Ich war Bulle - Ben Westphal - E-Book

Ich war Bulle E-Book

Ben Westphal

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich war Bulle – Der packende Krimi-Auftakt der »Bullen«-Reihe von Ben Westphal Am Tag nach seiner Pensionsfeier wird der ehemalige Drogenfahnder Gerd Sehling Zeuge eines Autounfalls. Kurz entschlossen rettet er den Fahrer aus den Flammen und macht dabei eine folgenschwere Entdeckung: Kokain – und zwar reichlich. Sofort ist sein Spürsinn geweckt. Gemeinsam mit seinen ehemaligen Kollegen vom Hamburger Drogendezernat folgt Gerd einer heißen Spur, die tief in die Unterwelt führt. Zwischen Observationen, Befragungen und Konfrontationen zeigt sich: Gerd ist noch lange nicht raus aus dem Spiel. Eine atemlose Jagd durch die Hansestadt beginnt, bei der die Grenzen zwischen Gut und Böse zunehmend verschwimmen. Wird es Gerd und seinen Kollegen gelingen, das Drogenkartell zu zerschlagen? Ben Westphals Debütroman ist ein ebenso spannender wie realistischer Kriminalroman, der die brutale Realität des Drogenhandels schonungslos offenlegt. Ermittler Gerd Sehling ermittelt unbestechlich und mit viel Lokalkolorit – echt, kantig, mit Ecken und Kanten. Ich war Bulle ist der furiose Beginn einer Reihe, die süchtig macht nach mehr!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ben Westphal, 1981 in Hamburg geboren, machte nach dem Abitur eine Ausbildung zum Kriminalbeamten. 2006 wechselte er ins Rauschgiftdezernat. Einige Jahre später begann er, Rauschgift-Krimis mit Hamburg-Bezug zu schreiben – und was als einmaliges Pensionsgeschenk für einen Kollegen begann, wurde zu einer Leidenschaft fürs Schreiben.www.BenWestphal.de

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emonsverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: istockphoto.com/Patrick Wode

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd

ISBN 978-3-98707-349-6

Überarbeitete Neuausgabe

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationeninsbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

 

Für »Max«

1

Ruud van der Boek umgreift mit festem Griff das Lenkrad seines geliebten silbergrauen Lieferwagens. Er hat ihm bereits häufig gute Dienste geleistet. Egal bei welchem Wetter und auf welchen Straßen: Immerzu brachte er ihm Glück, und Ruud ist stets angekommen, wohin er auch gerade fuhr. Auch heute hofft er auf seinen Transporter, während sich außerhalb des Fahrzeugs die Fichtenwälder entlang der Landstraße unter einem Orkan biegen. Die Böen lehnen sich immer wieder gegen den Wagen. Dicke Tropfen prasseln auf die Scheiben nieder, während die Scheibenwischer quietschend versuchen, das gesammelte Wasser beiseitezuwischen.

Das Pfeifen des Sturms dröhnt in Ruuds Ohren, während er konzentriert auf die vom Regen überspülte Straße blickt. Hier kennt er jede Kurve, hier kann ihn nichts überraschen, denn er nimmt immer genau diesen Weg, immer dieselbe Route, immer im Schutze der Nacht.

Die Glut seiner Zigarette wandert ihren Weg hinauf zum Filter, während der Rauch in seinen Augen brennt. Der Gilb setzt sich in seinem schütteren, grau melierten Schnurrbart ab. Die in der Lüftung tanzende Asche legt sich auf dem Armaturenbrett nieder und paart sich dort mit dem Staub der letzten Fahrten.

Nach einem tiefen Zug drückt Ruud die Zigarette in den überfüllten Aschenbecher und greift nervös nach seinem Handy in der Hemdtasche. Ein kurzer Blick reicht, um zu sehen, dass er bislang keine Nachricht erhalten hat, die ihn zum Umkehren bringen würde.

Leichte Zweige werden über die Straße geweht, während er das Telefon in die Ablage der Mittelkonsole legt. Dorthin, wo er ein Aufleuchten schnell mitbekommt, auch falls das Klingeln im Rauschen der Wälder untergehen sollte.

Im Radio läuft deutsche Popmusik, irgendeiner von den immer gleich klingenden Singer-Songwritern, die Ruud nicht auseinanderhalten kann. Er ist kein Freund von deutscher Musik, lieber hört er die internationale Rockmusik, die er früher noch in seinem Club aufgelegt hat. Doch er braucht das deutsche Radio, denn gerade bei einem solchen Sturm muss er den Verkehrsfunk hören. Jeder Umweg würde seine Fahrt und ihn selbst gefährden. Das kann er sich nicht erlauben, viel zu viel hängt an seiner Verlässlichkeit, die so selten geworden ist in diesem Geschäft.

Das Ruckeln der Räder sticht immer wieder in seinen schmerzenden Rücken, doch an eine Rast ist nicht zu denken. Nicht hier in diesem Bereich und auch nicht innerhalb der nächsten drei Stunden. Das schlechte Wetter hat ihn bereits Zeit gekostet, die er nicht mehr aufholen wird. Wenigstens braucht er sich nicht an Lenkzeiten zu halten wie die Lasterfahrer. Er kann immer fahren und so lange, wie er will. Genug Arbeit gibt es zum Glück auch für ihn. Er könnte jeden Tag fahren, aber dafür fühlt er sich mit Ende fünfzig zu alt. Mehr als dreimal die Woche will er nicht mehr unterwegs sein, und sonntags fährt er generell nicht.

Auch wenn die Schulden aus der Pleite seines Clubs drücken, was sollte man ihm schon antun? Zumindest solange er verlässlich seine Arbeit erledigt, würde man ihm sein Bemühen anerkennen. Immerhin dürfte er seine Schulden schon erheblich getilgt haben in den letzten Monaten. Das hofft er zumindest, denn einen richtigen Überblick hat er nicht mehr. Zu unklar sind die Ansprüche seiner Geldgeber, die ihm im rechten Moment zur Seite standen, als die Banken nur noch die Insolvenz für ihn und seinen Club sahen. Den Club musste er am Ende doch aufgeben. Seine Geldgeber übernahmen die Konzession und erließen ihm einen Teil seiner Schulden. Den Job als Fahrer boten sie ihm ebenfalls an, um die Schulden tilgen zu können. In seinem Club sollte er nicht mehr arbeiten. Das Publikum hatte sich nach dem erfolgten Umbau wesentlich geändert. Die Leute waren jünger geworden, aggressiver. Ruuds Stammgäste blieben fern, es war nicht mehr der richtige Ort für ihn.

Auch wenn die Zinsen und Schulden bei den Leuten hoch blieben, irgendwann würden sie getilgt sein, und dann würde er es noch einmal mit einem kleinen Bistro oder Kiosk versuchen. Nichts zum Reichwerden, aber das will er auch gar nicht mehr. Einfach selbstständig seinen Lebensunterhalt verdienen können und niemandem mehr Rechenschaft schuldig sein. Diesem ständigen Druck entkommen, nichts mehr tun müssen, was man nicht will, sondern nur von dem leben, was am Abend in der Kasse ist, und nie wieder Schulden machen. Einen Fehler darf man immer nur einmal machen, das hatte sein Vater ihm schon immer eingetrichtert, und diesem Leitspruch will er in Zukunft folgen.

2

»Am besten, Sie suchen sich ein Hobby und genießen Ihre arbeitsfreie Zeit. Machen Sie doch mal eine schöne Reise, Herr Dehling.« Die Schlussworte der Rede der jungen Kriminaldirektorin, die auf dem Fest erschienen ist, ohne eingeladen gewesen zu sein, klingen Gerhard Sehling, den alle nur Gerd nennen, noch immer in den Ohren.

Der Abend war eigentlich so gelaufen, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Diejenigen, die er bei seiner Feier zur verdienten Pensionierung bei sich haben wollte, waren eingeladen und auch in dem Dorf kurz vor Hamburg erschienen. Dazu gehört Frau Baake mit Sicherheit nicht. Das hatte die Dame des höheren Dienstes jedoch nicht davon abgehalten, in ihrem viel zu großen Hosenanzug zu erscheinen und sich dann noch in den Mittelpunkt seiner Feier zu stellen. Hätte sie sich wenigstens vor oder nach ihrer geschwollenen Rede zur Mannschaft gesetzt und sich mal gehörig einen hinter ihre breit gebundene Krawatte gegossen. Aber stattdessen dackelte sie nach einem kräftigen Händedruck wieder davon und ließ Gerd in seinem Groll zurück. Nicht nur, dass sie seine zweite freiwillige Verlängerung der Dienstzeit abgelehnt hatte, um »jüngeren, hungrigen Kollegen« den Weg freizumachen. Nun war sie auch noch auf seinem eigenen Stück Land erschienen, um ihm die Urkunde des Abschieds in die Hand zu drücken und so das Ende von fünfundvierzig gelebten und geliebten Dienstjahren zu besiegeln.

Die ehemaligen Kollegen verhalfen ihm danach wenigstens zu ein bisschen Aufheiterung. Sie, die ihm alle am Herzen liegen, hatten ihm aus Schnapsgläsern eine Harley-Davidson gebastelt, den Tank mit Währungen aus aller Welt gefüllt und einen guten Tropfen für einsame Stunden aus einer österreichischen Destillerie als Zylinder in das Gebilde integriert. Sie wissen ihn zu nehmen, wie er ist, und kennen seine Vorlieben. Ein wenig ruppig ist er, gerade wenn es mal wieder nicht so läuft, wie er es sich vorstellt, aber immer mit dem Herz am rechten Fleck. Ein Typ halt, den man in so einer verrückten Truppe braucht, um die jungen und wilden Nachwuchsfahnder zusammenzuhalten und ihnen die alten Werte nahezubringen, damit der ganze Laden läuft. Gerd ist nicht mehr der Schnellste, weder im Kopf noch auf den Beinen, aber er ist immer mit Leib und Seele für jeden da, der seine Hilfe benötigt, und hilft stets mit seiner Erfahrung.

