Der Bruder des Königs - George R.R. Martin - E-Book

Der Bruder des Königs E-Book

George R.R. Martin

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Beschreibung

Über 1000 Seiten – eine Anthologie der Extraklasse

Jeder mag Schurken, dabei sind sie oft käuflich, handeln moralisch fragwürdig oder sind politisch inkorrekt. Und gerade deswegen stellen Schurken den eigentlichen Helden so häufig in den Schatten. Denn was wäre Star Wars ohne Han Solo oder Game of Thrones ohne Tyrion Lennister? George R.R. Martin und Gardner Dozois haben einundzwanzig Stories zusammengetragen – unter anderem von Patrick Rothfuss, Joe Abercrombie und Scott Lynch –, die sich den beliebtesten Charakteren aller Genres widmen: den Schurken.

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Seitenzahl: 1509

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Zum BuchJeder mag Schurken, dabei sind sie oft käuflich, handeln moralisch fragwürdig oder sind politisch inkorrekt. Und gerade deswegen stellen Schurken den eigentlichen Helden so häufig in den Schatten. Denn was wäre Star Wars ohne Han Solo oder Game of Thrones ohne Tyrion Lennister? George R. R. Martin und Gardner Dozois haben einundzwanzig Storys zusammengetragen – unter anderem von Patrick Rothfuss, Gillian Flynn, Joe Abercrombie und Scott Lynch –, die sich den beliebtesten Charakteren aller Genres widmen: den Schurken.

George R. R. Martin & Gardner Dozois

präsentieren

Der Bruder des Königs

und 20 weitere Kurzromane

Deutsch von Andreas Kasprzak, Michaela Link, Tobias Toneguzzo und Andreas Helweg

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Rogues« bei Bantam Dell, New York.1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2014 by George R. R. Martin & Gardner Dozois

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Alexander Groß und Sigrun Zühlke

Umschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19957-9V001

www.penhaligon-verlag.de

Für Joe und Gay Haldeman, zwei glorreiche Halunken

INHALT

Einleitung: Jedermann liebt coole Schurken

Von George R. R. Martin

Harte Zeiten allerorten

Von Joe Abercrombie

Die unheimlichen Geschehnisse in Carterhook Manor

Von Gillian Flynn

Das Wirtshaus der sieben Segen

Von Matthew Hughes

Tillie

Von Joe R. Lansdale

Der Fall Petticoats

Von Michael Swanwick

Provenienz

Von David W. Ball

Die Goldenen Zwanziger

Von Carrie Vaughn

Ein Jahr und ein Tag im alten Theradane

Von Scott Lynch

Mit Pauken und Trompeten

Von Bradley Denton

Schwermetall

Von Cherie Priest

Liebe ist …

Von Daniel Abraham

Eine bessere Art zu sterben

Von Paul Cornell

Unsichtbar in Tyros

Von Steven Saylor

Die Fracht aus Elfenbein

Von Garth Nix

Diamanten aus Tequila

Von Walter Jon Williams

Die Karawane nach nirgendwo

Von Phyllis Eisenstein

Der seltsame Fall der toten Ehefrauen

Von Lisa Tuttle

Wie der Marquis seinen Mantel zurückbekam

Von Neil Gaiman

Jetzt im Kino

Von Connie Willis

Der Blitzbaum

Von Patrick Rothfuss

Der Bruder des Königs

Von George R. R. Martin

Rechtenachweis

EINLEITUNG JEDERMANN LIEBT COOLE SCHURKEN

Von George R. R. Martin

… auch wenn wir es hinterher manchmal bereuen.

Schurken, Betrüger und Taugenichtse. Nichtsnutze, Diebe, Lumpen und Halunken. Böse Jungs und durchtriebene Mädels. Schwindler, Verführer, Blender, Heuchler, Spitzbuben, Hochstapler, Scheinheilige, Scharlatane, Lügner, Gauner … Sie haben viele Namen und tauchen in allen möglichen Arten von Geschichten auf, in jedem nur erdenklichen Genre unter der Sonne, in Mythen und Legenden … und, oh, natürlich auch quer durch die Erdhistorie. Sie sind die Kinder von Loki, die Geschwister des Coyoten. Manchmal sind sie Helden. Manchmal sind sie Schurken. Meistens jedoch sind sie irgendwas dazwischen, nicht wirklich hell, nicht wirklich dunkel, eher graue Charaktere … und Grau ist schon seit Langem meine Lieblingsfarbe. Grau ist so viel interessanter als Schwarz oder Weiß.

Ich schätze, ich hatte schon immer eine gewisse Vorliebe für Halunken. In meiner Kindheit während der Fünfzigerjahre kam es einem so vor, als bestünde die eine Hälfte des abendlichen Fernsehprogramms aus Sitcoms und die andere aus Western. Mein Vater liebte Western, weshalb ich sie als Kind alle gesehen habe, eine endlose Parade von stoischen Sheriffs und Grenzmarshals, einer heldenhafter als der andere. Marshal Dillon war ein Fels in der Brandung, Wyatt Earp tapfer, beherzt und kühn (was sogar im Titelsong während des Vorspanns besungen wird), und auch der Lone Ranger, Hopalong Cassidy, Gene Autry und Roy Rogers waren heldenhaft, edelmütig und aufrichtig – die perfektesten Identifikationsfiguren, die man sich nur wünschen kann … Leider jedoch kam mir keiner von ihnen wirklich jemals ganz real vor. Meine beiden liebsten Westernhelden waren die, die den üblichen Rahmen sprengten und neue Wege beschritten: Paladin, der sich (wie jeder gute Schurke) schwarz kleidete, wenn er in der Wildnis unterwegs war, aber wie irgendein weibischer Dandy wirkte, wenn er in San Francisco allwöchentlich mit jeweils einer anderen ziemlich attraktiven Dame »Umgang pflegte« (ähem) und seine Dienste für Geld feilbot (Helden scheren sich gemeinhin nicht um Bezahlung); und die Maverick-Brüder (insbesondere Bret), charmante Gauner, die eine besondere Vorliebe für die »Zockermontur« hatten: für schwarze Anzüge, Cowboykrawatten und schicke Westen statt der traditionellen Marshal-Kluft, bestehend aus Jacke, Marke und weißem Hut; vielleicht traf man sie deshalb öfter an Pokertischen an als bei irgendwelchen Schießereien.

Wenn man sich die alten TV-Serien Maverick und Have Gun – Will Travel heute anschaut, stellt man fest, dass sie sich wesentlich besser gehalten haben als die eher traditionellen Western jener Tage. Natürlich kann man jetzt argumentieren, dass die Drehbücher besser sind als bei den meisten der anderen »Pferdeopern« oder die Schauspieler, oder die Regisseure, und damit läge man nicht falsch … Doch ich persönlich glaube, dass hier auch der Schurken-Faktor eine Rolle spielt.

Natürlich wissen nicht bloß die Fans alter Fernsehwestern einen guten Ganoven zu schätzen. Tatsächlich ist der verwegene Schurke vielmehr so eine Art von Charakter-Archetypus, der sich durch alle Medien und Genres zieht.

Clint Eastwood wurde durch die Verkörperung von Figuren wie Rowdy Yates, Dirty Harry und dem Fremden ohne Namen zum Star. Hätte man ihn stattdessen als Goody Yates, Durchschnitts-Billy oder den Mann mit den zwei Ausweispapieren besetzt, hätte wohl niemand je etwas von ihm gehört. Okay, als ich auf dem College war, gab es dort ein Mädchen, das den großmütigen, aufopferungsvollen Ashley Wilkes dem Gauner Rhett Butler vorzog, diesem Spieler und Blockadebrecher … Aber ich glaube, da war sie die Einzige. Jede andere Frau, der ich jemals begegnet bin, hätte sich ohne lange zu überlegen für Rhett entschieden statt für Ashley, ganz zu schweigen von Frank Kennedy und Charles Wilkes. Harrison Ford wirkt zwar in jeder Rolle, die er spielt, ein bisschen schurkisch und verwegen, doch natürlich nahm das alles seinen Anfang mit Han Solo und Indiana Jones. Hand aufs Herz: Gibt es irgendwen, der Luke Skywalker tatsächlich cooler findet als Han Solo? Klar, Han ist nur scharf aufs Geld, was er auch von Anfang an deutlich macht … Doch gerade deshalb ist es einfach großartig, wenn er am Ende von Star Wars zurückkommt, um Darth Vader diesen Torpedo zu verpassen. (Oh, und in der Cantina-Szene ist ER derjenige, der zuerst schießt, ganz gleich, wie sehr George Lucas diesen ersten aller Star Wars-Filme auch im Nachhinein verändert haben mag.) Und Indy … Indy ist quasi der Inbegriff des verwegenen Draufgängers. Als er seine Pistole zieht, um diesen Schwertkämpfer zu erschießen, ist das alles andere als fair – aber haben wir ihn nicht gerade dafür so geliebt?

Allerdings werden nicht bloß Film und Fernsehen von Halunken beherrscht. Sehen Sie sich nur die Literatur an.

Insbesondere die epische Fantasy.

