Der Bulle von Hamburg - Ben Westphal - E-Book
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Der Bulle von Hamburg E-Book

Ben Westphal

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Beschreibung

Ein intensiver und authentischer Krimi mit Insiderwissen – Schonungslose Einblicke in die Organisierte Kriminalität. Der ehemalige Rauschgiftfahnder Gerd Sehling ist jetzt Coach für Deeskalation, denn Ruhestand ist gar nichts für ihn. Eines Tages fehlt in einem seiner Kurse ein Schüler, was ihm Anlass zur Sorge gibt. Auf der Suche nach seinem Schützling gerät Sehling zwischen die Fronten: auf der einen Seite seine ehemaligen Kollegen vom Dezernat und auf der anderen ein in Hamburg aktiver Drogenring. Ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt ...

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Ben Westphal, 1981 in Hamburg geboren, machte nach dem Abitur eine Ausbildung als Kriminalbeamter. 2006 wechselte er ins Rauschgiftdezernat. Einige Jahre später begann er, Rauschgift-Krimis mit Hamburg-Bezug zu schreiben – und was als einmaliges Pensionsgeschenk für einen Kollegen begann, wurde zu einer Leidenschaft fürs Schreiben.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase.de/FloKu., pixabay.com/rcvd

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-147-8

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für ’n Bullen ist »Bulle« doch keine Beleidigung.

Detlef »Dedl« Heymann, Rauschgiftfahnder (a.

1

Unweit vom Wandsbeker Markt in Hamburg schleicht Kevin Schröter über die matschigen Wege durch ein Gehölz. Der Regen der letzten Tage hat sie aufgeweicht, und so schnalzen seine hellen Turnschuhe bei jedem Schritt. Dennoch wollte er lieber durch den kleinen Wald gehen, um zu dem Treffpunkt mit Claas zu gelangen.

In seiner Sprachnachricht hat er sich bedrückt angehört. Nicht so fröhlich und gelöst wie sonst. Auch der Treffpunkt ist ungewöhnlich. Noch nie haben sie sich in dieser dunklen Sackgasse am Eingang zum Gehölz getroffen. Es sei wichtig, hat Claas ihm versichert und seinen Standort per Messenger geschickt. So schnell es geht, soll Kevin kommen, und die Kohle soll er mitbringen, hat Claas betont. Alles, was er hat. Doch erst einmal will Kevin sich anhören, wofür seine Reserven so dringend benötigt werden.

Unruhe macht sich in Kevin breit, je näher er dem Treffpunkt kommt. Die Sackgasse ist gleich erreicht, und er kann schon die Silhouette der Limousine von Claas sehen. Das Licht ist aus, auch der Motor scheint nicht zu laufen. Stille liegt über allem, nur der Wind pfeift durch die restlichen Blätter, die noch an den Zweigen der Bäume hängen. Das bunte Laub erscheint grau im Licht der Dämmerung. Kevin hätte jetzt sowieso keinen Sinn für die Schönheit der Natur.

Er zieht noch einmal kräftig an seiner Zigarette und lässt sie in eine Pfütze fallen, sodass die Glut erlischt. Die kurzen dunkelblonden Haare hat er mit Gel zu einer igelhaften Frisur drapiert. Am Kinn trägt er einen Ziegenbart, den er zu einem Zopf geflochten hat.

Kevin bleibt stehen. Er kann das Auto von Claas nun erkennen. Kurz beobachtet er das Umfeld. Niemand zu sehen. Hierher verirren sich die Menschen lediglich im Sommer, wenn der Eisladen am Anfang der Sackgasse geöffnet hat. Der hat bereits Winterpause, kein Wunder bei diesem trüben Wetter.

Eine Hand winkt im Fahrzeug. Es scheint Claas zu sein, der in einem dunklen Anzug hinter dem Lenkrad sitzt. Das schwache Licht der Straßenlaterne fällt durch die Windschutzscheibe und lässt ein helles Hemd erahnen, als Kevin dichter an das Fahrzeug herankommt. Er wundert sich, warum Claas heute keine Krawatte trägt, auf die er sonst immer großen Wert legt, doch er ist sich sicher, dass er es ist, und tritt an die Beifahrerseite heran.

Kevin öffnet die Tür und setzt sich neben ihn. »Moin, Claas, was ist denn los, Alter? Du hast mir tierische Sorgen gemacht, als ich die Nachricht gehört habe.« Er zieht die Tür zu, und das Licht im Fahrzeug geht gleich wieder aus.

Ungewohnt lange kommt keine Antwort von Claas, und Kevin schaut zu seinem Freund. Ein Schreck durchfährt ihn, als er dessen Gesichtsausdruck sieht. Claas’ ansonsten stets blasses Gesicht ist rot. Seine Augen quellen leicht hervor, er schnappt mit weit aufgerissenem Mund nach Luft. Ein Schnaufen und Japsen ist zu hören.

»Nicht umdrehen!«, befiehlt eine tiefe Stimme im Fahrzeugfond.

Kevin schreckt zusammen und schaut reflexhaft nach hinten, sieht einen dunkelhaarigen Mann mit teuflisch lodernden Augen und guckt schnell wieder nach vorne. Sein Herz überschlägt sich, als er aus dem Augenwinkel heraus Claas betrachtet. Dessen dunkle Krawatte liegt eng um Claas’ Hals und führt nach hinten zu dem Mann. Im fahlen Laternenlicht blitzt kurzzeitig eine Klinge auf. Ihre Spitze drückt von hinten in Claas’ Hals, Blutstropfen laufen aus der Wunde über das Metall und versickern in seinem Hemdkragen.

»Ihr schuldet mir Geld. Achtzigtausend Euro sind es bereits«, sagt der Mann hinter ihnen mit ruhiger Stimme. Sein Tonfall wirkt völlig unangemessen, bohrt er doch gerade mit einem Messer in Claas’ Hals herum. »Du hast Zeit bis zum Morgengrauen, um uns das Geld zu bringen. Ansonsten wird Schlimmes passieren.«

»Ich habe bei meiner Freundin noch dreißigtausend Euro. Mehr habe ich momentan noch nicht. Wir zahlen schon bald, wirklich. Es gab ein Problem mit unseren Abnehmern, aber wir holen uns die Kohle.«

»Aaaarg.« Claas stöhnt auf, weil die Klinge noch ein Stück tiefer in seinen Hals eindringt. Doch der kurze Aufschrei wird durch ein kräftiges Ziehen an der Krawatte umgehend erstickt.

»Alter, lass ihn am Leben«, fleht Kevin, ohne in der Lage zu sein, seinem Freund irgendwie zu helfen.

»Claas bleibt mein Pfand, bis du mir mein Geld bringst, Fettsack. Hier, nimm. Das ist meine Nummer.« Eine Hand legt sich auf Kevins Schulter, einen kleinen weißen Zettel zwischen den Fingern. Kevin nimmt ihn wortlos entgegen und steckt ihn zitternd in seine Hosentasche. Er will einfach nur noch weg. Angst ergreift seinen ganzen Körper. Das Zittern wird immer stärker. »Speicher sie in deinem Telefon ab und ruf an, sobald du das Geld zusammenhast. Bis zum Morgengrauen! Oder …« Der Mann beugt sich vor, und Claas entfährt ein markerschütternder Schrei.

Kevin wartet keinen weiteren Moment. Er stößt die Beifahrertür auf und springt aus dem Auto. So schnell er kann, läuft er durch den Matsch in den Wald hinein. Bereits nach kurzer Zeit beginnt seine Lunge unter der ungewohnten Anstrengung zu brennen. Sein dicker Bauch wackelt im Takt der Schritte, doch er hetzt weiter, getrieben von dem Schrei, der immer noch in seinem Kopf brüllt, obwohl er ihn längst nicht mehr hört.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße. Kacke!«, schimpft Kevin. Immer wieder dreht er sich um, doch niemand scheint ihm zu folgen. Schnaufend bleibt er stehen, schlägt die Hände vors Gesicht, schaut zum Himmel und stützt sich dann wild keuchend auf den Knien ab. »Scheiße, Alter!«

2

In der achten Etage eines Hochhauses am Achtern Born in Osdorf sitzt Frührentner Rainer Plöger am Esstisch in der Küche seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Wie jeden Abend hat er sich Margarine und Marmelade aufs Graubrot geschmiert. Mit einem kleinen Jagdmesser schneidet er auf einem Holzbrett dicke Scheiben von einer dünnen Salami ab, die er sich umgehend in den Mund steckt und schmatzend zerkaut.

Im Hintergrund läuft die Schlagermusik der Welle Nord, unschön untermalt von den schleifenden Kabeln des Fahrstuhls.

Rainer Plöger weiß genau, wann die Kabine auf seiner Etage zum Stehen kommt. Immer wenn es so weit ist, steht er von seinem Stuhl auf und läuft zur Wohnungstür, um durch den Spion zu beobachten, was im Flur vor sich geht. Rainer ist sich sicher, dass der Fahrstuhl auch jetzt wieder auf seiner Etage halten wird, und erhebt sich ächzend vom Stuhl.

Seit Neuestem kommen dunkelbärtige Südländer in die Nachbarwohnung, was Rainer Plöger überhaupt nicht recht ist. Nachdem die Pakistaner und die Afrikaner ausgezogen waren, hatte er gehofft, dass er endlich wieder deutsche Nachbarn bekommen würde. Der Name auf dem Klingelschild hat jedenfalls darauf hingedeutet. Umso größer war die Enttäuschung, als ihm ein Südländer mit dunklen Haaren und langem dunklen Bart die Wohnungstür öffnete. Rainer wollte den neuen Nachbarn traditionell mit Salz und Brot begrüßen, wie es schon seine Eltern gemacht hatten.