Zwei Tage lang hat er seinen Garten mit Dekoration geschmückt, die ihm seine Ehefrau Dörte besorgt hat. Er hat das Essen vorbereitet, Getränke herangeschafft und die Biergarnitur der Freiwilligen Feuerwehr aufgebaut. Es waren sechzig geladene Gäste – alte und aktuelle Wegbegleiter, längst pensionierte Ausbilder, Vorgesetzte und lieb gewonnene Auszubildende, die zum Teil schon selbst im mittleren Alter angelangt sind. Und zuletzt dann wider Erwarten der Drachen der Abteilung, bei dem jeder Mitarbeiter nur eine Nummer ist, die es nach Leistungsbereitschaft auszutauschen gilt.

Am liebsten hätte er sie in den Boden gerammt. Doch in den letzten Jahren ist er ruhiger geworden. So machte sich die Kriminaldirektorin nach ihrer undurchdachten und unpersönlichen Pensionsrede, die sie auch auf jeder anderen Feier hätte halten können, unbeschadet von dannen, während Gerd ihr zähneknirschend nachblickte. Zischend murmelte er dabei: »Ich heiße Sehling, merken Sie sich das!« in seinen struppigen Bart.

Nachdem Direktorin Baake das Gelände verlassen hatte, kam die Stimmung der Gäste wieder aus dem Froster. Die Feier nahm erneut Fahrt auf und ging bei Livemusik der Drug Inspectors mit Discofox auf der großen Holzterrasse bis in die späte Nacht.

Inzwischen ist Gerd allein in seinem Partykeller. Draußen zieht von Westen her ein Unwetter auf. Die letzten Gäste hatten ihm noch schnell beim Aufräumen geholfen, bevor sie sich auf ihre mitgebrachten Luftmatratzen fallen ließen oder sich in ihre Wohnmobile zurückzogen.

Jetzt sitzt er auf seinem Fernsehsessel mit dem guten Tropfen für einsame Stunden, den er immer wieder in ein kleines Schnapsglas füllt und mit leichtem Schnalzen die Kehle hinabbrennen lässt.

Neben der Flasche liegen seine Pensionsurkunde und sein verloren gemeldeter Dienstausweis, den er beim besten Willen nicht hätte abgeben können, auf dem antiken Edelholztisch.

Schon bei seinen übrigen Ausrüstungsgegenständen hat er sich schwergetan, sie der Tradition entsprechend an geschätzte Kollegen verteilt, aber sein letztes Stück Polizei wollte er nicht verlieren. Und wem sollte er schon damit schaden? Mit der Verlustmeldung wurden der Chipkarte sämtliche Berechtigungen entzogen. Sie war nicht mehr als eine weiße Scheckkarte mit Polizeiaufdruck, seinem Foto, Namen und seinem Dienstgrad des Kriminalhauptkommissars. Nicht einmal zum Telefonieren in einer Telefonzelle hätte man die Karte noch gebrauchen können. Und selbst wenn es möglich wäre, gäbe es gar keine mehr. Der Ausweis ist nicht mehr als eine Erinnerung, ein Andenken an die alten Zeiten, die so nicht wiederkehren würden.

»Allein trinkn macht einsam, Gerd«, hört er seine traurige, raue Stimme zu sich selbst sagen. Während er das Glas wieder füllt, betrachtet er sich im Johnnie-Walker-Spiegel an der mit Holzplanken vertäfelten Kellerwand. Er schaut sich in die kleinen Augen, die direkt an der großen, knolligen Nase ansetzen. Seine halblangen Haare sind zurückgekämmt. Der Bart kaschiert den leichten Doppelkinnansatz und lässt ihn jünger wirken, als er ist.

»Alt biss’u gewodden, mien Jung, such dir mal ’n Hobby, dass’ich jung hält«, ruft er, prostet seinem eigenen Antlitz zu. Er kippt das letzte Glas des Abends in sich hinein, bevor er in die weichen Polster des Sessels fällt und seine verquollenen Augen schließt.

3

Schummriges Licht fällt auf die Tische des Café International e.V. in der Wilstorfer Straße in Hamburg-Harburg. Trotz der nächtlichen Stunde ist das Café noch gut besucht. Südländische Männer sitzen auf einfachen Holzstühlen an mehreren im Café verteilten Tischen. Manche trinken miteinander Tee, sprechen über Politik, Alltag und Geschäfte, andere spielen Karten oder mit dominoähnlichen Steinchen.

An jedem Tisch wird geraucht, der Qualm steht in der Luft und verschleiert zusätzlich den spärlich beleuchteten Raum. Die Luft atmet sich schwer und stickig. Ein wenig Licht fällt von den Straßenlaternen der tagsüber gut befahrenen Straße durch die großflächig mit Milchglasfolie beklebten Fensterscheiben. Doch es verleiht dem Raum kaum mehr Freundlichkeit. Ebenso wenig wie die bunt blinkenden Spielautomaten im hinteren Bereich, wo stets jemand sitzt und von ungeahnten Gewinnsummen träumend sein letztes Geld verspielt.

Vor dem Café parken mehrere hochmotorisierte Luxuswagen auf dem Gehweg, doch ein Ticket wegen falschen Parkens hat hier schon lange niemand mehr bekommen.

Ein älterer Kurde bedient die Kundschaft, soweit er nicht gerade anders beschäftigt ist. Dann springen ihm offenbar zugehörige Personen zur Seite und bedienen die Anwesenden. Gelegentlich betreten kleine Gruppen hintere Räumlichkeiten. Einzelne verlassen das Café kurzzeitig, um sich dann wieder mit anderen an einen Tisch zu setzen.

Es ist Türkisch, Kurdisch und Albanisch zu hören, gelegentlich wird auch untereinander in gebrochenem Deutsch gesprochen. Überwiegend wird lautstark und gestenreich kommuniziert, manchmal aber auch wortkarg und leise, fast flüsternd.

Personen, die den Laden betreten, werden beobachtet, begutachtet und verlieren sogleich wieder die ihnen zugeteilte Aufmerksamkeit, sobald sie der Kundschaft zugerechnet werden. Einige Wenige, die sich hier zufällig hin verirren, werden freundlich rauskomplimentiert und an passendere Lokalitäten verwiesen.

Die verschiedenen Sprachen, die klimpernden Teetassen, die ratschenden Karten und klackernden Spielsteine gepaart mit der düsteren Beleuchtung geben dem Café seine Atmosphäre. In jeder Ecke sitzen Männer, die hierhergehören und hier sein wollen, jeder aus eigenen Gründen.

An einem der Tische sitzen Cemal und Faruk. Sie sind heute einfach nur hier. Sie spielen keine Karten oder trinken Tee, lachen oder diskutieren. Sie sitzen beharrlich auf ihren Stühlen und schauen durch den Raum. Gelegentlich zündet sich einer von ihnen eine Zigarette an und bläst den Rauch durch Nase und Mund in den vor ihnen wabernden, dunstigen Schleier. Sie sitzen allein an ihrem Tisch. Niemand setzt sich einfach zu ihnen, ohne aufgefordert zu werden. Beide wirken innerlich angespannt, trotz der zur Schau gestellten Ruhe.

Während Faruk gedankenverloren Perle für Perle an seiner Gebetskette weiterschiebt und einen Zahnstocher zwischen den Backenzähnen zerkaut, schreibt Cemal immer wieder etwas auf seinem dunklen Smartphone, das er im Anschluss sofort wieder in seiner Jackentasche verschwinden lässt.

Faruk sucht nach jeder Nachricht einen kurzen Blickkontakt zu Cemal. Dann fährt er sich mit der freien Hand durch die langen, nach hinten gegelten Haare. Anschließend streicht er den Vollbart von der Wange bis zum Kinn, wo er den Bart mehrfach in die Länge zieht und zwischen den Fingern zwirbelt.

Cemal bleibt ruhig sitzen, scheint seine Aufmerksamkeit zu bündeln und zeigt keinerlei Reaktion. Die breiten Augenbrauen unter der blanken Glatze verleihen seinen dunklen Augen etwas Düsteres. Daran ändert auch das weiße Hemd nichts, das er unter der dunklen Lederjacke trägt.

Erneut vibriert das Smartphone in seiner Jacke. Er nimmt es aus der Tasche und liest die eingegangene Nachricht, nachdem er das Handy entsperrt hat. Sein Blick flackert über den Bildschirm, während sich in seinem Gesicht keine Regung abzeichnet. Er blickt einmal zu Faruk, seine Augen verengen sich unmerklich, und er beginnt wieder etwas zu schreiben.

Faruk steckt seine Kette in die Hosentasche, nimmt seine glimmende Zigarette zwischen die trockenen Lippen, streicht sich mit beiden Händen über den Bart und zwirbelt die Spitze, während er sich langsam von seinem Stuhl erhebt und in Richtung Ausgang schlendert. Die goldene Panzerkette um seinen Hals blitzt unter der leicht geöffneten roten Trainingsjacke auf, während sie von links nach rechts schlägt. Seine rote Hose fällt leicht auf die teuren, hellen Sneaker, die mit jedem Schritt auf dem klebrigen Boden schnalzen.