Fantasy wird häufig als Genre charakterisiert, in dem das absolut Gute gegen das absolut Böse kämpft, und zweifellos kommt das tatsächlich ziemlich oft vor, vor allem dank der Legionen von Tolkien-Nachahmern mit ihren immer wiederkehrenden dunklen Lords, bösen Handlangern und vierschrötigen Helden. Allerdings gibt es ein noch wesentlich älteres Subgenre der Fantasy, in dem es von Schurken nur so wimmelt, nämlich Sword & Sorcery (Schwert & Magie). Conan von Cimmeria wird gemeinhin als Held beschrieben, doch wir sollten nicht vergessen, dass er außerdem ein Dieb ist, ein Räuber, ein Pirat, ein Söldner und letzten Endes ein Usurpator, der sich unrechtmäßig den Thron unter den Nagel reißt – nachdem er mit jeder hübschen Frau in der Kiste war, die ihm unterwegs in die Quere kam. Fafhrd und der Graue Mausling sind sogar noch schurkischer, wenn auch weniger erfolgreich. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass es einer der beiden irgendwann zum König bringen wird. Und dann hätten wir da noch Jack Vance’ durch und durch unmoralischen (und durch und durch köstlichen) Cugel den Schlauen, dessen Pläne zwar niemals so aufzugehen scheinen, wie er es sich vorstellt, aber trotzdem …

Auch das Historiengenre hat sein Maß an ungestümen, verschlagenen, wenig vertrauenswürdigen Gestalten. Die drei Musketiere besitzen zweifellos gewisse verwegene Qualitäten. (Um so richtig auf den Putz zu hauen, braucht es nun mal echte Kerle.) Rhett Butler war im Roman ein ebensolcher Schuft wie im Film. Michael Chabon schenkte uns mit Amram und Zelikman, den Hauptfiguren seiner historischen Novelle Gentlemen of the Road, zwei großartige neue Halunken, und ich für meinen Teil hoffe sehr, dass wir noch einiges von diesem Pärchen zu sehen bekommen. Und selbstverständlich ist da noch George MacDonald Frasers unsterblicher Harry Flashman (für Sie selbstverständlich Sir Harry Paget FlashmanVC, KCB, KCIE, wenn’s beliebt), eine Figur mit gewissen Anleihen an Tom Browns Schuljahre, Thomas Hughes’ klassischem Roman über ein britisches Internat (so ähnlich wie Harry Potter, nur ohne Quidditch, Magie oder Mädchen). Falls Sie MacDonalds Flashman-Bücher noch nicht gelesen haben sollten (den Roman von Hughes können Sie getrost auslassen, es sei denn, Sie finden Gefallen an viktorianischen Moralpredigten), steht Ihnen die Begegnung mit einem der großartigsten Gauner der Literaturgeschichte noch bevor – eine Erfahrung, um die ich Sie ehrlich beneide.

Was ist mit Western? Teufel noch eins, der gesamte Wilde Westen war voll von Halunken. Der gesetzlose Held ist hier genauso allgegenwärtig wie der gesetzlose Verbrecher, wenn nicht sogar noch präsenter. Billy the Kid? Jesse James und seine Bande? Doc Holliday, der verwegene Zahnarzt extraordinaire? Und wenn wir nochmals einen Blick aufs Fernsehen werfen – wenn auch diesmal auf einen Bezahlsender –, dann haben wir da HBOs fabelhafte und viel zu wenig beachtete Serie Deadwood mit dem hinterhältigen Al Swearengen im Mittelpunkt aller skrupelloser Machenschaften. Immer wenn der Barbesitzer Swearengen (gespielt von Ian McShane) auftritt, kann der eigentliche Held, der aufrechte Sheriff, einpacken. Swearengen stiehlt allen die Show. Aber andererseits verstehen sich Schurken ja u. a. auch genau darauf: aufs Stehlen. Das ist sogar eins der Dinge, die sie am besten können.

Was ist mit dem Romantikgenre? Absolut! In Liebesromanen erobert der Draufgänger am Ende immer das Herz des Mädchens, selbst wenn das heutzutage oft ein bisschen anders läuft: Heute ist das Mädchen die Schurkin, was bisweilen sogar noch cooler sein kann. Es ist immer schön zu sehen, wie Konventionen auf den Kopf gestellt werden.

Im Krimigenre gibt es ganze Untergattungen über verwegene Gauner: Privatdetektiven zum Beispiel haftet diese Aura seit jeher an; wären diese Typen aufrechte, geradlinige, wahrheitsliebende Burschen, die alles nach Vorschrift machen, wären sie Cops. Aber das sind sie nun mal nicht.

So könnte ich immer weiter fortfahren. Literarische Fiktion, Schauerromane, Romantik und Übernatürliches, Frauenliteratur, Horror, Cyberpunk, Steampunk, Urban Fantasy, Krankenschwesterromane, Tragödien, Komödien, Erotik, Thriller, Weltraumsagas, Western, Sportgeschichten, Militärfiktion, Ranch-Romanzen … Jedes Genre und Subgenre hat seine Schurken, und meistens sind diese Schurken die Figuren, die man am coolsten findet und an die man sich auch später noch am besten erinnert.

Allerdings sind nicht all diese Genres in dieser Anthologie vertreten, auch wenn ich mir fast wünschte, es wäre anders. Vielleicht ist das der Draufgänger in mir selbst, jener Teil von mir, der gern außerhalb fester Normen denkt – um ehrlich zu sein, ich habe nicht allzu viel Respekt vor Genregrenzen. Heute bin ich zwar vor allem als Fantasyautor bekannt, aber Der Bruder des Königs und 20 weitere Kurzromane soll keine Fantasyanthologie sein, auch wenn einige gute Fantasystorys enthalten sind. Mein Mitstreiter Gardner Dozois hat einige Jahrzehnte lang ein Science-Fiction-Magazin herausgegeben, doch eine SF-Anthologie ist Der Bruder des Königs trotzdem nicht … obwohl auf diesen Seiten diverse Science-Fiction-Erzählungen vertreten sind, wie man sie – und das vollkommen zu Recht – in den einschlägigen, monatlich erscheinenden Heften vermuten würde.

Genau wie die Warriors-Anthologie und Königin im Exil, unsere vorherigen Cross-Genre-Sammlungen, soll auch Der Bruder des Königs und 20 weitere Kurzromane alle Genregrenzen überschreiten. Unser Thema ist universell, und Gardner und ich lieben gute Geschichten jeder Couleur, ganz gleich, in welcher Zeit, an welchem Ort oder in welchem Genre sie spielen, darum zogen wir los und baten eine Reihe wohlbekannter Autoren aus den verschiedensten Bereichen um Beiträge zu diesem Buch: Autoren aus den Gattungen Mystery, epische Fantasy, Sword and Sorcery, Urban Fantasy, Science-Fiction, Romantik, Mainstream, Krimi (gemütlich oder knallhart), Thriller, historischer Roman, Liebesschnulze, Western, Noir, Horror … was auch immer. Nicht alle konnten oder wollten ihren Beitrag zu diesem Buch leisten, aber viele schon, und das Ergebnis präsentieren wir in diesem Band. Diese Leute sind größtenteils mit Preisen überhäufte Bestsellerautoren, die bei einem Dutzend verschiedener Verlage erscheinen und aus allen nur erdenklichen Sparten kommen. Wir baten jeden von ihnen um dasselbe: um eine Geschichte über einen verwegenen Schuft, voll unvorhergesehener Wendungen, waghalsiger Pläne und Kehrtwenden. Keinem wurden irgendwelche Genrebeschränkungen auferlegt; jeder konnte tun und lassen, was immer er will. Einige beschlossen, dem Genre treu zu bleiben, das man am ehesten mit ihnen verbindet. Andere entschieden, mal etwas völlig anderes auszuprobieren.

In meiner Einführung zu Warriors, der ersten unserer genreübergreifenden Anthologien, erzählte ich davon, wie es war, in den 1950ern in Bayonne, New Jersey, aufzuwachsen, einer Kleinstadt mit einem einzigen Buchladen. Ich kaufte meine gesamte Lektüre aus den Drahtgitterdrehständern der Zeitschriftenkioske und »Süßigkeitenläden« an der Ecke. Die Taschenbücher in diesen Ständern waren nicht nach Genres geordnet. Alles wurde wahllos hineingestopft, ein Exemplar hiervon, zwei Exemplare davon. Da standen dann Die Brüder Karamasow zwischen einem Krankenhausroman und dem neuesten Mike-Hammer-Knaller von Mickey Spillane. Dorothy Parker und Dorothy L. Sayers teilten sich den Ständer mit Ralph Ellison und J. D. Salinger. Max Brand rieb sich an Barbara Cartland. A. E. van Vogt, P. G. Wodehouse und H. P. Lovecraft drängten sich Seite an Seite mit F. Scott Fitzgerald. Krimis, Western, Gruselromane, Geistergeschichten, Klassiker der englischen Literatur, die neuesten zeitgenössischen »literarischen« Werke und natürlich Science -Fiction, Fantasy und Horror – in diesen Drehständern konnte man all das finden und noch viel mehr.

Schon damals gefiel mir das sehr. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Gleichwohl, in den Jahrzehnten, die seitdem vergangen sind (zu viele, fürchte ich), hat sich das Verlagsgeschäft verändert; heute gibt es vor allem Buchhandelsketten statt einzelner Buchläden, und die Genregrenzen haben sich verhärtet. Ich finde das schade; schließlich sollen Bücher uns doch auf die eine oder andere Weise weiterbringen, uns an Orte entführen, an denen wir noch nie zuvor gewesen sind, und uns Dinge zeigen, die wir noch niemals gesehen haben. Sie sollen unseren Horizont erweitern und unseren Blick auf die Welt verändern. Die eigene Lektüre auf ein einziges Genre zu begrenzen macht all das zunichte. Genres schränken uns ein und machen uns kleiner. Damals wie heute bin ich der Ansicht, dass es einfach nur gute und schlechte Geschichten gibt, und auch heute noch ist das die einzige Unterscheidung in der Literatur, die für mich wirklich zählt.

