Der Bulle in der Hafencity - Ben Westphal - E-Book
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Der Bulle in der Hafencity E-Book

Ben Westphal

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Beschreibung

Authentische Einblicke in den internationalen Kampf gegen Drogen. Der pensionierte Rauschgiftfahnder Gerd Sehling hilft im Café seiner Nichte in der Hamburger Hafencity als Kellner aus. Doch als ihm dort ein aus früheren Zeiten bekannter Drogendealer bei einem ominösen Treffen auffällt, ist sein Ermittlerinstinkt geweckt. Gemeinsam mit seinem ehemaligen Kollegen Tim Dombrowski begibt er sich auf Spurensuche – und gerät mitten in die mörderischen Machenschaften eines internationalen Kartells..

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Seitenzahl: 521

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ben Westphal, 1981 in Hamburg geboren, machte nach dem Abitur eine Ausbildung als Kriminalbeamter. 2006 wechselte er ins Rauschgiftdezernat. Einige Jahre später begann er, Rauschgift-Krimis mit Hamburg-Bezug zu schreiben – und was als einmaliges Pensionsgeschenk für einen Kollegen begann, wurde zu einer Leidenschaft fürs Schreiben.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Kerstin Bittner

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-245-1

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Der Rauschgifthandel ist purer Kapitalismus. Er geht über Leichen und kennt keine Freundschaft.

Niss Güldenzoph, Leiter des Hamburger Rauschgiftdezernats a.

1

In einem kleinen Haus im Alstertal sitzt Tim Dombrowski schweigend an einem Esstisch. Die ältere Dame ihm gegenüber ist bereits deutlich jenseits der siebzig. Sie hat ihr Gesicht tief in ihre Hände vergraben und weint. Tränen tropfen zwischen ihren zittrigen Fingern hindurch, sie schluchzt. Er fühlt mit ihr mit, bedauert ihren Verlust, den er nicht einzuschätzen vermag.

»Nächstes Jahr hätten wir goldene Hochzeit gehabt«, sagt die Frau mit schwacher Stimme. »Wir wollten das noch einmal richtig feiern. Mit der gesamten Familie. Alle sollten zu uns in den Garten eingeladen werden.«

Es sind die ersten Worte, die Tim Dombrowski seit seinem Eintreffen von Jutta Peters zu hören bekommt. Sie hatte die Polizei gerufen, und nachdem der Kollege von der Streife ihren Mann in seinem Pflegebett gesehen hatte, wurde umgehend die Mordkommission verständigt.

Seit einem halben Jahr ist er nun abgeordnet. Eigentlich war der Wechsel vom Rauschgiftdezernat zur Mordkommission nur für kurze Zeit geplant, um seinen eigenen Fall abzuschließen, doch das war dank passender DNA-Spuren schnell erledigt. Bleiben musste er, weil die Personalnot im Morddezernat groß ist. Langwierige Erkrankungen und zunehmend mehr Elternzeiten haben große Lücken gerissen, und Kriminaldirektorin Baake, deren Herz viel mehr für die Abteilung für Kapitalverbrechen schlägt als für ihre eigene Abteilung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, stimmte seiner unbefristeten Abordnung umgehend zu. Natürlich ohne ihn zu fragen.

Dem Ehemann von Jutta Peters widmete Tim Dombrowski nur einen kurzen Blick. Er mag keine Leichen. Das weiß er spätestens seit dem Seminar in der Rechtsmedizin des Uniklinikums Eppendorf, wo der etwas verrückt wirkende Professor die Madenfächer der Kühlkammern öffnete und sich an der schwindenden Gesichtsfarbe seiner Schüler erfreute.

Dass Klaus Peters ein Gewaltopfer ist, daran besteht kein Zweifel. Der Schürhaken steckt noch immer tief in seinem Schädel. Die helle Bettwäsche ist durchtränkt von seinem Blut.

»Klaus war ein guter Mann, wissen Sie?«, sagt Jutta Peters und sieht Dombrowski mit ihren wässrigen grauen Augen an. »Er war höflich, großzügig und liebevoll. Ein wunderbarer Vater und Großvater.« Beim Sprechen schaut sie immer wieder ungläubig auf ihre zittrigen Hände. »Nur ein Jahr noch, dann wären es fünfzig Jahre gewesen. Unter anderen Umständen hätten wir dann vielleicht noch einmal getanzt, uns in die Augen geschaut und unsere gemeinsame Vergangenheit Revue passieren lassen. Doch seine Demenz hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie hat seine Seele langsam, aber sicher aufgefressen. Ich habe mich während der letzten Jahre um ihn gekümmert. Ich war die Einzige, die er noch erkannte in seinen hellen Momenten, von denen es zuletzt kaum noch welche gab. Ich habe ihn gepflegt, seine unflätigen Beschimpfungen ertragen, ihn gefüttert, auch wenn er das Essen durch den Raum warf. Ich habe ihn nicht in ein Heim gegeben. In guten wie in schlechten Zeiten, das haben wir uns versprochen. Wir hatten überwiegend gute Zeiten, und nur weil einer von uns erkrankt, gibt man doch nicht auf, oder?« Mit Tränen in den Augen schaut Jutta Peters auf.

Dombrowski nickt ihr freundlich zu, lässt sie weiterreden.

»Klaus hat früher immer zu mir gesagt, dass er sich einen kurzen und schnellen Tod wünscht. Er wollte nicht leiden. Doch es ist anders gekommen. Als wir damals die Diagnose erhielten, wussten wir, dass wir unsere goldene Hochzeit nicht mehr feiern, nie mehr tanzen würden. Jetzt hat er seine letzte Ruhe gefunden, Herr Dombrowski. Es war ein Akt der Liebe. Wenn man einen Menschen wirklich liebt, dann muss man ihn auch gehen lassen können.«

»Sie haben Ihrem Mann aus Liebe den Kopf eingeschlagen? Mit einem Schürhaken?«

»Es war nicht geplant. Das müssen Sie mir glauben.«

»Wie kam es denn dazu? Lassen Sie es mich verstehen.«

»Er hat mich mal wieder beschimpft, nach mir geschlagen, als ich ihn füttern wollte. Er wollte auch nicht trinken. Seit Tagen ging das so. Bösartig war er, gewalttätig und ausfällig. Es lag so viel Hass in seinen Augen, dass ich Angst bekam. Er griff nach meinem linken Arm mit einer solchen Kraft, dass ich fürchtete, er würde mir etwas antun.« Jutta Peters schiebt den Ärmel ihrer Bluse nach oben. An ihrem Unterarm haben sich gleich mehrere blaue Flecken gebildet. »Sein Schlafzimmer war früher unsere Bibliothek, in der wir bei einem Glas guten Wein geredet oder Bücher gelesen haben, während das Feuer im Kamin knisterte. Ich hatte eine solche Angst vor ihm, vor dem Teufel in seinen Augen, der immer mehr von Klaus’ Seele raubte, dass ich mich losriss. Ich stolperte rückwärts gegen das Kamingeschirr, und dabei fiel mir der Schürhaken vor die Füße, während Klaus weiter schrie und schimpfte. Ich wollte, dass er schweigt und nicht auch noch den letzten Rest Liebe in meinem Herzen in Entsetzen verwandelt. Also ergriff ich den Schürhaken und schlug zu. Nur ein Mal, dann trat die ersehnte Stille ein. Ich bereue es nicht, ich bin froh, dass er es endlich hinter sich hat, aber ich wollte ihn nicht töten, Herr Dombrowski. Das müssen Sie mir glauben. Ich wollte seine Seele vor dem Teufel retten.«

»Sie haben ihn umgebracht.«

»Ja, das habe ich. Und ich erwarte nicht, dass Sie es verstehen, aber es war das Richtige, Herr Dombrowski. Ich bin mir sicher, dass Klaus mir dort, wo er jetzt ist, dankbar ist.« Jutta Peters verstummt, wischt sich mit beiden Händen über die Wangen. »Komme ich dafür jetzt ins Gefängnis?«

Dombrowski bläst seine Wangen auf, schaltet das zwischen ihnen auf dem Tisch liegende Diktiergerät aus und schiebt die Haare, die ihm beim Vorbeugen in die Stirn gefallen sind, aus dem Gesicht. »Das wird der Haftrichter entscheiden, Frau Peters. Es geht um ein Tötungsdelikt, auch wenn das Motiv aus Ihrer Sicht die Liebe war.« Er erhebt sich von seinem Stuhl, steckt das Diktiergerät in seine rote Umhängetasche und nickt zwei Beamten zu, die auf Jutta Peters zugehen, um die alte Dame zum Wagen zu begleiten, während Dombrowski kopfschüttelnd das Wohnzimmer verlässt.

2

Am Dalmannkai in der HafenCity, unmittelbar an den Marco-Polo-Terrassen mit Blick auf die verschiedenen Hochhäuser am Elbufer, liegt das Café-Restaurant »Hang Loose«. Die Tische drinnen und im Außenbereich sind geschmückt mit Flower-Power-Accessoires, es läuft entspannte Musik, die mit ihren Klängen Gäste und Passanten in die ferne Südsee versetzt. Es sitzen Menschen aus jedem Winkel dieser Welt an den stabilen Holztischen, die den späten Abend gemütlich ausklingen lassen wollen.

Ruckelig-elegant schlängelt sich Gerd Sehling durch die Reihen der Gäste. Er trägt gleich drei Teller mit phantasievoll drapierten Burgern zu einem Tisch, an dem drei US-Amerikaner sitzen, die enthusiastisch applaudieren. Teils vor Begeisterung, was das Anrichten der Speisen angeht, teils aus Vorfreude auf das ersehnte Essen. »Well becomes«, gibt Gerd Sehling ihnen noch freundlich mit auf den Weg, bevor er wieder zurück zum Tresen läuft, um die nächste Bestellung abzuholen und zu servieren.

