Eines Buchs, das aber auch eine praktische Frage beantwortet: wie man sich die Vogelwelt erschließt, ohne dass es in ein Biologiestudium ausartet. Wie man etwa lernt, die Stimme der Nachtigall aus einem Amsel- und Meisenchor herauszuhören, und wie man Hühner- und andere Vögel auch dann identifiziert, wenn sie im Gegenlicht sitzen.

Ich sage nicht, dass das leicht ist. Vögel bringen ihre Beobachter manchmal zur Verzweiflung, allein schon, weil sie fliegen können. Zwei von drei Malen sind sie verschwunden, bevor man sie genau betrachtet hat. Die verschiedenen Arten sehen einander zum Teil verwirrend ähnlich, und manche sind selbst dann kaum zu bestimmen, wenn man sie direkt vor sich hat – weil sie zu der in unseren Breiten reichlich vertretenen Kategorie »klein, braun, unscheinbar« zählen. Manche lassen sich nur anhand ihres Gesangs bestimmen, aber nicht alle Gesänge sind gleich einprägsam, und nicht alles, was Vögel von sich geben, ist Gesang.

Vögel bestimmen ist ein Handwerk, das man lernen muss und das gelegentlich Frusterlebnisse beschert. Aber früher oder später stellt man erstaunt fest, dass einem das Gucken und Horchen nach Vögeln zur alltäglichen Gewohnheit geworden ist. Und dass die Vögel selbst sich in eine Art augmented reality verwandelt haben – eine zusätzliche Wirklichkeitsebene, für deren Wahrnehmung es keinerlei digitale Hilfsmittel braucht.

Was fliegt denn da? enthält die Beschreibung von 337 Arten. Selbst wenn ich nur über die schriebe, die ich davon gesehen habe, würde dies den Rahmen eines Buchs sprengen. Deshalb habe ich eine Auswahl getroffen. Sie ist, wie könnte es in meinem Fall anders sein, nicht sehr systematisch. Sie bietet keinen repräsentativen Querschnitt der verschiedenen Artenfamilien, erhebt auch nicht den Anspruch, die schönsten, spektakulärsten, seltensten oder bekanntesten Spezies zu versammeln. Sie konzentriert sich vielmehr auf jene, die ich aus subjektiven Gründen besonders interessant finde, weil mich mit ihnen eine eigene Geschichte verbindet. Oft sind das zugleich diejenigen, bei deren Anblick mir die meisten Fragen durch den Kopf gegangen sind. Denn auch das ist mir beim Lesen in meinem alten Bestimmungsbuch aufgefallen: wie begrenzt meine Kenntnisse waren (zum Teil noch sind), wie wenig ich selbst über die Vögel wusste, deren Stimmen und Gestalten mir seit Jahrzehnten vertraut sind.

Also habe ich die Bekanntschaft mit ihnen von Grund auf erneuert. Habe die Orte besucht, an denen sie (noch) zu Hause sind, habe mit Experten gesprochen, die sie gründlich kennen – durch langjährige, systematische Beobachtung oder Forschung. Herausgekommen sind Vogelgeschichten, die zugleich Natur- und Beziehungsgeschichten sind. Sie beschreiben Landschaften, ihre Veränderungen und auf welch vielfältige, oft unerwartete Weise sich diese auf die Vogelwelt auswirken. Und sie zeigen, was Menschen und Vögel verbindet. Denn alle Experten, die ich getroffen habe, waren zugleich auf ihre Art auch Liebhaber, wie ich es bin. Ich habe von ihnen nicht nur viel über Vögel gelernt, sondern auch, wie viele verschiedene Gründe es gibt, sich für sie zu begeistern.

Diese Vielfalt hat mich aber auch vor ein inhaltliches Problem gestellt. Ich hatte zunächst vor, mich auf zwölf Kapitel zu beschränken: je ein Kapitel für einen Lieblingsvogel oder eine Vogelfamilie, samt der Geschichten, die es von ihnen zu erzählen gibt.

Aber schon als ich begann, den Stoff für die ersten Geschichten zu sammeln und zu sortieren, merkte ich, wie schwierig diese Beschränkung werden würde. Immer kam mir irgendetwas dazwischen, oder besser gesagt, es flog mir etwas dazwischen, denn meistens war es ein Vogel, der zwischendurch meine Aufmerksamkeit forderte. Manchmal direkt, bei einer Exkursion in Expertenbegleitung oder beim Gang durch den Garten, manchmal nur, weil während eines Gesprächs oder in einem Text ein Vogelname zitiert wurde, der mich neugierig machte. Immer verband sich mit dem genannten oder gesichteten Vogel irgendein Erlebnis, ein Thema, das ich zu interessant fand, um es beiseitezulassen.