Wir finden, wir haben in diesem Band eine Menge guter Geschichten zusammengetragen. Auf diesen Seiten begegnen Sie Halunken jeder Form, Farbe und Größe, mit einem breiten Spektrum an Schauplätzen, in Erzählungen, die eine gesunde Mischung der unterschiedlichsten Genres und Subgenres repräsentieren. Allerdings weiß man erst, welches spezielle Genre oder Subgenre einen erwartet, wenn man die jeweilige Story gelesen hat, da Gardner und ich die Geschichten in diesem Band ganz in der Tradition dieser altehrwürdigen Bücherdrehständer bunt durcheinandergewürfelt haben. Einige der hier versammelten Geschichten wurden vermutlich von dem einen oder anderen Ihrer Lieblingsautoren verfasst; andere von Schriftstellern, von denen Sie vielleicht noch nie gehört haben (jedenfalls noch nicht). Wir hoffen, dass einige, die derzeit noch in letztere Kategorie fallen, in erstere aufgestiegen sind, wenn Sie mit der Lektüre von Der Bruder des Königs und 20 weitere Kurzromane fertig sind.

In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen – aber Vorsicht! Einige der Gentlemen und auch ein paar der reizenden Ladys auf diesen Seiten sind nicht sonderlich vertrauenswürdig.

JOE ABERCROMBIE

Joe Abercrombie ist einer der aufstrebenden Stars der modernen Fantasy, von Lesern und Kritikern gleichermaßen gefeiert wegen seiner direkten, nüchternen Herangehensweise an das Genre. Sein bekanntestes Werk ist wohl die Klingen-Trilogie, deren erster Teil, Kriegsklingen, 2006 veröffentlicht wurde, ein Jahr später gefolgt von Feuerklingen und abgeschlossen mit Königsklingen. Er hat auch weitere eigenständige Romane in diesem Fantasyuniversum verfasst: Racheklingen, Heldenklingen und zuletzt Blutklingen. Abercrombie, der neben seiner Tätigkeit als Autor auch als selbstständiger Filmeditor aktiv ist, lebt und arbeitet in London.

In dem folgenden rasanten Thriller führt er uns tief in die schmutzigen, stinkenden, labyrinthartigen Straßen von Sipani, einer der gefährlichsten Städte der Welt, wo eine tödliche Partie Hasch mich begonnen hat.

HARTE ZEITEN ALLERORTEN

Von Joe Abercrombie

Verflucht, wie sie Sipani hasste.

Der verdammte dichte Nebel und das verdammte plätschernde Wasser und der verdammte Gestank nach Fäulnis. Die verdammten Feiern und Masken und die verdammte Ausgelassenheit. Jeder hatte Spaß – verdammt viel Spaß – oder tat zumindest so. Diese verdammten Leute, sie waren das Schlimmste. Schurken, jeder Einzelne, egal ob Mann, Frau oder Kind. Lügner und Narren, alle miteinander.

Carcolf hasste Sipani. Und dennoch war sie schon wieder hier. Wer also, musste sie sich fragen, war hier die Närrin?

Schallendes Gelächter hallte aus dem Nebel vor ihr wider, und sie huschte in einen der schattenverhangenen Hauseingänge, eine nervös zuckende Hand auf dem Griff ihres Schwertes. Ein guter Kurier traut niemandem, und Carcolf war die Beste von allen. Doch in Sipani vertraute sie … weniger als niemandem.

Eine weitere Gruppe von Vergnügungssuchenden kam aus dem Nebel stolziert; da war ein Mann mit einer mondförmigen Maske, eine Frau, die so betrunken war, dass sie auf ihren hochhackigen Schuhen immer wieder umknickte, und ein anderer wedelte mit seinen Spitzenmanschetten herum. Sie alle lachten, als gäbe es nichts Komischeres, als sich so zu betrinken, dass man nicht mehr aufstehen konnte. Carcolf verdrehte die Augen gen Himmel und tröstete sich mit dem Gedanken, dass es ihnen hinter ihren Masken ebenso verhasst sein musste wie ihr, wenn sie versuchte, sich zu amüsieren.

Sie seufzte in der Abgeschiedenheit des Hauseingangs. Höchste Zeit, dass sie mal frei nahm. Sie wurde langsam richtig verbittert. Oder vielleicht war sie es schon, und es wurde nur noch schlimmer. Verwandelte sie sich etwa in ihren verfluchten Vater – in einen dieser Menschen, die die ganze Welt verachteten?

»Bloß das nicht«, murmelte sie.

Sobald die Zecher in der Nacht verschwunden waren, huschte sie aus dem Eingang und ging weiter, weder zu schnell noch zu langsam. Ihre weichen Stiefelsohlen verursachten kaum einen Laut auf dem Kopfsteinpflaster, ihre unscheinbare Kapuze war unauffällig ins Gesicht gezogen – sie schien das Musterbeispiel einer Person zu sein, die nicht mehr zu verbergen hatte als jeder andere auch. Was in Sipani normalerweise eine ganze Menge war.

Irgendwo im Westen raste vermutlich gerade ihre gepanzerte Kutsche durch die breiten Straßen, dass Funken von den Rädern stoben, preschte über die Brücken, während überraschte Passanten zur Seite sprangen und die Peitsche des Fahrers gegen die schaumglänzenden Flanken der Pferde schnalzte. Und hinter der Kutsche würde das Dutzend gedungene Wachen dahindonnern. Außer natürlich, die Leute des Bruchmanns hatten schon zugeschlagen – das Aufblitzen der Pfeile, die Schreie von Menschen und Tieren und schließlich das Donnern, wenn die Kutsche von der Straße abkam. Danach das Klirren von Stahl und ein Knall, wenn sie das schwere Schloss mit Schwarzpulver von der Truhe sprengten. Hände würden den dichten Rauch beiseitewedeln, der Deckel würde hochgeklappt, um zu enthüllen, dass die Truhe … leer war.

Carcolf gönnte sich ein schmales Lächeln und tätschelte das Bündel an ihren Rippen, das sicher ins Innenfutter ihres Mantels eingenäht war.

Sie sammelte sich, machte ein paar Schritte und sprang vom Rand des Kanals über drei Schritt öligen Wassers hinweg auf das Deck einer verrottenden Barke. Die Bohlen knirschten, als sie sich abrollte und in einer fließenden Bewegung wieder auf die Beine kam. Den Weg außen herum über die Fintin-Brücke zu nehmen wäre ein gewaltiger Umweg, ganz zu schweigen davon, dass es dort von Fußgängern und wachsamen Augen nur so wimmelte. Dieses Boot hingegen stellte die perfekte Abkürzung dar, war es doch stets hier in den Schatten festgemacht. Carcolf hatte sich persönlich davon überzeugt; sie war jemand, der möglichst wenig dem Zufall überließ, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der Zufall ein echter Bastard sein konnte.

Ein ergrautes Gesicht spähte aus dem Dunkel der Kabine, wo Dampf aus einem zerbeulten Kessel stieg. »Wer zum Teufel bist du?«

»Niemand.« Carcolf winkte fröhlich. »Bin schon wieder weg!« Mit diesen Worten sprang sie vom schwankenden Deck auf den Stein am anderen Kanalufer, und schon hüllte sie wieder der modrig riechende Nebel ein. Schon wieder weg. Jawohl, sie musste nur das Dock erreichen, und mit der nächsten Flut wäre sie weg, ein breites Grinsen im Gesicht … oder eben ein mürrisches Stirnrunzeln. Carcolf war ein Niemand, wohin sie auch ging. Stets nur auf der Durchreise, ganz egal wo.

Im Osten würde dieser Idiot Pombrine vermutlich gerade mit seinen vier bezahlten Dienstmännern dahinpreschen. Er sah ihr überhaupt nicht ähnlich, allein schon wegen seines Schnurrbarts, aber solange er ihren auffällig verzierten Mantel trug, sollte er ein passables Double abgeben. Er war ein eingebildeter und bettelarmer Zuhälter, und er hatte sich nur als sie verkleidet, weil er eine Geliebte besuchen wollte: eine Edeldame mit großen Reichtümern, die um jeden Preis vermeiden musste, dass ihr Techtelmechtel bekannt wurde. Carcolf seufzte. Wenn Pombrine wüsste. Sie stellte sich seinen Schock vor, wenn diese Mistkerle Tief und Seicht ihn aus dem Sattel schossen – nur um sich dann über den Schnurrbart zu wundern. Mit wachsender Frustration würden sie seine Kleider durchsuchen, und zu guter Letzt würden sie ihn vermutlich sogar aufschneiden und ausweiden. Doch finden würden sie nichts.

Noch einmal tätschelte Carcolf das Bündel, und leichteren Schritts ging sie weiter. Allein und zu Fuß folgte sie einer sorgsam gewählten Route, ging durch schmale Gassen, durch unbewachte Durchgänge und über Treppen, durch verfallende Paläste und heruntergekommene Mietshäuser, Tore, die dank geheimer Abmachungen offen standen, und dann schließlich durch einen kurzen Abschnitt der Abwasserkanäle geradewegs zu den Docks, wo sie noch ein oder zwei Stunden Zeit hätte, bevor das Schiff ablegte.