»Mann, Mann, Mann, dat brummt hier aber schon wieder«, bemerkt er angetan, als er bei Dörte ankommt, die ihm ein Tablett mit Getränken über den Tresen schiebt.

»Die müssen zu Tisch zwölf, und dort kannst du auch gleich die Essensbestellung entgegennehmen.«

»Geht klar«, erwidert Gerd und macht sich sofort ans Werk. Er liebt es, die Bestellungen aufzunehmen, dabei mit den Gästen ins Gespräch zu kommen und – ein wenig zum Ärger von Dörte – mit den weiblichen Besuchern zu flirten.

Seit fast einem halben Jahr hilft der ehemalige Rauschgiftfahnder nun bereits in der Gastronomie der Tochter von Dörtes Cousine aus. Was ihm aufgrund der anfänglich fehlenden Gäste zunächst eher lästig erschien, hat sich zu einer richtigen Leidenschaft entwickelt.

Morgens schaut Gerd immer gleich als Erstes im Internet nach, ob er neue lobende Rezensionen findet, in denen er namentlich erwähnt wird. Wenn er eine entdeckt, liest er sie zuerst mehrfach durch, um sie Dörte anschließend stolz am Frühstückstisch zu präsentieren. Seine Frau ist langsam genervt von seiner Euphorie, sie würde lieber ein wenig mehr mit ihm reisen, wo der Laden nun endlich läuft. Doch Gerd ist der festen Überzeugung, dass ohne seine Anwesenheit alles wieder den Bach runtergehen würde, und verbringt jede freie Minute in dem Café.

Außerdem hat er seit Längerem eine Gruppe Südamerikaner im Blick, die beinahe täglich ins »Hang Loose« kommen und sich eigenartig verhalten. Immer wieder treten irgendwelche Personen für kurze Zeit zu den drei Männern an den Tisch, unterhalten sich teils aufgeregt, manchmal flüsternd mit ihnen oder gehen ein paar Schritte mit den Gästen am Dalmannkai spazieren, bevor sie wieder verschwinden. »Da stimmt wat nich«, brummelt Gerd dann gern leise in seinen grau melierten Bart. Und weil da was nicht stimmt, hat er sich vorgenommen, das Ganze genau zu beobachten.

Auch heute sitzen die Gäste wieder an ihrem Stammplatz. Sie haben Cocktails bestellt, die Gerd ihnen in der für ihn typischen schroffen, aber freundlichen Art serviert.

3

Die Dunkelheit hat sich über Hamburg gelegt. In der Neuhöfer Straße auf der Elbinsel Wilhelmsburg sitzt Florim unmittelbar hinter der Reiherstieg-Klappbrücke in seinem dunklen Kleinwagen. Die Scheibe der Fahrertür hat er ein kleines Stück hinabgedreht, damit der Rauch seiner Zigarette nach draußen ziehen kann. Er schaut unentwegt zu der Firma, die sich direkt hinter dem dichten Buschwerk vor seinem Wagen erhebt. Gelb-schwarze und rote Carrier-Fahrzeuge türmen dort verschiedenfarbige vierzig Fuß lange Container aufeinander. Gelegentlich schaut Florim auf seine goldene Armbanduhr, doch die Zeiger bewegen sich nur unmerklich vorwärts.

Er nimmt sein Handy und schreibt eine kurze Nachricht, die umgehend mit einem nach oben gerichteten Daumen bestätigt wird. Dann öffnet er die Galerie in dem Telefon und vergrößert einen Fotoausschnitt, um sich noch einmal die darauf abgebildete Nummer einzuprägen. »CGMU 50 10 151«, murmelt er, wiederholt die Buchstaben und Zahlen mehrfach und steckt das Handy wieder in die Hosentasche. Den Zigarettenstummel schnippt er nach einem letzten tiefen Zug aus dem Fensterspalt. »CGMU 50 10 151.«

Die Carrier fahren langsam aus seinem Sichtfeld – genau so, wie es ihm angekündigt wurde.

Florim schaut auf die Uhr. »Na, wer sagt’s denn.« Er freut sich über die deutsche Pünktlichkeit, die so verlässlich ist.

Ihr könnt in 30 Minuten kommen, schreibt er an den einzigen Kontakt in seinem gerade erst gekauften Handy. Zufrieden lehnt er sich in seinem Sitz zurück und konzentriert sich wieder auf das Firmengelände, während er sich eine weitere Zigarette entzündet und den Rauch genüsslich durch den Spalt in der Scheibe ausatmet.

4

Vor dem Haus von Jutta Peters hält im selben Moment, in dem der Streifenwagen mit der alten Dame in Richtung des Polizeipräsidiums losgefahren ist, ein roter Familienwagen. Mit laut aufheulendem Motor lenkt die Fahrerin ihn in eine Parklücke. Die korpulente Frau hievt sich mühsam vom Fahrersitz, und ihr Blick fällt sogleich auf Tim Dombrowski, der vor dem Eingang steht. Mit kurzen, schnellen Schritten hält sie auf ihn zu.

Am Treppenabsatz bleibt sie schnaufend stehen. Die Wangen der etwa Vierzigjährigen wirken im Lichtschein der Außenbeleuchtung leicht gerötet. »Sind Sie von der Polizei?«, fragt sie und mustert Dombrowski.

»Ja, ich bin der zuständige Sachbearbeiter des Falls.«

»Des Falls? Was für ein Fall? Ich habe bislang nur gehört, dass Sie angeblich meine Mutter festnehmen.«

»Ihre Mutter wurde von uns vorläufig festgenommen, das ist richtig, Frau …«

»Peters.«

»Frau Peters. Mein Name ist Dombrowski. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater verstorben ist. Er wurde das Opfer eines Gewaltdelikts.«

»Hat er es endlich geschafft? Da bin ich aber froh.«

»Bitte?« Überrascht schaut Dombrowski die Frau an, die in einem weit geschnittenen Kapuzenpullover und einer grauen Jogginghose vor ihm steht und keine Miene verzieht.

»Wissen Sie denn nicht, wie schwer dement mein Vater war? Wie sehr meine Mutter unter seinen Aggressionen und Beschimpfungen gelitten hat? Trotzdem hat sie immer zu ihm gehalten. Sie wollte den Menschen, in den sie sich damals verliebt hatte, nicht aufgeben. Es ist aber leider so, dass das Vergessen bei manchen Menschen mit extremen Wesensveränderungen einhergeht. Dieser furchtbare Mann, mit dem sie während der letzten Jahre zusammenlebte, hatte nichts mehr gemein mit meinem liebevollen, fürsorglichen Vater. Ich bin froh, dass er jetzt seinen Frieden finden konnte und meine Mutter von ihren täglichen Qualen erlöst ist.«

»Ihre Mutter hat Ihren Vater mit einem Schürhaken erschlagen.«

Sie schluckt. Mit einer so rabiaten Methode hatte sie wohl nicht gerechnet. Im nächsten Moment hat sie sich aber bereits wieder gefangen. »Mein Vater war alt, hochgradig dement und hat selbst meine Mutter die meiste Zeit nicht mehr erkannt. Er war gewalttätig wegen dieser schlimmen Erkrankung, und sie war überfordert. Wollen Sie meine Mutter wirklich dafür bestrafen, dass sie ihn und sich davon erlöst hat?«

»Es ist das Gesetz, Frau Peters. Am Ende bleibt es ein Tötungsdelikt.«

»Also soll meine Mutter, die immer für ihren Mann da war, die letzten Jahre ihres Lebens hinter Gittern verbringen?«

»Darüber entscheidet der Richter, Frau Peters.«

»Da machen Sie es sich aber einfach. Und darum soll sie jetzt ins Gefängnis?«

Tim Dombrowski schweigt. Er kann die Einwände verstehen, er kann sogar nachfühlen, warum die Seniorin so gehandelt hat. Es müssen schreckliche Jahre für sie gewesen sein.

»Meine Mutter war Lehrerin, wussten Sie das? Vor acht Jahren ist sie in den Ruhestand gegangen, weil sie sich um meinen Vater kümmern wollte. Seit der Diagnose sind sie nicht mehr gereist, haben ihre Enkelkinder nur selten gesehen und zuletzt nicht einmal mehr Ausflüge gemacht. Was war das bitte für ein Leben? Irgendwann bin ich auch nicht mehr zu Besuch gekommen. Ich wollte meinen Vater nicht als unflätigen Griesgram in Erinnerung behalten, sondern so, wie er früher war: liebevoll, besonnen und lustig. Er liebte es zu lachen. Ich konnte es einfach nicht mehr mitansehen, zumal ich für ihn inzwischen eine Fremde war. Er erkannte mich schon lange nicht mehr. Mein Vater war längst von uns gegangen. Der Mann, den meine Mutter versorgte, war nur noch die Hülle des feinen Charakters, den er hatte.«

»Dennoch wurde sein Leben mit Gewalt beendet.«

»Es war sicherlich in seinem Interesse. Sein Tod ist der einzige Wunsch, dem man meinem richtigen Vater noch erfüllen konnte. Die Erlösung aus der Negativspirale, in der er und meine Mutter feststeckten.« Tränen sammeln sich in ihren Augen, die sie vorsichtig mit dem Handrücken abtupft, bevor sie sich lösen und über die Wangen kullern, damit die Wimperntusche nicht zerläuft.