Also habe ich auch diese Vogelgeschichten aufgeschrieben, in kürzeren Kapiteln, die ich mit »Zugeflogen« betitelt habe. Sie stehen zwischen den Hauptkapiteln, auch, weil sie sich so am besten in die Dramaturgie des Buches einfügen. Diese wird, natürlich, von der Jahreszeit vorgegeben. Denn die meisten Vögel sind ja für Beobachter nicht immer gleich sichtbar und hörbar, sondern haben ihre »Auftritte« nur in bestimmten Monaten.

Alle Kapitel zusammen umfassen die Vogelbeobachtungssaison eines Jahres, vom Spätwinter bis zum Herbst. Nur das letzte Kapitel spielt im Frühling des darauffolgenden Jahres.

Zum Schluss noch ein Geständnis oder auch eine Vorwarnung: Dieses Buch handelt vom Glück des Beobachtens, aber dieses Glück ist, wie ich schon gesagt habe, nicht immer ungetrübt. Ich habe eine Zeit lang überlegt, ob ich Sie, die Leserinnen und Leser dieses Buchs, mit den Sorgen behelligen soll, die mir der Zustand der Vogelwelt oft bereitet. Viele von Ihnen haben das Beobachten vielleicht gerade entdeckt und wollen es erst einmal unbeschwert genießen, bevor sie mit Problemen konfrontiert werden.

Da dies aber ein persönliches Buch ist, habe ich mich entschlossen, Ihnen das gesamte Spektrum der Empfindungen zuzumuten, die das Beobachten mit sich bringt – für mich und für alle Vogelfreunde, die ich kenne. Die Skala reicht von strahlender Euphorie bis hin zu Verlustangst und hilflosem Zorn. Diese Gefühle zu verschweigen wäre mir unehrlich vorgekommen. Und deswegen handelt Federnlesen auch von Themen wie Artenschwund, Lebensraumzerstörung und der mühevollen, oft entmutigenden Kleinarbeit des Naturschutzes.

Meine Erfahrung ist aber auch, dass die Freude, die das »Federnlesen« bereitet, am Ende allen Frust und Zorn bei Weitem aufwiegt. Und wenn dieses Buch dem einen oder der anderen hilft, diese Freude neu zu entdecken, dann hat es sich schon gelohnt.

Eine allerletzte Bemerkung zum Schluss: Die deutsche Sprache hat kein griffiges Wort für das, was ich beschreibe und was ich selbst bin. »Vögel beobachten« und »Vogelbeobachterin« sind lange und umständliche Begriffe. Deshalb habe ich gelegentlich auf die englischen Wörter birding und birder zurückgegriffen, die auch unter deutschsprachigen Vogelfreunden immer gebräuchlicher werden. Als »Birding« könnte Vogelbeobachtung womöglich sogar zum Trendsport werden – wie Hiking, Walking und Inline-Skating. Ich hoffe, dass ich das noch erleben werde.

ROTKEHLCHEN

KAPITEL 1 Singstunde mit RotkehlchenVom Beobachten mit den Ohren, und wie man es am besten lernen kann

Wenn es nicht gerade schüttet oder stürmt oder friert, gehe ich morgens nach dem Aufstehen für eine Viertelstunde raus auf den Balkon. Oder auch für eine halbe. Manchmal nehme ich eine Tasse Tee und mein Fernglas mit. Manchmal auch nicht.

Ich breite eine Wolldecke aus, lege ein Sitzkissen darauf, hocke mich hin und warte. Wobei – warten ist schon zu viel gesagt. Ich sitze einfach nur da. Manchmal sehe ich zu, wie die Sonne aufgeht, meistens ist es aber schon hell, wenn ich rausgehe. Ich bin keine Frühaufsteherin. Ich gehöre auch nicht zu denen, die morgens Gymnastik, Yoga oder andere nützliche Dinge praktizieren. Dazu fehlt mir die Disziplin.

Eine Zeit lang habe ich versucht, auf dem Balkon zu meditieren. Das soll außerordentlich gesund sein. Ich habe mir dafür extra ein Spezialsitzkissen gekauft, auf dem man stundenlang ausharren kann, ohne dass die Beine einschlafen. An manchen Tagen gelingt es mir sogar, für ein paar Minuten innerlich abzutauchen, die Welt um mich herum zu vergessen. Aber das klappt nicht oft. Früher oder später kommen mir immer die Vögel dazwischen.

Man kann Vögel übersehen, wenn man die Augen zumacht, aber sie zu überhören ist schwierig. Ich jedenfalls schaffe das nicht. Wenn ich eine bekannte Stimme höre – und die Vogelstimmen in meinem Garten sind mir alle ziemlich vertraut –, dann notiere ich im Geist automatisch den Namen dazu. Die Gewohnheit sitzt so tief, dass ich sie nur schwer ablegen kann. Und wenn ich ehrlich bin, will ich das auch gar nicht. Weil es mir Freude macht, den Vögeln zuzuhören und sie wiederzuerkennen, jeden Tag aufs Neue.