Nach dieser Mission musste sie wirklich eine Pause einlegen. Sie fuhr mit der Zunge über die Innenseite ihrer Lippe, wo sich ein kleines, aber äußerst schmerzhaftes Geschwür gebildet hatte. Ihr ganzes Leben bestand nur aus Arbeit. Wie wäre es also mit einem Abstecher nach Adua? Sie könnte ihren Bruder besuchen und ihre Nichten. Wie alt waren sie jetzt wohl? Hm. Nein, lieber doch nicht. Sie hatte nicht vergessen, was für ein voreingenommenes Miststück ihre Schwägerin war – eine dieser Personen, die allem und jedem mit gerümpfter Nase begegneten. Sie erinnerte Carcolf an ihren Vater; vermutlich hatte ihr Bruder die dumme Ziege deswegen geheiratet.

Von irgendwo ertönte Musik, und sie duckte sich in einen zerbröckelnden Durchgang. Ein Geigenspieler, der entweder sein Instrument stimmte oder einfach nur grausig schlecht war. Nichts von beidem hätte sie überrascht. Papier raschelte an einer moosbefleckten Wand: schlecht bedruckte Plakate, die die rechtschaffenen Bürger zum Aufstand gegen die Schlange von Talins und ihre Tyrannei aufriefen. Carcolf schnaubte. Die meisten Bürger von Sipani waren mehr mit dem Hinfallen beschäftigt als mit dem Aufstehen, und der Rest war alles andere als rechtschaffen.

Sie zupfte an ihrem Hosenboden, aber es brachte nichts. Wie viel musste man für neue Kleider zahlen, damit einem nicht von einer Naht an einer denkbar ungünstigen Stelle die Haut wundgerieben wurde? Sie eilte auf dem schmalen Weg an einem trägen Abschnitt des Kanals dahin, der schon so lange nicht mehr benutzt wurde, dass das Wasser schleimig vor Algen war und Müll darin umhertrieb. Dabei zog sie den störenden Stoff ihrer Hose vergeblich mal hierhin, mal dorthin. Verflucht sei diese neue Mode mit ihren engen Hosen! Vielleicht war es eine Art kosmische Bestrafung dafür, dass sie den Schneider mit gefälschten Münzen bezahlt hatte. Doch ihr Profit auf dieser Welt war ihr wichtiger als kosmische Gerechtigkeit, weswegen sie versuchte, immer so wenig wie möglich zu bezahlen. Das war praktisch einer ihrer Grundsätze, und schon ihr Vater hatte gesagt, dass eine Person immer an ihren Prinzipien festhalten sollte …

Verflucht, sie verwandelte sich wirklich in ihren Vater.

»Ha!«

Eine ungepflegte Gestalt sprang vor ihr aus einem Bogengang, und kurz war das Funkeln von Stahl zu sehen. Mit einem instinktiven Ächzen stolperte Carcolf zurück und versuchte, ihren Mantel zur Seite zu schieben, um ihre eigene Klinge zu ziehen. Kurz war sie überzeugt, dass der Tod sie zu guter Letzt doch noch ereilen würde. War ihr der Bruchmann einen Schritt voraus gewesen? Oder waren es Tief und Seicht? Oder Kurrikans Leute … doch niemand sonst zeigte sich. Da war nur dieser eine Kerl, gekleidet in einen fleckigen Umhang, mit zerzaustem Haar, das in der feuchten Luft an seiner Haut klebte. Ein zerschlissener Schal verbarg den unteren Teil seines Gesichts, sodass nur seine runden, blutunterlaufenen und erschrockenen Augen zu sehen waren.

»Stehen bleiben und Geld her!«, dröhnte er, seine Stimme durch den Schal gedämpft.

Carcolfs Augenbrauen wanderten nach oben. »Sagt man sowas heute überhaupt noch?«

Eine kurze Pause, während das abgestandene Wasser gegen die Kanalwand neben ihnen plätscherte. »Du bist eine Frau?« Ein beinahe schon entschuldigender Tonfall schwang in der Stimme des Räubers mit.

»Würdest du mich nicht überfallen, falls ich eine wäre?«

»Nun, ähm …« Der Dieb schien in sich zusammenzuschrumpfen, aber dann straffte er die Schultern. »Bleib trotzdem stehen und her mit deinem Geld!«

»Warum?«, fragte Carcolf.

Die Schwertspitze des Räubers ruckte nervös auf und ab. »Weil ich Schulden bei … Das geht dich überhaupt nichts an!«

»Nein, ich meine, warum erstichst du mich nicht einfach und nimmst mir dann meine Wertsachen ab?«

Eine weitere Pause folgte. »Ich schätze … ich wollte kein Blutvergießen? Aber ich warne dich, ich bin zu allem bereit.«

Er war ein verfluchter Zivilist. Ein kleiner Krimineller, der durch Zufall auf sie gestoßen war. Oh, und was für ein Bastard der Zufall war – das würde dieser Kerl jetzt auf die harte Tour lernen. »Guter Mann«, sagte sie, »du bist ein erbärmlicher Dieb.«

»Ich, gute Frau, bin ein Ehrenmann.«

»Ein toter Ehrenmann.« Carcolf trat vor und zückte ihre Klinge, ein Armlang rasiermesserscharfen Stahls, der im Schein einer Lampe in einem Fenster über ihnen glänzte. Sie konnte sich nie dazu motivieren zu üben, aber dennoch war sie recht geschickt mit dem Schwert. Um sie zu überwältigen, wäre schon mehr nötig als dieser Abschaum und sein Buttermesser. »Ich werde dich ausnehmen wie ein …«

Der Mann sprang erstaunlich schnell nach vorn. Metall klirrte gegen Metall, und bevor Carcolf sich auch nur für eine Bewegung entscheiden konnte, wurde ihr das Schwert aus der Hand geschlagen. Es schlitterte klirrend über das schmutzige Pflaster und verschwand im Kanal.

»Ah«, machte sie. Das änderte die Sache. Offensichtlich war ihr Gegner nicht der Tölpel, nach dem er aussah – zumindest nicht, was seine Fertigkeiten mit dem Schwert anging. Sie hätte mit so etwas rechnen sollen. In Sipani war nie etwas, wie es schien.

»Geld her«, forderte er.

»Mit Vergnügen.« Carcolf zückte ihre Börse und warf sie gegen die Wand, in der Hoffnung, an dem Kerl vorbeischlüpfen zu können, solange er abgelenkt war. Leider schnappte er den Geldbeutel mit beeindruckender Gewandtheit aus der Luft und richtete seine Waffe dann sofort wieder auf sein Opfer, um ihm keine Chance zur Flucht zu geben. Die Klingenspitze berührte die Ausbuchtung an ihrem Mantel.

»Und was hast du da?«

So wurde aus einer schlechten Situation eine wirklich üble. »Nichts, überhaupt nichts.« Carcolf versuchte, ihre Worte mit einem falschen Lachen glaubhafter zu machen, aber der Versuch war sinnlos. Das Schiff, das im Hafen wartete, um sie nach Thond zu bringen, rückte in noch weitere Ferne. Mit dem Finger schob sie die funkelnde Schwertspitze von sich fort. »Ich habe einen sehr dringenden Termin, falls ich also …« Mit dem leisen Zischen von Stoff schlitzte der Dieb ihren Mantel auf.

Carcolf blinzelte. »Au.« Da war ein brennender Schmerz an ihren Rippen. Das Schwert hatte auch ihre Seite aufgeschnitten. »Au!« Zutiefst gekränkt sank sie auf die Knie, die Hand auf die Wunde gepresst. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor.

»Oh … oh, nein. Tut mir leid, ich wollte dir wirklich nicht wehtun. Ich wollte nur, du weißt schon …«

»Aua.« Das Bündel fiel, nunmehr leicht mit Carcolfs Blut verschmiert, aus dem aufgeschlitzten Stoff und landete auf dem Boden: ein schmales Päckchen, knapp dreißig Zentimeter lang, eingewickelt in fleckiges Leder.

»Ich brauche einen Arzt«, keuchte sie in ihrem überzeugendsten Ich-bin-eine-hilflose-Frau-Tonfall. Die Großherzogin hatte ihr stets vorgeworfen, dass sie übermäßig theatralisch wäre, aber falls sie in einer solchen Situation nicht theatralisch sein durfte, wann dann? Davon abgesehen brauchte sie vermutlich wirklich einen Arzt, außerdem bestand die Möglichkeit, dass sich der Dieb zu ihr hinabbeugte, um ihr zu helfen; falls er nahe genug herankäme, könnte sie dem Mistkerl ihr Messer ins Gesicht rammen. »Bitte, hilf mir! Ich flehe dich an!«

Er zögerte, die Augen weit aufgerissen. Die ganze Sache war offensichtlich weiter gegangen, als er beabsichtigt hatte. Doch schließlich schob er sich näher heran, wenn auch nur, um nach dem Päckchen zu greifen, die glänzende Schwertspitze weiterhin auf Carcolf gerichtet.