Im Gang befindliche Personen weichen, ohne ihn anzublicken, spürbar zur Seite. Er selbst schenkt niemandem Beachtung und fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. Er passiert die geöffnete Tür und bewegt sich aufreizend langsam zu seiner vor der Tür stehenden mattschwarzen Limousine. Mehrfach blickt er die Straße entlang, doch in der Stille der Nacht hat sich der Verkehr bereits beruhigt. Kein Wagen fährt über den dunklen Asphalt. Seine Zentralverriegelung blinkt auf, während er noch einmal einen tiefen Zug von der Zigarette nimmt. Er schaut zu den umliegenden Parkbuchten, doch in der unmittelbaren Nähe stehen nur ihm bekannte Fahrzeuge. Den Rest der Zigarette schnippt er auf die Fahrbahn, während er gemächlich mit der anderen Hand die Fahrertür öffnet. Er hält die Tür an der Scheibe fest, atmet den Rauch aus und lässt sich in den hellen Ledersitz fallen. Nachdem er die Zündung betätigt hat, ertönt deutsche Rapmusik mit tiefen Bässen aus den Boxen. Mit aufheulendem Motor fährt er in Richtung Wilstorf davon und taucht in das Dunkel der Nacht.

4

Auf dem Nachttisch beginnt das Diensthandy kurzzeitig zu vibrieren, und es erklingt ein bewundernder Pfiff aus dessen Lautsprecher. Als Zeichen der erhaltenen SMS-Nachricht blinkt fortan kaum merklich ein blaues LED.

Tim Dombrowski zeigt keinerlei Reaktion. Sein Kopf liegt direkt auf der Matratze und drückt die vom Dreitagebart gezierte Wange in Richtung Nase, während das Kopfkissen unter dem Bauch liegt und den Hintern gen Decke schiebt. Sein Mund ist etwas geöffnet und präsentiert die leicht schiefen, aber gepflegten Schneidezähne.

Der draußen aufkommende Orkan pfeift durch den Schornstein, und Regen prasselt immer stärker gegen die Fensterscheiben.

Wieder ertönt das Signal des Handys und das surrende Geräusch der Vibration.

Es ist noch immer dunkel im Zimmer. Beim nächsten Fiepen öffnet Dombrowski kurz die Augen. Das rote Licht des Radioweckers erscheint verschwommen vor seinen müden Augen. Sie schließen sich jedoch sofort wieder, ohne Erkennbares registriert zu haben.

Erneut pfeift und brummt das Handy, und Dombrowski öffnet kurz das rechte Auge, das jedoch von einer Haarsträhne verdeckt wird, weswegen er auch das linke Auge öffnet, um den Grund der Störung zu lokalisieren. Der Blick auf den Radiowecker klärt sich; er zeigt vier Uhr zweiundfünfzig. Dombrowski sieht keinen Grund, sich um diese Zeit aus dem Bett zu bewegen, und schließt erneut die Augen.

Das Bier von Gerds Pensionsfeier zeigt noch leichte Nachwirkungen auf seinen aufwachenden Verstand, der sich zunehmend den Grund der Störung erarbeitet. Hatte er sich nicht wegen einer Rufbereitschaft nach Hause bringen lassen?

Noch vor dem nächsten Pfeifen drückt sich Dombrowski ruckartig aus der Waagerechten und ergreift das leuchtende Diensthandy, dessen Klingelton er nun trotz nur kurzer Nachtruhe und dezentem Kater zuordnen kann.

Wenn es um diese Zeit klingelt, dann kann es sich nur um etwas Wichtiges handeln.

Mehrfach reibt sich Dombrowski die Augen, um den erhaltenen Text endlich entziffern zu können. Als die verschwommenen Wörter eine Einheit bilden, wird ihm die Bedeutung sofort klar.

Er schwingt die Füße aus dem Bett und läuft mit dem Handy zunächst ins Badezimmer, wo er sich mit kaltem Wasser die restliche Müdigkeit aus dem Gesicht treibt.

Adrenalin macht sich in seinem Körper breit, und während er sich schnellstmöglich die Zähne putzt, sucht er in seinen Kontaktdaten nach der Nummer seines Observationsgruppenführers.

Auf Lautsprecher hört er das Klingelzeichen und spült sich gleichzeitig den weißen Schaum aus dem Mund.

Immer wieder klingelt es, bis endlich abgenommen wird.

»Dumbo, wat willst du?«, tönt es aus der Leitung.

»Fred, er ist da! Er kommt! Wach auf und ruf die anderen an. Ich melde mich in fünfzehn Minuten mit Näherem«, antwortet Dombrowski drängend.

»Hab’s verstanden. Aber gib mir bitte dreißig Minuten. Ich versuche alles, aber ich kann nichts versprechen. Ich melde mich bei dir«, zeigt sich Fred einsichtig.

Dombrowski springt unter die kalte Dusche, um auch die letzten ruhenden Zellen zu aktivieren, rubbelt sich gleich wieder trocken und läuft ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank.

Auf dem Weg dorthin startet er schon einmal den Dienstlaptop, der ein paar Minuten zum Hochfahren benötigt.

Mit Jeans und T-Shirt bekleidet sowie einem Sockenknäuel in der Hand begibt er sich zum Küchentisch, wo er den startenden Laptop kurz betrachtet. Er lässt ihm offenbar noch ausreichend Zeit, um sich ein Müsli zuzubereiten und einen Kakao anzurühren.

Eigentlich wäre wohl ein starker Kaffee zur Erweckung der Lebensgeister angebracht, aber Dombrowski konnte sich noch nie für das dunkle Heißgetränk erwärmen.

Die Außenrollos klappern im Sturm, während die Eingangsmelodie zum Betriebssystem blechern aus den Lautsprechern des Notebooks ertönt. Dombrowski setzt sich an den Küchentisch und aktiviert einen verschlüsselten Kanal, über den er sich ins Polizeinetz einwählen kann.

Er öffnet das Programm, mit dem er die Telefone überwacht, und wählt die Nummer aus, deren Alarm seine Nachtruhe vor Kurzem beendet hat. »Bist du also endlich nach Deutschland eingereist. Mal schauen, wo du bist«, sagt er zu sich selbst, während er in dem Programm herumklickt.

Ein roter, sich fortbewegender Kreis erscheint auf dem Display, der sich zum ersten Mal heute um vier Uhr zweiundvierzig auf der A 280 kurz vor Bunde an der deutsch-niederländischen Grenze eingewählt hat.

»Noch zweieinhalb Stunden, mein Freund, dann haben wir dich.« Dombrowski grinst und nimmt einen genüsslichen Schluck von seinem Kakao.

5

Ruud van der Boek fährt in seinem silbernen Transporter inzwischen auf der Autobahn zwischen Oldenburg und Bremen und hat den grenznahen Bereich verlassen. Links und rechts von ihm wechseln sich die vielen braunen Äcker, auf denen sich im Sommer immer endlos gelbe Rapsfelder befinden, kurzzeitig mit grauen Industriegebieten ab. Der Verkehr ist noch sehr überschaubar. Erst wenige Lastkraftwagen befinden sich wieder auf dem Weg zu ihrem Ziel. Gelegentlich zischen Fahrzeuge trotz der widrigen Umstände mit hoher Geschwindigkeit auf der linken Fahrbahn der zweispurigen Autobahn an Ruud vorbei. Die meisten scheinen jedoch das schlechte Wetter zu meiden und sich noch nicht auf die Schnellstraße zu begeben.

Ruud versucht, sich Kaffee aus seiner silbernen Thermoskanne in einen großen Pappbecher zu gießen, der perfekt in den Getränkehalter des Transporters passt. Aus seinem Rucksack zieht er zusätzlich eine Tüte mit zwei backfrischen Buttercroissants heraus, die er vor jeder Fahrt bei seinem Kumpel Luuk an der Hintertür von dessen Bäckerei in Groningen holt. Ruud liebt es, zu frühstücken, sobald er auf der deutschen Autobahn angekommen ist. Mit niedriger Geschwindigkeit fährt er dann auf dem rechten Fahrstreifen, trinkt seinen zu Hause gekochten Kaffee aus Guatemala und reißt Stück für Stück vom Croissant ab.

Hierbei gerät er nie in Eile, denn er weiß um die bevorstehenden zweieinhalb Stunden, die es noch zu füllen gilt. Er hat es auch schon mal mit Hörbüchern versucht, aber das stört seine Konzentration zu sehr und macht ihn deutlich nervöser, als dass es die Aufregung vertreibt. Während sich die ersten Krümel des Croissants in seinem Schnurrbart verfangen, greift Ruud zu seinem einfachen Tastenhandy und schreibt eine Nachricht an den darin abgespeicherten Kontakt »Aaa« mit dem Inhalt 2,5h.

Er legt das Telefon wieder zurück und trinkt einen kurzen Schluck Kaffee, der ihm noch ein wenig zu heiß ist, schaut in den Rückspiegel und lächelt sich selbst zu.

Zum vollendeten Glück fehlt ihm nur noch der Sonnenaufgang im Osten, der den Himmel über dem flachen Niedersachsen bis zum Horizont in die schönsten orangeroten Töne taucht. Vor allem, wenn leichte Wolken am Himmel stehen und sich von Weiß in zartes Rosa färben, dann fühlt er sich dem Paradies näher denn je.