Tim Dombrowski nickt, nimmt eine Visitenkarte aus dem Etui in seiner Hosentasche und reicht sie der Tochter von Jutta Peters. »Lassen Sie uns morgen früh eine Vernehmung zu Ihren Wahrnehmungen machen. Vielleicht kann ich mit den Hintergründen für Verständnis beim Haftrichter werben. Ich kann Ihnen allerdings nichts versprechen. Es wird voraussichtlich ein Verfahren geben.«

»Danke. Mehr kann ich nicht erwarten. Ich möchte nur betonen, dass sie eine herzensgute, wundervolle Frau ist.«

»Das glaube ich Ihnen sogar, doch bei einem Tötungsdelikt sind uns leider die Hände gebunden.«

»Ich vertraue Ihnen, dass alles seinen gerechten Gang gehen wird.«

»Danke. Und jetzt fahren Sie nach Hause, Sie können hier nichts tun. Lassen Sie uns unsere Arbeit machen.«

»Okay. Ich habe es verstanden. Aber bitte nehmen Sie meiner Mutter nicht die letzten Jahre mit ihren Enkeln in Freiheit. Das darf einfach nicht sein.« Mit diesen Worten dreht sich Jutta Peters’ Tochter auf dem Absatz um und geht zurück zu ihrem Auto.

Als hätte er nur darauf gewartet, erscheint in diesem Moment Mario Beyer neben Dombrowski im Türrahmen.

»Na, bist du sie losgeworden?«

»Mario, ich hasse diesen Job.«

Mario verzieht sarkastisch das Gesicht. »Das aus deinem Munde?«

»Ich kann es nicht mehr ertragen. Immer wieder diese Familiendramen, die nur Verlierer hervorbringen. Die Täter sind geständig, alarmieren teilweise selber die Polizei, und wir zerstören im Anschluss noch die Familien der Beteiligten.«

»Dumbo, nicht wir zerstören die Familien, sondern die Tat tut das. Sie hat einen Menschen erschlagen.«

»Ja, das hat sie. Aber er hat ihr das Leben zur Hölle gemacht, und jetzt bringt er sie indirekt noch ins Gefängnis. Warum müssen wir die Frau überhaupt einsperren? Ich sehe keinen zwingenden Grund für eine Untersuchungshaft. Die Wiederholungsgefahr ist nicht gegeben, und auch eine Fluchtgefahr sehe ich nicht. Sie ist geständig, hat hier Familie, sogar Enkelkinder. Sie wohnt in einem schönen kleinen Haus. Sie wird niemals ihr Umfeld verlassen, bis ihr Gerichtsverfahren beginnt, warum soll sie also in Untersuchungshaft?«

»Du kennst sie nicht, Dumbo. Vergiss das nicht. Sie hat ihren Mann getötet, vielleicht ungewollt oder im Affekt, doch allein dass sie dafür eine lange Haftstrafe erhalten könnte, ist oftmals Fluchtanreiz genug.«

»Aber sollte ich nicht wenigstens auch daran glauben, dass eine Fluchtgefahr besteht?«

»Denk nicht so viel, Dumbo. Mach es einfach. Der Haftrichter entscheidet am Ende, ob sie bis zur Verhandlung nach Hause darf. Bislang sind immer alle dringeblieben.«

»Ich werde mit dieser Arbeit einfach nicht glücklich, Mario. Es wird langsam Zeit, dass ich ins Rauschgiftdezernat zurückkehre.«

»Es kommen bestimmt noch andere Fälle, Dumbo.«

»Ich möchte nicht mehr, Mario.«

»Na gut, Dumbo. Aber diese Woche brauchen wir für die Bereitschaft jeden, also lass uns bitte noch nicht hängen. Nächste Woche kehren mehrere Kollegen aus ihrem Urlaub zurück. Ende der Woche können wir uns dann zusammensetzen und deinen Abgang besprechen. Einverstanden?«

Dombrowski nickt und reicht Mario Beyer die Hand. »Aber wirklich nur noch diese Woche, Mario.«

5

Florim hat noch zwei weitere Zigaretten geraucht und aus dem Fenster geschnipst, als unmittelbar neben ihm ein Fahrzeug einparkt. Zwei dunkle Gestalten sitzen darin, die aufmerksam zu ihm herüberschauen. Florim nickt einmal und öffnet dann die Fahrertür, um auszusteigen. Ohne sie weiter zu beachten, verschließt er sein Auto, wirft den Rucksack über seine Schulter, den er aus dem Fahrzeugfond genommen hat, und zieht den Reißverschluss seiner dunklen Jacke nach oben. Es ist kalt geworden. Sein Atem wird sichtbar im fahlen Licht der Laternen. In seiner Jackentasche hat er eine dunkelblaue Wollmütze, die er sich aufsetzt. Langsam geht er die Böschung hinab und auf die Liegenschaft der Containerfirma zu. Kein Zaun hindert ihn am Zugang. Still und verlassen liegt das weitläufige Gelände vor ihm.

Florim schaut sich noch einmal um, doch niemand ist zu sehen, und so läuft er leicht geduckt über das Grundstück der Firma. Die Hände tief in die Jackentaschen vergraben, verschwindet er hinter der ersten Containerreihe.

Hier verharrt er, nimmt sein Handy und betrachtet die Satellitenaufnahme, die er vor einigen Stunden übersandt bekommen hat. Er zieht sie ein Stückchen größer, um genau einschätzen zu können, wo er gerade ist. Nur wenige Meter weiter liegt sein Ziel, es ist als handgemaltes rotes Kreuz auf dem Display zu erkennen. Florim lässt seinen Blick suchend über die fünfzehn Meter hohen Containerwände schweifen, die sich links und rechts von ihm erstrecken, und entdeckt den weißen Container am Ende des Gangs. Er steht ganz alleine am Boden neben den übrigen braunen, blauen und roten Übersee-Boxen.

Schweigend geht er darauf zu. »CGMU 50 10 151«, liest er leise, als er die Zugangstüren des Containers erreicht. »Das ist er.«

Florim verschickt auf seinem Handy einen nach oben gerichteten Daumen sowie seinen Standort und schlängelt sich zwischen zwei Containern hindurch, um auf die Rückseite des weißen Kühlcontainers zu gelangen. Dort setzt er seinen Rucksack ab und legt ihn scheppernd vor sich auf den Boden. Er öffnet den Reißverschluss und nimmt einen großen Schraubendreher heraus, mit dem er an den Container herantritt und die Schrauben der beiden Wartungsklappen zu lockern beginnt. Jede einzelne Schraube steckt er sorgsam in seine Hosentasche und legt die Klappen auf dem Boden ab. Aus der rechten Jackentasche zieht er ein Paar beige Plastikhandschuhe, die er sich überstreift, ehe er durch die Öffnungen in den Container greift und ein eckiges Paket nach dem anderen herausholt.

Florim stapelt immer acht Pakete aufeinander, bis zehn Stapel nebeneinander auf dem Boden liegen. Dann nimmt er die erste Wartungsklappe, setzt sie wieder auf die Öffnung und dreht die Schrauben in die Löcher. Leise Stimmen nähern sich. Er kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können, greift nach hinten in seinen Hosenbund und umfasst das eiskalte Griffstück seiner Pistole. Sein Puls erhöht sich, während er in die Richtung blickt, aus der die Stimmen kommen, leichter Schweiß steht ihm auf der Stirn.

Dann macht sich Erleichterung in ihm breit. Es sind seine Leute, die dort redend auf dem Grundstück herumlaufen.

»Ja ku jeni«, flucht Florim auf Albanisch, da seid ihr ja. »Endlich. Wo sind die Taschen?«, fragt er ungeduldig, als sie bei ihm sind.

Der hintere der beiden Männer nimmt eine große Sporttasche von seinem Rücken, öffnet sie und holt eine zweite, identische Tasche heraus, die er Florim reicht. Der beginnt umgehend, die aus dem Container geborgenen Blöcke in die Taschen zu stapeln, und verschließt am Ende beide Reißverschlüsse. Er nimmt den Schraubendreher und die zweite Klappe vom Boden und befestigt sie wieder an dem Container.

Seine beiden Partner haben inzwischen mühsam die schweren Sporttaschen geschultert. »Wir können gehen.«

Leise bewegen sich die drei Männer durch den Gang zwischen den Containern, um zu ihren Fahrzeugen zu gelangen. Lediglich das Geräusch ihrer Sohlen, die immer wieder kratzend über den Boden schleifen, ist zu hören. Sie lassen Florims Puls nach oben schnellen, obgleich er weiß, dass der Sicherheitsdienst erst in einer Stunde kommen wird. Lange hatte er die Bewegungen auf dem Firmengelände beobachtet, bevor er hier das erste Mal einen Auftrag annahm. Nur der Zufall oder die Unvernunft könnte ihren Job jetzt noch gefährden.

Als sie den Parkplatz erreichen, auf dem ihre Autos nebeneinanderstehen, öffnet der jüngere der beiden Helfer den Kofferraum seines Wagens und wuchtet seine Sporttasche hinein. Nachdem der zweite Helfer seine Tasche danebengestellt hat, schließt er die Klappe wieder und wendet sich Florim zu.

Der reicht ihm einen Zettel, auf dem die Adresse steht, zu der sie als Nächstes müssen. »Du fährst vorweg. Wir folgen mit fünfzig bis hundert Metern Abstand. Wenn die Bullen auf dich aufmerksam werden, kümmern wir uns um sie. In der HafenCity lassen wir dich dann alleine zum Treffpunkt fahren. Du triffst die Leute an der Anschrift, die auf dem Zettel steht. Fahr in die Tiefgarage. Der Rest geschieht von alleine. Verstanden?«

»Ja. Ich verstehe.«

Der junge Mann steigt ein und startet den Motor, während der ältere Helfer sich zu Florim in den Wagen setzt. Über die Reiherstieg-Klappbrücke hinweg fahren sie in Richtung des Neuhöfer Damms, während sich erneut Stille über den Parkplatz legt.