Er drückt das Auge eng an den Spion, um möglichst viel vom Flur zu sehen. Das Rattern des Fahrstuhls verstummt. Kurz darauf öffnen sich die Türen. Heraus steigt wieder dieser Mann, gefolgt von einem weiteren. Beide haben lange dunkle Bärte. Der Besucher hat kurze Haare, der neue Nachbar trägt sie lang und nach hinten gekämmt. Sie machen kein Licht im Flur. Nur der leichte Schein des weißen Neonlichts aus dem Fahrstuhl erhellt die Szene.

Rainer Plöger sieht, dass sie Kanister in den Händen halten. Große, schwere Kanister, die sie auf dem Boden vor der Wohnungstür abstellen. Der andere Mann eilt schnell wieder zum Fahrstuhl zurück, während der Nachbar mit den langen Haaren den Wohnungsschlüssel herausholt und aufschließt. Mit einem lauten Klacken öffnet sich die Tür. Er wuchtet die Kanister in die Wohnung hinein, verschließt die Wohnungstür wieder und steigt zu seinem Begleiter in den Fahrstuhl.

Rainer Plöger läuft zum Fenster seines Schlafzimmers, das zur Straße hinausgeht. Er schaut aufgeregt hinab und versucht zu erkennen, was dort unten passiert. Ein Kombi steht direkt vor dem Eingang auf dem Gehweg. Die Blinker leuchten auf, und der Bärtige mit den kurzen Haaren tritt an den Kofferraum heran. Nun kommt auch der Nachbar aus dem Haus und geht zu ihm. Während er eine Art Plastikwanne aus dem Kofferraum nimmt, in der mehrere Gegenstände liegen, greift sich der andere Mann zwei weitere Kanister, schließt die Klappe und geht mit dem Nachbarn zurück ins Haus.

Rainer Plöger hetzt zur Wohnungstür und presst das Auge an den Spion. Es verrinnen Sekunden, die sich wie eine Unendlichkeit anfühlen, bis sich die Fahrstuhltüren öffnen.

Der Nachbar stellt die Plastikwanne vor der Wohnungstür ab. Es scheinen Werkzeuge und kleinere Flaschen darin zu liegen. Er schließt auf und geht mit der Wanne in die Wohnung. Sein Freund folgt ihm und schließt die Tür hinter sich.

Rainer Plöger streicht sich mit nachdenklichem Blick über den Schnurrbart und bleibt ratlos im Wohnungsflur stehen. Der Appetit aufs Abendbrot ist ihm gründlich vergangen.

3

Im Hamburger Polizeipräsidium in Alsterdorf sind fast alle Fenster dunkel. Die Ermittler und Angestellten sind im Wochenende und genießen den späten Sonntagabend, bevor die neue Arbeitswoche beginnt.

Nur im zweiten Stockwerk des Südwestflügels brennt in einem Büro des Rauschgiftdezernats das Licht. Otto Kuhnert sitzt an seinem Schreibtisch und hat große Kopfhörer auf den Ohren. Nach seiner Chemotherapie und anschließenden Operation an der Lunge ist er nach einer kurzen Reha auf eigenen Wunsch in den Dienst zurückgekehrt. Ihm würde zu Hause sonst die Decke auf den Kopf fallen, hatte er Harry Goldutt, dem Chef des Rauschgiftdezernats, gegenüber betont. Harry kennt seinen rastlosen Ermittler und fand, dass die Ablenkung durch die Arbeit vielleicht wirklich die richtige Therapie für ihn war. Er erlaubte Otto die Rückkehr in den Innendienst. Er sollte es ruhig angehen, doch nach nur wenigen Wochen war Otto wieder voll in die Ermittlungen verstrickt.

Jetzt wittert der auch in seiner Freizeit passionierte Angler die Chance, einen dicken Fisch an Land ziehen zu können. Er überwacht das Handy von DJ SnakeRave, der in der Hamburger Techno-Szene immer mehr in den Vordergrund tritt und inzwischen seinen eigenen Club an der Stresemannstraße betreibt. Dort kommen die Fans von elektronischer Musik von Donnerstagnachmittag bis Montagmittag durchgehend in den Genuss von tiefen Bässen und schnellen Rhythmen. Nicht wenige der Gäste nutzen Amphetamine, um den Tanzmarathon, so lange es geht, durchzuhalten. Der örtlichen Polizeiführung ist der Club ein Dorn im Auge, doch die verwinkelten Räumlichkeiten und aufmerksame Türsteher tragen dazu bei, dass Razzien bisher nur bei wenigen Besuchern zum Auffinden von Drogen geführt haben. DJ SnakeRave konnte man nie etwas nachweisen. Die Besitzer der Betäubungsmittel betonten stets, dass sie die Drogen in den Club geschmuggelt hätten. Daher läuft das rege Treiben Woche für Woche weiter, und der Techno-Club erhält immer mehr Zulauf, auch von sehr jungen Gästen, die sich tagsüber dem Rausch der Musik hingeben.

Ein anonymer Brief an das Hamburger Rauschgiftdezernat hatte Otto Kuhnert mit detaillierten Angaben auf DJ SnakeRaves Spur gebracht. Darin wurde er darüber informiert, dass der Discjockey Speed und Ecstasy im Kilogrammbereich einkaufen und an seine Gäste, aber auch an Großabnehmer aus Norddeutschland verteilen soll. Nur wie es genau abläuft, hat Otto noch nicht rausbekommen können. Die Türsteher verstehen es, verdeckten Polizeibeamten, die für Scheinkäufe versuchen, in den Club zu gelangen, den Zutritt zu verwehren. Nur bekannte Gesichter erhalten Einlass und bürgen mit ihrer Zutrittsberechtigung für neue Gäste, die dann ebenfalls hineingelassen werden.

Immerhin hat der Hinweisgeber Otto in seinem Brief die Telefonnummer mitgeteilt, über die DJ SnakeRave angeblich seinen Handel betreibt. So sitzt der Workaholic der Abteilung nun seit eineinhalb Wochen jeden Tag und gefühlt rund um die Uhr in seinem Büro und hört die Gespräche ab, die über diese Nummer geführt werden. Immer in der Hoffnung, das eine wichtige Telefonat mitzubekommen, das ihm den entscheidenden Hinweis liefert – auf einen möglichen Lieferanten oder eine Wohnung, einen Raum, ein Versteck, in dem der Discjockey seine Drogen lagert. Einen möglichen Mittäter konnte Otto bereits identifizieren. Mit Timon Schneider spricht SnakeRave immer wieder kryptisch über Eiscreme und Bonbons. Die Gespräche zeigen, dass Timon vermutlich Rauschgift lagert. Er dürfte in der Nähe der Horner Rennbahn wohnen, leider unangemeldet, und nach einem konspirativen Treffen mit dem DJ geriet er außer Kontrolle. Niemand konnte sehen, in welchen Hauseingang er verschwunden ist. Auf den daraufhin beantragten Beschluss des Gerichts zur Überwachung und Lokalisierung der Rufnummer von Timon wartet Otto bereits mehrere Tage.

Ansonsten ist die Abhöraktion beim DJ leider nicht sehr ergiebig gewesen. Ungewöhnlicherweise ist das Handy heute jedoch in Bewegung. SnakeRave war eine Zeit lang am Wandsbeker Markt und fährt nun den Ring 2 in Richtung Billstedt hinab. Telefoniert hat er bereits seit den Morgenstunden nicht mehr. Otto hat keine Erklärung für das, was heute vor sich geht. Er wartet ab und verfolgt die Geodaten des Mobiltelefons, das gerade an der Horner Rampe ankommt.

Otto leckt sich über die trockenen Lippen. Er trinkt einen Schluck Kaffee aus der weißen Tasse, deren Ränder beinahe durchgängig braun sind von Kaffeeablagerungen. Nur zum Urlaub wäscht er das Behältnis notdürftig sauber. »Alles Geschmack«, pflegt Otto schroff zu antworten, wenn er von Kollegen auf die verschmutzten Becherwände angesprochen wird. Nach einem schnellen Griff in die neu geöffnete Spekulatiustüte stopft er sich zwei der Kekse in den Mund und beginnt zu kauen. Das Handy bewegt sich währenddessen auf der A24 aus Hamburg hinaus.

»Wo willst du hin, mein Lieber? Wo willst du hin?«, fragt Otto den Monitor und wischt sich mit der Hand die Krümel vom Mund. Seine kleinen Schweinsaugen kneift er grübelnd zusammen und schiebt energisch das breite Kinn vor, während er schnaufend ein- und ausatmet.

4

Zwischen dem Berliner Tor und den Elbbrücken ragen die hohen Geschäftsgebäude der City Süd in den Himmel. Mitten in Hammerbrook tummeln sich unter der Woche Geschäftsleute, Studenten und Schüler. Am Sonntagabend sind die Straßen hier leer. Restaurants haben geschlossen, und auch nur wenige Autos stören die unwirkliche Ruhe in den Betonschluchten.

In der fünften Etage eines Hochhauses brennt Licht in den Räumen von SafeSafe, einem privaten Sicherheitsunternehmen für Veranstaltungen. Hier sitzt der ehemalige Rauschgiftfahnder Gerd Sehling und hat aus dem Aufenthaltsraum der Firma ein Sixpack Bier geholt, das er sich am Samstagmorgen extra kalt gestellt hatte. Es ist seine wohlverdiente Belohnung für ein langes Wochenende.