Heute soll ihm der Sonnenaufgang jedoch nicht vergönnt sein. Mit peitschenden Hieben schlagen die Böen Regen gegen seine Frontscheibe. Der Wind drückt auch weiterhin gegen den großflächigen Transporter, sodass er sich voll auf die Fahrt konzentrieren muss und das Frühstück eher nebenbei einnimmt.

Zusätzlich brummt und piept nun sein Handy in der Ablage. Ruud überlegt kurz, erst nach seiner Frühstückszeremonie nachzuschauen, aber er zögert lieber nicht.

»Aaa« hat ihm ok geschrieben. Mehr braucht es in diesem Moment nicht, deshalb legt er das Handy zurück an seinen Platz, schnippt die Krümel von seiner hellen Discounterjeans und beißt herzhaft ins Croissant, sodass die nächsten Krümel fliegen.

Zufrieden blickt er auf den dunklen Asphalt, denn trotz des Wetters bleibt Ruud zuverlässig wie gewohnt.

Gedankenverloren träumt er von einer ruhigen Zukunft in Ruud’s Bistro, trinkt seinen geliebten Kaffee und isst genüsslich die Croissants. Dabei überhört er die im Radio gemeldeten aktuellen Verkehrsmeldungen für den Großraum Hamburg.

6

Mitten in Dalldorf kurz vor Hamburg steht ein weißes Haus, mit einem großen Garten, in dem bis in die Nacht noch gefeiert wurde. Inzwischen haben Sturm und Regen das Sagen übernommen. In den Straßen des kleinen Dorfes, in dem jeder jeden kennt, ist zu solch früher Uhrzeit kein Mensch unterwegs.

Vor dem Haus stehen drei Wohnmobile, die im Wind geschaukelt werden. Die mühsam aufgehängte Dekoration der Feier fliegt über die Straße und verfängt sich in den gepflegten Hecken und Gärten der Umgebung. Der im Boden verankerte Pavillon kämpft mit aller Kraft gegen den Wind und kann ihm bislang standhalten.

Über eine kleine Treppe gelangt man aus dem Vorgarten ins Haus, aus dessen gefliestem Flur eine Steintreppe in den Keller führt. An den Wänden des Treppenhauses hängen auf Leinwand gedruckte Fotos von Nordlichtern und verschneiten Landschaften. Im Keller angekommen, beginnen großflächige graue Steinfliesen, die dem Raum ein edles Ambiente verleihen. Die Wand zieren Plaketten und Abzeichen verschiedener Polizeidienststellen sowie mehrere Plakate von Filmklassikern. Durch eine Holztür gelangt man in den größten Raum des Kellers. Er teilt sich auf in einen Schankbereich mit Tresen, drei Barhockern, einem großen amerikanischen Kühlschrank mit Eiswürfelspender sowie einer bunten Jukebox mit alten Schallplatten der sechziger und siebziger Jahre. Auf der anderen Seite befindet sich ein gemütlicher Fernsehbereich mit Couch, Sessel, einem großen Fernseher sowie einem Hochflorteppich zwischen den Möbeln.

Laut schnarchend liegt Gerd noch immer in seinem Fernsehsessel. Er hält das Schnapsglas mit dem letzten Schluck in der Hand, zumindest liegt es noch auf seiner Handfläche. Gelegentlich läuft ein Tropfen Marillenschnaps aus dem Glas über seine kräftigen Finger und fällt von der Spitze des kleinen Fingers auf das blaue Velours des Sessels.

Durch den Sturm ist es draußen erheblich abgekühlt, was sich auch im Keller bemerkbar macht, da die Fenster auf Kipp stehen und frischer Luft Zugang gewähren.

Gerd liegt in seinem Sessel noch mit kurzer Cargohose und seinem auf der Feier erhaltenen schwarzen T-Shirt, auf dem in weißen Lettern »Ich war Bulle« geschrieben steht. Die Größe XL ist knapp gewählt, und so grüßt ein wenig vom behaarten Bauch zwischen Hosenbund und T-Shirt.

Die sonst so exakt nach hinten gekämmten Haare fallen langsam zur Seite, weil auch der Kopf sich seitlich gelegt hat und sich passend zur Schlafakustik auf und ab bewegt.

Plötzlich rührt sich nichts mehr bei Gerd. Der Brustkorb hebt sich nicht, auch Atemgeräusche sind keine mehr zu vernehmen.

Die letzte körperliche Anspannung weicht aus Gerds Fingern, wodurch auch das Schnapsglas leicht abwärts rollt. Der Kopf sinkt tiefer gen Brust, die Wangen erschlaffen zunehmend.

Leichtes Gurgeln ist zu hören, als würde ein letzter Tropfen Orangensaft von einem Kind mit dem Strohhalm aus einem Glas gesogen werden. Dann Stille.

Das Schnapsglas rollt aus den Fingern und zerspringt am Steinfußboden. Mit einem erschreckend lauten Schnarcher weckt Gerd sich selbst und atmet die frische Frühjahrsluft in seine Lungen, während er sich langsam aufrichtet.

Mit der rechten Hand greift er sich an den überdehnten Nacken, während er sich mit der linken aus dem Fernsehsessel drückt und im Anschluss den Dienstausweis in seine Hosentasche steckt.

Mit schleppenden Schritten bewegt er sich zur Kellertreppe und schleicht die Stufen hinauf. Sein Kopf pulsiert unter den zugefügten Promillen und schreit nach frischem Wasser. Er ignoriert die Rufe und steigt ins Obergeschoss, wo er bereits vom Schnarchen seiner Dörte in Empfang genommen wird. Heute stört es ihn nicht. Er ist froh, dass er sie hat, und legt sich zu ihr ins Bett, wo er direkt wieder einschläft.

7

In der Winsener Straße im beschaulichen Hamburg-Wilstorf beginnt langsam der erste Berufsverkehr. Kastenwagen von Handwerksbetrieben, Klein- und Mittelklassewagen bewegen sich in schleichendem Tempo stadteinwärts.

In Harburg bezeichnet sich niemand als Hamburger. Man fährt höchstens nach Hamburg oder »in die Stadt«. Ebenso geht es den Hamburgern, die alles südlich der Elbe nicht mehr als Hansestadt anerkennen. Viele Hamburger sind aufgrund der Hamburger Mieten allerdings inzwischen gezwungen, in die Randgebiete und somit auch nach Wilstorf zu ziehen.

Mitten im Berufsverkehr ertönt das laute Grollen der tiefliegenden Sportlimousine von Faruk Simsek. Er fährt allerdings stadtauswärts und somit den meisten Berufspendlern entgegen. Auf seiner Straßenseite fahren kaum Fahrzeuge. Mal gibt er Gas und lässt den Motor schwer aufstöhnen und jede Pferdestärke in die Fahrbahn greifen, um dann das Tempo wieder zu reduzieren, kurzzeitig vor einer Ampel in eine Parklücke zu biegen und von dort den nachfließenden Verkehr zu beobachten.

Sobald die Ampel auf Rot springt, fährt er noch über die Haltelinie und biegt, ohne zu blinken, direkt ab. Hektisch blickt er in den Rückspiegel, während er wie von Sinnen mit Vollgas durch das angrenzende Wohngebiet fährt, mehrfach abbiegt und dann wieder abbremst und schließlich in einer Parklücke in einer verkehrsberuhigten Zone zum Stehen kommt.

Faruk schaltet den Motor aus und steigt aus dem Fahrzeug. Er zündet sich eine Zigarette an und zieht mehrfach heftig an ihr, sodass das Endstück stark aufglüht. Sein Blick wandert immer wieder in die Richtung, aus der er gekommen ist. Der Wind zerrt an seiner Kleidung, und der immer stärker werdende Regen treibt ihn zurück in seinen Wagen. Den Rest der Zigarette lässt er auf den Gehweg fallen, wo er in eine Pfütze fällt und erlischt.

Faruk startet den Wagen wieder, und die weißlich-blaue Beleuchtung des Armaturenbretts hüllt sein Gesicht in einen leichten Schimmer.

Mit aufbrausendem Motor und quietschenden Reifen setzt er sein Gefährt in Bewegung, sodass einzelne Anwohner aus ihren Fenstern schauen, was dort draußen vor sich geht. Die mattschwarze Limousine ist zu diesem Zeitpunkt jedoch längst in die nächste Straße abgebogen.

Faruk nimmt das Gelb der Ampel gerade noch mit und biegt links auf die kreuzende Hauptstraße, wo er zunächst drei Autos auf der linken Fahrspur überholt, um dann mit Vollgas eine Lücke zwischen zwei Autos zu nutzen und auf die Auffahrt zur Bundesstraße zu fahren.

Der Fahrer eines riskant geschnittenen Kleinwagens bedient vehement die Hupe. Er pöbelt dem dunklen Gefährt und dessen rüdem Fahrer nach, doch das nimmt Faruk nicht wahr. Er treibt sein Fahrzeug auf immer höhere Geschwindigkeiten und reduziert sie erst wieder, als er auf die Wilhelmsburger Reichsstraße gelangt. Zu oft ist er hier bereits geblitzt worden, was dem Halter seines Autos immer wieder Probleme mit eingehenden Bußgeldbescheiden verursacht hat.