»Vögel beobachten« – es gibt noch einen Grund, diesen Begriff nicht besonders zu mögen. Weil er nicht nur umständlich, sondern auch irreführend ist. Die meisten denken beim Stichwort »beobachten« spontan an Menschen, die durch Ferngläser schauen. Das ist natürlich nicht falsch. Ferngläser sind wichtig und unentbehrlich beim Vogelbeobachten. Ebenso scharfe Augen, die imstande sind, etwa eine größere Fläche schnell nach beweglichen Objekten zu »scannen«. Und ein geübter Blick, der beim Entdecken eines Vogels binnen Sekunden alle seine charakteristischen Merkmale erfasst: Größe, Statur, Haltung und Gefiederfarbe, am besten auch noch Details wie Schnabelform, Brustzeichnung und Länge der Schwungfedern.

Aber selbst die besten Augen und das stärkste Fernglas helfen beim Bestimmen oft nicht weiter.

Es gibt Vögel, die grundsätzlich nie lange genug an einem Fleck sitzen bleiben, um sie richtig ins Visier nehmen zu können. Oder sie kehren einem hartnäckig den Rücken zu. Sitzen zu weit weg oder vor der tief stehenden Sonne, sodass man ihre Farbe nicht erkennt. Oder sie sind so unscheinbar, dass man sie an neun von zehn Malen gar nicht erst entdeckt. Es existieren, ich gebe es ganz offen zu, eine Reihe von Vogelarten, die ich noch nie, wirklich noch nie, zu Gesicht bekommen habe, auch wenn ich ihnen schon begegnet bin – weil sie sich zum Beispiel nur in dichtem Röhricht oder in hohem Gras aufhalten. Trotzdem erkenne ich sie auf Anhieb, wann immer ich sie treffe. Weil sie sich durch ihre Stimme verraten. Jeder Vogel hat seinen eigenen akustischen Fingerabdruck, und es sind, zum Glück, oft gerade die Unsichtbaren und Versteckten, die am lautesten und markantesten singen.

»Vögel beobachten«, das heißt für mich auch und vor allem: zuhören. Rausgehen, sich irgendwo hinhocken und alle Aufmerksamkeit auf Stimmen und Laute lenken, am besten mindestens einmal am Tag.

Unter meinen Freunden und Bekannten sind viele Vogelliebhaber; Leute, die bei Spaziergängen gern ein Fernglas mitnehmen, ab und zu ein Bestimmungsbuch aufschlagen und im Winter draußen Futter streuen. Die meisten sagen mir, dass sie gerne öfter und intensiver beobachten würden, nur: Das mit den Stimmen sei so wahnsinnig schwer. So viele und fast immer mehrere gleichzeitig! Wie soll man sie auseinanderhalten? Und, noch schwieriger: Wie prägt man sich ein, zu welchem Vogel sie gehören? Wenn die Tierchen wenigstens das ganze Jahr über singen würden. Aber kaum ist das Frühjahr vorbei, sind alle still, und im nächsten Jahr fängt man wieder bei null an. Sisyphos lässt grüßen.

Ich sage dann immer, dass es Geduld braucht, dass es nie zu spät ist anzufangen und dass es schon ein Erfolg ist, wenn man ein halbes Dutzend der gängigsten Arten »drauf« hat. Aber wenn ich sagen soll, wie man beim Lernen am besten vorgeht und welche Hilfsmittel empfehlenswert sind, bin ich unsicher. Meine eigene Lernzeit liegt Jahrzehnte zurück. Ich weiß zwar noch, dass meine Eltern irgendwann Mitte der 1960er-Jahre eine Schallplatte mit Vogelstimmen kauften, die ich mir oft angehört habe. Ich weiß auch noch, dass während des Gesangs der Nachtigall im Hintergrund eine Kirchenglocke läutete. Aber ich erinnere mich nicht mehr, ob mir das Einprägen schwer- oder leichtfiel. Und wie viele Monate oder Jahre vergingen, bis ich die abgespeicherten Klangmuster auch draußen in der Natur einwandfrei bestimmen konnte.

Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit dem US-amerikanischen Ornithologen Donald Kroodsma, der seit über vierzig Jahren Vogelstimmen erforscht und als einer der weltweit führenden Experten für vocal behavior, also »Stimmverhalten« von Vögeln gilt. Er hatte einen Ratschlag für Anfänger, der mir spontan einleuchtete: Man solle, sagte er, beim Erkunden der Vogelwelt genauso vorgehen wie beim Umzug in eine neue Stadt. Also nicht versuchen, auf einen Schlag Dutzende neuer Leute kennenzulernen oder sich möglichst schnell eine maximale Zahl unbekannter Gesichter und Namen zu merken. Sondern lieber zunächst Kontakt zu ein, zwei Nachbarn knüpfen. Sich so gründlich mit deren Eigenarten vertraut machen, dass man sie selbst bei flüchtiger Begegnung auf einer belebten Straße nicht mehr mit anderen verwechseln würde. Wenn diese ersten Bekanntschaften gefestigt genug seien, solle man darangehen, sein »soziales Netz« zu erweitern.