Als er vor ein paar Monaten, knapp eineinhalb Jahre nach seiner Pensionierung, den neuen Job als Dozent für deeskalierende Gesprächsführung angenommen hat, der ihm von einer guten Freundin vermittelt wurde, dachte er weder, dass er ihm sonderlich viel Freude bereiten würde, noch, dass es derart anstrengend sein kann, Lehrer zu sein. Er soll jungen Erwachsenen beibringen, dass Gewalt der letzte und nicht der erste Lösungsweg im Sicherheitsgewerbe ist. Als er das erste Mal vor einer Klasse stand, hatte er sich vorher Konzepte für eine deeskalierende Gesprächsführung überlegt, die er seinen Schützlingen beibringen wollte. Schnell musste er allerdings einsehen, dass nicht jeder die Inhalte verstand, geschweige denn umsetzen konnte.

Gerd, der während seiner Zeit im Rauschgiftdezernat als »die Ramme aus Dalldorf« verschrien war und bekannt ist für seine laute, polternde Art, konnte die Verständnisprobleme gut nachvollziehen. Er entschloss sich daher, das vorgegebene Lernziel zu modifizieren. Seitdem unterrichtet er die Sicherheitsleute darin, wie man störende Gäste mit einfachen Griffen zu Boden bringt, ohne sie erheblich zu verletzen.

Die anfängliche Skepsis konnte er beim ersten Seminar schnell ausräumen, als er, ein rüstiger Pensionär mit leichtem Bauchansatz, einen wesentlich größeren, muskelbepackten Mann auf der weichen Turnmatte fixierte, während der erst noch realisieren musste, was gerade mit ihm geschah.

Der spontane Applaus der staunenden Zuschauer war Balsam für Gerds Seele. Er fühlte sich für einen kurzen Moment zurückversetzt in die Zeit als Rauschgiftfahnder.

Während Gerd Schluck für Schluck die vor ihm stehende Flasche leert, kontrolliert er die heutige Anwesenheitsliste. Mit Sorge stellt er fest, dass einer seiner Schützlinge unentschuldigt gefehlt hat. Einer von denen, für die der Job bei SafeSafe die letzte Chance und fester Teil ihrer Bewährungsauflagen ist. Mit Schrecken hat dieser junge Mann Gerd vor einigen Wochen in die Augen geblickt, als er in ihm den Mann wiedererkannte, der ihn vor fünf Jahren in den Knast gebracht hatte. Die Reststrafe von eineinhalb Jahren wurde inzwischen zur Bewährung ausgesetzt, und der erfolgreiche Abschluss der Berufsausbildung zum Security-Manager, zu der auch die Fortbildungen mit Gerd Sehling am Wochenende gehören, ist Teil der auf zwei Jahre ausgelegten Bewährungszeit.

Gerd weiß, dass es in der Vergangenheit bereits zu zwei Abmahnungen gekommen ist, weil der Junge nicht zur Arbeit erschien. Doch er hatte Gerd versichert, dass er den richtigen Weg für sich gefunden habe und die Chance auf ein neues Leben ohne Kriminalität unbedingt ergreifen wolle.

Gerd versucht, ihn anzurufen, um ihm erneut ins Gewissen zu reden.

»Junge, Junge, wat machst du nur?«, fragt er in den Raum hinein, als sekundenlang nur das Freizeichen ertönt. Er greift nach der nächsten Flasche Bier und beendet den Anwählversuch. »Dat wird nich gut enden, wenn er da keine gute Erklärung parat hat.« Mit einem lauten Ploppen öffnet Gerd die Flasche und setzt zum Trinken an, während der Deckel auf den Boden fällt und dort klackernd zum Liegen kommt.

5

Ein herbstlicher Wind frischt immer mehr auf und lässt farbenprächtige Blätter über den Bramfelder Dorfplatz tanzen. Die angrenzende viel befahrene Straße führt aus der Stadt hinaus nach Sasel und Volksdorf. Traute Walther kann sich in diesen Stadtteilen keine Wohnung leisten. Ihre kleine Rente reicht gerade so, um über die Runden zu kommen. Sie wohnt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung direkt gegenüber der Postfiliale am Dorfplatz. Jeden Monat spart sie zwanzig Euro und steckt sie in einen alten Strumpf ihres Mannes, der vor sieben Jahren verstorben ist.

Das Geld ist für ihre einzige Enkelin, die mit ihrer Mutter zurück nach Rostock gezogen ist, nachdem sie sich von Trautes Sohn getrennt hatte. Der Alkohol brachte schon Trautes Mann ins Grab, und auch ihren Sohn hat er fest im Griff. Doch ihre mahnenden Worte dringen nicht zu ihm durch. Der Kontakt ist inzwischen abgerissen. Nach der Trennung hat er nur noch mehr gesoffen. Der einzige Lebenssinn für Traute ist ihre Enkeltochter, von der sie immer mal wieder Bilder zugeschickt bekommt. Jetzt wird die Kleine vier Jahre alt, und Traute hat eine Karte geschrieben und sechzig Euro hineingelegt. Louise soll sich davon etwas Schönes zum Spielen kaufen. Einen Herzenswunsch erfüllen. Mit dem Umschlag in der Hand kommt Traute aus ihrem Hauseingang und geht zur Ampel.

Nach kurzem Warten wird es grün, und Traute geht zum Briefkasten hinüber, der bald geleert wird. Sie wirft den kostbaren Brief absichtlich erst kurz vor der Nachtruhe ein. Bei so einem Vermögen würde ihr ganz unwohl werden, wenn der Umschlag längere Zeit, vielleicht den ganzen Tag, in dem unbewachten Briefkasten liegen würde.

Mehrfach sieht sie sich um, bevor sie den Brief einwirft, doch niemand Auffälliges ist in ihrer Nähe. Mit einem kräftigen Schubser katapultiert sie den Umschlag durch den Schlitz und hört, dass er tief in den gelben Kasten hinunterfällt. Zufrieden tritt sie wieder an die Ampel heran, die in diesem Moment auf Grün umspringt.

Bevor sie über die Straße geht, wendet sich Traute, von einem inneren Drang getrieben, noch einmal kurz um. Ein Schreck durchfährt ihre Glieder. Ein junger Mann steuert direkt auf den Briefkasten zu. Er trägt eine blaue, weite Jeans, die ihm gerade noch so auf den Hüften hängt, und einen Kapuzenpullover, der ebenfalls viel zu groß ist. Die Kapuze hat er über den Kopf gezogen. Auf der Mittelinsel blickt Traute vorsichtig über ihre Schulter und sieht, dass der junge Mann sich Plastikhandschuhe über die Finger streift. So schnell sie kann, läuft sie auf die andere Straßenseite, stellt sich hinter einen Mauervorsprung und betrachtet den Jungen, der seine Umgebung aufmerksam beobachtet. Traute hat er entweder nicht bemerkt, oder kleine, ältere Damen wecken nicht seinen Argwohn.

Er nimmt seinen Rucksack vom Rücken und öffnet ihn. Dann steckt er braune, etwas größere und dickere Briefumschläge in den Briefkasten. Der ganze Rucksack scheint damit befüllt zu sein. Hin und wieder schaut er sich um und wirft dann die nächsten Briefe ein. Er ist nicht hektisch, scheint aber zügig fertig werden zu wollen.

Traute ist erst einmal beruhigt, weil ihr Brief nun sicher unter diversen Sendungen begraben im Briefkasten liegt. Ihm dürfte also nichts mehr geschehen.

Als der Junge, nachdem er den Rucksack wieder verschlossen hat, mit schnellen Schritten davonläuft, wird Traute jedoch misstrauisch. Die Handschuhe wirft er im Vorbeigehen in den Mülleimer an der Ampel.

Traute reckt den Kopf. Sie ist sich sicher, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Die nächste Grünphase nutzt sie aus, um hinüberzulaufen. Mit einem schützenden Papiertaschentuch in der Hand fischt sie die beiden blassgelben Handschuhe aus dem roten Mülleimer und wickelt sie darin ein.

Auch wenn sie bereits über siebzig Jahre alt ist, so ist Traute noch immer schnell auf den Füßen. Getrieben von Spannung und Neugier sowie mit dem Kribbeln einer Ahnung im Bauch, dass sich gerade ein Krimi vor ihr abgespielt haben könnte, läuft sie zum Polizeikommissariat in der Ellernreihe.

Die Wache ist voller Polizisten. Die sollten mal lieber draußen rumlaufen und wie unsereins die Augen aufhalten, denkt Traute. Sie weiß nicht, dass gerade die Spätschicht vom Nachtdienst abgelöst wird. Nach kurzer Wartezeit kommt ein dunkelhaariger Polizist auf sie zu und setzt ein freundliches Lächeln auf.

»Wie darf ich Ihnen helfen?«

»Ich hab wat beobachtet, da müssen Sie wat unternehmen. Einen jungen Ganoven hab ich gesehn, wie er Briefe eingesteckt hat. Und ich hab Beweismaterial gesichert«, verkündet Traute voller Stolz. Sie öffnet ihre Handtasche und nimmt das Taschentuch mit den Handschuhen heraus.

Der Polizeibeamte hebt die buschigen Augenbrauen und betrachtet sie aufmerksam. »Dann wolln wir mal alles zu Papier bringen, was Sie beobachtet haben. Folgen Sie mir bitte.«

6

In einer Neubauwohnung des Immergrün-Wohnviertels nahe dem Prenzlauer Berg in Berlin liegt der Hamburger Rauschgiftfahnder Tim Dombrowski auf der großen Couch seiner Freundin Claire. Ihr wuscheliger Kopf liegt auf seinem Bauch. Zärtlich streicht er ihr durch das lockige Haar. Er würde so gerne einfach hierbleiben, nicht zurückfahren nach Hamburg, doch die Arbeit ruft. Morgen ist eine Observationsgruppe für ihn auf der Straße, und vorher muss er noch alle Telefongespräche anhören, die am Wochenende von seiner Zielperson geführt wurden. Nur so kann er einschätzen, ob Treffen vereinbart wurden. Indem er seinen Tätern zuhört, entwickelt Dombrowski, der von seinen Kollegen Dumbo genannt wird, ein Gefühl für ihre Emotionen und das zu erwartende Verhalten. Die wichtigen Worte werden nicht gesprochen. Sie stehen zwischen den Zeilen, im Klang der Stimme, im Ausdruck von Wut oder Verzweiflung, im autoritären Nachdruck oder einer Unterwürfigkeit, die Genaueres über die Stellung zwischen den Gesprächspartnern aussagt.