Der wird dafür ausreichend entlohnt, sich nicht zum Fahrer zu äußern. Faruk selbst darf kein Auto besitzen. Wenn die Sozialbehörde wüsste, dass er einen solchen Wagen erworben hat, würden ihm seine Bezüge gekürzt oder gar gestrichen. Über den Halter läuft auch die Finanzierung. Er hat einen Job und konnte als Geselle in einem Handwerksbetrieb die Bonitätsprüfung der Bank ohne Beanstandung überstehen. Hierfür bekommt er jeden Monat die Rate in bar und ein wenig zum Feiern und Chillen. Es ist eine Win-win-win-Situation für Faruk, seinen Halter und den Verkäufer der Luxuslimousine, denn alle haben, was sie wollen.

Selbst wenn Faruk seine Wohnung nicht vom Amt bezahlen lassen würde, wäre es problematisch, wenn er das Auto auf seinen Namen anmelden würde. Im Abgleich mit den zahlreichen Blitzerfotos kämen die Bullen auf ihn als Fahrer, und wenn er einen Führerschein hätte, dann wäre dieser sicherlich schon längst eingezogen worden.

So spart er sich diese Sorgen und fährt gleich ohne Führerschein munter mit seinem mattschwarzen Sportboliden durch Hamburg, ohne sich Sorgen zu machen, dass ihm oder seinem Auto etwas passieren könnte.

Und wenn er doch einmal wegen Fahrens ohne Führerschein erwischt werden sollte, dann zahlt er halt die paar hundert Euro an die Staatskasse. Als Sozialhilfeempfänger liegt der Tagessatz sowieso nur bei fünf Euro pro Tag, und von Bekannten weiß er, dass bei den ersten Malen nur Geldstrafen verhängt werden. Und wann wird man heutzutage schon von den Bullen kontrolliert? Die haben ganz andere Sorgen, als sich um ihn zu kümmern.

Die niedrige Geschwindigkeit auf der Wilhelmsburger Reichsstraße veranlasst Faruk, sein Smartphone aus der Hosentasche zu ziehen und seine Freundin Charleen anzurufen. Zumal er gerade mitten durch ihren Stadtteil fährt.

Faruk sucht nach dem Namen »Canim« in seinen Kontakten. Es klingelt mehrfach, bis ein leichtes Klicken in der Leitung zu vernehmen ist.

Müdes Schnaufen ist zu hören. Charleen stöhnt leicht auf und säuselt ein gequältes »Schatz« in die Leitung.

»Baby, was machst du?«, fragt Faruk irritiert.

»Schlafen …«, antwortet Charleen nüchtern.

»Was ist los mit dir? Du hörst dich total fertig an.«

»Schatz, ich schlafe noch. Was willst du?«

»Baby, wie redest du mit mir?«, regt sich Faruk auf. »Ich wollte deine Stimme hören, und du kommst mir so, Baby.«

»Schatz, ich bin noch müde. Es ist mitten in der Nacht. Was machst du?«

»Scheiß mal drauf, Baby. Leg dich hin und penn weiter, Baby, statt mit mir zu sprechen. Tss«, schnalzt Faruk, während er kräftig die Nase hochzieht. Seine Augen verengen sich vor Wut, während er verächtlich auf das Display seines Handys blickt.

»Was ist denn? Was habe ich denn getan, Schatz? Was machst du?«, fragt Charleen irritiert, aber Faruk schreit nur noch: »Halt’s Maul, du dreckige Schlampe. Den ganzen Tag stalkst du mich mit deinen Anrufen, und jetzt willst du lieber pennen, wenn ich anrufe, Digger. Ich hab zu tun. Vergiss es. Tschüss!« Er beendet das Gespräch und streicht sich anschließend mit der Hand durch die Haare und seinen Bart.

Charleen liegt im Bett ihrer Einzimmerwohnung im zwölften Stock eines Mehrfamilienhauses im Karl-Arnold-Ring in Hamburg-Kirchdorf. Sie versteht nicht, warum sie Faruk schon wieder so provozieren musste, aber sie nimmt sich fest vor, dass sie das nächste Mal besser gelaunt ans Telefon gehen wird, um ihn nicht wieder zu verärgern. Nun will sie sich aber noch einmal hinlegen, denn in einer Stunde muss sie aufstehen, um sich für die Arbeit in einer nahe gelegenen Kindertagesstätte fertig zu machen. Dort hat sie vor Kurzem eine Ausbildung begonnen. Eventuell meldet sie sich aber auch krank, falls Faruk anruft und sich mit ihr treffen will.

Faruk selbst hat das Telefonat bereits wieder vergessen und fährt von der Wilhelmsburger Reichsstraße direkt auf die A 1, um sich langsam dem eigentlichen Ziel der Fahrt zu nähern.

Er hat aber noch Zeit, viel Zeit bis zu dem Treffen, für das er vor Ort sein muss. Aufmerksam beobachtet er den Verkehr hinter sich. Seit Wilhelmsburg befindet sich ein grauer Familienwagen hinter ihm, der stets den gleichen Abstand zu ihm hält, immer ein, zwei Autos zwischen sich und seiner Limousine lässt. Faruk reduziert seine Geschwindigkeit auf achtzig Kilometer pro Stunde und beobachtet den Mittelklassewagen, während er sich langsam der nächsten Autobahnabfahrt nähert.

Der Verfolger reduziert zunächst die Geschwindigkeit, fährt jedoch weiterhin schneller als Faruk und wechselt auf die linke Spur. Faruk beobachtet abwechselnd den grauen Wagen und die näher kommende Abfahrt.

Als das verfolgende Auto auf seine Höhe kommt, blickt Faruk zu dem Fahrer des grauen Familienwagens hinüber. Er hat braune Haare und einen klar gekämmten Scheitel zur linken Seite. Über einem Hemd trägt er eine Allwetterjacke in Schwarz. Während er an Faruks Wagen vorbeifährt, würdigt er die auffällige schwarzmatte Limousine keines Blickes, sondern konzentriert sich auf die nasse Fahrbahn und den Sturm, der die Fahrzeuge mit seitlichen Böen immer wieder leicht aus der Spur drängt.

Im letzten Moment vor dem Ende der Ausfahrt zieht Faruk seine Limousine auf die rechte Spur der Abfahrt und schaut gleich wieder zu dem Fahrer hinüber, der dem riskanten Manöver sichtlich irritiert nachsieht, bevor er sich wieder auf die eigene Fahrbahn konzentriert.

»Hab ich dich, du Arschloch«, freut sich Faruk lautstark über sein gelungenes Manöver, um den leidigen Verfolger loszuwerden. »Dreckiger Bullenbastard!«, schimpft er, streicht sich mit der rechten Hand über den Bart und beginnt, ihn an der Spitze zu zwirbeln. Zufrieden und mit selbstherrlicher Miene fährt er weiter auf die Ringstraße, die ihn über den Horner Kreisel wieder auf die A 24 bringen soll, um sich ohne hartnäckige Verfolger dem eigentlichen Ziel zu nähern.

8

Der Sturm peitscht mit scharfen Böen durch die Straßen Hamburgs. Die Bäume im Eichtalpark biegen sich im Wind, und niemand nutzt die frühen Morgenstunden, um zu walken oder zu joggen. Die Wege sind vom starken Regen aufgeweicht, und in jeder Mulde sammelt sich das Wasser zu großen Pfützen. Selbst die Enten haben sich zurückgezogen und kauern mit dem Kopf im Gefieder unter Bäumen und Büschen in der Hoffnung auf baldige Verbesserung der Wetterlage.

In einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Blick auf den Eichtalpark sitzt vor einer leeren Müslischale, einer leeren Tasse und seinem Dienstlaptop Kriminalkommissar Tim Dombrowski und verfolgt gebannt die Bewegung der überwachten Rufnummer auf dem Bildschirm.

Der Nutzer befindet sich inzwischen schon hinter Oldenburg in Richtung Delmenhorst und wird bald Bremen erreichen, wo er auf die A 1 in Richtung Hamburg fahren dürfte.

Dombrowski wollte eigentlich schon längst ins Büro aufbrechen, aber noch lauert er auf den Rückruf von Fred, der ihm die Unterstützung seiner Gruppe zusagen muss.

Ohne unterstützende Kräfte braucht er gar nicht ins Büro zu fahren, sondern kann den Laptop gleich wieder zuklappen, denn er weiß bislang weder, wer der Nutzer ist, noch, was er für ein Auto fährt.

Eine erste Weg-Zeit-Berechnung der Geschwindigkeit hat ergeben, dass der Nutzer der Rufnummer zwischen einhundertzehn und einhundertzwanzig Kilometer pro Stunde fahren dürfte. Einen Lastkraftwagen konnte er somit als Fahrzeug bereits ausschließen. Ansonsten ist alles möglich.

Mehrfach hat Dombrowski schon sein Smartphone in die Hand genommen und den Kontakt von Fred herausgesucht, aber er hat stets seine Ungeduld gezügelt und die von Fred gewünschte Frist beachtet.

Gerade legt er wieder sein Smartphone auf den Tisch zurück, nachdem er geschaut hat, wie lange das letzte Telefonat her ist.

Sie haben vor fünfundzwanzig Minuten miteinander telefoniert. In fünf Minuten würde er Fred also ohne schlechtes Gewissen anrufen und nachhaken können.

Er hätte schon längst die Kollegen seiner Dienststelle alarmiert. Aber die liegen nach dem großen Fest von Gerd am Vorabend vermutlich noch alle mit dickem Kopf in ihren Betten und schlafen ihren Rausch aus.

Bei dem Gedanken an Gerds Pensionierung wird Dombrowski nachdenklich. Einen solchen Typen werden sie schwer an ihrer Dienststelle ersetzen können. So wie er kann man nicht werden. So ist man oder ist es eben meistens nicht.