6

Fred sitzt auf einer alten Bank am Ballindamm und schaut auf die Fontäne in der Mitte der Binnenalster. Sie glitzert im Licht der Straßen- und Werbebeleuchtung des Jungfernstiegs, wo sich auf den Terrassen zur Alster hin Gruppen von Jugendlichen versammelt haben und hier ihre Freizeit verbringen. Von dem Trubel bekommt Fred jedoch wenig mit. Gelegentlich rauscht hinter ihm ein Fahrzeug vorbei, ansonsten lauscht er nur dem Funk in seinem Ohr. Er wagt es nicht, sich umzudrehen, sondern er vertraut auf die Ansagen seiner Kollegen, die ihm einen Hinweis geben werden, sobald eine Person, der er folgen soll, das Maklerbüro verlässt. Fred muss die Kennzeichen der Fahrzeuge durchgeben, die von Kontaktpersonen bestiegen werden, und beobachten, in welche Richtung sie fahren, damit die Mitarbeiter seiner Observationsgruppe die Verfolgung aufnehmen können. Otto Kuhnert vom Hamburger Rauschgiftdezernat hat ihnen einen klaren Auftrag erteilt: Sie sollen Kontaktpersonen im Maklerbüro feststellen und sie identifizieren, ohne dabei entdeckt zu werden.

Seit zwei Wochen verbringen Fred und seine Truppe nun schon ihre Arbeitszeit vor dem Büro und konnten bereits einige Mitglieder der Hamburger Unterwelt beim Betreten des Maklerbüros beobachten, Fotos von ihnen schießen und sie im Anschluss einem Fahrzeug zuordnen.

Nur zu gern würde Fred mal eine Kontaktperson anhalten und kontrollieren, deren Auto durchsuchen und etwaige Gelder oder Drogen sicherstellen.

Der Makler ist eher zufällig zur Zielperson in ihren Ermittlungen geworden. Er ist ein unscheinbarer Typ und verwaltet mehrere Immobilien in Hamburg. Die meiste Zeit des Tages verbringt er hier am Ballindamm allein in seinen Büroräumen im Erdgeschoss eines alten Gebäudes, dessen tiefe Fenster von Steinbögen gesäumt sind.

Auch heute konnten sie wieder zwei Personen dabei beobachten, wie sie unmittelbar vor dem Büro stehen blieben und kurz telefonierten. Einen Moment später wurde ihnen vom Makler persönlich die Eingangstür zum Büro geöffnet, und sie traten ein. Was drinnen geschah, blieb den Observanten verborgen. Die verspiegelten und zum Teil mit Milchglasfolie verklebten Fensterscheiben lassen keinerlei Einblicke in die Räumlichkeiten zu. Durch die gegenüberliegende Binnenalster ist es ihnen auch nicht möglich, aus einem höher gelegenen Gebäude hineinzuspähen. Sie müssen sich mit dem begnügen, was sie auf der Straße zu sehen bekommen.

Meistens dauert es eine gute Viertelstunde, bis die Kontaktpersonen das Büro wieder verlassen und in die hoch motorisierten Luxuswagen einsteigen, mit denen sie vorgefahren sind. Fast alle, die den Makler in den letzten zwei Wochen aufsuchten, sind Fred und seinen Leuten bereits aus früheren Verfahren bekannt. Durchweg ging es dabei um den Handel mit Drogen jeglicher Art. Das Büro betreten sie gerne mit kleinen Taschen oder Rucksäcken, in denen sich zwar keine Großmengen an Drogen befinden dürften, aber vieles spricht dafür, dass sie Gelder zum Makler bringen und die Ware woanders abholen oder bereits im Vorfeld auf Kredit erhalten haben. Der Makler schaltet keine Anzeigen im Internet zu verfügbaren Immobilien und führt auch keine Besichtigungen durch. Seine Telefongespräche sind konspirativ. Es wird von »Papieren« gesprochen, von »ungeöffneten Paketen« und immer wieder von »ihm«, mit dem Absprachen getroffen werden sollen.

»Die Tür öffnet sich. Der Makler verlässt das Büro«, ertönt Paschos Stimme.

»Bist du dir sicher?«

»Ganz sicher. Außer ihm ist niemand mehr im Büro.«

»Das wäre aber sehr früh für ihn. Normalerweise bleibt er noch bis spätabends hier und empfängt Besucher«, stellt Fred fest. »Okay. Wir bleiben an ihm dran.«

»Fred, er geht linksherum in Richtung Europa Passage.«

»In Ordnung, gebt ihm noch ein paar Meter, dann folge ich ihm auf meiner Seite.«

»Er ist jetzt kurz vor der Gertrudenstraße. Sieht aus, als würde er dort reingehen wollen.«

»Okay, Pascho. Ich gehe mit.« Fred erhebt sich von seiner Bank und geht in dieselbe Richtung, jedoch auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er behält dabei den Makler im Auge, der in diesem Moment in die Gertrudenstraße einbiegt, eine schmale Stichstraße mit Kopfsteinpflaster. »Er tritt an einen dunklen Mittelklassewagen heran. Bleibt vor der Windschutzscheibe stehen. Er hat sein Telefon in der Hand. Die Warnblinker leuchten einmal auf. Es scheint ein Carsharing-Auto zu sein. Kennzeichen kann ich noch nicht sehen. Das Fahrzeug steht in Richtung Mönckebergstraße. Unser Mann steigt ein. Ich habe freie Sicht auf das Kennzeichen, sobald er aus der Parklücke rausfährt«, meldet Fred, während er den Ballindamm überquert, um die Distanz zu verringern und das Kennzeichen besser lesen zu können. Der Makler beginnt auszuparken. »Leute, er scheint zu wenden. Ich kann nur noch die Richtung angeben. Das Kennzeichen stelle ich gleich in die Gruppe.«

Fred geht an dem Wagen vorbei, merkt sich die Buchstaben- und Zahlenkombination, die er gleich darauf in sein Handy eintippt. Mit einem letzten Vor- und Zurücksetzen wendet der Makler seinen Mietwagen endgültig und fährt in Richtung der Alster davon.

»Er setzt den Blinker nach rechts. Pascho, Blondie, das ist eure Richtung.«

»Ja. Wir stehen bereit. Ich sehe ihn bereits kommen«, antwortet Pascho. »Blondie, du gehst direkt ran, ich folge euch.«

»Check. Er setzt wieder den Blinker rechts für den Glockengießerwall in Richtung Hauptbahnhof. Ich bin dran, mit einem Fremdfahrzeug zwischen uns.«

»Ich bin hinter dir, Blondie.«

»Kuno ist zwei hinter euch. Jayjay ist hinter mir«, gibt Kuno durch. »Fehlt mal wieder nur der Chef«, ergänzt er mit einem Schmunzeln in der Stimme.

»Ja, der rennt bereits zu seinem Auto. Ich folge euch dann gleich. Ihr habt ja alles im Griff so weit.«

Fred verlangsamt das Tempo und tritt an sein geparktes Fahrzeug heran, das er am Ballindamm, kurz vor dem Jungfernstieg, auf dem Parkstreifen abgestellt hat. An der Windschutzscheibe klemmt ein kleiner Zettel, der Fred ein Augenrollen abringt. In ein paar Wochen gibt es dann wieder einen Brief von der Verkehrsbehörde, den er beantworten muss, um das fällige Ordnungsgeld für ein fehlendes Parkticket abzuwenden.

7

Im »Hang Loose« ist Gerd Sehling voll in seinem Element. Er steht gerade an einem langen Tisch mit neun jungen Damen. Eine von ihnen hat ein glitzerndes Kunststoffdiadem im Haar und trägt eine weiß-pinke Schärpe mit dem geschwungenen Aufdruck Braut.

Die Frauen lachen und kichern, als Gerd die zukünftige Ehegattin zu einem Tanz auffordert.

Kurz darauf schiebt er sie unter lautem Gejohle des Junggesellinnenabschieds und weiterer Gäste sowie den argwöhnischen Blicken von Dörte über die Freifläche vor dem Lokal. Nach einer kurzweiligen Runde wildem Discofox liefert Gerd sie galant wieder am Tisch ab und zieht anschließend das elektronische Gerät aus der Hose, um die Getränkebestellungen der Frauen aufzunehmen.

Ein paar Tische weiter sitzen noch immer die südamerikanischen Gäste vor leeren Gläsern, in denen die Limetten des jeweils letzten Cuba Libre im Eiswürfelwasser schwimmen. Sie schenken dem Treiben keinerlei Beachtung, denn soeben hat sich ein langhaariger Südländer zu ihnen gesetzt, dessen leicht lockige Haare zurückgegelt sind und ihm im Nacken auf die Schultern fallen. Mit beiden Händen streicht er über seinen kräftigen Bart und beginnt, die Spitzen mit den Fingern zu verzwirbeln.

Die angeregte Unterhaltung der Männer erregt Gerds Aufmerksamkeit. Der neue Gast ist ihm gut bekannt. Faruk Simsek. Vor zwei Jahren konnten seine ehemaligen Kollegen ihn festnehmen, nachdem er kilogrammweise mit Marihuana und Kokain Handel trieb. Tänzelnden Schrittes steuert Gerd den Nachbartisch der Südamerikaner an, an dem ein älteres Ehepaar sitzt. »Darf es noch wat sein? Vielleicht noch ’n Aperol? Oder ein kleiner Snack oder Schnaps?«

»Nein danke. Wir würden gerne zahlen«, antwortet die grauhaarige Dame mit sanftem Augenaufschlag.