Ich würde Kroodsmas Ratschlag lediglich um einen Punkt ergänzen: Es kommt nicht nur auf die Methode des Kennenlernens an. Sondern auch auf den Zeitpunkt, an dem man damit beginnt.

Die meisten Vogelinteressierten wählen dafür das Frühjahr. In dieser Zeit werden die meisten Ferngläser, Bestimmungsbücher, Vogelstimmen-CDs und -Apps verkauft, und das liegt nahe. In den Monaten ab Mitte März sind Vögel am auffälligsten und am lautesten. Alle Männchen tragen ihr Brut- und Prachtkleid und sehen genauso aus wie ihre Abbilder auf den Farbtafeln der Bestimmungsbücher. Lokale Ornithologen- und Naturschutzvereine laden zu Vogelstimmenexkursionen ein, vorzugsweise in Gebiete, in denen man mit etwas Glück und bei mildem Wetter die ganze Palette der häufigsten heimischen Singvögel rauf und runter hören kann – einschließlich der Zugvögel, die bis Anfang Mai fast alle aus ihren Winterquartieren zurückgekehrt sind. Vor allem im Wald sind viele Arten in Chorstärke vertreten, und die gute Akustik sorgt dafür, dass selbst der zarteste Zilpzalp oder Zaunkönig so klingt, als singe er durch ein Megaphon.

Es ist wunderschön, so ein Vogelkonzert im Frühling. Aber als Anfänger kann man darüber verzweifeln, selbst in Begleitung eines stimmenkundigen Experten. Ich habe das schon mehrfach erlebt, wenn ich mit Freundinnen unterwegs war, die mich um einen Grundkurs in Vogelstimmenkunde gebeten hatten: Selbst wenn ich an jeder Wegbiegung aufs Neue erklärte, dass dies ein Buchfink, jenes ein Waldlaubsänger, das dort hinten eine Singdrossel sei – am Ende hatte ich immer das Gefühl, mehr Verwirrung als Erkenntnis gestiftet zu haben. Und das lag nicht am mangelnden Merk- oder Hörvermögen meiner Freundinnen: Vogelkundler des Naturschutzbunds Deutschland (NABU), die regelmäßig Exkursionen leiten, berichteten mir, dass sie Teilnehmer zu Beginn routinemäßig vor zu hohen Erwartungen an das eigene Hörgedächtnis warnen.

Der Verwirrung entgeht man übrigens auch nicht, wenn man sich strikt an Kroodsmas Ratschlag hält, zuerst seine unmittelbaren »Nachbarn« kennenzulernen. Also nicht zum Stimmenlernen in den Wald geht, sondern nur die Klanglandschaft vor der Haustür erkundet. Auch die kann im Frühling schnell unübersichtlich werden. Bei der »Stunde der Gartenvögel«, der jährlichen Vogelzählaktion des NABU Anfang Mai, komme ich regelmäßig auf über ein Dutzend Arten in Hörweite meines Balkons. Und das, obwohl unser Garten mitsamt Umgebung nicht unbedingt ein Hotspot der Biodiversität ist.

Es ist viel entspannter und effektiver, im Winter mit dem Hinhören anzufangen. Die Natur ist stiller, schon weil keine Blätter rauschen, und die Vogelwelt ist überschaubar. Alles, was Laut gibt, ist genau zu vernehmen und, dank fehlender Blätter, meist auch schnell zu sehen. Es gibt natürlich auch Tage, an denen sich gar nichts rührt, aber die sind selten. Selbst wenn ich im dunkelsten Dezember oder frostigsten Januar auf den Balkon gehe, höre ich früher oder später fast immer irgendetwas.

Die meisten Stimmen kommen nicht direkt aus meinem Garten, sondern aus dem Luftraum darüber. Trompetenrufe eines verspäteten Kranichtrupps, der in Richtung Südwesten unterwegs ist. Schreie von Graugänsen, die frühmorgens von den Wiesen in der Elbmarsch aufgebrochen sind und am Abend vielleicht in der Weserniederung einfallen. Sowohl Gänse als auch Kraniche rufen so durchdringend, dass ich sie oft sogar durchs geschlossene Fenster höre. Genau wie die Elstern, die im Winter in Trupps umherziehen, und die Krähenschwärme, die sich in den Baumkronen der umliegenden Gärten zu lautstarken Kongressen treffen. Wenn man Krähen länger zuhört, fällt einem übrigens auf, dass »Krächzen« nur ein Oberbegriff für eine ganze Palette differenzierter Lautäußerungen ist. Eine der auffälligsten, die Krähen in meiner Umgebung von sich geben, ist ein lang gezogenes »Knääät«, das unfassbar kläglich und übellaunig klingt. Der Laut erinnert mich immer an ein Kind, das quengelt, weil es endlich an den Computer will.

So interessant Krähen sind – ihr Gesang ist zumindest für mich kein Grund, an kalten Januartagen länger auf dem Balkon auszuharren.

Es gibt einen anderen Wintervogel, dem ich viel lieber lausche. Und wenn ich die Zeit hätte, könnte ich das auch tage- und stundenlang tun, denn er gehört zu den ausdauerndsten Sängern überhaupt.