Die Warterei macht Dombrowski wahnsinnig. Er verdrängt die sentimentalen Gedanken, klemmt den Laptop halb geöffnet unter den Arm, schnappt sich seine Jacke und die Autoschlüssel und läuft die drei Etagen hinab bis in den Keller. Durch den Keller kommt er auf die Rückseite des Hauses, wo sein Wagen steht.

Dombrowski beugt sich über den Laptop, um ihn nicht dem Regen auszusetzen, und rennt zu seinem Fahrzeug, legt ihn auf den Beifahrersitz und steigt schnell auf der Fahrerseite in seinen kleinen Zweisitzer.

»So ein Dreckswetter«, flucht er noch, bevor er den Motor startet und rückwärts aus der Parklücke hinausfährt.

Er gibt Vollgas, und der kleine Wagen röhrt die Walddörferstraße hinab in Richtung Hamburger Ringstraße, über die er zum Präsidium gelangen will.

In diesem Moment klingelt sein Handy. Endlich der ersehnte Anruf von Fred. Dombrowski streicht über den grünen Pfeil auf dem Display, um ihn entgegenzunehmen.

»Fred, mein liebster Freund, ich akzeptiere nur gute Nachrichten«, begrüßt er seinen Hoffnungsträger frohlockend.

»Ja, das habe ich nicht anders erwartet. Ich konnte bereits sechs Leute mobilisieren, vielleicht kommen noch ein, zwei hinzu, die ich bislang nicht erreichen konnte. Es kann also losgehen. Wo ist denn unser unbekannter Freund gerade?«, antwortet ein spürbar motivierter Fahnder.

Dombrowski verlangsamt seine Geschwindigkeit und aktualisiert die Übersicht auf dem Laptop. Das Handy stellt er auf Lautsprecher und steckt es in ein Fach unterhalb des Radios. »Er ist im Moment ungefähr zwanzig Kilometer vor Delmenhorst. Die bisherige Strecke ist er mit hundertzehn bis hundertzwanzig Stundenkilometern gefahren. Ich bin in fünfzehn Minuten im Büro und komme dann zu euch auf den Kanal. Ich rechne gleich noch mal nach, ob er die Geschwindigkeit inzwischen geändert hat. Auf gutes Gelingen, mein Bester!«

»Hör auf, mir zu schmeicheln. Wir fahren ihm entgegen, so weit wir kommen, und versuchen dann, die Nadel im Heuhaufen zu finden. Bis gleich dann.« Fred beendet das Gespräch, und Dombrowski konzentriert sich wieder voll auf die Fahrt zu seinem Arbeitsplatz.

Die Baustellen auf den Straßen Hamburgs verengen die Wege, aber um halb sechs sind sie zum Glück auch ausreichend frei. Dombrowski kommt schnell zum Polizeipräsidium durch, wo er direkt davor einen Parkplatz findet und mit dem Laptop unterm Arm in das sternförmige Gebäude rennt.

Der Polizeistern ist ein eindrucksvolles Gebäude mit seinen zehn Trakten, die strahlenförmig von einem runden Mittelbau abgehen. Im Inneren gleicht das fünfstöckige Gebäude jedoch häufig einer Baustelle. Schnell hat man gemerkt, dass es eigentlich zu wenig Platz gab und die eine oder andere Sache beim Bau einfach nicht berücksichtigt wurde. Es war ein klassisches Bauprojekt der öffentlichen Hand, nur mit dem Allernötigsten bedacht und dafür im Ergebnis wiederum viel zu teuer.

Mit seinem Dienstausweis gelangt Dombrowski durch die Eingangsschleuse und zu seinem Bürotrakt des Rauschgiftdezernats.

Wie immer um diese frühe Zeit brennt nur in einem einzigen Büro auf dem Flur Licht. Otto Kuhnert sitzt mal wieder an seinem Platz und starrt auf seinen Bildschirm. Früher, als in den Büros noch geraucht werden durfte, hätte man ihn vor blauem Dunst kaum erkennen können. Das hat sich mittlerweile jedoch geändert, und so nutzt er stündlich den Gang in die offene Tiefgarage, um seinem Laster zu frönen. Seine übrige Ernährung besteht aus Keksen und Kaffee, und so sieht er auch aus. Mit wachem Blick und leichtem Bauchvorsprung tippt er wie wild auf seiner Tastatur und nutzt die ruhigen Stunden des frühen Vogels, um die ersten Eintreffenden mit Ermittlungsergebnissen zu überraschen.

Erschrocken blickt er aus seinem Büro, als ihm gegenüber plötzlich das Licht angeht.

»Dumbo, wat willst du denn schon hier? Aus’m Bett gefallen, oder was ist da los?«, begrüßt er in gewohnt freundlicher Manier den als Langschläfer verschrienen Dombrowski.

»Ich richte mich halt nach unserem Gegenüber und nicht nach meiner senilen Bettflucht«, antwortet Dombrowski.

»Arschloch!«, erwidert Otto fast liebevoll mit einem Grinsen auf den Lippen.

»Wir hatten doch diesen anonymen Hinweis auf einen Lieferanten von großen Mengen Kokain und Marihuana aus den Niederlanden nach Hamburg«, ignoriert Dombrowski die Beleidigung und beginnt zu erzählen. »Er soll unbeschriebene Personen als Rauschgiftkuriere nutzen, um die Betäubungsmittel hierher zu transportieren. Die angegebene Nummer nutzt er allerdings nicht mehr und ist auch auf falsche Personalien angemeldet. Die Verkehrsdaten haben ergeben, dass er in der Vergangenheit zu zwei holländischen Handynummern Kontakt hatte, die ja durchaus den Rauschgiftkurieren gehören könnten. Seit letzter Woche überwachen wir die holländischen Nummern. Bislang ist auf den Leitungen nichts gelaufen. Sie waren zwar eingeschaltet, aber im Ausland aufhältig. Vor gut fünfzig Minuten wurde ich vom Bereichsalarm geweckt, dass eine der beiden nach Deutschland eingereist ist. Fred fährt ihr gerade entgegen, und dann suchen wir mit den Geodaten aus der Handyüberwachung nach dem Fahrzeug, das im Bereich des Handys fährt.«

»Klingt doch schon einmal nach ’nem Plan. Und was wollt ihr dann machen?«, fragt Otto, während er sich mehrfach mit der Zunge über die Lippe fährt und anschließend langsam mit der Hand über den Mund streicht.

»Erst mal müssen wir ihn finden, und dann schauen wir, was möglich ist. Wir haben bislang keine Ahnung, wer er ist oder womit er fährt«, resümiert Dombrowski. Er geht zurück in sein Büro und startet den Rechner, während er die Nummer von Fred wählt.

9

Am Dreieck Stuhr biegt ein silberner Kastenwagen auf die A 1 in Richtung Hamburg. Er trägt keinerlei Werbung oder Aufschriften, die einen Hinweis auf seine Herkunft oder den Besitzer zulassen. Lediglich das gelbe Kennzeichen mit schwarzer Schrift gibt Rückschluss darauf, dass das Auto in den Niederlanden angemeldet ist.

Das Fahrzeug befindet sich in einem astreinen Zustand, es wirkt sogar so, als wäre es extra vor der Fahrt und trotz des angekündigten Unwetters gewaschen worden. Der Lack des Transporters blitzt und blinkt, wenn die Scheinwerfer der überholenden Wagen ihn kurz anleuchten.

Der Regen ist ein bisschen weniger geworden, und so schaffen die Scheibenwischer es inzwischen wieder mühelos, das Regenwasser von den Scheiben zu wischen. Sie müssen nicht einmal mehr in voller Geschwindigkeit arbeiten, und die Böen sind auch nicht mehr so stark, dass der Fahrer stets Sorge haben muss, in die Böschung der Fahrbahn gedrückt zu werden.

Ruud van der Boek hat inzwischen sein Frühstück abgeschlossen und fährt wieder mit einhundertdreißig Stundenkilometern, die er auch in den Niederlanden zu fahren gewohnt ist. Eine höhere Geschwindigkeit findet er nicht zweckfördernd, denn ein Kastenwagen mit hohem Tempo empfindet er persönlich immer als auffällig. Zudem würde er wesentlich mehr Benzin verbrauchen, und das muss er selbst zahlen. Ebenso den Unterhalt für den Transporter und die eingebauten Besonderheiten, die er für seinen Job benötigt.

Außerdem will er nicht vor der Zeit am altgedienten Umschlagplatz erscheinen. Er müsste dann sowieso auf die Empfänger warten, die erfahrungsgemäß nie pünktlich sind. Sie beklagen sich immer nur, wenn die Fahrer nicht rechtzeitig kommen, aber wenn die Fahrer warten müssen und dadurch unnötiges Risiko eingehen, ist es ihnen egal.

Ruud liebt es zu fahren. Rumstehen hingegen mag er gar nicht, aber wenn er in gleichmäßigem Tempo auf der Autobahn fährt, die Landschaften an ihm vorbeifliegen und er kurzzeitige Einblicke in die Fahrzeuge seiner Wegbegleiter erhält, dann fühlt er sich rundum wohl.