Dombrowski streicht seine halblangen Haare aus dem Gesicht und kratzt sich verlegen an seinem Dreitagebart. Er mag Claire nicht sagen, dass es an der Zeit ist, sich zu verabschieden.

»Willst du schon los?«, fragt sie, als könnte sie seine Gedanken lesen.

»Ich will nicht, aber ich muss wohl langsam.«

Claire hebt den Kopf und schaut ihn mit ihren dunkelbraunen Augen verführerisch an. »Wirklich schon jetzt? Oder haben wir noch ein paar Minuten?« Sie schiebt sich an Dombrowski hinauf. Er riecht ihr süßliches Parfüm, atmet tief ein, und sein Herz beginnt kräftig zu schlagen. Langsam legen sich ihre zarten Lippen auf seine, und sie beginnt, ihn zärtlich zu küssen.

Im selben Moment fängt Dombrowskis Handy an zu lärmen und zerstört den innigen Augenblick. Am liebsten würde er es nehmen und aus dem Fenster werfen, doch Claire hat es bereits ergriffen und reicht es ihm mit einem schelmischen Grinsen.

»Merci«, bedankt sich Dombrowski und schaut widerwillig auf das Display. »Es ist Otto«, stellt er fest und nimmt den Anruf seines Kollegen an. »Otto, es ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt gerade. Ich bin doch in Berlin und …« Dombrowski verstummt und hört nun aufmerksam zu. Ab und an bejaht er oder brummt zustimmend, dabei schaut er Claire an, die gespannt abwartet, was als Nächstes passieren wird. »Ja, in Ordnung. Dann sag Bescheid, wenn es so weit ist. Wir sind in der Nähe. Ja. Bis dann.« Dombrowski legt auf und schmeißt sein Telefon auf das Polster. »Kleine Planänderung. Wir haben noch eine gute Stunde Zeit, bis ich aufbrechen muss«, verkündet er gut gelaunt und schmeißt sich seiner kichernden Freundin entgegen.

7

Im Hochhaus am Achtern Born steht Rainer Plöger an seiner Wohnungstür und späht durch den Türspion in den dunklen Hausflur. Er hat das Licht in seiner Wohnung ausgeschaltet. Niemand soll sehen, dass er zu Hause ist oder, noch schlimmer, dass er durch den Spion schaut und das Treiben auf dem Flur beobachtet.

Plöger ist sich sicher, dass er einer ganz großen Sache auf der Spur ist. Die Männer in der Nachbarwohnung müssen Terroristen sein, das ist klar. Die Bärte, ihre Sprache und dann diese Wanne und die vier Kanister, bestimmt Chemikalien. Er hört, wie der Fahrstuhl wieder in Betrieb geht. Dem Rattern der Stahlkabel lauscht er mit geschlossenen Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Es scheint bis zu ihm hinaufzugehen. Rainer Plöger öffnet die Augen und linst durch den Türspion. Noch sieht er nichts, aber das Licht aus dem Fahrstuhl wird gleich in den Flur fallen. Ein metallisches Rumpeln steigert die Anspannung. Die Kabine ist soeben im achten Stockwerk angekommen. Mit einem Klappern öffnet sich die Tür, und der Mann mit den kürzeren Haaren steigt aus. Er bleibt stehen und zieht Pappkartons aus dem Fahrstuhl. Sie sind nicht sonderlich groß, aber anscheinend schwer, denn er schiebt sie äußerst langsam über den Boden. Oder sind sie gar nicht schwer, sondern nur empfindlich? Rainer Plöger kommt ins Grübeln. Vielleicht sollte er doch die Bullen rufen. Aber wenn die in seine Wohnung kommen? Das will er auf keinen Fall riskieren. Die würden ja sehen, was er hier alles stehen hat, und das ist nicht für deren Augen bestimmt.

Immer mehr Kartons zieht der Mann aus dem Fahrstuhl und schiebt sie vor die Wohnungstür, die in diesem Moment abrupt geöffnet wird. Der Mieter schaut aus der Wohnung. Rainer Plöger lauscht, doch er kann kein Wort verstehen. Was sie sagen, hört sich arabisch an. Zusammen schaffen sie die Kartons in die Wohnung und verriegeln lautstark die Tür.

»Jetzt schließt ihr euch auch noch ein. Das gibt es doch gar nicht. Wat mach ich denn bloß? Wat soll ich machen?« Rainer Plöger rauft sich das schüttere ergraute Haar.

8

Scotty liegt in ihrem Wohnzimmer auf ihrer Couch. Heute mal ganz allein, denn sie hat Rufbereitschaft, und da ist sie gerne für sich. Sie schläft wesentlich ruhiger, wenn sie weiß, dass sie niemanden allein lassen muss, wenn ein Einsatz ansteht. Häufig wird man im Bereitschaftsdienst nicht angerufen, obwohl Hamburg mit seinem Hafen das Einfallstor für den internationalen Rauschgiftschmuggel ist. Doch es werden eher selten Kuriere und Händler mit Waren im Kilogrammbereich festgenommen. Sie bleiben unentdeckt im Trubel der Großstadt, während die kleinen Fische von den Zivilfahndern der verschiedenen Wachen beobachtet und auf frischer Tat festgenommen werden. Diese Festnahmen werden jedoch vom Dezernat für Straßendeal oder vom Kriminaldauerdienst bearbeitet. Sie zählen nicht zur Ebene der organisierten Rauschgiftkriminalität, für die Scotty mit ihrem Dezernat zuständig und in dieser Nacht erreichbar ist.

In ihrem Reihenhaus in Rahlstedt hat sie es sich mit einer Wolldecke gemütlich gemacht, während draußen der Wind in den Bäumen liegt und durch den Schornstein pfeift. Ein dampfender Tee steht neben ihr auf einem Holztablett. Sie zuckt leicht zusammen, als ihr Telefon zu klingeln beginnt. Das Display zeigt an, dass die Rufnummer unterdrückt ist. Kein gutes Zeichen für die weitere Abendplanung, denn die Kollegen melden sich meistens mit unterdrückter Nummer.

»’n Abend, Basti Raum hier, vom Dauerdienst.« Eine freundliche Stimme begrüßt Scotty.

»Moin. Wenn du anrufst, dürfte es das mit der Gemütlichkeit nun wohl gewesen sein.«

»Genau. Du wirst gleich von den Kollegen vom LKA in Kiel kontaktiert. Die haben soeben einen Kurierfahrer festgenommen, der auf dem Weg zur dänischen Grenze angehalten wurde. Sie haben einen kleinen Anschlag auf dich vor. Sie beantragen gerade einen Durchsuchungsbeschluss bei ihrem Eil-Richter für die Hamburger Meldeanschrift des Kurierfahrers. Ich wollte dich nur kurz vorwarnen. Mehr weiß ich auch noch nicht.«

»Hast du schon einen Namen für mich? Oder Infos, was er bei sich hatte?«, hakt Scotty nach, pustet in ihren Tee und schlürft ein wenig vom Rand der Tasse ab.

»Nee, haben die mir nicht gesagt. Ich geh mal aus der Leitung. Bis denne«, zwitschert Basti Raum fröhlich und trennt die Verbindung. Scotty legt ihr Handy weg und trinkt weiter ihren Tee. Die Tasse ist halb leer, als unter lautem Klingeln eine Kieler Festnetznummer auf ihrem Display erscheint.

»Moin moin, Scotty hier vom Hamburger Rauschgiftdezernat.«

»Moin, Micha hier. Schön, dich zu hören«, begrüßt eine ältere, raue Stimme sie fröhlich.

Micha Heller ist ihr bestens bekannt. Meistens bedeuten seine Anrufe Arbeit, denn häufig gibt er die ermittelten Lieferanten seiner Kieler Täter zuständigkeitshalber und ohne große Wehmut nach Hamburg ab. Sie wohnen in Hamburg und versorgen seine Kieler von hier. Micha ist allerdings der Typ Teddybär, dem man kaum einen Gefallen abschlagen kann.

»Ich würde mich gerne Stunden mit dir unterhalten, aber es eilt ein bisschen. Es wurde in Rendsburg ein Herr Pagel festgenommen. Er hatte zwanzig Kilogramm Amphetamine in einer Sporttasche im Kofferraum seiner Limousine. Eher zufällig kam es zu einer Kontrolle, aber es war ein Volltreffer. Er wohnt in der Gustav-Adolf-Straße in Marienthal. Wir würden euch bitten, den Durchsuchungsbeschluss der Nachtrichterin zu vollstrecken. Ich schicke dir gleich per Mail alle Informationen und den Beschluss. Wir können leider nicht unterstützen. Aber bis wir von Kiel bei euch wären, wärt ihr wahrscheinlich sowieso schon durch. Bei Google sieht es nach einem Mehrfamilienhaus mit kleinen Wohnungen aus.«

»Ist schon gut, Micha. Ich trinke noch schnell meinen Tee aus, und dann kümmere ich mich darum. Brauchst du heute noch eine Schriftlage?«

»Das kommt drauf an, was ihr findet. Melde dich doch einfach bei mir, wenn ihr fertig seid. Ich werde noch länger hier sitzen und die Akte zusammenschreiben.«

»So machen wir es. Ich ruf dich an.« Scotty verabschiedet sich. Eine innere Unruhe treibt sie um. Sie lässt den Rest vom Tee stehen und springt auf. »Dann wollen wir mal«, beschließt sie und geht ins Badezimmer, um sich umzuziehen.