Das Rotkehlchen singt fast das ganze Jahr über – mit nur einer längeren Pause ab dem Spätsommer bis zum Winteranfang. Dann erheben vor allem diejenigen Vögel die Stimme, die aus nördlichen Regionen zu uns ziehen, um hier die kalte Jahreszeit zu verbringen. Sie singen bei fast jedem Wetter, außer bei starkem Regen und Frost, sie singen morgens und abends, manchmal auch tagsüber, aber lieber noch im Dunkeln, vor dem Morgengrauen und nach Sonnenuntergang. Es gibt sogar Berichte über einzelne Exemplare, die bei einer einbrechenden Sonnenfinsternis anfingen zu singen, oder nachdem man sie in einen dunklen Stoffbeutel gesteckt hatte. Rotkehlchen singen, gefühlt, in jedem dritten Garten, und wer keinen hat, muss nicht weit gehen, um eines zu hören: Es gibt allein in Deutschland um die drei Millionen Brutpaare, die sich im Prinzip überall niederlassen, wo sie etwas Grün mit genügend blickdichtem Buschwerk vorfinden. Es singen die Männchen ebenso wie – seltener – die Weibchen, und Erstere singen fast immer solo: Rotkehlchen sind ausgesprochene Reviervögel; ihr Gesang dient auch dazu, Rivalen im Nachbarrevier auf Abstand zu halten. Das wiederum erleichtert Menschen das Zuhören, weil man die einzelne Stimme nicht aus einem Chor von Artgenossen herausfiltern muss.

Und wie klingt sie nun, diese Stimme?

Ich könnte es mir jetzt einfach machen und sagen, geben Sie den Namen im Internet ein und hören Sie sich die erstbeste Tonaufnahme an, die Sie finden. Es gibt mittlerweile kaum noch einen Vogellaut, der nicht digital abrufbar wäre; Datenbanken oder spezielle Apps bieten sogar die Stimmen seltener Arten in meist mehreren Variationen. Und bei häufig vorkommenden Vögeln wie dem Rotkehlchen hat man die Auswahl zwischen Hunderten von Aufnahmen.

Aber ich möchte es mir nicht einfach machen. Ich möchte zum einen erklären, warum mich gerade der Gesang des Rotkehlchens so fasziniert; zum anderen möchte ich den Autoren einiger Vogelbücher und Webseiten widersprechen, die ihn als »unverkennbar« bezeichnen. Ich finde, er ist alles andere als das: nicht nur schwer zu erkennen, sondern auch fast unmöglich zu beschreiben. Er gehört zu den Gesängen, die ich erst relativ spät entdeckt habe, und es hat auch einige Zeit gedauert, bis ich ihn zu jeder Jahreszeit sicher »erhören« konnte.

Wenn man die Vogel(stimmen)welt nach dem Prinzip Kroodsma erkundet, also wie ein Neubürger eine Stadt voll unbekannter Menschen, dann stellt man bald fest, dass es unter ihren Bewohnern verschiedene Typen gibt. Solche, die einem das Kennenlernen leicht machen, und andere, die sich eher entziehen.

Es gibt Stimmen-Typen, die einem auf Anhieb vertraut sind wie alte Bekannte. Weil sie besonders markante Merkmale haben, oder auch, weil sie insgesamt eher schlicht gestrickt sind. Weil sie immer die gleichen eingängigen Floskeln wiederholen, die man schon bald in- und auswendig kennt.

Andere »Nachbarn« muss man sich dagegen erhorchen, mit viel Geduld und Aufmerksamkeit. Entweder sind sie so unauffällig oder einsilbig, dass man sie ständig überhört. Oder ihr Wesen ist so vielschichtig und schillernd, dass es Wochen und Monate dauert, bis man es in all seinen Facetten zur Kenntnis genommen hat. Es sind, nicht überraschend, vor allem diese »schwierigen« Typen, denen man besonders gern zuhört – sie werden einfach nie langweilig.

Zu den schlichteren Charakteren der Vogelwelt gehören, stimmlich gesehen, etwa Kuckuck und Zilpzalp. Ihre Namen sind die lautmalerische Übersetzung ihres Gesangs. Den Ruf des Kuckucks erkennen auf Anhieb sogar Menschen, die sonst weder Blicke noch Ohren für Vögel haben, und auch für den Zilzalp muss man nicht lange üben. Professoren bezeichnen ihn auch als »Studentenvogel«, weil er in der Regel der einzige heimische Sänger ist, den angehende Biologen im ersten Semester benennen können.

Wenn man im Winter mit dem Vogelstimmenhören beginnt, helfen Zilpzalp und Kuckuck allerdings nicht weiter, denn beide treffen erst im Frühjahr wieder in Europa ein, der eine ab Mitte März, der andere erst ab Ende April. So bleibt einem nichts anderes übrig, als sich ausgerechnet am Anfang auf eine der schwierigsten Stimmen aller heimischen Vögel einzulassen.