»Mit Karte oder in bar?«

»Mit Karte bitte.«

»Jo. Einen Moment.« Gerd zieht das neumodische Gerät hervor, mit dem er sowohl die Bestellungen entgegennehmen als auch Kartenzahlungen ermöglichen kann. »Dat macht dann zweiundvierzig Euro siebzig bidde.«

»Machen Sie fünfzig«, sagt der freundliche alte Herr, dessen gesamtes Gesicht tiefe Falten wirft. Er hält seine goldene Karte gegen das Gerät, während Gerds Aufmerksamkeit auf das Gespräch am Nachbartisch fokussiert ist. Er hört Gesprächsfetzen, kann sich auf die wenigen Worte jedoch keinen Reim machen. Es scheint um ein Treffen, einen Job und Vertrauen zu gehen.

Das Piepen des Geräts erinnert Gerd wieder an seine Arbeit. »Vielen Dank für das großzügige Trinkgeld, und beehren Sie uns bitte bald wieder. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Abend?«

»Ja, es war wunderbar. Und der Blick hat das Erlebnis vollends abgerundet. Wir werden gerne wiederkommen. Vielen Dank.«

»Schönen Abend noch«, wünscht Gerd und watschelt einen Tisch weiter, wo er sich hinter Faruk stellt und sein Bestellgerät zückt. »Ein neuer Gast? Darf es hier noch wat sein?«

»Señor, noch eine Runde für uns. Der Herr wollte allerdings gerade gehen.«

Ohne zu zögern, erhebt sich Faruk. Gerd gibt drei Cuba Libre in sein Gerät ein und marschiert schnellen Schrittes zum Tresen, wo Dörte gerade die Getränke für den Junggesellinnenabschied auf einem Tablett bereitstellt. »Dörte, ich muss mal kurz an die frische Luft.«

»Du bist die ganze Zeit an der frischen Luft.«

»Ich meinte eine kurze Pause.«

»Du musst dich wohl von deiner Tanzeinlage erholen, was? Aber das Tablett bringst du vorher noch an den Tisch deiner Verehrerinnen«, antwortet Dörte verbissen. »Und mach nicht so lang. Ich kann den Laden nicht alleine schmeißen.«

»Is ja gut«, gibt Gerd sich geschlagen und greift nach dem Tablett. »Ich bin in einer Viertelstunde wieder zurück.«

So schnell er kann, läuft er zum Tisch der Damen und serviert die Getränke, wobei ihm eine besonders angetrunkene Frau kräftig auf den Hintern schlägt.

»Junge Deern, dat hätt doch nich notgetan«, erklärt Gerd mit einem süffisanten Grinsen, wendet sich ab und ignoriert gekonnt das Winken und Rufen der Gäste an den übrigen Tischen.

An der Straße schaut er sich um und sucht nach dem roten Trainingsanzug von Faruk, den er am Ende der Marco-Polo-Terrassen entdeckt. Watschelnd, aber zügig folgt er dem knapp Dreißigjährigen, der o-beinig die letzten Treppenstufen hinaufgeht.

»Na, wo willste jetzt hin?«, murmelt Gerd leise und kneift dabei argwöhnisch die Augen zusammen. »Wat hast du mit den Südamerikanern zu schaffen?«

Gerd beschleunigt das Tempo und wackelt nun wie eine Ente im Laufschritt die Rampe zum Großen Grasbrook hinauf. Oben angekommen blickt er sich erneut suchend um. Faruk ist nicht mehr zu sehen. Am Strandkai findet Gerd ihn schließlich wieder. Neben einer mattschwarzen Limousine steht er in seinem auffälligen Trainingsanzug am Fahrbahnrand und unterhält sich mit einem dunkelhäutigen Mann, der die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen hat. Aus der Bauchtasche des Hoodies zieht er einen Umschlag und drückt diesen Faruk in die Hand. Schon trennen sich die beiden wieder, und Faruk steigt in die mattschwarze Limousine ein.

»Soso«, brummt Gerd, wendet sich ab und geht über die Straße zu den gegenüberliegenden Bürogebäuden. Als er sich umdreht, sieht er, dass der Mann im Kapuzenpullover auf der Beifahrerseite eingestiegen ist. »Wat is denn jetzt los? Erst wat bekommen und dann zusammen davonsausen?«

Die Lichter der Limousine gehen an. Der Motor beginnt surrend zu dröhnen, während Faruk langsam den Wagen wendet. Sekunden später rauscht die Limousine an Gerd vorbei. Die beiden Insassen schenken ihm keine Beachtung. Angeregt unterhalten sie sich bei offenem Fenster und dröhnenden Bässen.

Gerd hebt blitzschnell die Hand in Richtung des Großen Grasbrooks. »Taxi!«, brüllt er und winkt dem beigen Mercedes, der unmittelbar vor ihm zum Stehen kommt.

Er reißt die Beifahrertür auf, zeigt dem indisch aussehenden Fahrer seinen alten Dienstausweis, den er kurz vor seiner Pensionierung verloren gemeldet hatte, und sagt: »Dat is ’n Notfall. Folgen Sie dem dunklen Auto da vorne. Aber möglichst unauffällig.«

8

Fred flucht. Sosehr er sich auch bemüht, zu den Kollegen aufzuschließen, der Verkehr auf der Wilhelmsburger Reichsstraße zeigt eindeutig, dass es nicht klappen wird.

Ein wenig gibt Fred den mobilen Blitzern die Schuld, die in den letzten Monaten regelmäßig auf der Schnellstraße stehen und Rasern teure Erinnerungsfotos schenken. Es hat sich offenbar inzwischen herumgesprochen, denn alle halten sich exakt an die Geschwindigkeitsbegrenzung, ganz zum Leidwesen von Fred.

Über Funk hat er mitbekommen, dass seine Kollegen bereits mitten in Wilhelmsburg sind und auf der Rubbertstraße in Richtung Norden fahren. Fred versucht vorherzusehen, wohin die Fahrt sie führen wird, und entschließt sich, auf die Abbiegespur der Schnellstraße zu wechseln, um bereits in Georgswerder abzufahren.

»Wir passieren eine Brücke und halten auf den Vogelhüttendeich zu. Der Makler fährt unverändert mit Tempo sechzig. Die nächste Bewegung würde ich nicht mehr mitmachen«, meldet Kuno.

»Ich bin direkt hinter dir, Kuno«, funkt Jayjay kurz dazwischen.

»Jo, seh ich. An der nächsten Kreuzung gehe ich raus. Der Makler setzt den Blinker für rechts. Ich folge weiter dem Vogelhüttendeich.«

»Okay. Ich übernehme.«

»Er biegt ab. Ich bin raus«, funkt Kuno.

»Jayjay übernimmt.«

»Ich bin hinter dir«, teilt Blondie mit.

»Jo. Wir passieren den Stenzelring bei Tempo fünfundfünfzig und fahren auf die Harburger Chaussee zu. Er setzt den Blinker für rechts. Die Bewegung mache ich mit.«

Gebannt lauscht Fred dem Funk. Er realisiert, dass die Observation sich genau auf seinen Standort zubewegt, und fährt auf den Parkstreifen vor der Ballinstadt am Bahnhof Veddel. Fred stellt den Motor ab. Er wird vor Ort nicht mehr benötigt, daher wartet er lieber hier ab und hält die Augen offen, ob ihm auffällige Fahrzeuge entgegenkommen oder Personen auf den Gehwegen zu entdecken sind. Schon häufig konnte er Beobachtungen machen, die sie in den Ermittlungen weiterbrachten, weil er zufällig jemanden sah, der in einem früheren Verfahren mal eine Rolle spielte.

»Er biegt ab. Das Auto wird langsamer. Jepp, er setzt den Blinker und fährt in eine Parklücke auf der rechten Seite. Höhe Harburger Chaussee 67. Ich fahre weiter. Wer setzt einen Fuß?«

»Pascho macht das.«

»Von Blondie: Das Auto des Maklers steht, aber er verlässt sein Fahrzeug nicht. Scheint so, als würde er auf etwas warten. Die Lichter sind noch an. Ich kann nicht erkennen, was im Auto passiert. Moment. Eine dunkle Gestalt kommt zum Auto. Keine Ahnung, wo die jetzt herkam. Ich habe keine Bewegung bei der Haustür gesehen.«

»Blondie, der könnte aus dem Innenhof kommen«, wirft Jayjay ein. »Ich kenne die Gegend. Dort hinten sind noch diverse Wohnungen.«

»Das würde es erklären. Pascho, schau mal, ob du dich dort eingraben kannst, bis die Kontaktperson zurückkommt. Der Kontakt steigt ein. Ich konnte nicht sehen, ob er was dabeihatte. Warten wir ab, was passiert.«

Für einen Moment bleibt es still in der Leitung. Fred reibt sich verwundert die Augen. Er könnte wetten, dass im Kreisel soeben ein Taxi mit Gerd Sehling auf dem Beifahrersitz an ihm vorbeigefahren ist. »Leute, ich glaub, ich hab eben Gerd in einem Taxi gesehen.«

»Ist der jetzt Taxifahrer? Das kann ja nur Ärger bringen«, bemerkt Blondie amüsiert. »Die Beifahrertür steht wieder offen. Man scheint sich aber noch angeregt zu unterhalten. Der Kontakt ist jetzt zu sehen. Sein Smartphone leuchtet. Er schließt die Tür. Der Makler fährt ab. Fred? Was sollen wir machen?«

»Otto ist schon zu Hause. Wir müssen entscheiden. Ich würde sagen, wir bleiben an dem Makler dran. Pascho versucht bitte, den Kontakt zu identifizieren. Oder zumindest seine Wohnung festzustellen. Blondie bleibt ebenfalls vor Ort und hilft. Vielleicht können wir in diesem Verfahren endlich mal eine Spur greifen.«

»Klingt nach einem Plan, Fred. Pascho und ich bleiben.«

»Okay. Der Rest hängt sich an unseren Makler. Wenn es in Richtung des Büros oder seiner Heimanschrift geht, brechen wir ab.«

»Check. Ich übernehme die Position«, meldet Jayjay. »Er fährt geradeaus weiter in Richtung Veddel und Zollhafen.«

»Ich bin am Bahnhof und folge dir, Jayjay.« Fred startet seinen Motor und lenkt den Wagen zurück auf die Straße. Er sieht das Zielfahrzeug in Richtung Veddel fahren, dann kommen die Fahrzeuge von Jayjay und Kuno. »Kuno ist hinter dir. Und ich jetzt auch«, sagt Fred und freut sich, dass er endlich wieder mitwirken kann. Er nimmt sein Handy und beginnt, durch die Kontakte zu wischen. Diese eine Sache möchte er noch geklärt wissen, bevor er sich wieder voll auf die Observation des Maklers konzentriert.