9

Dombrowski steht im dunklen Wohnzimmer von Claires Neubauwohnung und sieht aus dem Fenster. Wirklich grün ist hier im Pankower Immergrün-Wohnviertel noch nichts, zumindest nicht viel. Dombrowski ist von seiner eigenen Wohnung den Ausblick in einen Park gewöhnt und mag es nicht, durch bodentiefe Fenster in ein direkt gegenüberliegendes, hell erleuchtetes Wohnzimmer zu schauen. Die Bewohner des Appartements gegenüber nutzen keinerlei Vorhänge. Sie streiten sich offensichtlich. Dombrowski muss unweigerlich hinschauen. Jede Mimik und Gestik kann er erkennen. Eigentlich will er sie nicht beobachten, doch er kann den Blick nicht von dem Pärchen lösen.

Er wartet auf Claire, die sich noch schnell im Badezimmer frisch machen wollte. Es dauert bereits mehrere Minuten, doch nun hört er endlich die erlösende Türklinke und wendet seinen Blick von den Nachbarn ab.

»Die Bewohner gegenüber haben Streit«, erklärt er, als er Claires fragenden Blick bemerkt.

»Dann lass uns lieber aufbrechen, bevor wir den beiden bei der Versöhnung zuschauen müssen. Das willst du nicht sehen«, erwidert sie verschmitzt und öffnet die Wohnungstür, als Dombrowskis Handy zu klingeln beginnt.

»Moin, Otto. Wie ist der Stand? Wo ist unser Mann?«

»Dumbo, er ist eben von der A10 auf die A114 gefahren. Ich denke, er braucht höchstens noch zwanzig Minuten bis in die Schonensche Straße. Ihr solltet also langsam los. Seinen kleinen Bruder hat er gerade angerufen und sein Erscheinen angekündigt.«

»Okay. Wir sind startklar und brauchen von hier nur zwei, drei Minuten. War es die Hausnummer 18?«

»Jo!«, bestätigt Otto mit einem kehligen Schnaufen und hustet einmal kräftig.

»Gut. Ruf an, wenn er von der Autobahn runterfährt«, bittet Dombrowski und legt auf, nachdem Otto bestätigt hat. »Claire, wir müssen los. Nehmen wir dein Auto?«

»Ja, gerne. Ich fahre«, entgegnet sie und nimmt ihm den Autoschlüssel, den er gerade von der Ablage genommen hat, aus der Hand.

Kurz darauf fährt Claire den französischen Kombi aus der Tiefgarage des Gebäudes und nur zwei Straßen weiter, wo sie mit Glück eine Parklücke mit bester Sicht auf den Hauseingang findet. Kaum sind die Scheinwerfer erloschen, krabbelt Dombrowski in den Kofferraum, der mit getönten Scheiben abgedunkelt ist. Claire folgt ihm, während Dombrowskis Handy, das er stummgeschaltet hat, zu surren beginnt.

»Otto?«, flüstert er ins Telefon, obwohl kein Mensch in der Nähe ist.

»Er ist jetzt auf der Bundesstraße und dürfte jeden Moment bei euch eintreffen.«

»Otto, sag mal. Was ist eigentlich unser Ziel? Ich habe keine Waffe dabei. Falls jemand überprüft oder festgenommen werden soll, brauche ich Unterstützung.«

»Nee, wir gucken erst mal. Dann schauen wir weiter.«

»Okay. Alles klar.«

»Dahinten kommt ein Auto um die Ecke«, flüstert Claire. Die eingeschalteten Scheinwerfer lassen noch nichts Genaues erkennen und blenden die beiden trotz der getönten Scheiben.

Mit einem dumpfen Rappeln fährt das Auto über das Kopfsteinpflaster an ihnen vorbei.

»Mit was für einem Auto fährt er eigentlich bis Berlin?«, hakt Dombrowski bei Otto nach.

»Keine Ahnung. Bestimmt nicht mit dem kleinen seiner Freundin. Weite Touren meistens mit Mietwagen, aber ich habe die großen Autovermietungen nicht mehr erreicht.«

»Das nächste Auto«, meldet Claire und schaut dem herannahenden Fahrzeug gebannt entgegen. Es ist ein weißer Mittelklassewagen. Mehr ist wegen der Scheinwerfer nicht zu erkennen. Doch statt zu beschleunigen, wird das Auto langsamer.

»Der scheint einen Parkplatz zu suchen. Ja, er hält an«, stellt Claire begeistert fest und dämpft ihre vor Aufregung bebende Stimme, indem sie sich die Hand vor den Mund hält.

»Könnte sein, dass unser Mann hier gerade einparkt, Otto.«

Das Licht der Scheinwerfer erlischt. Die Innenraumbeleuchtung im Fahrzeug geht an, als die Tür geöffnet wird. Der Fahrer steigt aus und schließt die Tür gleich wieder. Er schaut sich prüfend um, blickt auch zu Dombrowski und Claire, doch er kann sie nicht sehen, nicht einmal erahnen.

»Otto, er öffnet den Kofferraum.«

»Nur gucken, Dumbo. Nur gucken.«

»Mmh«, bestätigt Dombrowski grimmig und sieht, dass der Mann dem Kofferraum eine große Tasche entnimmt.

»Der hat eine große Tasche«, japst Claire, bevor Dombrowski etwas sagen kann. »Er läuft damit zum Haus.«

Der Mann zieht aus der Jacke einen Schlüssel und schließt die Haustür auf. Das Licht im Treppenhaus schaltet er nicht an.

»Er ist mit der Tasche ins Haus gegangen, Otto. Ich hole schnell das Kennzeichen«, verkündet Dombrowski.

Claire kommt ihm jedoch zuvor und verlässt ohne Umschweife das Auto. Sie geht an dem weißen Fahrzeug vorbei und weiter bis zur Straßenecke. Kurz darauf summt Dombrowskis Telefon, und auf dem Display erscheint das Kennzeichen, das er per Messenger direkt an Otto weiterleitet.

»Okay. Mmh. Bleibt bitte an ihm dran und schaut, was er macht, wenn er das Haus wieder verlässt.«

»Die Haustür öffnet sich bereits wieder. Der Typ kommt raus. Er läuft zum Auto und schließt auf. Er setzt sich auf den Fahrersitz. Scheinwerfer an. Du, Otto, der fährt wieder los.«

Dombrowski klettert rasch nach vorn und startet den Motor, nachdem der Mietwagen ihn passiert hat.

Kurze Zeit später biegt er hinter dem weißen Wagen auf die Prenzlauer Promenade ab. »Otto, wir sind grob in Richtung Autobahn unterwegs. Ich melde mich später wieder. Ich muss eben Claire anrufen. Der Abschied kam ein wenig zu kurz.«

»Jo, bis gleich.«

Dombrowski wählt Claires Nummer, die das Telefonat sogleich entgegennimmt. »Wo bist du?«

»Der ist direkt wieder losgefahren. Ich folge ihm in Richtung Autobahn. Kommst du mit meinem Auto nach?«

»Mais non. Mit deinem Smart komme ich sowieso nicht hinterher. Nächstes Wochenende bin ich wieder bei dir in Hamburg. Morgen muss ich arbeiten. Ich liebe dich. Melde dich, wenn du heil angekommen bist«, erwidert sie ohne jeden Vorwurf. Dombrowski ist froh, dass sie so viel Verständnis hat, doch gleichzeitig schmerzt sein Herz, dass er sich nicht vernünftig von ihr verabschieden konnte.

»Je t’aime aussi, Claire. Je t’aime!«, haucht Dombrowski ins Telefon und beendet das Gespräch. Er muss sich wieder auf seinen Vordermann konzentrieren.

10

Rainer Plöger steht in seiner Küche. Eigentlich ist es nur ein kleiner Raum mit zwei Schränken, einer Spüle, einem alten Kühlschrank und dem antiquarisch anmutenden Plattenherd. Neben dem Durchgang zum Wohnzimmer befindet sich sein kleiner Holztisch, auf dem noch immer das geschmierte Graubrot unberührt auf dem Teller liegt.

Doch für das Abendbrot hegt Rainer Plöger gerade kein Interesse. Mühevoll versucht er, sein Küchenfenster zu öffnen. Er lehnt im Dunkeln auf der Arbeitsfläche und hat alle Dinge, die seit Jahren fettig und verstaubt auf dem Fensterbrett gestapelt sind, weggeräumt, um das Fenster aufziehen zu können. Dabei produziert der Fenstergriff ein leichtes Quietschen, das sich in der Stille viel lauter anhört, als es eigentlich ist. Plöger öffnet das Fenster einen Spaltbreit und lehnt seinen Bauch auf die vollgestellte Trockenfläche der Spüle, während er sich mit dem Ohr zur Fensteröffnung vorbeugt.

Mit angehaltenem Atem versucht er, ein paar Worte aufzuschnappen. Eben noch hat er durch seinen Türspion einen jungen blonden Mann die Nachbarwohnung betreten sehen, nachdem er mehrfach an die Tür geklopft hatte.

Rainer Plöger hofft, dass er nun endlich Klarheit darüber erlangen kann, was nebenan vor sich geht, weil sie sich jetzt nicht mehr in dieser fremdländischen Sprache unterhalten können, nachdem offensichtlich ein Deutscher bei ihnen ist.