Über den Gesang des Rotkehlchens heißt es, dass er 275 unterscheidbare Motive aufweise. Das habe ich allerdings nur gelesen; es stand nicht dabei, mit welcher Methode die Werte ermittelt wurden. Ich bin mir nur sicher, dass ich es nie nachprüfen könnte.

Wenn ich das Rotkehlchen-Lied in einem Satz beschreiben sollte, dann ganz anders: als ein Lied ohne Eigenschaften. Es hat, zumindest für menschliche Ohren, keine unverwechselbaren Kennzeichen: keine Melodie, keinen Rhythmus, keine Laute, die an Sprechsilben erinnern. Oft hat es nicht einmal einen erkennbaren Anfang oder ein Ende. Wirklich nichts, an dem man sich beim Zuhören festhalten könnte.

Der Meister-Zuhörer Donald Kroodsma hat einen Tipp, wie man sich auch solche Stimmen aneignen kann. Man solle, sagt er, nicht versuchen, einen Vogel nur zu identifizieren, sondern sich vielmehr mit ihm identifizieren. Ihn als Individuum wahrnehmen, nicht nur als Vertreter einer bestimmten Spezies. Sich so lange und intensiv in ihn hineinhorchen, bis einem sein gesamtes Lautrepertoire vertraut ist, seine besondere Art, sich auszudrücken – einschließlich der persönlichen Nuancen und Varianten.

»Tiefes Zuhören« nennt Kroodsma diese Methode der Naturwahrnehmung. Auch das finde ich sehr nachahmenswert, aber ich bin nicht sicher, ob es gerade Anfängern wirklich weiterhilft. Ich würde mir bis heute nicht zutrauen, die verschiedenen Vogelindividuen in meinem Garten sicher am Gesang zu unterscheiden – und das, obwohl ich ihnen Jahr für Jahr viele Stunden zuhöre. Allein mit den Amseln wäre ich schon überfordert; in Hörweite meines Balkons gibt es mindestens fünf oder sechs – schwierig bis unmöglich zu erkennen, welche von ihnen sich gerade hören lässt.

Es gibt aber eine Variante des »tiefen Zuhörens«, von der ich aus eigener Erfahrung sagen kann, dass sie ganz gut funktioniert. Sie ist, soweit ich weiß, noch von keinem Experten empfohlen oder in irgendeiner wissenschaftlichen Studie getestet worden, aber ich bin sicher, dass sie auch von anderen Vogelkundlern schon entdeckt worden ist und erfolgreich praktiziert wird.

Die Methode besteht darin, einem Vogel in Ruhe zu lauschen, ohne dabei irgendetwas »festhalten« zu wollen. Den Gesang einfach auf sich wirken zu lassen, so, wie ein Baby die Stimmen seiner Umgebung auf sich einrauschen lässt: konzentriert, aber absichtslos, ohne den Versuch, sich irgendetwas zu merken, irgendwelche besonderen Kennzeichen herauszuhören. Das Wiedererkennen und Verstehen passiert dann früher oder später von ganz allein.

Das mit dem »Verstehen« ist natürlich nicht wörtlich gemeint. Aber es gibt einen Punkt, an dem man spürt, dass die Stimme im Kopf »angekommen« ist, dass sie etwas auslöst. Ich merke das daran, dass sich beim Zuhören Bilder vor mein inneres Auge schieben. Beim Rotkehlchen zum Beispiel sehe ich einen Wassertropfen vor mir, sehr kühl und sehr klar, der an einer Fensterscheibe herunterrinnt. Nicht gleichmäßig, sondern stockend, in einer unregelmäßigen Zickzackbahn. Er schwillt an, wird dann wieder zu einem Rinnsal. Und versickert irgendwo außer Sichtweite.

Manchmal sehe ich auch eine Gestalt, die sich auf einen zugefrorenen See wagt. Sie tastet sich vor, sehr unsicher auf den Beinen, glitscht immer wieder nach links und rechts aus. Und hinterlässt eine zittrige Spur, die der Schnee sofort wieder verweht.

Diese Bilder sind natürlich völlig subjektiv; jeder findet beim Zuhören seine eigenen. Aber sie helfen, die dazugehörige Stimme dauerhaft im Gedächtnis zu verankern. Irgendwann verschmelzen Bild und Stimme so, dass man das eine gar nicht mehr ohne das andere denken kann. Mir passiert es mittlerweile gelegentlich, dass ich beim Anblick einer verregneten Fensterscheibe automatisch den Gesang des Rotkehlchens im Kopf höre.