9

Die laute indische Popmusik im Taxi und die bunten Girlanden auf dem Armaturenbrett lenken Gerds Blick immer wieder von der Limousine ab, die vor ihnen in die Slomanstraße biegt. Nicht minder lautstark beginnt in diesem Moment sein Handy zu klingeln. Er schaut auf das Display und geht ran.

»Ganz schlechter Moment gerade, Fred«, begrüßt er seinen ehemaligen Kollegen.

»Wieso, was machst du?«

»Ich kann gerade nicht frei sprechen.«

»Ah, tun Sie sich keine Zwang an. Ich schweige wie eine Grab«, wirft der Fahrer ein. »Ich ware auch mal eine Polizist, als ich noch in Indien lebte.«

»Wer ist denn da bei dir? Und was ist das für eine Musik? Bist du im Urlaub?«

»Nee, ganz im Gegenteil. Ich maloche jeden Tag in einem Café in der HafenCity.«

»Ach so, dann muss ich mich getäuscht haben. Ich dachte, ich hätte dich gerade in einem Taxi auf der Veddel gesehen.«

»Stalkt ihr mich? Wenn ihr mich vermisst, braucht ihr mich eigentlich nur anzurufen. Dann besuch ich euch mal im Präsidium. – Pass auf, der biegt rechts ab«, fügt er an den Fahrer gerichtet hinzu. »Lass dich nicht abhängen.«

»Was machst du gerade, Gerd?«

»Ich bin mit dem Taxi unterwegs.«

»Also doch!«

»Ja, ich hab Pause.«

»Du folgst in deiner Pause jemandem mit dem Taxi auf der Veddel?«

»Ich verstehe dich ganz schlecht, Fred, dat is total laut hier. – Kannst du mal dat Gedudel ausstellen? Ich telefonier hier.«

Mit einem Schlag dreht der Fahrer das Radio leise. »Keine Problem. Er fährt auf eine Parkplatz von dem Hotel da vorne. Soll ich ihm folge?«

»Nee, bloß nicht. Fahr mal hier vorne ran. Ich geh zu Fuß weiter.«

»Soll ich dich begleiten? Wir müssen dichter rangehe, wenn wir was sehe wolle.«

»Dat weiß ich. Du bleibst hier. Warte auf mich. Ich komm wieder.«

»Ja, Sir. Ich warte. Immer zu Diensten.«

Mühsam quält Gerd sich mit dem Handy am Ohr aus dem Beifahrersitz. Dabei versucht er, die mattschwarze Limousine, die gerade auf dem Gästeparkplatz vor dem Hotel einparkt, im Blick zu behalten. »Fred, was liegt denn an? Es ist wirklich schlecht gerade.«

»Gerd, was machst du auf der Veddel in einem Taxi?«

»Hier stimmt wat nich, Fred. Faruk Simsek hat sich vor fünfzehn Minuten mit verdächtigen Personen in meinem Café getroffen. Ich hab ihn gleich wiedererkannt mit seinen langen, speckigen Haaren. Ganz komische Gestalten sind das, mit denen er sich da unterhalten hat, die hab ich schon länger aufm Kieker. Jedenfalls hat er im Anschluss in der Nähe noch einen Umschlag erhalten und ist dann abgedampft. Den Typen, von dem er den Umschlag hat, hat er mitgenommen und eben in der Harburger Chaussee abgesetzt. Da geht wat, Fred. Glaub mir das.«

»Wir haben unseren Mann gerade ebenfalls in die Harburger Chaussee begleitet. Es gab ein kurzes Treffen. Ein Kontakt kam zum Fenster seines Autos, stieg ein und wenig später wieder aus. Der scheint dort zu wohnen. Eine nähere Beschreibung zu dem Kontakt habe ich aber noch nicht. Konkreteres konnten wir auch nicht feststellen. Wir fischen noch total im Trüben.«

»Und nu?«

»Jetzt begleiten wir unseren Mann zurück. Wir sind auf dem Weg zu den Elbbrücken.«

»Wollt ihr euren Mann nicht mal anhalten und überprüfen? Vielleicht hat er wat bekommen? Manchmal muss man auch mal reinschauen, um klarer zu sehen.«

»Nee, heute nicht, Gerd. Außerdem ist Otto nicht mehr da. Seine Frau hat Geburtstag. Den Ärger, wenn wir das Verfahren ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Wand fahren, weil wir neugierig sind, will ich mir nicht antun.«

»Müsst ihr wissen. Ich muss jetzt aber wirklich auflegen, Fred«, beeilt sich Gerd zu sagen, als er sieht, wie sich auf dem Parkplatz, der gar nicht zum Hotel, sondern offenbar zu einem Supermarkt gehört, die Fahrertür der Limousine öffnet. Hektisch beendet er das Gespräch und steckt sein Handy weg. Über einen Fußweg gelangt er näher an das Fahrzeug von Faruk heran. Seine Schritte sind deutlich zu hören, auch wenn er sich bemüht, leise zu gehen. Faruk steigt aus seinem Wagen aus. Er hält den Umschlag, den er eben erhalten hat, in der rechten Hand, wirft die Fahrertür lautstark zu und verschließt sein Auto. Dann geht er in Richtung des Hotels, das direkt neben der Autobahn liegt. Der Lärm der Fahrzeuge übertönt Gerds schleifende Sohlen und seinen pochenden Herzschlag.

Gerd bleibt stehen und schaut zum Hoteleingang hinüber, in dem Faruk verschwunden ist. Da beginnt sein Telefon zu klingeln und lässt ihn erschrocken zusammenfahren.

»Fred, dat is jetzt wirklich nich der richtige –«

»Gerhard, wo steckst du? Soll ich deinen Job nun auch noch übernehmen, oder kommt der Herr noch einmal zurück?«

»Dörte, du bist es.«

»Ja, ich bin es. Der Laden ist voll, und du treibst dich anscheinend wieder herum. Nimm die Füße in die Hand und komm ran hier. Ansonsten hast du ab morgen Küchendienst und wäschst die Teller, statt draußen mit den Gästen rumzuschäkern, während ich hier die ganze Arbeit mache.«

»Ich war doch nur kurz eine Runde spazieren.«

»Ist das so?«

»Glaubst du mir nicht? Ich bin gleich da. Tschüss.« Ohne auf Dörtes Antwort zu warten, legt Gerd auf. Er ist zwiegespalten. Am liebsten würde er hier warten, bis Faruk das Hotel wieder verlässt, doch gleichzeitig fühlt er sich seiner neuen Aufgabe verpflichtet. Außerdem kann er die Südamerikaner nur im Auge behalten, wenn er auch vor Ort ist. Unschlüssig bleibt er auf dem Parkplatz stehen und streicht mit der Hand über seinen Bart.

Neben ihm kommt ein Taxi zum Stehen, dessen Fahrer die Scheibe herunterfahren lässt. »Wenn du wills, dann kanns du einsteige.«

Gerd beginnt, irgendetwas zu grummeln, das Geräusch wird zu einem schweren Brummen. Unzufrieden geht er auf die Beifahrerseite und steigt ins Taxi ein. »Dann bitte einmal zurück in die HafenCity. Aber zügig – und kein Wort darüber, wo wir waren, zu meiner Frau, falls sie uns sieht. Ansonsten gibt es ’nen Toten vor dem ›Hang Loose‹, und dat wollen wir alle nich. Wär auch nich gut fürs Geschäft.«

10

Im Polizeipräsidium in Alsterdorf, nur wenige Meter vom Hamburger Stadtpark entfernt, sitzt Tim Dombrowski nachdenklich an seinem Schreibtisch. Er schaut nicht auf seinen Monitor, sondern aus dem Fenster in den dunklen Nachthimmel. Die Neonröhren in der Decke sind nicht eingeschaltet. Lediglich auf der Fensterbank leuchtet eine runde Lampe und wirft seinen Schatten an die Wand hinter ihm.

»Bist du schon fertig mit dem Bericht?« Mario Beyer hat, von ihm unbemerkt, das Büro betreten.

Erschrocken zuckt Dombrowski zusammen. »Nee, noch nicht ganz. Tut mir leid.« Seine Finger ruhen noch immer auf der Tastatur, auch wenn sich auf dem Monitor längst der Sperrbildschirm aktiviert hat.

»Alles gut. Lass dir die nötige Zeit. Gibt’s ansonsten etwas, das ich wissen sollte?« Mario setzt sich auf den Besucherstuhl neben den beiden einander gegenüberstehenden Schreibtischen und lehnt sich weit zurück, ohne den Blick von Dombrowski abzuwenden.