»Digger, lasst erst mal eine Ziese rauchen. Kein Bock, gleich dann irgendwann den Anzug wieder auszuziehen, wenn ich Schmacht hab, Digger«, sagt der blonde Mann, der eher aussieht wie ein Junge, soweit Rainer das im schwachen Lichtschein, der aus der Nachbarwohnung auf den Balkon fällt, beurteilen kann.

»Du weißt ja, was du zu tun hast. Ich hau jetzt ab. Mein Freund hier bleibt bei dir. Es ist alles da, was du bestellt hast.«

»Ja, Bombe, Digger.«

Rainer zuckt bei dem Wort Bombe kurz zusammen und schubst dabei mit seinem Bauch beinahe das dreckige Geschirr vor sich ins Spülbecken.

»Lasst mich bloß allein. Könnte sonst gefährlich werden für euch ohne Schutzanzug. Außerdem will ich meine Ruhe haben. Ich verpiss mich, sobald alles fertig ist, und gebe euch Bescheid. Dann könnt ihr loslegen. Aber bevor ihr geht …« Der Blonde reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. »Ohne Cash geht hier gar nichts los.«

Rainers Nachbar lehnt lässig am Geländer des Balkons. Er betrachtet sein Gegenüber schweigend und zieht dabei langsam ein Geldbündel aus seiner Hosentasche, das er dem Blonden entgegenstreckt. Als dieser zugreifen will, hält er es noch einmal außer Reichweite. »Ich erwarte gute Arbeit dafür, verstanden? Wir dürfen uns keine Fehler erlauben. Morgen komme ich und helfe dir, ich bringe auch einen Anzug für mich mit. Bis dahin sollte mindestens die Hälfte fertig sein.«

Der Blonde greift nach den Scheinen und blättert sie einmal schnell mit dem Daumen durch. »Ich weiß, was ich tue. Und jetzt Abflug. Ich hab eine lange Nacht vor mir. Eure Forderungen werden erfüllt.«

»Wir wollen beide nicht, dass etwas schiefläuft. Es geht schließlich um große Ziele. Wir sehen uns morgen.«

Ohne ein weiteres Wort gehen die beiden Südländer zurück in die Wohnung. Kurz darauf hört Rainer, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt und die Drahtseile vom Fahrstuhl zu rattern beginnen. Schweißperlen haben sich auf seiner Stirn gebildet. Ratlos schaut er noch einmal durch das Küchenfenster. Er sieht die glimmende Zigarette des blonden Jungen vom Balkon fliegen. Kurz darauf hört er Schritte und die Balkontür. Was hat der Kerl bloß vor? Rainer drückt sein Ohr an die Wand, doch er kann im Moment nichts weiter hören.

11

Der Stadtteil Marienthal mit seinen Gehölzen, Einfamilienhäusern und Rotklinkerbauten ist in keinem Stadtführer zu finden. Sehenswürdigkeiten, Attraktionen oder ein pulsierendes Nachtleben gibt es hier nicht. Es geht eher ruhig und beschaulich zu.

Auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Gustav-Adolf-Straße herrscht gähnende Leere. Es ist Sonntagabend, niemand hat einen Grund, sich hier aufzuhalten. Nur in der hinteren Ecke stehen drei dunkle Limousinen rückwärts eingeparkt nebeneinander. Gelegentlich rauscht ein Auto auf der zweispurigen Straße vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu verringern.

Ein Kleinwagen nähert sich und biegt in die Zuwegung zum Parkplatz ein. Scotty sitzt auf dem Fahrersitz. Sie hält geradewegs auf die drei Limousinen zu und bleibt ihnen gegenüber in einer Parkbucht stehen. Das Scheinwerferlicht ihres Wagens fällt auf die Fahrzeuge und lässt die Umrisse von Personen auf den Vordersitzen erahnen. Kurz darauf erlischt das Licht, und Scotty steigt aus. Sie läuft mit schnellen Schritten zu den drei Fahrzeugen. Auch dort öffnen sich nun die Türen, und neun Personen steigen aus.

»Moin, Scotty! Was liegt an? Wie dürfen wir helfen?«, fragt ein unscheinbarer Mann, auf dessen breiter Schutzweste mit großen weißen Buchstaben »Polizei« geschrieben steht und direkt darüber in derselben Schrift »Möller«.

»Moin, René. Alles gut bei euch? Schön, dass ihr Zeit für mich habt. Wir wurden von den Kollegen in Kiel gebeten, einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung ihres Beschuldigten zu vollstrecken. Er wurde auf dem Weg Richtung Dänemark angehalten und festgenommen. In seinem Kofferraum hatte er eine Tasche mit zwanzig Kilogramm Amphetaminen, also Speed. Wir sollen die Wohnung durchsuchen, um möglichst weitere Betäubungsmittel, Aufzeichnungen, Bargeld oder aber jegliche Art von technischen Kommunikationsmitteln sicherzustellen.«

»Also, eigentlich klingt das wie immer bei euch.«

»Ist es auch. Eine normale Durchsuchung bei einem Rauschgifthändler.«

»Was kannst du uns zur Wohnung sagen?«

»Es war eine spontane Kontrolle. Es blieb keine Zeit, um die Wohnung weitergehend aufzuklären. Ich weiß weder, wie der Grundriss aussieht, noch, wer sich darin befinden könnte«, erklärt Scotty.

»Gibt es Hinweise auf bewaffnete Täter?«

»Das kann ich nicht sagen. Mein Bauchgefühl sagt Nein, aber man weiß es immer erst, wenn man drin ist. Er soll dort mit seiner brasilianischen Freundin wohnen. Die könnten wir durchaus antreffen, hat er den Kollegen gesagt.«

»Okay.« René Möller stellt sich neben Scotty und schaut zu seinen Kollegen, die auf eine klare Ansage von ihm warten. »Leute, wir betreten die Wohnung mit der Ramme. Bodo rammt die Wohnungstür. Deniz trägt dir die Ramme hinauf. Blümchen, du klärst jetzt das Objekt auf und öffnest uns schon mal die Hauseingangstür. Wenn wir betreten, legen wir alle angetroffenen Personen in Fesseln, und Scotty entscheidet, wie es weitergeht.«

»Ich geh dann mal rüber«, erwidert ein mehr als zwei Meter großer Mann mit breiten Schultern, schmalen Hüften und tiefer Stimme. Er verlässt den Einsatztrupp und geht zur Straße, die er überquert, ehe er im Schatten der rot verklinkerten Mehrfamilienhäuser verschwindet.

»Tür ist geöffnet«, meldet Blümchen kurze Zeit später über Funk. Leise, wie Katzen in der Dunkelheit, schleichen die Beamten zu den Häusern, zwischen denen der Kollege verschwunden ist. Außerhalb des Lichts der Straßenlaternen sind die acht Zivilfahnder, gefolgt von Scotty, kaum wahrzunehmen.

Die Fenster des Hauses, in das sie wollen, sind dunkel. Keine Geräusche sind zu hören außer ihren leisen Schritten auf den Gehwegplatten zur Eingangstür, die von Blümchen für sie aufgehalten wird.

Langsam steigen die Beamten die Treppe ins dritte Obergeschoss hinauf, wo Deniz die Tasche mit der Ramme lautlos auf den Boden vor der Wohnungstür legt und den Reißverschluss öffnet. Die Fahnder stellen sich in einer Reihe hinter Blümchen auf, legen die Hand auf die Schulter des Vordermanns und umfassen den Griff ihrer Waffe im Holster.

Bodo tritt an die Tasche heran und nimmt die schwarz lackierte Ramme aus schwerem Metall heraus. Er positioniert sich vor der Tür, schaut über die Schulter nach hinten und gibt den Kollegen mit einem leichten Kopfnicken das Zeichen, dass es losgeht. Er zielt zweimal schwungvoll auf das Schließblech und schlägt beim dritten Mal fest auf das Schloss. Knarzend zersplittert das Holz der Türzarge. Die Tür öffnet sich leicht, und durch den Spalt fällt ein schwacher Lichtschimmer hinaus in den Flur. Im selben Moment schlägt Bodo mit der Ramme gegen das Türblatt, das aus der zerrissenen Zarge herausspringt und die Sicht auf einen langen Flur freigibt.

»Polizei! Polizei!«, rufen die Beamten laut, während sie, Blümchen voran, mit gezogenen Waffen an Bodo vorbeipreschen. Sie tragen Sturmhauben, um ihre Gesichter zu verbergen. Auch auf den Seiten des schwarzen Stoffs prangt in großen Lettern das Wort »Polizei«.

Die feuchten Schuhsohlen quietschen auf dem billigen Laminatboden, als sie Raum für Raum betreten.

»Wohnzimmer sauber.«

»Schlafzimmer sauber.«

»Küche sauber.«

»Badezimmer –«

»Aaaaaaah!« Der durchdringende Schrei einer Frau ertönt aus dem Badezimmer, dessen Türrahmen von Blümchen gerade vollumfänglich ausgefüllt wird.

»Ähm. ’tschuldigung. Bleiben Sie ruhig. – Scotty? Du bist hier gefragt.« Blümchen kann seinen Blick im ersten Moment kaum von dem braun gebrannten Traumkörper wenden, der sich ihm in der Badewanne stehend offenbart. Immer noch kreischend, reißt die Südamerikanerin ein großes Handtuch von einer Stange und bedeckt ihren Körper, als auch schon Scotty in den Raum kommt. Blümchen kann sich endlich aus der Schockstarre lösen und macht den Weg für sie frei, in der Hoffnung, dass die äußerst attraktive Frau nun aufhört zu schreien.

»Wir sind von der Polizei. Wer sind Sie?«

»Não entendo!«

»Policia. Nombre, nombre?«, fragt Scotty und zeigt mehrfach auf die junge Frau in der Badewanne.