Es sind nicht nur die komplizierten, ausdrucksstarken Stimmen, die Klangbilder heraufbeschwören. Die Kohlmeise etwa hat einen Ruf, der nur aus drei Silben besteht, die mehrmals wiederholt werden. »Zizi däh, zizi däh, zizi däh.« Es ist tatsächlich nur ein Ruf von vielen; die Kohlmeise hat ein so umfangreiches Lautrepertoire, dass sie selbst erfahrene Beobachter gelegentlich verwirrt. Aber fast alle Laute klingen in meinen Ohren irgendwie »meisig«. Ich merke das daran, dass ich beim Hören einen bläulichen Eiskristall vor mir sehe, den jemand im Sonnenlicht rhythmisch hin und her bewegt. Dass es ein frostiges Bild ist, ist sicher kein Zufall: Kohlmeisen gehören ebenfalls zu den Vögeln, die mitten im Winter zu hören sind, vorzugsweise an sonnigen Tagen.

Es gibt zwei Wintervögel, zu deren Stimmen mir bislang keine Bilder eingefallen sind. Was vor allem daran liegt, dass ich sie zumindest akustisch noch nicht so lange kenne. Optisch sind beides alte Bekannte. Der Erlenzeisig fällt regelmäßig über unser Futterhaus her – »herfallen« ist das richtige Wort, denn diese Vogelart fliegt meist in Pulks ein, die andere Gäste sofort in die Flucht schlagen. Man erkennt Erlenzeisige äußerlich leicht, denn sie sind ziemlich lebhaft grün-gelb-schwarz gemustert. Seine Stimme aber ist mir über Jahre buchstäblich entwischt: ein hauchzartes, flüchtiges, wieselschnelles Wispern, mit einem seltsam starren Sirr-Ton in der Mitte. An diesem Ton habe ich den Gesang schließlich »zu fassen« bekommen. Der Ton dauert nur eine Sekunde an und klingt irgendwie elektrisch, wie ein surrender Telegrafendraht. Man könnte auf die Idee kommen, ein heimtückischer Computerbastler hätte den Ton in den Gesang des Zeisigs einkopiert – so technisch, so unnatürlich wirkt er. Beinahe schon unheimlich. Und, hier stimmt das Wort wirklich: unverkennbar.

Der zweite Vogel, dessen Stimme ich erst kürzlich kennengelernt habe, ist der Dompfaff. Die meisten neueren Bestimmungsbücher führen ihn unter »Gimpel«, aber seinen zweiten Namen finde ich viel treffender, ebenso seinen englischen: bullfinch, wörtlich übersetzt Bullenfink. Beide Bezeichnungen beziehen sich nämlich auf die wuchtige Gestalt des Vogels, und an der liegt es vor allem, dass mir seine Stimme so lange entgangen ist: Beides passt irgendwie nicht richtig zusammen.

Wenn man den Dompfaff in einem Busch hocken sieht, bullig, schwarzköpfig, dickschnabelig, das Männchen mit leuchtend kardinalsrotem Bauch, dessen Farbe es den Namen »Dompfaff« verdankt und der aufgeplustert fast wie ein Wanst aussieht – wenn man das sieht, dann erwartet man einen Ruf, der schmetternd und sonor klingt, so wie das Organ eines Domherrn, das von der Kanzel mühelos bis in die hintersten Kirchenbänke dringt. Stattdessen kommen zwei zarte Pfeiftönchen, denn der Vogel hat geradezu eine Fistelstimme. Das einzige Bild, das mir bislang dazu eingefallen ist, sind zwei kurze, leicht abfallende Buntstiftstriche auf einem Blatt Papier.

Der eigentliche Balzgesang ist noch unauffälliger: eine Serie von leisen Pfeif-, Tick- und Knirschlauten, die eher wie eine Aufwärmübung zum Singen wirken denn wie ein richtiger Gesangsvortrag.

Ich war trotzdem begeistert, als ich den Dompfaff zum ersten Mal vom Balkon aus singen hörte. Und kurz darauf sogar sah – dank einer gärtnerischen Grundsatzentscheidung, die wir gleich beim Kauf unseres Hauses gefällt hatten: keine Koniferen und Rhododendren auf unserem Grundstück zu pflanzen und die vorhandenen, so weit wie möglich, zu entfernen. Fast alle Büsche und Bäume, die ich von meinem Balkon aus sehen kann, sind daher im Winter kahl. Das sieht natürlich an manchen Tagen spröde aus, aber es hat einen entscheidenden Vorteil: Was immer zwischen November und Ende März unseren Garten anfliegt, entgeht mir so gut wie nie, erst recht nicht, sobald es den Schnabel aufmacht.

Wenn ich einem Vogel zum ersten Mal beim Singen oder Rufen zusehe, dann ist es oft, als wenn etwas »Klick« macht im Kopf. Als würde ich ihn erst in diesem Moment wirklich kennenlernen. Und manchmal ist das tatsächlich so: wenn es mir beim Zusehen gelingt, einen bis dahin unbekannten Laut erstmals zuzuordnen. Mich versetzt das in ähnliche Hochstimmung wie die erste Sichtung des Vertreters einer Art, die ich bis dahin noch nie in natura gesehen habe.