Verkniffen beißt sich Dombrowski auf die Lippen. Er greift nach seinem weiß-schwarzen Porzellanbecher, nimmt einen Schluck Kakao und stellt den Becher wieder ab. »Ihr seid ein super Team, Mario, aber das hier ist einfach nicht mein Ding. Ich dachte, bei der Mordkommission würde ich die Welt ein Stück sicherer machen. Nur stimmt das nicht. Heute habe ich wieder gesehen, dass es in euren Verfahren nur Verlierer gibt. Wem ist damit geholfen, hilflose alte Frauen einzusperren?«

»Es kommen auch noch andere Fälle, Dumbo.«

»Sagst du. Ich habe mich bei den Kollegen umgehört, Mario. Mit Glück gibt es einen spannenden Kriminalfall pro Jahr. Bei uns stand im letzten halben Jahr der Täter jedes Mal bereits fest, noch bevor wir an den Tatort kamen. Trotzdem mussten wir viel Arbeitszeit und Überstunden in solche Fälle stecken und haben andauernd Rufbereitschaft, unter der das Privatleben leidet. Ich habe Claire seit Wochen nicht besuchen können, und auch wenn sie hier bei mir ist, finde ich kaum Zeit, um sie mit ihr zu verbringen. Mehrere Monate hat sie das klaglos ertragen, aber ich will ihren guten Willen nicht zu sehr strapazieren, schließlich liebe ich sie und will sie nicht verlieren. Beim Rauschgift hatte ich immer wieder zeitliche Freiräume, die ich in Berlin verbringen konnte. Hier geht das nicht. Außerdem liebe ich es, mich an meine Täter dranzuhängen, mit ihnen durchs Leben zu gehen und dann zuzuschlagen, wenn sie die Finger am Stoff haben. Dafür schlägt mein Ermittlerherz. Ich möchte gerne ins Dezernat zurückkehren und Rauschgifthändler jagen. Kein Karriereschritt ist so lohnenswert, dass man dafür etwas opfert, das man so sehr liebt.«

Stille kehrt zwischen ihnen ein. Nach einer Weile brummt Mario zustimmend, so als habe er die Worte erst einmal verdauen müssen. »Dann spreche ich mit meiner Abteilungsleitung, dass wir dich wieder gehen lassen müssen. Niemandem ist geholfen, wenn du dich mit der Aufgabe nicht vollends identifizieren kannst. Aber es war einen Versuch wert. ich bin nach wie vor der Ansicht, du würdest einen passablen Mordermittler abgeben.«

»Passabel?«, hakt Dombrowski irritiert nach.

»Vielleicht auch mehr«, entgegnet Mario Beyer betont zurückhaltend und grinst süffisant, als sich in Dombrowskis Gesichtszügen die erwartete Empörung abzeichnet.

»Ts. Umso besser, dass ich mich bald wieder um meine Dealer kümmere. Das kann ich wenigstens.«

»Dumbo, die Tür steht auch weiterhin offen. Falls du es dir anders überlegen solltest.«

»Da müsste schon ein Wunder geschehen, Mario. Ein Wunder, das wir vermutlich beide nicht erleben wollen.« Dombrowski entsperrt seinen Bildschirm, und ein Lächeln deutet sich um seine Mundwinkel an. »Ich werde nun den Bericht fertigstellen, dann kann ich die Sache für heute abhaken. Und danke für dein Verständnis, Mario.«

11

Das Taxi hält an den Marco-Polo-Terrassen, aus den geöffneten Fenstern dringt laute indische Musik. Der Fahrer lehnt jegliche Bezahlung ab, bedankt sich für die aufregende Fahrt und hupt zweimal, als er weiterfährt, nachdem Gerd ausgestiegen ist. Kopfschüttelnd geht Gerd zurück zum »Hang Loose«, wo noch immer reichlich Betrieb herrscht. Zu seinem Bedauern ist der Tisch der Südamerikaner verwaist. Am anderen Ende der Terrasse stellt Dörte gerade ein Tablett mit sechs Gläsern auf einem Tisch ab und verteilt die Getränke an die Gäste, die sich sogleich wild zuprosten und anstoßen.

Sie eilt zurück nach drinnen und schaut auf dem Beleg, der am Tresen auf dem nächsten Tablett liegt, das nach draußen geschafft werden muss, nach den noch fehlenden Getränken. Gerd, der fast direkt neben ihr steht, nimmt sie gar nicht wahr. Hastig zapft sie zwei Biere fertig. Gleichzeitig drückt jemand wie wild auf die Glocke an der Ausgabe der Küche, wo eine Portion Onion Rings und ein Burger auf ihre Abholung warten. »Ja, geht sofort los. Ich habe nur zwei Arme und Beine.«

»Darf ich helfen?«, fragt Gerd und verbeugt sich galant vor seiner Frau. Doch die eigentlich charmant gemeinte Geste wirkt wie Öl ins Feuer von Dörtes angespannter Stimmung.

»Ach, ist der feine Herr Superstar auch mal wieder da? Hier, das Tablett geht zu Tisch vierzehn. Die verlangen bereits nach dir. Sie wollen Gerd, den lustigen Kellner vom ›Hang Loose‹, den man auf keinen Fall verpassen darf, wenn man einen Abstecher in die HafenCity macht«, zitiert Dörte zynisch eine der vielen Rezensionen aus dem Internet. »Du bist anscheinend unser Markenzeichen, oder soll ich lieber ›Maskottchen‹ sagen? Aber du treibst dich ja lieber in der Weltgeschichte herum, statt mir zu helfen.«

»Ich bin ja wieder da. Man wird doch wohl mal eine kurze Pause einlegen dürfen. Sach mal, Dörte, wo sind eigentlich die Südamerikaner hin?«

»Die habe ich rausgeschmissen und ihnen Hausverbot erteilt.«

»Wat? Wieso dat denn?«

Dörte kann sich ein gehässiges Schmunzeln nicht verkneifen. »War mir klar, dass du ein Auge auf die geworfen hast.«

»Wie kommst du denn dadrauf?«

»Na, du bleibst an jedem Tisch stehen und sabbelst die Gäste voll, aber bei denen hältst du dich immer nur in der Nähe auf und schaust neugierig rüber, wenn sich neue Gäste hinzugesellen, tust jedoch so, als würden sie dich nicht interessieren.«

»Dörte, dat war ’ne ganz heiße Nummer. Und nu hast du sie kaputt gemacht.«

»Gerd, du musst nich immer alles glauben, wat ich dir erzähl. Die sind abgehauen, kurz nachdem du in die Pause gegangen bist. Die wollten schnell zahlen und waren dann auch gleich weg. Haben nicht einmal auf das Wechselgeld gewartet. Das war ein ordentliches Trinkgeld.« Sichtlich zufrieden, dass sie ihren Mann endlich einmal richtig auf die Schippe genommen hat, schaut Dörte Gerd an. Dann verschärft sich ihr Gesichtsausdruck, und die Strenge kehrt zurück. »Wieso stehst du eigentlich noch herum? Die Getränke und das Essen müssen rausgebracht werden. Und Tisch zehn möchte bestellen.«

Wie ein geprügelter Kater eilt Gerd mit dem Getränketablett nach draußen und bemerkt dabei nicht, dass Dörte ihm mit liebevollem Blick nachschaut.

Zweieinhalb Stunden später ist auch der letzte Tisch abgeräumt, und Gerd stellt gähnend die Stühle auf die Tische im Café, damit morgen früh der Boden gewischt werden kann. Dörte macht unterdessen die Abrechnung. Sie hat rote Wangen und dunkle Ringe unter den Augen, die vor Müdigkeit leicht glasig sind, und zählt das eingenommene Bargeld.

»Dat war doch mal wieder ’n wilder Abend.«

»Erzählst du mir nun, wo du dich so lange rumgetrieben hast?«

»Na, unterwegs war ich. Die platten Füße vertreten und mal durchpusten. Ich bin ja auch nich mehr der Jüngste.«

»Gerhard, ich bin weder blöd noch blind. Außerdem hast du dich vorhin mit den Südamerikanern selbst verraten. Und du gehst sonst nie spazieren.«

»Irgendwann is immer dat erste Mal, Dörte. Solltest du auch mal versuchen. Dat entspannt.« Kaum ausgesprochen, bereut Gerd seinen Kommentar, weil sich die kleinen roten Äderchen auf Dörtes Wange weiten.

Verbissen schaut sie ihm in die Augen. Doch sie sagt nichts dazu, wendet sich wortlos ab und zählt das Geld auf dem Tresen zu Ende.

Auch auf dem Weg zurück nach Dalldorf, ihrem gemeinsamen Wohnort kurz vor Geesthacht, gibt Dörte keinen Ton mehr von sich.

12

Erste Sonnenstrahlen fallen schimmernd auf den vom Morgentau feuchten Asphalt der Eiffestraße. Sie ist die Verlängerung der Schnellstraße, die von Bergedorf nach Hamburg hineinführt, und wird in der Nacht nicht selten für Straßenrennen genutzt. Jetzt, zu Beginn des neuen Tages, setzt der Pendelverkehr ein. Im Außenbereich des Cafés an der Kreuzung zum Borstelmannsweg sitzt Florim in einem beigen Korbstuhl. Vor ihm steht ein schwarzer Tee, in dem er mehrere Zuckerwürfel aufgelöst hat. Die Luft ist noch kühl, aber der klare Himmel verspricht einen freundlichen, warmen Frühlingstag. Auf seinem Handy sucht er in den Kontakten die Nummer seiner Familie raus. Jeden Morgen ruft er zu Hause an, um kurz mit seinen beiden Kindern zu sprechen, bevor sie von der Mutter zur Schule gebracht werden. Mit dem Geld, das er mit seinen Arbeitsaufträgen in Deutschland erwirtschaftet, kann er ihnen ein gutes Leben im Norden Albaniens ermöglichen.