»Porque?«

»Signor Pagel es verhaftet, comprende?«, versucht Scotty zu erklären und hebt ihre Hände, als trüge sie Handschellen.

»Não, não. Não, não, não.«

»Doch, doch. Drogen. Comprende? Also, wie ist Ihr Name?«

»Er nichts machen drogas. Er ist guter Mann.«

»Ach, Sie sprechen ja doch Deutsch.«

»Deutsch nicht gut. Nicht verstehen.«

»Echt jetzt? Passen Sie mal auf. Ich erzähle Ihnen alles. Wenn Sie mich nicht verstehen, dann geben Sie mir ein Zeichen, okay?« Scotty wartet, bis die junge Frau kurz nickt, und fährt dann fort: »Herr Pagel ist kurz vor der dänischen Grenze festgenommen worden, es befanden sich mehrere Kilogramm Speed in seinem Besitz. Wir werden jetzt die Wohnung nach Drogen, Geld, Waffen und anderen Dingen durchsuchen, die wichtig für unsere Ermittlungen sind. Verstanden?«

»Nix verstehen. Ich nix wissen«, erwidert die Frau und macht ein unschuldiges Gesicht.

»Könnten Sie sich bitte etwas anziehen?«

Ohne Umschweife greift die Frau nach einem Bademantel, der an einem Haken an der Wand hängt, streift sich diesen über die schmalen Schultern und verknotet den Gürtel gleich mehrfach vor ihrem Bauch. Ihre nassen Füße steckt sie in grell leuchtende pinke Fellhausschuhe, wringt die dunklen Locken über der Wanne aus und wickelt ein Handtuch um ihren Kopf, das sie zu einem Turban auftürmt.

Mit erhobenem Haupt schlurft sie an Scotty vorbei in die Küche, wo sie am Küchentisch Platz nimmt und aus einer geöffnet neben einem Aschenbecher liegenden Schachtel eine Zigarette zieht.

Scotty setzt sich ebenfalls an den Tisch und schaut ihr in die rehbraunen Augen. »Ich weiß, dass Sie mich sehr gut verstehen. Wir werden jetzt die Wohnung durchsuchen. Ich kann noch einen Nachbarn als Zeugen hinzuziehen, wenn Sie das wünschen.«

»Nix Nachbarn. Sie nicht müssen wissen.«

»Okay. Bodo, pass mal bitte kurz auf hier. Ich mache Fotos von der Wohnung.«

Scotty macht von jedem Raum Bilder. Als sie wieder in die Küche zurückkehrt, schaut ihr die Frau vorwurfsvoll entgegen. »Warum Sie schießen Fotos von meine Wohnung? Sie nicht dürfen.«

»Oh doch. Das darf ich. Ich fotografiere die Räume, bevor wir durchsuchen, und wenn wir etwas Wichtiges finden, ebenso.«

»Aber ist meine Wohnung.«

»Ja. Und die Wohnung von Herrn Pagel. Der sitzt jetzt im Gefängnis, und ein Richter hat beschlossen, dass wir hier durchsuchen sollen. Das tun wir, und dazu gehört auch, Fotos zu machen.« Scotty dreht sich kurz in Richtung Flur. »Ihr könnt anfangen. Sie will keinen Nachbarn als Zeugen haben. Wenn ihr etwas findet, gebt Bescheid.«

»Jo. Verstanden«, bestätigt René Möller, der Scotty zunickt. Doch die hat sich bereits wieder der Südamerikanerin zugewandt.

»Wie ist Ihr Name? Haben Sie einen Pass in der Wohnung?«

»Sim. Naturalmente.« Sie erhebt sich, geht zu einer Schublade in der Küchenzeile, die sie mit einem kräftigen Ruck öffnet, zieht einen Pass heraus und drückt ihn Scotty in die Hand, nachdem sie die Schublade hastig wieder verschlossen hat.

Scotty klappt das brasilianische Ausweispapier auf.

»Eva Fernandes.« Sie blickt kurz auf und gleicht das Passfoto mit der vor ihr sitzenden Frau ab. »Frau Fernandes, auf Ihrem Bett habe ich eben zwei leere aufgeklappte Koffer liegen sehen. Wollen Sie in den Urlaub fahren?«

»Sim. Morgen.«

»Das wird wohl nichts. Zumindest nicht für Herrn Pagel.« Scotty beobachtet Eva Fernandes ganz genau. In den Augen der Brasilianerin sammeln sich Tränen, die kurz darauf über ihre ausgeprägten Wangenknochen hinablaufen.

Scotty erhebt sich von ihrem Stuhl und geht zum amerikanischen Kühlschrank in der Ecke der Küche. Sie öffnet das Gefrierfach. Die obere Schublade ist bis zum Rand gefüllt mit eingefrorenem Rindfleisch. Sie zieht die zweite der insgesamt vier Schubladen auf und findet genau das, was sie gehofft hatte. In dem Fach liegen gleich mehrere Vakuumbeutel, befüllt mit einer gelblich weißen Paste. Genau so, wie Speed üblicherweise in größeren Mengen unmittelbar nach der Produktion gehandelt wird.

»Es sieht nicht gut aus für Ihren Freund, Frau Fernandes. Gar nicht gut.«

12

Das Graubrot liegt unangetastet vor Rainer Plöger auf dem Teller. Er konnte bislang keinen Bissen herunterbringen. Seine Finger trippeln nervös auf der hellen Plastiktischdecke, die einige Kaffeeflecken zieren. Das Radio hat Rainer längst ausgeschaltet. Er horcht auf Geräusche aus der Nachbarwohnung. Immer wenn er etwas hört, drückt er sein Ohr an die Wand und schließt die Augen. Außer einem anhaltenden Surren kann er nichts vernehmen. Keine lauten Geräusche, keine Musik. Nur ein Rattern und Rauschen. Doch sosehr Rainer sich bemüht, er hat keinerlei Vorstellung davon, was dort drüben vor sich geht.

Wenn er doch nur irgendwie in die Nachbarwohnung schauen könnte. Aber leider hat er die einzige Bleibe auf der Etage ohne Balkon. Er hatte sich bereits auf die Arbeitsfläche gewuchtet, um aus dem Küchenfenster zu schauen, doch seine Höhenangst, die er immer verspürt, wenn er durch ein geöffnetes Fenster in die Tiefe schaut, hielt ihn davon ab, sich weit genug hinauszulehnen, um einen Blick zu riskieren.

Rainer geht durch seine Wohnung und schaut in jeden Schrank auf der Suche nach einer zündenden Idee.

Im Badezimmer fällt sein Blick auf einen kleinen rosafarbenen Spiegel. Seine Mutter hatte ihn stets benutzt, um den Sitz ihrer Steckfrisur am Hinterkopf zu überprüfen. Rainer hat ihn selbst noch nie verwendet. Er schaut meistens nicht einmal mehr in den richtigen Badezimmerspiegel, es sei denn, wenn er sich von Zeit zu Zeit rasiert.

Mit dem Spiegel in der Hand läuft er zurück zum Küchenfenster, lehnt sich auf die Arbeitsfläche und streckt den Arm möglichst weit hinaus, um über den Spiegel in die Nachbarwohnung zu schauen. Wieder ertönt dieses surrende Geräusch. Was geht dort bloß vor?

Der Arm reicht nicht aus. Verbissen sucht Rainer weiter nach einer zündenden Idee. In der Abstellkammer wird er endlich fündig. Ein langer Waschbesen steht dort. Seine Mutter schrubbte früher fast täglich die Badezimmerfliesen damit, doch seit sie auf der Toilette an einem Schlaganfall verstorben ist, steht er ungenutzt in der Abstellkammer.

Rainer ergreift ihn und befestigt mit Klebeband den Schminkspiegel an der Bürste. Zufrieden betrachtet er sein Werk, geht noch einmal zur Küchenwand und lauscht. Er vernimmt auch weiterhin das surrende Geräusch, das mit kurzen Unterbrechungen zu ihm herübertönt.

Entschlossen streckt er den Stiel zum Küchenfenster hinaus. Er richtet die Plastikstange durch Drehen geduldig aus, bis er in dem kleinen Spiegel endlich die Balkontür der Nachbarwohnung erkennen kann. Unzufrieden betrachtet er das Spiegelbild. Alles ist total verschwommen.

»Das kann doch gar nicht sein«, schimpft Rainer vor sich hin. »Der ist doch sauber.« Er lehnt sich ein wenig vor, um besser in den Spiegel schauen zu können, verändert den Winkel und erfasst das Fenster der Wohnung. Das verschafft ihm Gewissheit. Der Spiegel ist in Ordnung. Die Nachbarn haben die Fensterscheibe mit einer Plastikfolie verklebt, die die Sicht trübt. Aber warum machen die das? Lassen sie die Wände streichen? Vielleicht geht dort doch alles mit rechten Dingen zu, und die renovieren einfach die Wohnung? »Das wird es sein«, sagt Rainer zufrieden zu sich selbst und setzt sich an den Küchentisch. Der Appetit ist zurückgekehrt. Es wird Zeit, endlich das leckere Marmeladenbrot zu genießen.

Er schaltet das Küchenradio ein, dreht die Lautstärke auf, bis er von den Geräuschen nebenan nichts mehr wahrnimmt, und lässt es sich schmecken.

13

»Fund!«, tönt es aus dem Schlafzimmer.

Scotty, die neben der inzwischen verstummten und missmutig dreinschauenden Brasilianerin in der Küche Platz genommen hat, erhebt sich und geht rüber, um Fotos zu machen. Bodo bleibt in der Küche; mit einem Auge behält er die Freundin des Beschuldigten im Blick und durchsucht weiter die Küchenschränke. Die achtunddreißig Kilogramm Amphetamine, die Scotty auf drei Schubladen verteilt im Tiefkühlfach des Eisschranks gefunden hat, stehen in Plastikasservatentüten neben der Küchentür.