Manchmal überholen ihn Familien, die frühmorgens mit ihrem Kombi an ihm vorbeiziehen und den Kofferraum voll mit Gepäck haben, teilweise mehrere Fahrräder auf dem Dach oder auf der Anhängerkupplung mit sich führen. Dann gerät er immer in Erinnerungen, wie er mit seiner Familie mit dem Auto nach Südfrankreich oder Dänemark in einen wundervollen Urlaub vom Alltagsstress aufgebrochen ist. Als Selbstständiger ist es zwar schwierig gewesen, den Club allein zu lassen, aber es haben sich immer Wege gefunden. Damals hatte er auch noch gute Mitarbeiter, die alles in seinem Sinne fortgeführt haben, während er mit seinen beiden Söhnen Jan und Jeroen sowie seiner Frau Britt mehrere Wochen ausgespannt hat.

Ruud liebt die Erinnerungen an die schönen Tage in seinem Leben. Sowieso tut er das alles nur, um seiner Familie ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Er weiß, dass er ein großes Risiko eingeht, aber er sieht darin seine einzige Chance, der Familie auch weiterhin die gewohnten Annehmlichkeiten zu ermöglichen.

Sein Arbeitseifer für den Club hat damals seine Beziehung zu Britt stark strapaziert. Er hat Tag und Nacht für den Club gekämpft und damit auch für den Lebensstandard der Familie, aber dabei total vergessen, dass sie auf diese Weise nichts von ihm hatte. Sie haben sich zunehmend voneinander entfernt, bis er die Reißleine gezogen und den Club abgegeben hat.

Durch den neuen Job hat er wieder viel mehr Zeit mit seiner Familie, auch weiterhin gutes Geld zur Verfügung und kann den verbleibenden Rest nutzen, um zumindest die Zinsen seiner Schulden zu zahlen. An guten Tagen, oder wenn er mal wieder mehr Touren fährt, als er sich eigentlich im Sinne der Familie vorgenommen hat, tilgt er auch mal größere Beträge bei seinen Gläubigern.

Doch so richtig ändert es nichts an seiner Restschuld. Es gibt immer wieder unvereinbarte Strafzinsen für Zahlungsverzug oder Unstimmigkeiten zwischen der eigenen Vorstellung der Restschuld und der Vorstellung derjenigen, die ihm sofort deutlich machen, dass ihre Zahlen die richtigen sind.

Manchmal glaubt Ruud, dass er ewig für sie fahren muss, um die Schulden bezahlen zu können. Aber sie lassen ihn leben. Gut leben sogar. Er verdient mehr als zu den guten Zeiten seines Clubs und das mit wesentlich weniger Arbeit. Und fahren mag er ja sowieso gerne.

Ruud unterbricht die Gedankenspiele und Träumereien, denn mit einem Jingle werden im Radio die Verkehrsmeldungen angekündigt.

»A 1, Bremen in Richtung Hamburg, zwischen dem Maschener Kreuz und Hamburg-Harburg ist durch den Orkan Axel ein Tanklaster umgekippt und vollständig ausgebrannt. Es wird gebeten, den Unfallort weiträumig zu umfahren.«

Das gute Gefühl des Morgens ist verflogen. Genau dort muss er lang, um an seinen Zielort zu gelangen.

Er verschafft sich kurz Luft zum klaren Denken, indem er lautstark auf Niederländisch flucht und mit der Hand mehrfach auf das Lenkrad schlägt.

Fieberhaft überlegt er, wie er fahren könnte. Über die A 7 will er nicht, dann müsste er durch das gesamte Hamburger Stadtgebiet, was er tunlichst vermeiden möchte. Ebenso wenig will er über die Wilhelmsburger Reichsstraße zu seinem Ziel gelangen. Bis er dort eintrifft, würde der gesamte Hamburger Berufsverkehr feststecken. Er könnte Stunden im Stau stehen und den Termin somit nicht einhalten. Nachdenklich fährt sich Ruud mit der Hand über seinen dünnen Schnurrbart.

Mehr Strecken fallen ihm auf Anhieb nicht ein. Er wird erst einmal anhalten, um auf einen Straßenplan zu schauen. In diesem Moment hasst er sich dafür, dass er sich noch kein neues Smartphone gekauft hat, das ihm die schnellsten Wege aufzeigen könnte, nachdem ihm sein altes vor zwei Tagen aus der Hand gerutscht und direkt in eine Gracht gefallen ist. Auch sein Transporter ist zwar noch gut in Schuss für sein Alter, aber verfügt ebenfalls nicht über ein Navigationsgerät.

Er beschließt, an der Raststätte Grundbergsee abzufahren und ein wenig Geld in einen Straßenatlas zu investieren. Den kann man immer mal gebrauchen, wenn so etwas wieder passiert, und früher ist er auch mit Straßenkarten an jeden Urlaubsort gekommen, egal ob am Mittelmeer oder an der Nordsee.

10

In der Wilstorfer Straße beginnt langsam wieder das Leben auf den Straßen. Erste Mitarbeiter der Geschäfte im Phönix Center kommen zur Arbeit. Dick eingehüllt in regenfeste Kleidung oder mit Regenschirm, der jedoch aufgrund der Böen mit beiden Händen festgehalten werden muss.

Im Café International leeren sich langsam die Tische. Durch die offene Eingangstür und den Wind verzieht sich der blaue Dunst aus der Lokalität.

Das Gemurmel im Raum hat nachgelassen, und die Geräusche der piependen Spielautomaten übernehmen die akustische Kulisse des Cafés.

An Cemals Tisch sitzt inzwischen ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, mit strohblondem Haar und dunkelbraunen Augen. Er ist braungebrannt, und sein Körper kann seine Form unmöglich nur von Hanteln und hartem Training haben. Er hat Arme, wie andere Beine haben, auf die vom Handgelenk bis zum T-Shirt-Ärmel dunkle Skelette, Totenschädel und Kreuze tätowiert sind. Auf seinem Hals prangen drei große Sechsen, die von rotäugigen Köpfen umfasst sind.

Sein Haar ist an den Seiten wegrasiert und die verbleibende Haarinsel auf dem Kopf ist streng nach hinten zu einem kleinen Zopf gebunden. Er trägt einen relativ kurz geschnittenen Vollbart. Lediglich oberhalb der Lippe ist er glattrasiert.

Cemal und der junge Mann stecken die Köpfe eng zusammen und bereden etwas, wobei Cemal eindeutig bestimmend ist und die Kontaktperson fragend wirkt.

Man redet leise miteinander, sodass niemand im Raum hören kann, was besprochen wird. Cemal lässt immer wieder den Blick durch den Raum wandern und beobachtet die anwesenden Leute, während er dem lauscht, was der Mann ihm mitzuteilen hat. Wenn er antwortet, dann schaut er seinem Gegenüber direkt und nachdrücklich in die Augen.

Am Schluss des Gesprächs nicken beide sich gegenseitig zu und schlagen die Hände ineinander, als würde man versuchen, die eigenen Vorstellungen im Armdrücken durchzusetzen. Doch bevor es dazu kommt, zieht man sich aneinander, gibt sich links und rechts einen Kuss an der Wange vorbei in die Luft und löst die Hände voneinander.

Der Mann verlässt das Café International direkt im Anschluss und besteigt einen vor der Tür abgestellten schwarzen Ford Mustang GT. Das blecherne Aufbrummen des PS-starken Motors ist bis an den Tisch von Cemal zu hören, der in der Zwischenzeit sein Smartphone aus der Jackentasche genommen hat, um eine Nachricht zu schreiben.

Nachdem er es wieder weggesteckt hat, steht er auf und begibt sich langsamen Schrittes aus dem Laden.

Fast zeitgleich erhebt sich von einem anderen Tisch ein gedrungener, dicklicher Südländer, der Cemal bereits den gesamten Abend gegenübergesessen hat. Sein Blick ist starr auf Cemal gerichtet, der ihm jedoch keine Beachtung schenkt und über den klebrigen, nassen Boden langsam aus dem Café International hinausgeht.

Vor der Tür geht Cemal durch den stürmischen Regen auf eine weiße, breitspurige Geländelimousine zu, die ebenfalls unmittelbar vor dem Café geparkt steht. Der kleinere Mann geht direkt hinter ihm her und kommt langsam dichter an ihn heran. Die Hände trägt er tief in seinen Jackentaschen vergraben, das Cap ist in die Stirn gezogen. Der Kragen der schwarzen Alpha-Industries-Bomberjacke ist aufgestellt, sodass von seinem Gesicht kaum mehr als die auffällig große Nase und die schiefe, unrasierte Mundpartie zu erkennen ist. Einzelne Autos fahren durch die Wilstorfer Straße und lassen die Gischt der Pfützen auf die Gehwege spritzen.

Cemal geht dichter an den Geländewagen heran, und sein Verfolger ist bereits fast auf seiner Höhe. Aus seiner rechten Jackentasche zieht der Mann einen schwarzen Gegenstand, den er in seiner geballten Faust verbirgt. Stärker werdender Regen fällt auf sie nieder, und das Licht der Laternen wirft die sich annähernden Schatten beider Personen auf die hellgrauen Waschbetonplatten. Kurz bevor Cemal seinen Wagen erreicht, erhebt die Person den Gegenstand in seine Richtung, drückt drauf und öffnet damit die Zentralverriegelung des Fahrzeugs.

Cemal steigt auf der Beifahrerseite ein, während der Mann den Fahrersitz besteigt. Nach kurzer Zeit setzt sich der Geländewagen in Bewegung und biegt direkt ab in die Tiefen des angrenzenden Phönixviertels, wo er im Schatten der Häuser und der einsetzenden Morgendämmerung entschwindet.