Florim ist kein Mann der großen Worte. Er genießt die Stille, die in den frühen Morgenstunden im Café einkehrt. Vorbei ist die Hektik der Nacht, in der es gestern gleich mehrere Streitereien gegeben hatte. Florim hielt sich wie gewohnt aus allem heraus. Er will nicht auffallen. Jeder Kontakt zur Polizei, die regelmäßig bei ihnen im Café erscheint, gefährdet seine sichere Einnahmequelle.

Bei einer Kontrolle würde man feststellen, dass er sich mit seinem Touristenvisum bereits fast zwei Jahre zu lang in Deutschland aufhält. Doch die stets neu aufkommenden Jobangebote sind zu attraktiv, um die Rückkehr in die Heimat anzutreten. Viel zu gering ist dort der Verdienst, zu rar die Möglichkeiten, die ihn erwarten würden. Hier in Hamburg verdient er in ein paar Stunden gleich mehrere tausend Euro. So viel würde er in Albanien und Nordmazedonien erst nach mehreren Jahren harter Arbeit in der Hand halten. Sicher, das Risiko der Entdeckung ist groß, doch Florim ist bereit, es einzugehen. Er hat kein schlechtes Gewissen bei dem, was er tut, denn er macht es, damit seine Familie ein besseres Leben führen kann, und da ist ihm jedes Mittel recht.

Als das Freizeichen ertönt, erhebt Florim sich aus seinem Stuhl und geht ein paar Schritte weg vom Café. Niemanden geht es etwas an, mit wem er jeden Morgen spricht. Er drückt auf die kleine Videokamera in der Messenger-App und sieht nach kurzer Zeit die glücklichen Gesichter seiner Familie vor sich. Die strahlenden Augen seiner Kinder, die ihn fröhlich begrüßen. Jeden Morgen wechseln sie die gleichen Sätze miteinander, es ist eine Art Ritual zwischen ihnen. Florim spaziert währenddessen die Eiffestraße entlang.

Der morgendliche Verkehr nimmt langsam zu. Dennoch stört der Lärm das Gespräch nicht. Florim ist ganz auf das Telefonat konzentriert. Gestern Abend konnte er nicht mehr anrufen, um mit seinen Kindern über ihren Tag zu sprechen, weil er arbeiten musste. Das holt er jetzt nach. Schließlich lassen die beiden Mädchen nach mehrfachem Bitten auch ihre Mutter ans Telefon kommen. Florim will ihr sagen, dass er am Nachmittag wieder Geld schicken wird, als neben ihm ein alter Van in eine Parklücke fährt. Ruckartig wird die Seitentür aufgeschoben, und zwei maskierte Männer springen heraus. Der eine schlägt Florim völlig unvermittelt in den Magen. Der Zweite zieht ihm einen Sack über den Kopf. Florim kann nichts mehr sehen, Dunkelheit umschließt ihn. Ein fauliger Geruch steigt in seine Nase. Er hört die kreischende Stimme seiner Frau, deren Schreie kurz darauf verstummen. Einer der Männer hat ihm das Handy weggenommen und die Verbindung unterbrochen. Etwas Hartes wird ihm mit Wucht in die Seite gerammt und raubt ihm kurzzeitig den Atem. Dann wird Florim fest an den Armen gepackt und in Richtung des Autos gezerrt. Ohne ein Wort der Warnung wird er hineingestoßen. Er bleibt mit dem Knie irgendwo hängen und knallt mit dem Kopf gegen einen Sitz. Blind vor Wut und vor Angst tritt Florim nach den Männern. Er will schreien, sich vom stickigen Sack befreien, doch ein dumpfer Schlag gegen den Kopf raubt ihm die Orientierung. Er spürt, wie etwas Warmes über seine Stirn hinabfließt, dann verliert er das Bewusstsein.

13

Übernächtigt sitzt Toni Schäfer am Frühstückstisch in seinem Haus in Langenhorn. Der frischgebackene Familienvater hat letzte Nacht kaum ein Auge zugetan. Am Abend hinderte ihn der Lärm der Flugzeuge am Einschlafen. Als endlich Ruhe einkehrte, begann das Baby zu schreien, das er im Wiegeschritt zu beruhigen versuchte. Wenn es mal kurzzeitig gelang, wälzte er sich hellwach von einer auf die andere Seite, und als er schließlich doch noch ins Land der Träume entschlummerte, klingelte sein Telefon. Es war eine seiner Vertrauenspersonen, die ihm von einer Bergung von Kokain am Hafen berichtete. Sein Mann ist seit Längerem an einer Sache dran und unternimmt alles, um Toni mit ausreichend Informationen zu füttern. Auch damit er wieder einen kleinen Umschlag mit ein bisschen Taschengeld bekommt, um in den richtigen Lokalitäten die wichtigen Leute zu treffen.

Tonis erste Nachermittlungen bestätigten die Angaben seines Spitzels. Schon bald wird er die Angaben seinen Kollegen vom Rauschgiftdezernat zur Verfügung stellen können, damit sie sich der Schmugglerbande annehmen.

Beim Gedanken an diese Quelle, die er vor einigen Monaten mühsam angeworben hat, muss Toni noch immer den Kopf schütteln. Der Skrupel davor, mit den Bullen zusammenzuarbeiten, schreckte ihn zunächst ab, doch nach und nach konnte Toni ihn von den Vorteilen überzeugen. Übervorsichtig ist er trotzdem. Niemals spricht er am Telefon, will sich immer nur persönlich treffen, und dann so schnell wie möglich. Letzte Nacht tat Toni ihm den Gefallen und traf sich, da er schon einmal wach war, mit ihm auf dem verlassenen Kundenparkplatz eines Discounters. Die Informationen waren interessant, doch leider war die Bergung bereits erfolgt. Toni konnte nichts mehr tun. Den Ärger darüber, dass er zu spät von den geplanten Aktionen erfährt, versucht Toni sich nicht anmerken zu lassen. Dennoch wächst der Groll in ihm über die verpasste Chance, nur weil sein Mann ihm keine Nachrichten schickt.

Seine Laune wurde kaum besser, als er um fünf Uhr morgens nach Hause zurückkehrte und von seiner Freundin Tessa die kleine Tochter überreicht bekam. Sie war wach geworden, als Toni aufgestanden war. Das Krachen und Quietschen des Bettes ist zu viel für den zarten Schlaf der kleinen Tochter. Gut zwei Stunden später schlief sie zwar wieder, aber da war die Nacht vorbei, und die nächsten Termine standen für Toni auf dem Plan.

Er schiebt sich einen Löffel Knuspermüsli in den Mund, kaut krachend und überfliegt auf dem Handy noch einmal die Notizen, die er sich zum nächtlichen Treffen gemacht hat. Dann wechselt er zu den Kontakten und wählt die Nummer von Dombrowski. Nach nur einem Klingeln nimmt sein ehemaliger Bürokollege das Gespräch entgegen.

»Guten Morgen, mein lieber Dumbo. Schon wach?«

»Noch gar nicht geschlafen.«

»Oha, seid ihr wieder im Gange gewesen? Ich hätte gleich einen neuen Fall für dich. Eine meiner Quellen hat mir von einer Gruppierung berichtet, die Kokain aus –«

»Toni, ich bin noch nicht wieder im Rauschgiftdezernat. Die Mordkommission hat mich bislang nicht ziehen lassen.«

»Der gute Herr macht also doch Karriere.«

»Was hat die Dienststelle mit Karriere zu tun?«

»Ich dachte, du sollst dort eine Mordbereitschaft übernehmen.«

»Nee, nee, mein Lieber. Könnte ich vielleicht, aber ich habe gerade gestern wieder darum gebeten, zurückkehren zu dürfen, und nächste Woche wird es wohl so weit sein. Geld ist echt nicht alles.«

»Na, dann kannst du dir doch meinen Fall gleich mal anhören.«

»Ruf bitte Harry an. Es scheint ja dringend zu sein, wenn du mich um diese Uhrzeit anrufst.«

»Ja, in Ordnung. Mache ich. Wäre aber genau der richtige Fall für dich.«

»Schauen wir, was die Zukunft bringt, Toni. Wenn es nach mir ginge, wäre ich schon längst wieder zurück.«

»Okay. Wir hören uns, Dumbo.«

Toni beendet das Gespräch und wählt die Festnetznummer seines ehemaligen Dienststellenleiters. Er weiß, dass er bei ihm mit seinen Spitzeln keine offenen Türen einrennen wird. Zu oft haben seine Quellen nicht Wort gehalten und den Rauschgiftfahndern unnötige Arbeit eingebracht.

»Goldutt«, ertönt Harrys freundliche, aber bestimmte Stimme.

»Harry, hier ist Toni. Ich habe einen neuen Sachverhalt für euch.«

»Och nee. Muss das sein?«

»Das ist wirklich eine gute Sache. Wie wäre es, wenn ich nachher mal bei dir vorbeischaue?«

»Es gibt aber weder Kaffee noch Kekse.«

»Geht in Ordnung, Harry. Ich bin gegen zehn bei euch. Einverstanden?«

»Ja, okay. Ernie und Bert sind dann auch da. Die hole ich dazu. Deren Verfahren ist seit letzter Woche beendet. Die könnten etwas Neues machen, wenn deine Ansage vernünftig ist.«

»Sehr gut, Harry. Bis nachher.«