»Wohin geht es denn?«, fragt Bodo. Zum Teil aus Neugier, aber auch, um die bedrückende Stille in der Küche zu durchbrechen.

Eva Fernandes schaut auf, doch ihr Schweigen zeigt, dass sie die Frage nicht verstanden hat oder nicht verstehen will.

Scotty kommt zurück in die Küche und stellt ein elektronisches Gerät auf den Küchentisch. Unmittelbar davor legt sie zwei Flugtickets, zwei Smartphones und einen Zettel.

»Sie wollten also nach Rio de Janeiro fliegen.«

»Ja, Urlaub. Ich sagte«, erwidert Eva Fernandes schmallippig.

»Mit One-Way-Tickets?« Scotty lehnt sich mit beiden Händen auf den Küchentisch und schaut auf die Südamerikanerin herab.

»Ja. Wir wissen nicht, wann zurück nach Deutschland kommen.«

»Und wofür brauchen Sie diese Geldzählmaschine?«

Eva Fernandes starrt auf das einem Miniatur-Laserdrucker ähnelnde Gerät. Über dem digitalen Display befindet sich eine Art Trichter zum Einlegen der Scheine, darunter ein Auffangfach. »Geldzählmaschine? Ich wissen nicht, was das ist.«

»Ja, ist klar. Jetzt wissen Sie wieder nichts, und gleich verstehen Sie auch nichts mehr. Wir stellen hier alles auf den Kopf. Irgendwo wird die Kohle schon sein, die mit der Maschine gezählt wurde.«

Eva Fernandes bleibt einfach regungslos sitzen, doch ihr Blick streift kaum merklich den Backofen. Sie fixiert die Flugtickets, die auf dem Küchentisch liegen.

»Ihr Ticket können Sie haben, das andere bleibt hier. Ihnen können wir ja nichts vorwerfen«, teilt Scotty ihr mit und schiebt der verdutzt dreinschauenden Südamerikanerin eins der beiden Flugtickets rüber. »Aber warum schauen Sie unwillkürlich auf den Backofen, wenn ich von Geld rede? Ich hätte da eine Idee.«

»Im Backofen habe ich bereits nachgeschaut. Da ist nichts drin«, wirft Bodo ein, während er beginnt, diverse Auflaufformen aus einem Schrank herauszunehmen.

Scotty kniet sich vor dem Backofen hin und betrachtet ihn. Dann schaut sie zu Eva Fernandes, die sie beobachtet, aber gleich wieder auf den Tisch schaut, als sie Scottys Blick bemerkt. Probehalber drückt Scotty gegen die Blende unterhalb des Backofens. »Wackelt.« Bodo sieht interessiert zu ihr herüber. Sie drückt, schiebt und ruckelt an der Blende, die sich schließlich löst und eine Öffnung unter dem Standherd freigibt. »Mit Magneten befestigt. Das ist mal neu.«

Aus ihrer Gürteltasche zieht Scotty ihre Taschenlampe und leuchtet in den Hohlraum. »Na bitte«, ruft sie triumphierend, fotografiert ihren Fund und zieht nacheinander mehrere Bündel Zwanziger, Fünfziger und Hunderter unter dem Herd hervor. Sie steht auf und legt die Scheine auf den Tisch. »Das ist wohl die Reisebörse, oder? Das Geld wird beschlagnahmt.«

Im Türrahmen stehen mittlerweile Blümchen und René, die wie Bodo anerkennend auf den Geldhaufen schauen, während Eva Fernandes die Tränen aus den Augen trudeln.

»Wir wären dann auch so weit durch, Scotty«, berichtet René. »Keine weiteren Funde.«

»Okay. Zählen wir noch rasch das Geld, tüten alles ein, und dann erhalten Sie, Frau Fernandes, von uns ein paar Formulare und sind uns auch schon wieder los.«

14

Mit einer weitreichenden Röte steigt am Morgen die Sonne über Hamburg auf und lässt die Farbe des Himmels mit ihren Strahlen sanft von Orange über Goldgelb in ein helles Blau übergehen.

Nördlich des Hamburger Stadtparks in Alsterdorf befindet sich das Polizeipräsidium, ein sternförmiger Bau mit einem kreisrunden Gebäude in der Mitte und zehn davon abgehenden »Fingern«. Über insgesamt fünf Etagen erstreckt sich der repräsentative Bau, der aus der Sicht vieler Beamter ein Geschoss zu flach ausgefallen ist, um wirklich ausreichend Platz für alle Beschäftigten zu bieten. Dombrowski hat Claires Wagen in der offenen Tiefgarage unter dem Präsidium abgestellt, in der normalerweise nur die Dienstwagen sowie die Privatfahrzeuge der höheren Dienste auf ihren Einsatz warten. Vor der Zugangstür im zweiten Stockwerk des südwestlichen Fingers bleibt er stehen und hält seinen Dienstausweis gegen das Kartenlesegerät am Eingang. Unter leisem Surren öffnet sich die Tür. Er reißt sie auf und läuft mit schlurfenden Schritten den Gang entlang. Mit einem aufgeräumten »Moin« begrüßt er die Kollegen in ihren Büros.

»Dumbo, warte mal bitte«, ruft Harry Goldutt ihm nach. Dombrowski kehrt langsam rückwärtsgehend zum Büro des Dienststellenleiters zurück.

»Was ist denn?«

»Ich habe einen neuen Fall für dich.« Harry sitzt hinter dem quer mitten im Büro stehenden Schreibtisch. In seinem bequemen Chefsessel wirkt er aufgrund seiner Körpergröße ein wenig verloren, aber das täuscht, denn Harry weiß sich mit bloßen Blicken durchzusetzen, sobald seine Mitarbeiter das Büro betreten.

»Harry, ich habe schon einen Fall, der mich voll bindet. Und muss nun noch zusätzlich einen Bericht zu einer spontanen Observation schreiben. Otto hatte mich gestern –«

»Spar dir die Worte. Otto hat mich schon umfassend ins Bild gesetzt.« Harry schiebt ein paar Seiten Papier über seinen Tisch auf den davorstehenden Trapeztisch. »Es ist nur eine kleine Sache, aber es könnte ein größerer Fall dahinterstecken. Eventuell ein Darknet-Händler. Schau es dir einfach mal an.«

Dombrowski stöhnt gequält auf. »Aus ›kleinen Sachen‹ wird häufig ein dickes Ding, Harry. Du weißt, dass ich nicht aufhöre, falls wirklich etwas dahintersteckt?«

»Genau das wollte ich hören. Wenn wir so einen Darknet-Typen kriegen, liegt uns die Baake vielleicht nicht mehr damit in den Ohren, dass wir dort mal etwas erreichen müssen.«

Beiden läuft beim Gedanken an die ungeliebte Kriminaldirektorin und Leiterin der Abteilung für Organisierte Kriminalität ein kalter Schauer über den Rücken.

»Also gut. Aber wir erzählen ihr erst von den Ermittlungen, wenn wir etwas erreicht haben. Ich will nicht, dass die sich hier einmischt und aus vermeintlichem Interesse auf unseren Flur kommt.« Dombrowski nimmt die Zettel und beginnt, den Bericht zu lesen. Geduldig schaut Harry ihm über seine Lesebrille hinweg dabei zu und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Er legt die Kuppen der gespreizten Finger sachte aneinander und lächelt, weil er in Dombrowskis Augen bereits den Funken der Begeisterung auflodern sieht. Der lässt die Papiere sinken und blickt ihn an. »Okay, Harry. Ich fahre mit Heini raus zu der Zeugin Walther und werde sie noch einmal dazu befragen und mir den Briefkasten anschauen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, verlässt Dombrowski das Büro des Chefs mit der Strafanzeige in der Hand und geht mit schnellen Schritten in sein eigenes.

»Ach, der Spätdienst. Auch schon da«, begrüßt ihn Otto aus dem Zimmer schräg gegenüber mit einem kehligen Lachen.

»Du musstest ja nicht zweieinhalb Stunden lang dem DJ hinterherfahren, um dann weitere zwei Stunden vor einem Puff darauf zu warten, dass er fertig ist und zu seiner Freundin nach Hause fährt. Zumal die Sporttasche längst in dem Berliner Mehrfamilienhaus verschwunden war. Wir hätten das Verfahren locker beenden können«, ruft Dombrowski über den Flur.

»Dann würden wir aber nie erfahren, woher er es bekommt. Wir haben bislang keinen Stoff auf der Waage, und die Wohnung von seinem Bunkerhalter und Läufer Timon ist auch noch nicht sicher identifiziert. Immerhin konnte ich seine Nummer heute Morgen aufschalten. Das Gericht hat endlich den Beschluss zur Überwachung der Telefonnummer erlassen. Bislang hat Timon aber noch nicht telefoniert. Außerdem: Was, wenn sich in der Tasche gestern doch nur Klamotten für den Bruder befunden haben? Dann wäre alles umsonst gewesen.«

Otto ist inzwischen mit seinem Kaffeebecher in der Hand zu Dombrowski ins Büro gekommen und lehnt sich gegen den Türrahmen, während er den ausgeprägten Bauch vorstreckt, um den sich sein kurzärmliges Hemd spannt.

»Ja, stimmt. Dennoch ist es ärgerlich. Und die Nacht war kurz. Gleich muss ich auch noch für das nächste Ding rausfahren, das mir Harry zugeschoben hat.«

»Ähm, das geht nicht, Dumbo. Ich könnte deine Unterstützung für die Begleitung der Observation heute gut gebrauchen. Es hat sich eben ein möglicher Abnehmer beim DJ