11

Mitten durch Hamburg-Horn dröhnt eine schwarzmatte Limousine mit wummernden Bässen über die Hauptstraßen. Nachrichten oder Verkehrsmeldungen wären in der getunten Limousine aufgrund der brummend-scheppernden Motorengeräusche sowieso nicht richtig zu verstehen gewesen. Daher ist es für Faruk auch keine Frage, dass er seine deutsche Gangsterrapmusik den örtlichen Radiosendern vorzieht. Zumal er sich eigentlich noch nie für Nachrichten jeglicher Art interessiert hat.

Er verinnerlicht lieber mit Inbrunst die egomanischen Texte, die das Leben als Straßenkriminelle heroisieren. Teilweise rappt er die ihm bekannten und verständlichen Passagen lautstark mit, streckt Daumen und kleinen Finger von der halb geballten Faust ab und klopft den Rhythmus der Bässe mit den mittleren Fingern auf das Lenkrad. Dabei wippt und nickt er mit dem Kopf, zieht die Oberlippe einseitig zur Nase, und zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine tiefe Falte.

In seiner roten Trainingshose vibriert sein Smartphone. Er hat es immer nur auf Vibration eingestellt, doch aktuell hätte er das Piepen für die empfangene Nachricht sowieso nicht gehört.

Faruk löst die Faust und greift in die Tasche, während er auf die Auffahrt am Horner Kreisel zur A 24 fährt. Langsam zieht er das Handy heraus und gibt Gas, wodurch er stark beschleunigt und in den weißen Ledersitz gedrückt wird.

Nachdem er den Beschleunigungsstreifen verlassen hat und auf die linke Spur gewechselt ist, schaut er auf das Display, das eine Nachricht von Cemal anzeigt. Er streift über den Bildschirm und gibt das Passwort ein. Dabei blickt er mehrfach auf, um die nasse Autobahn im Blick zu behalten und nicht versehentlich in die Leitplanke zu fahren.

Die Kombination aus großen und kleinen Buchstaben sowie Sonderzeichen und Zahlen hat er mühevoll auswendig gelernt und kann sie inzwischen fast blind eingeben. Nirgendwo hat er dieses Passwort aufgeschrieben oder gespeichert, und niemand würde es schaffen, den Zugang zu knacken und an die Inhalte seines Handys zu gelangen. Lediglich zehn Versuche hat derjenige, der sich daran probieren würde, dann löscht sich das gesamte Mobiltelefon von allein, ohne eine Chance auf Wiederherstellung. Aber dieses Handy würde er ohnehin niemandem in die Hände kommen lassen. Er führt es immer bei sich. Nur wenn er schläft, legt er es neben sich ab.

Mit einem Vibrieren öffnet sich das Betriebssystem, und er kann im verschlüsselten Messenger die Nachricht von Cemal öffnen.

5 Hasen für Viking, wie immer – 13 Uhr nicht später.

Faruk antwortet mit ok und aktiviert wieder den passwortgeschützten Sperrbildschirm. Das Handy lässt er mit zwei Fingern in seine Hosentasche gleiten, drückt noch einmal nach, dass es auch sicher sitzt und nicht rausrutschen kann, und beginnt wieder im Rhythmus der Bässe auf sein Lenkrad zu klopfen.

Die Straße fliegt unter den breiten Reifen seiner Limousine dahin. An der Ausfahrt HH-Jenfeld setzt er den Blinker rechts, um von der Autobahn wieder abzufahren. Im Rückspiegel beobachtet er, ob es ihm jemand gleichtut. Der silberne Sportwagen direkt hinter ihm reagiert sofort und setzt den Blinker links, wechselt die Seite und überholt Faruk auf der linken Spur.

Der dahinterfahrende Van wird weder langsamer noch schneller. Er setzt keinen Blinker oder fährt dichter an den langsamer werdenden mattschwarzen Wagen heran, den Faruk nun auf die Abfahrtspur steuert. Auf der linken Fahrbahn kann Faruk eine silberfarbene Limousine erkennen, die zunächst auf die rechte Spur wechselt, den Blinker beibehält und mit ihm zusammen im Anschluss die Abfahrt nimmt. Aufgrund der besser werdenden Lichtverhältnisse kann er erkennen, dass sich im Fahrzeug ein Fahrer und eine Beifahrerin mit längeren Haaren befinden. Der Regen auf der eigenen Heckscheibe und der noch bestehende Abstand verhindern jedoch, dass Faruk die Personen genauer sehen kann.

Am Ende der Abfahrt angekommen, setzt Faruk rechtzeitig den linken Blinker und hält an der roten Ampel an. Die ganze Zeit beobachtet er die beiden in seinem Rückspiegel. Nachdem er den Blinker gesetzt hat, beginnt auch die silberne Limousine nach links zu blinken und ihm auf die linke Abbiegespur in Richtung Billstedt zu folgen. Sie kommt langsam und leise an sein Fahrzeug herangerollt und steht nun direkt hinter Faruk an der Ampel.

Die rote Ampel scheint grell in Faruks Gesicht, aber er blickt nur in den Spiegel. Der Schein reicht ihm schon, um zu wissen, dass er noch nicht losfahren muss.

Unruhig betrachtet er die Personen im Fahrzeug hinter sich. Die Limousine ist klassisch von der Stange gekauft. Keine Extras, keine besondere Innenausstattung, eine Standardlackierung in Silber. Die Beifahrerin schätzt Faruk auf Ende zwanzig. Blonde Haare fallen unter einer dunklen Mütze heraus auf ihre Schultern. Das Gesicht wirkt attraktiv, ist durch Schminke zurechtgemacht. Sie schaut immer wieder zu ihm nach vorne. Manchmal hat er das Gefühl, dass sie direkt zu ihm in den Spiegel blickt. Anschließend sagt sie etwas zu dem Fahrer, ohne diesen dabei anzuschauen. Der Fahrer hingegen ist ein grauhaariger Mann in seinen Fünfzigern. Vom Alter her könnte er ihr Vater sein. Was machen die beiden um diese Uhrzeit an dieser Stelle zusammen, wenn sie nicht wegen Faruk hier sind?

Der Fahrer guckt durchweg desinteressiert aus seiner Seitenscheibe. Auch wenn die Frau zu ihm spricht, blickt er nicht zu ihr herüber. Er scheint nicht einmal zu antworten. Hinter der silbernen Limousine hat sich inzwischen ein grauer Familienwagen platziert. Mehr kann Faruk nicht erkennen. Bis auf das Dach wird er durch den BMW verdeckt.

Der Fahrer schaut noch immer aus dem Seitenfenster hinaus, zeigt keine Regung, während die Beifahrerin Faruk über den Spiegel direkt in die Augen blickt. Nachdem sie Faruks aufmerksamen Blick bemerkt, starrt sie abrupt aus ihrem Seitenfenster. Beobachtet sie ihn, oder will sie gar mit ihm flirten? Spendet der Fahrer nur den Bäumen und Büschen an der Straße, die von den Böen hin und her gewogen werden, seine Aufmerksamkeit, oder spielt er das Desinteresse an Faruk und seinem auffälligen Wagen vielleicht nur vor? Faruk ist irritiert, aber in solchen Situationen glaubt er nicht an Zufälle. Er macht lieber das, was er an dieser Stelle immer zu tun pflegt. Das rote Licht scheint noch immer auf sein Gesicht. Er konzentriert sich nur noch auf die Ampel. Er hat gesehen, was er sehen wollte, mehr braucht er nicht, um sich bestätigt zu fühlen. In dem Moment, als auch das gelbe Licht auf sein Gesicht fällt, drückt er auf das Gaspedal, reißt den Lenker zum U-Turn herum und fährt mit quietschenden Reifen direkt wieder auf die Autobahnauffahrt zur A 24 hinauf. Hierbei schaut er genau auf die hinter ihm fahrenden Wagen und versucht, sich die Insassen und Fahrzeuge so gut es geht zu merken, für den Fall, dass sie ihm heute nochmals begegnen sollten.

Jetzt folgt ihm keiner der Wagen. Er kann noch in seinem Rückspiegel sehen, wie sie beide langsam in Richtung Billstedt abbiegen, während er zur Autobahn auffährt. Er beschleunigt seine Limousine mit aller Kraft auf einhundertfünfzig Stundenkilometer und fährt nun wieder gen Norden, zu seinem eigentlichen Ziel.

Die Rapmusik tritt in seinem Ohr langsam wieder in den Vordergrund. Bis eben hat er sie gar nicht mehr gehört, viel zu sehr hat er sich auf das konzentriert, was seine Augen wahrgenommen haben. Sein Puls schlägt ihm bis zum Hals. Er erhöht an seinem Lenkrad noch einmal die Lautstärke, streicht sich über die langen Haare. Seinen Blick richtet er auf den von Feuchtigkeit dunklen Asphalt, über dem die Tropfen vorbeifahrender Fahrzeuge ständig wie ein feuchter Nebel schweben.

12

Vor dem Polizeistern in Alsterdorf scheint gerade die Welt unterzugehen. Starkregen und Hagel wechseln sich ab. Fingernagelgroße Hagelkörner landen auf dem Fenstervorsprung des zweiten Stockwerks. Geistesabwesend beobachtet Tim Dombrowski, wie sie dort tanzen und springen.

Er hält noch immer den Telefonhörer ans Ohr und wartet darauf, dass sich Fred am anderen Ende der Leitung endlich meldet. Das Freizeichen ist bereits mehrere Male ertönt, und Dombrowski spielt mit dem Gedanken, wieder aufzulegen, um es kurze Zeit später nochmals zu versuchen, als sich Fred endlich meldet.