Das war das Schlimmste, was er hätte tun können. Sie versuchte, die Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Hör zu, nimm das Geld. Ich wünsche dir viel Spaß damit.« Tatsächlich wünschte sie ihm, dass er in einem frühen Grab verrotten möge. »Aber es wäre für uns beide das Beste, wenn du mir dieses Päckchen überlässt!«

Seine Hand hielt inne. »Warum? Was ist da drin?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe Befehl, es nicht zu öffnen.«

»Befehl? Von wem?«

Carcolf verzog das Gesicht. »Das weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht, aber …«

Kurtis nahm das Päckchen. Warum auch nicht? Er war vielleicht ein Trottel, aber er war kein Riesentrottel. Also schnappte er es sich und rannte weg. Natürlich rannte er weg – so wie immer.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er die Gasse hinunterhetzte. Er sprang über ein geborstenes Fass, blieb mit dem Fuß hängen und spießte sich um ein Haar auf seinem gezogenen Schwert auf, bevor er mit dem Gesicht voran durch Schlamm und Unrat schlitterte und dabei einen Mundvoll von etwas leicht Süßlichem hinunterschluckte. Er spuckte aus und fluchte, warf einen verängstigten Blick über die Schulter.

Nichts deutete darauf hin, dass er verfolgt wurde. Da war nur der Nebel, der endlose Nebel, der sich wie ein lebendes Wesen aufbauschte und kräuselte.

Kurtis steckte das inzwischen ein wenig schleimige Päckchen unter seinen ausgefransten Mantel und humpelte weiter, eine Hand auf seinem schmerzenden Hintern, während er noch immer versuchte, diesen faulig süßen Geschmack auszuspucken. Nicht dass er schlimmer gewesen wäre als sein Frühstück heute Morgen. Eigentlich sogar besser. Das Frühstück eines Mannes sagt viel über ihn aus, wie sein Fechtmeister zu predigen gepflegt hatte.

Er zog seine feuchte Kapuze hoch, der der schwache Geruch von Zwiebeln und Verzweiflung anhaftete, presste den Geldbeutel zwischen zwei Finger und steckte dann das Schwert zurück in die Scheide, kurz bevor er aus der Gasse schlitterte und sich unter die Passanten mischte. Das leise Klacken von Parierstange gegen Hülle brachte so viele Erinnerungen zurück: an die Ausbildung und die Turniere, an eine strahlende Zukunft und die Bewunderung der Zuschauer. Fechten, mein Junge, ist der beste Weg, in der Gesellschaft aufzusteigen! Die Leute in Styria wissen gute Fechter wirklich zu schätzen, da wirst du ein Vermögen machen! Das waren noch Zeiten gewesen, als er sich nicht in Fetzen kleiden oder dankbar dafür sein musste, wenn er die Reste des Schlachters ergatterte. Als er seinen Lebensunterhalt noch nicht damit bestritten hatte, Männer zu überfallen. Er verzog das Gesicht. Oder Frauen. Konnte man so etwas überhaupt ein Leben nennen? Er riskierte einen verstohlenen Blick zurück. Hatte er sie vielleicht getötet? Er bekam eine Gänsehaut. Es war nur ein Kratzer gewesen. Oder? Er hatte Blut gesehen. Bitte, mach, dass es nur ein Kratzer war! Kurtis rieb sich das Gesicht, als könnte er dadurch die Erinnerung wegwischen, aber sie hatte sich bereits festgefressen. Es war schrecklich: Dinge, die er sich nie auch nur hätte vorstellen können, wurden zu Dingen, von denen er glaubte, dass er sie nie tun könnte, dann zu Dingen, die er nie wieder tun wollte, und schließlich zu seiner täglichen Routine.

Noch einmal vergewisserte er sich, dass ihm niemand folgte, dann huschte er von der Straße fort und über einen verfallenden Hof. Die verblassten Gesichter der Helden von gestern starrten von Plakaten auf ihn herab, dann ging es die nach Urin stinkende Treppe hoch und um die abgestorbene Pflanze herum. Er zückte seinen Schlüssel und kämpfte mit dem verklebten Schloss.

»Verdammt, gottverdammt, Mist, was … ah!« Die Tür gab abrupt nach, und er wäre um ein Haar wieder gestürzt, als er in den Raum stolperte. Rasch drehte er sich um, und nachdem er die Tür wieder zugeschlagen hatte, stand er einen Moment lang schwer atmend in der stinkenden Düsternis.

Wer würde ihm jetzt noch glauben, dass er einst mit dem König gefochten hatte? Natürlich hatte er verloren. So wie er auch alles andere verloren hatte, nicht wahr? Er hatte sich mit null zu zwei Treffern geschlagen gegeben, gekränkt im Staub liegend, nachdem er die Klinge mit der Seiner Erhabenen Hoheit gekreuzt hatte. Dieselbe Klinge, fiel ihm auf, die er nun gegen die Wand neben der Tür lehnte. Die Klinge war schartig und befleckt und zur Spitze hin sogar ein wenig verbogen. Die letzten zwanzig Jahre hatten es mit seinem Schwert ebenso wenig gut gemeint wie mit ihm. Doch vielleicht wandelte sich sein Schicksal heute ja.

Er nahm seinen Mantel ab und warf ihn in eine Ecke, aber erst nachdem er das Päckchen hervorgeholt hatte. Zeit, es auszupacken und zu sehen, was er erbeutet hatte. Er kämpfte im Dunkeln mit der Lampe, um sich ein wenig Licht zu machen, und blinzelte, als die Schatten in dem mickrigen Raum langsam zurückwichen. Das von Rissen überzogene Glas der Fenster, die abblätternde Farbe an den schimmelnden Wänden, die aufgeplatzte Matratze, aus der fauliges Stroh herausquoll, die ebenso mickrigen wie erbärmlichen Möbel …

Ein Mann saß auf Kurtis’ einzigem Stuhl, an Kurtis’ einzigem Tisch. Er war groß, trug einen voluminösen Mantel und hatte sein Haar so kurz geschoren, dass nur noch graue Stoppeln übrig waren. Langsam atmete er durch seine fleischige Nase ein, dann ließ er zwei Würfel aus seiner Faust fallen, sodass sie über die fleckige Tischplatte rollten.

»Sechs und zwei«, sagte er. »Acht.«

»Wer, zum Teufel, bist du?« Kurtis’ Stimme war hoch und piepsig vor Schreck.

»Der Bruchmann schickt mich.« Noch einmal ließ der Mann die Würfel rollen. »Sechs und fünf.«

»Heißt das, ich verliere?« Kurtis linste zu seinem Schwert hinüber und versuchte – vergebens –, gelassen zu wirken, während er überlegte, wie lange er wohl brauchen würde, um die Waffe zu erreichen, sie zu ziehen, zuzuschlagen …

»Du hast schon längst verloren«, erwiderte der große Mann und nahm wieder die Würfel zur Hand. Erst jetzt hob er den Kopf. Seine Augen waren so ausdruckslos wie die eines toten Fisches draußen auf den Marktständen – tot und dunkel, mit einem traurigen Glanz. »Möchtest du wissen, was passiert, falls du nach deinem Schwert greifst?«

Kurtis war kein tapferer Mann; er war es nie gewesen. Er hatte seinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, nur um jemand anderen zu überrumpeln. Selbst überrumpelt zu werden hatte ihm schlagartig jeglichen Kampfeswillen geraubt. »Nein«, murmelte er, und seine Schultern sackten nach unten.

»Wirf das Päckchen rüber«, befahl der große Mann, und Kurtis gehorchte. »Und den Geldbeutel.«

Es war, als wäre seine gesamte Willenskraft verdampft. Er dachte nicht einmal daran, eine List zu versuchen; er warf einfach die gestohlene Börse auf den Tisch, sodass der große Mann sie mit den Fingerspitzen öffnen und hineinblicken konnte.

Kurtis machte eine hilflose, kraftlose Handbewegung. »Ansonsten habe ich nichts Wertvolles.«

»Ich weiß.« Der Mann erhob sich. »Ich habe nachgesehen.« Er trat hinter dem Tisch hervor, und Kurtis wich vor ihm zurück, bis sein Rücken den Schrank berührte. Einen Schrank, der nichts weiter beherbergte als ein paar Spinnweben.

»Ist die Schuld damit beglichen?«, fragte er kleinlaut.

»Denkst du denn, dass sie beglichen ist?«

Sie blickten einander an, und der Dieb schluckte. »Wann habe ich meine Schulden endlich abbezahlt?«

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern, die beinahe mit seinem Kopf verschmolzen. »Was glaubst du?«

Noch einmal schluckte Kurtis. Seine Lippen zitterten. »Wenn der Bruchmann es sagt?«

Der große Mann zog eine buschige Augenbraue um eine Winzigkeit nach oben – sie wurde von einer Narbe gespalten, wie Kurtis sah. »Hast du vielleicht eine Frage, auf die du nicht schon die Antwort kennst?«

Der Dieb ließ sich auf die Knie fallen, die Hände flehend erhoben. Das Bild des großen Mannes verschwamm, als brennende Tränen seine Augen füllten. Es interessierte ihn nicht, wie beschämend es war, einfach so loszuheulen. Der Bruchmann hatte ihm schon vor vielen Besuchen sein letztes bisschen Stolz geraubt. »Lass mir irgendetwas«, wimmerte er. »Bitte, irgendetwas.«

Der Mann starrte ihn mit seinen toten Fischaugen an. »Warum?«

Freundlich nahm auch das Schwert, aber ansonsten konnte er nichts von Wert finden. »Ich komme nächste Woche wieder«, sagte er.

Es war keine Drohung; er sprach lediglich eine Tatsache aus, und eine offensichtliche obendrein. Dies war schließlich die Vereinbarung, die getroffen worden war. Dennoch sank Kurtis dan Broyas Kopf langsam nach unten, und sein Körper wurde von haltlosem Schluchzen geschüttelt.

Freundlich überlegte, ob er ihn trösten sollte, entschied sich aber dagegen. Die Leute neigten dazu, ihn falsch zu verstehen.