Ich hatte die beiden zarten Pfeiftöne zwar vorher schon vernommen, aber nur selten und nie richtig bewusst – vielleicht auch, weil sie so ähnlich klingen wie ein Pfiff aus einem Menschenmund. Kaum hatte ich sie identifiziert, hörte ich es plötzlich ständig irgendwo pfeifen. Das war keine Sinnestäuschung; bei anderen »neuen« Lauten ist es mir meist ähnlich gegangen. Vögelbeobachten hat eine langfristige Nebenwirkung: Je länger und genauer man hinhört und -sieht, desto mehr nimmt man wahr, desto schärfer werden die Sinne. Ich glaube, es ist nicht falsch, von einer milden Form von Bewusstseinserweiterung zu sprechen.

Bis heute löst das Pfeifen eines Dompfaffs bei mir übrigens einen Reflex aus: Ich muss sofort nach meinem Fernglas greifen, notfalls ins Haus gehen, um es zu holen. Es ist ja kein Zufall, dass der Dompfaff einer der meistgemalten Vögel der Kunstgeschichte ist und bis heute, neben dem Rotkehlchen, eines der beliebtesten Motive für Postkarten oder die Cover von Bestimmungsbüchern: Er sieht einfach spektakulär aus, mit diesem großen roten Bauch, der inmitten einer stumpf graubraunen Wintervegetation besonders auffallend leuchtet. Auch das Weibchen ist markant: nicht rot, aber genauso groß und bullig, mit der gleichen lackschwarzen Kopf- und Augenbedeckung, dem mächtigen Schnabel, den scharf abgesetzten weißen Flecken an Flügeln und Schwanzwurzel. Und es singt auch. Wenn ein Dompfaff pfeift, weiß ich, dass ich mit etwas Glück gleich zwei zu sehen bekomme; Weibchen und Männchen sind fast immer gemeinsam unterwegs und halten, zart pfeifend, Verbindung zueinander.

Nach dem Umzug in eine neue Stadt kommt früher oder später der Moment, an dem man das Gefühl hat, halbwegs angekommen zu sein. Man ist den Nachbarn oft genug begegnet, um sie nicht mehr zu verwechseln; manche kommen einem schon wie alte Freunde vor. Diese Vertrautheit ist eine gute Ausgangsbasis, um neue Bekanntschaften zu schließen.

Zwischen Mitte und Ende März landen die ersten Zugvögel in meinem Garten, meist macht der Zilpzalp den Anfang. In den folgenden Wochen verschwinden Dompfaff, Zeisig und Rotkehlchen zusehends aus meinem Blick- beziehungsweise Hörfeld. Sie ziehen sich aus meinem Garten in die Wälder der Umgebung zurück oder auch in ihre weiter nördlich gelegenen Brutgebiete – ein Teil von ihnen sind Zugvögel, die nur den Winter in Mitteleuropa verbringen. Das Rotkehlchen ist vergleichsweise ortstreu, aber seine Stimme geht vor allem tagsüber im Chor der vielen anderen unter, die markanter und zum Teil auch lauter singen. Morgens vor Sonnenaufgang, wenn es noch allein singt, verpasse ich es meistens, weil ich zu spät aufstehe.

Aber manchmal gehe ich auch abends auf den Balkon, wenn es schon dunkel ist. Hocke mich auf mein Kissen, schließe die Augen und lasse die letzte Vogelstimme des Tages auf mich wirken. Sehe zu, wie vor meinem inneren Auge die Tropfen ihre Spuren ziehen, zittrig und im Zickzack, aber sehr kühl und sehr klar. Wenn sie lange genug fließen, gelingt es mir manchmal, darin einzutauchen und für ein paar Minuten an nichts zu denken. Wirklich an nichts.

EISSTURMVOGEL

KAPITEL 2 Am Ende des Weges wartet vielleicht eine RöhrennaseWie ein Vogelbuch mir half, Wanderungen mit meinen Eltern zu überstehen

Manchmal, wenn ich morgens auf dem Balkon sitze und den Vögeln lausche, versuche ich mich zu erinnern, wie es vorher war. Bevor ich das Schnee-oder-Steinhuhn in den Kärntner Alpen entdeckte, bevor meine Eltern mir das erste Fernglas und Bestimmungsbuch schenkten, bevor die Frage »Was fliegt denn da?« überhaupt in meinem Leben auftauchte.

Ich versuche mir vorzustellen, wie das war damals: morgens vor die Tür zu gehen und nicht zu sehen, was da fliegt, nicht zu hören, was da zwitschert und singt. Vögel gerade nur so wahrzunehmen wie Blätterwirbel am Straßenrand, Wolkenformationen oder Hundegebell: Naturphänomene und Tierlaute, die zum Grundrauschen des Alltags gehören.

Ich kann es mir nur schwer vorstellen. Es ist so lange her. Ich habe das »Federnlesen« etwa zur selben Zeit wie das Lesen gelernt. Wie das war, als Buchstaben und Zahlen für mich noch lustige Häkchen und Kringel ohne jede Bedeutung waren – auch daran kann ich mich nur noch dunkel erinnern.