»Vielleicht hättest du dir kein Geld leihen sollen«, sagte er und ging.

Es überraschte ihn jedes Mal wieder, dass die Leute sich nicht über die Summen im Klaren waren, wenn sie einen Kredit aufnahmen. Proportionen und Zeiträume und Zinsen – eigentlich war es ganz einfach. Aber vielleicht neigten sie einfach dazu, ihr Einkommen zu überschätzen, sich selbst zu blenden, indem sie sich einredeten, das Glas wäre halb voll. Sie glaubten an glückliche Zufälle, daran, dass sich ihre Lage verbessern, dass alles gut ausgehen würde. Weil sie etwas Besonderes waren. Freundlich hatte nichts für derartige Illusionen übrig. Er wusste, dass er nur ein Zahnrad im komplexen Uhrwerk des Lebens war, das Gegenteil von besonders. Für ihn waren Fakten Fakten.

Er stapfte dahin und zählte die Schritte bis zum Palast des Bruchmanns. Einhundertfünf, einhundertvier, einhundertdrei …

Seltsam, wie klein die Stadt war, wenn man sie wirklich ausmaß. All diese Leute mit ihren Wünschen und Plänen und Schulden, zusammengepfercht auf einem winzigen Flecken Land, den sie dem Sumpf entrissen hatten. Freundlich glaubte allerdings, dass der Sumpf bereits dabei war, große Teile von Sipani zurückzuerobern. Er fragte sich, ob die Welt vielleicht ein besserer Ort sein würde, wenn diese Stadt irgendwann im Morast versank.

… sechsundsiebzig, fünfundsiebzig, vierundsiebzig …

Jemand folgte ihm. Vermutlich ein Taschendieb. Freundlich warf wie zufällig einen Blick auf einen Stalljungen am Straßenrand, sodass er seinen Verfolger aus den Augenwinkeln erkennen konnte. Es war ein Mädchen mit dunklem Haar, das sie unter eine Kappe gestopft hatte; dazu trug sie einen viel zu großen Mantel. Sie war kaum mehr als ein Kind. Er machte ein paar Schritte eine schmale Gasse hinab, dann drehte er sich um. Sein Körper blockierte den gesamten Weg, und seinen Mantel hatte er so zur Seite gestrichen, dass man die Griffe von vier seiner sechs Waffen sehen konnte. Einen Moment später umrundete ihr Schatten die Ecke. Er blickte ihr entgegen. Mehr nicht – er sah sie einfach nur an. Zuerst erstarrte sie, dann schluckte sie, drehte sich nach links, nach rechts, und schließlich wich sie rückwärts zurück, um wieder in der Menge auf der Straße zu verschwinden. Damit wäre das dann wohl auch geklärt.

… einunddreißig, dreißig, neunundzwanzig …

Sipani – und ganz besonders seine feuchte und übel riechende Altstadt – war voller Diebe. Sie waren ein ständiges Ärgernis, so wie Mücken im Sommer. Und dann waren da natürlich noch die Räuber, Einbrecher, Mordgesellen, Schläger, Schwindler, Nepper, Glücksspieler, Buchmacher, Geldverleiher, Geldeintreiber, Bettler, Betrüger, Zuhälter, Pfandleiher und Fälscher, ganz zu schweigen von den Buchhaltern und Anwälten. Letztere waren die Schlimmsten von allen, soweit es Freundlich anging. Manchmal hatte es den Anschein, als würde niemand in Sipani wirklich irgendetwas leisten. Vielmehr schienen alle nur darauf aus zu sein, jemand anderen übers Ohr zu hauen.

Andererseits konnte Freundlich nicht behaupten, dass er besser war als der Rest.

… vier, drei, zwei, eins und nun noch die zwölf Stufen hinab, an den Wachen vorbei und durch die Doppeltür in das Hauptquartier des Bruchmanns.

Der Raum war dunstig vor Rauch, verwirrend mit seinen bunten Lampen, heiß vom Atem mehrerer Personen und wundgescheuerter Haut, erfüllt vom Summen gedämpfter Unterhaltungen, geteilter Geheimnisse, verratenen Vertrauens. Kurzum: Alles war genau so wie immer an Orten wie diesen.

Zwei Nordmänner hatten sich in einer Ecke an einen Tisch gezwängt. Einer von ihnen – ein Kerl mit scharfen Zähnen und langem, fettigem Haar – hatte seinen Stuhl nach hinten gekippt und fläzte sich darauf, während er rauchte; der andere hielt in einer Hand eine Flasche und in der anderen ein winziges Buch, auf das er mit gefurchter Stirn hinabstarrte.

Die meisten der Gäste kannte Freundlich vom Sehen. Einige waren hier, um zu trinken, andere, um zu essen, aber die meisten kamen wegen der Glücksspiele. Das Klappern von Würfeln, das Flattern von Karten, das Glänzen in den Augen der Hoffnungslosen, wenn sich das Rouletterad drehte.

Die Spiele waren nicht wirklich das Hauptgeschäft des Bruchmanns, aber sie trieben die Leute in Schulden, und Schulden … das war das Hauptgeschäft des Bruchmanns. Freundlich stieg die dreiundzwanzig Stufen zum erhöhten Bereich hinauf, wo ihn die Wache mit der Tätowierung durchwinkte.

Drei der anderen Sammler saßen hier und teilten sich eine Flasche. Der Kleinste von ihnen nickte ihm grinsend zu, vielleicht, weil er versuchte, eine Allianz anzuleiern. Der Größte streckte die Brust vor und verzog das Gesicht, als er seinen Konkurrenten sah. Freundlich ignorierte sie alle; er hatte es schon lange aufgegeben, die unlösbare Mathematik menschlicher Interaktion begreifen oder gar daran teilhaben zu wollen. Sollte der Kerl mehr tun, als sich aufzuplustern, würde Freundlichs Hackebeil das Reden für ihn übernehmen. Das war eine Stimme, die selbst die nervtötendsten Argumente beenden konnte.

Meisterin Borfero war eine rundliche Frau mit dunklen Locken, die unter einer purpurnen Kappe hervorquollen. Ihr Monokel ließ ihr rechtes Auge riesig erscheinen, und sie verströmte denselben Geruch wie eine Öllampe. Sie saß an einem kleinen Schreibtisch voller Kontobücher, in der Mitte des Vorzimmers, das zum Büro des Bruchmanns führte. An Freundlichs erstem Tag hatte sie auf die verzierte Tür hinter sich gedeutet und gesagt: »Ich bin die rechte Hand des Bruchmanns. Er darf nie gestört werden. Nie. Du wirst nur mit mir sprechen.«

Als er gesehen hatte, wie sie mit den Zahlen in diesen Büchern jonglierte, hatte Freundlich natürlich sofort erkannt, dass niemand in diesem Büro saß und dass Borfero der Bruchmann war. Doch sie schien so zufrieden mit ihrer kleinen Scharade, dass er gerne mitspielte. Er wirbelte nur ungern Staub auf. Denn wer Staub aufwirbelte, wurde nicht selten kurz darauf in selbigem verscharrt. Davon abgesehen, half es, sich vorzustellen, dass die Befehle von jemand anderem kamen, jemand Unsichtbarem, der keine Widerworte duldete. Es war gut, einen leeren Dachboden zu haben, wo man Schuld und Verantwortung abladen konnte. Freundlich blickte zu der verzierten Tür hinüber, und kurz fragte er sich, ob dahinter wohl wirklich ein Büro lag oder einfach nur eine Wand.

»Was hast du heute für mich?«, fragte sie, wobei sie ein Kontobuch aufschlug und ihre Feder ins Tintenfass tauchte. Borfero kam gleich zum Geschäft, ohne sich auch nur mit einer Begrüßung aufzuhalten. Das gefiel ihm ganz besonders an ihr, auch wenn er es natürlich nie gesagt hätte. Seine Komplimente wurden oft als Beleidigungen missverstanden.

Freundlich holte die Beute des Tages hervor und ließ die Münzen eine nach der anderen klirrend auf den Tisch fallen, geordnet nach Schuldner und Währung. Größtenteils unedles Metall, aber ab und an auch ein wenig echtes Silber.

Borfero rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne, zog die Nase kraus und nahm ihr Monokel ab. Das Auge darunter wirkte nun unnatürlich klein.

»Und dann noch dieses Schwert«, sagte Freundlich, während er die Waffe gegen den Schreibtisch lehnte.

»Eine enttäuschende Ernte«, brummte sie.

»Der Boden hier ist nicht gerade der fruchtbarste.«

»Wie wahr.« Borfero drückte sich wieder das Monokel aufs Auge und begann, Zahlen in das Buch zu malen. »Harte Zeiten allerorten.« Das sagte sie oft. Als ob es alles erklären und entschuldigen könnte.

»Kurtis dan Broya wollte wissen, wann seine Schuld beglichen wäre.«

Sie blickte auf, sichtlich überrascht von der Frage. »Wenn der Bruchmann sagt, dass sie beglichen ist.«

»Das habe ich ihm auch gesagt.«

»Gut.«

»Ihr habt mich gebeten, Ausschau nach etwas zu halten. Einem Paket.« Freundlich platzierte es vor Borfero auf dem Tisch. »Broya hatte es.«

Es schien nicht weiter wichtig: ein kleines Bündel, weniger als dreißig Zentimeter lang, eingehüllt in alte, fleckige, verblasste Tierhaut, mit einem Symbol oder einer Zahl, die auf die Rückseite gebrannt war. Doch was es auch war, Freundlich hatte dieses Zeichen noch nie gesehen.

Meisterin Borfero griff nach dem Päckchen, verfluchte sich aber schon im nächsten Moment, weil die Bewegung so gierig wirkte. Sie wusste, dass man in diesem Geschäft niemandem trauen durfte. Fragen stürmten auf sie ein. Wie war dieser nichtsnutzige Broya in den Besitz des Pakets gelangt? War das ein Trick? Arbeitete Freundlich womöglich für den Gurkhisen? Oder hatte Carcolf ihn in ihre Organisation eingeschleust? War es ein doppelter Bluff? Dieser selbstgerechten Schlampe war alles zuzutrauen. Vielleicht gar ein dreifacher Bluff? Doch was hätte sie davon? Was könnte sie sich davon versprechen, Borfero das Päckchen zuzuspielen?

Ein vierfacher Bluff?

Freundlichs Gesicht spiegelte weder Gier noch Ehrgeiz wider. Es verriet rein gar nichts, so wie immer. Kein Zweifel, er war ein seltsamer Kerl, aber man hatte ihn Borfero wärmstens empfohlen. Er konzentrierte sich ganz aufs Geschäftliche, und das gefiel ihr, wenngleich sie es natürlich nie aussprechen würde – professionelle Distanz war wichtig.

Manchmal waren die Dinge nicht, was sie schienen. Sie hatte selbst mehr als genug bizarre Zufälle erlebt, um das zu wissen.

»Das könnte das Päckchen sein«, sagte sie. Tatsächlich war sie überzeugt davon, dass es das richtige Päckchen war. Sie war nicht die Art Frau, die ihre Zeit mit Eventualitäten vergeudete.

Freundlich nickte.

»Das war gute Arbeit«, erklärte sie.

Wieder dieses Nicken.

»Der Bruchmann wird sicher wollen, dass du einen Bonus erhältst.« Sei deinen Leuten gegenüber großzügig, wie sie zu sagen pflegte. Denn falls du es nicht bist, wird jemand anders es sein.

Doch ihre Großzügigkeit entlockte Freundlich keinerlei Reaktion.

»Wie wäre es mit einer Frau?«

Er verzog bei dem Angebot unmerklich das Gesicht. »Nein.«

»Ein Mann?«

Dieselbe Reaktion. »Nein.«

»Vielleicht eine Flasche …«

»Nein.«

»Es muss doch etwas geben.«

Er zuckte mit den Schultern.

Meisterin Borfero blies die Backen auf. Alles, was sie sich aufgebaut hatte, hatte sie aufgrund ihres Talents erreicht, die Wünsche anderer zu erkennen und auszunutzen. Doch was sollte sie mit jemandem machen, der scheinbar keine Wünsche hatte? »Nun, dann überleg dir selbst etwas.«

Freundlich nickte langsam. »Das werde ich.«

»Sind dir beim Hereinkommen zwei Nordmänner aufgefallen?«

»Ich habe sie gesehen. Einer hat ein Buch gelesen.«

»Wirklich? Ein Buch?«

Er zog die Schultern hoch. »Die Leute lesen überall.«

Sie stieg in den Schankraum hinab, wobei ihr der enttäuschende Mangel an betuchten Kunden auffiel, und sie überschlug im Kopf, wie mickrig die Erträge des heutigen Abends wohl sein würden. Falls einer der Nordmänner in einem Buch gelesen hatte, musste er es inzwischen aufgegeben haben. Tief trank einen ihrer besten Weine direkt aus der Flasche – drei weitere Flaschen lagen bereits leer unter dem Tisch. Seicht zog an einer Tschagga-Pfeife und verpestete die Luft mit ihrem Gestank. Normalerweise erlaubte Borfero so etwas nicht, aber bei diesen beiden musste sie notgedrungen eine Ausnahme machen, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, warum um alles in der Welt die Bank zwei so abstoßende Gestalten in ihren Diensten hatte. Das war vermutlich das Gute daran, wenn man reich war: Man schuldete niemandem eine Erklärung.

»Geehrte Herren«, sagte sie und zog sich einen Stuhl heran.

»Wo?« Seicht lachte heiser. Tief nippte an der Flasche und betrachtete seinen Bruder griesgrämig und verächtlich.

Borfero fuhr in ihrer leisen, vernünftigen Geschäftsstimme fort: »Sie sagten, Ihre … Auftraggeber wären überaus dankbar, wenn ich ihnen diesen Gegenstand beschaffen könnte, den Sie erwähnten.«

Die beiden Nordmänner beugten sich vor, als würden sie von demselben unsichtbaren Faden gezogen. Seichts Stiefel streifte eine leere Flasche, die daraufhin in einem Halbkreis über den Boden rollte.

»Überaus dankbar«, nickte Tief.

»Und wie viel von meinen Schulden könnte ich mit dieser Dankbarkeit abbezahlen?«

»Den gesamten Betrag.«

Borferos Haut prickelte. Freiheit. War das wirklich möglich? Jetzt, hier? Doch so großzügig das Angebot auch war, sie musste vorsichtig bleiben. Je höher die Belohnung, umso größer das Risiko. »Meine Schulden wären getilgt?«

Seicht beugte sich noch weiter vor, dann fuhr er sich mit seiner Pfeife quer über den borstigen Hals. »Ausgelöscht«, sagte er.

»Erledigt«, brummte sein Bruder, der von der anderen Seite näher heranrückte.

Borfero empfand es nicht gerade als angenehm, die vernarbten und brutalen Gesichter der beiden Auftragsmörder so dicht vor sich zu sehen. Noch ein paar Sekunden, und ihr stinkender Atem allein würde sie umbringen. »Ausgezeichnet«, brachte sie hervor, dann legte sie das Päckchen auf den Tisch. »In dem Fall sind meine Zinszahlungen wohl hinfällig. Richten Sie Ihren … Arbeitgebern bitte recht herzliche Grüße aus.«

»Natürlich.« Seichts Miene war weniger ein Lächeln als vielmehr ein Zähnefletschen. »Aber ich glaube nicht, dass deine Grüße sie sonderlich interessieren.«

»Nimm’s nicht persönlich.« Tief versuchte nicht einmal zu lächeln. »Aber von herzlichen Grüßen kann sich unser Boss nichts kaufen.«

Borfero atmete scharf ein. »Tja, es sind harte Zeiten allerorten.«

»Richtig.« Tief stand auf und nahm das Päckchen in seine Prankenhand.

Die kühle Nachtluft traf Tief wie eine Ohrfeige, als sie die Spelunke verließen. Sipani wirkte noch unangenehmer, wenn es still wurde, und aus irgendeinem Grund war es jetzt besonders still.

»Ich muss zugeben«, sagte er, wobei er sich räusperte und ausspuckte, »dass ich ein wenig betrunkener bin als betrunken.«

»Aye.« Seicht rülpste und blinzelte in den Nebel hinaus. Zumindest der hatte sich inzwischen ein wenig gelichtet. Nicht dass die Luft in diesem Höllenloch je wirklich klar wäre. »Vermutlich nicht das Schlaueste, was man machen kann. Sich bei der Arbeit besaufen, meine ich.«

»Richtig.« Tief hielt das Päckchen hoch, um es im spärlichen Licht zu betrachten. »Aber wer hätte schon vorhersehen können, dass uns das hier einfach in den Schoß fällt?«

»Ich auf jeden Fall nicht.« Seicht runzelte die Stirn. »Oder … auf keinen Fall nicht?«

»Eigentlich wollte ich nur eine Flasche trinken«, murmelte Tief.

»Das sagt man immer, solange die Flasche noch voll ist.« Seicht setzte sich seinen dämlichen Hut auf. »Also gut, dann steht jetzt wohl ein kleiner Spaziergang zur Bank an, hm?«

»Mit dem Ding siehst du aus wie ein verfluchter Trottel.«

»Bruder, du achtest zu sehr auf Äußerlichkeiten.«

Anstatt sich auf eine Diskussion einzulassen, stieß Tief nur zischend den Atem aus.

»Sie werden der Alten nicht wirklich die Schulden erlassen, oder?«

»Vielleicht für den Moment. Aber du weißt, wie sie sind. Wer einmal Schulden hat, hat immer Schulden.« Tief spuckte noch einmal aus, und nun, da sich das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen stabiler anfühlte, ging er los, das Päckchen fest in der Hand. Auf keinen Fall würde er es in seine Tasche stecken, damit irgendein kleiner Mistkerl es unbemerkt herauszog. Sipani war voll von Diebesgesindel. Das letzte Mal, als er hier gewesen war, hatte man ihm seine guten Socken geklaut, und seine Füße waren voller Blasen gewesen, als er endlich nach Hause zurückkehrte. Mal im Ernst: Wer stiehlt Socken? Styrianische Bastarde! Und darum würde er dieses Päckchen schön in der Hand und im Auge behalten. Sollten die kleinen Mistkerle nur versuchen, es ihm so abzunehmen.

»Wer ist jetzt der Trottel?«, rief Seicht ihm nach. »Zur Bank geht es hier lang.«

»Aber wir gehen nicht zur Bank, Trottel«, schnauzte Tief mit einem Blick über die Schulter. »Wir werfen es in dem alten Hof da hinten um die Ecke in den Brunnen.«

Seicht eilte hinter ihm her. »Wirklich?«

»Nein, das sage ich nur so. Trottel!«

»Warum in den Brunnen?«

»Weil er es so will.«

»Wer?«

»Der Boss?«

»Der kleine Boss oder der große Boss?«

So betrunken Tief auch war, er besaß noch genug Geistesgegenwart, um die Stimme zu senken, bevor er antwortete: »Der glatzköpfige Boss.«

»Scheiße«, hauchte Seicht. »Hat er dir das persönlich gesagt?«

»Ja.«

Eine kurze Pause. »Wie war es?«

»Noch beängstigender als sonst. Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst.«

Diesmal war die Pause länger, und mehrere Sekunden lang war nur das Klacken ihrer Stiefel auf dem nassen Stein zu hören, bevor Seicht sagte: »Dann versauen wir die Sache besser nicht.«

»Danke für den Tipp«, brummte Tief. »Aber würdest du nicht auch sagen, dass es immer schlecht ist, einen Auftrag zu versauen?«

»Nun, man sollte es nie darauf anlegen, klar. Aber manchmal passiert’s eben trotzdem. Was ich meine, ist, wir sollten dafür sorgen, dass es diesmal nicht passiert.« Seichts Stimme war zu einem Flüstern geworden. »Du weißt doch noch, was der glatzköpfige Boss das letzte Mal gesagt hat?«

»Du musst nicht flüstern. Er ist schließlich nicht hier, oder?«

Seicht blickte sich um. »Ich weiß nich’. Ist er hier?«

»Nein.« Tief rieb sich die Schläfen. Eines Tages würde er seinen Bruder umbringen, so viel stand fest. »Genau das meine ich ja.«

»Aber was, wenn er hier wäre? Wir gehen besser kein Risiko ein.«

»Kannst du wenigstens mal einen Moment lang die Schnauze halten?« Er hob die Hand mit dem Päckchen und hielt Seicht den Zeigefinger unter die Nase. »Ich komme mir vor, als würde ich mit einem verfluchten …« Eine dunkle Gestalt huschte zwischen ihnen hindurch, und zu seiner großen Überraschung stellte Tief fest, dass seine Hand auf einmal leer war.

Kiam rannte, als ginge es um Leben und Tod. Und genau darum ging es auch.

»Renn ihm hinterher, verdammt noch mal!« Sie hörte, wie die beiden Nordmänner hinter ihr die Gasse entlangpolterten – und ihrem Geschmack nach waren sie ihr viel zu dicht auf den Fersen.

»Es ist ein Mädchen, du Trottel!« Sie mochten groß und unbeholfen sein, aber sie waren schnell. Ihre Stiefel hämmerten auf den Boden, ihre Hände schnappten nach ihr, und sollte einer von ihnen sie zu fassen bekommen …

»Wen interessiert’s? Hol das Päckchen zurück!« Und ihr Atem zischte und ihr Herz schlug wie wild und ihre Muskeln brannten, während sie vorwärtshetzte.

Sie schlitterte um eine Ecke, und ihre mit Stofffetzen umwickelten Füße klebten auf dem feuchten Kopfsteinpflaster, als sie auf die breitere Straße hinausrannte, wo Lampen und Fackeln als trübe Lichtflecken im Nebel zu erkennen waren und unzählige Nachtschwärmer umherflanierten. Sie duckte und schlängelte sich zwischen ihnen hindurch, so schnell, dass sie längst vorbei war, wenn die Passanten den Blick senkten. Dies war der Nachtmarkt von Dunkelrand, voller Stände und Einkaufslustiger, erfüllt vom Rufen der Händler und den Stimmen und Gerüchen der Besucher. Kiam rollte sich zwischen den Rädern eines abgestellten Karrens hindurch, kam wendig wie ein Frettchen wieder auf die Beine und schlüpfte zwischen einem Kunden und dem Verkäufer eines Obststandes hindurch, dann weiter, hinter einem mit schleimigen Fischen beladenen Verkaufstisch hindurch, während der Händler wütend brüllte und nach ihr griff – aber natürlich bekam er nur leere Luft zu fassen. Sie stieß mit einem Fuß gegen einen Korb, und ein Schwall von Herzmuscheln ergoss sich über die Straße. Noch immer konnte sie das Knurren und Grollen der Nordmänner hören, aber es wurde übertönt vom Kreischen der Leute, die sie aus dem Weg stießen, und vom Knarzen der Tische, die sie umwarfen – es klang, als würde hinter ihr ein Sturm über den Markt fegen. Sie rutschte geduckt zwischen den Beinen eines großen Mannes hindurch, flitzte um die nächste Ecke und eilte eine schmierige Treppe hoch, zwei Stufen mit jedem Schritt nehmend. Neben ihr verlief der träge Kanal, und Ratten quiekten im Unrat, als sie vorbeirannte. Die Stimmen der Nordmänner – sie stießen größtenteils Verwünschungen aus, an sie oder einander gerichtet – waren jetzt noch lauter. Ihr eigener Atem war ein Keuchen, das tief in ihrer Brust stach, und das Wasser der Pfützen spritzte bei jedem widerhallenden Schritt gegen ihre Beine.

»Wir haben sie!«, rief eine Stimme dicht hinter ihr. »Komm her!«

Sie kroch durch das kleine Loch in einem rostigen Abflussgitter, wobei ein scharfer Metallzahn einen schmerzhaften Schnitt an ihrem Arm hinterließ, und zur Abwechslung war sie fast froh, dass die Alte Grün ihr nie genug zu essen gab. Sie schob sich weiter, tiefer in die Dunkelheit hinein, den Kopf eingezogen, und blieb schließlich liegen, um wieder zu Atem zu kommen, das Päckchen weiter fest an sich gepresst. Dann waren sie da: Einer der Nordmänner zerrte an dem Gitter, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten und kleine Rostflocken auf seine Hände herabrieselten. Kiam starrte über die Schulter und fragte sich, was diese Hände wohl mit ihr anstellen würden, sollten die beiden Kerle sie erwischen.

Der zweite Nordmann schob sein bärtiges Gesicht vor das Loch. Er hielt ein gemein aussehendes Messer in der Hand – nicht dass sie sich an ein nett aussehendes Messer erinnern könnte. Seine Augen suchten sie in der Düsternis, und seine rissigen Lippen verzogen sich zu einem Zähnefletschen. »Wirf das Päckchen her, und wir vergessen die Sache. Los, wirf es her!«

Kiam schob sich weiter zurück, und hinter ihr gab das Gitter mit einem Quietschen nach. »Du bist tot, du kleiner Scheißer! Wir werden dich finden, das weißt du hoffentlich!« Sie kroch durch den Matsch und den modrigen Unrat davon, durch einen Spalt zwischen zwei zerbröckelnden Wänden hindurch. »Wir kriegen dich!« Die Worte hallten drohend hinter ihr her. Vielleicht würden sie sie wirklich erwischen, aber eine Diebin durfte nicht zu viel Zeit damit vergeuden, sich um das Später Sorgen zu machen. Das Jetzt war bescheiden genug. Sie wischte ihren Mantel ab, krempelte ihn dann um, sodass das grüne Innenfutter nach außen zeigte, und schlüpfte wieder hinein. Ihre Kappe stopfte sie in die Tasche, dann schüttelte sie ihr Haar aus und trat in nördlicher Richtung auf den Gehweg neben dem fünften Kanal hinaus.

Ein Vergnügungsboot trieb vorbei, voller Geplapper und Gelächter und klirrender Gläser und Leute, die hochaufgerichtet und träge über Deck streiften. Im Nebel sahen sie aus wie Geister, und Kiam fragte sich, was sie getan hatte, um dieses Leben zu verdienen. Was hatte sie falsch gemacht? Doch auf solche Fragen gab es leider keine einfachen Antworten. Während das Boot mit seinen rosafarbenen Lichtern im Dunst verschwand, hörte sie Hoves Geige. Einen Moment lang stand sie einfach nur in den Schatten und lauschte. Wie wunderschön die Musik klang. Ihr Blick wanderte zu dem Päckchen hinab – es sah nicht so aus, als wäre es all den Ärger wert. Wog nicht mal sonderlich viel. Aber die Alte Grün hatte einen Preis darauf ausgesetzt, und das war alles, was zählte. Sie wischte sich die Nase ab und ging weiter, dicht an der Wand entlang, der Musik entgegen. Schließlich sah sie Hoves Rücken und seinen tanzenden Geigenbogen. Sie schlich hinter ihn und ließ das Päckchen in seine gähnende Tasche fallen.

Hove spürte es nicht, wie das Päckchen in seine Tasche glitt, aber er spürte den Finger, der dreimal gegen seinen Rücken tippte, und als er sich bewegte, spürte er das Gewicht an seinem Mantel. Er sah nicht, wer ihm das Päckchen gegeben hatte, und er sah auch nicht nach; stattdessen geigte er einfach weiter, den Unionsmarsch, mit dem er während seiner Tage auf der Bühne in Adua jede Darbietung eröffnet hatte – oder besser, unter der Bühne. So hatte er die Zuschauer auf Lesteks großen Auftritt vorbereitet. Dann war seine Frau gestorben, und alles war den Bach hinuntergegangen. Die fröhlichen Rhythmen erinnerten ihn an längst vergangene Tage, und Tränen stiegen ihm in die geröteten Augen, also wechselte er schnell zu einem melancholischen Menuett, das mehr seiner Stimmung entsprach. Nicht, dass viele seiner Zuhörer es bemerkt hätten. Sipani präsentierte sich gern als Ort der Kultur, aber die meisten seiner Bürger waren Trunkenbolde und Betrüger und tumbe Schläger oder Variationen dieser drei Archetypen.