Der Clan der Otori. Das Schwert in der Stille - Lian Hearn - E-Book
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Der Clan der Otori. Das Schwert in der Stille E-Book

Lian Hearn

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Beschreibung

Sein Vater war ein Assassine. Sein Schicksal ist vorherbestimmt. Seine Liebe ist unerreichbar. Als Takeos Familie ermordet wird, rettet ihm Otori Shigeru selbst das Leben – der Anführer des Clans der Otori. Von ihm lernt Takeo Schwertkampf und Etikette. Doch Takeo wendet sich noch dunkleren Künsten zu, wie seine Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Ohne diese Künste würde Takeo nicht überleben – mit ihnen aber gerät er in eine Welt der Lügen und Intrigen. Als er sich in Kaede verliebt, deren Schönheit die Menschen verstummen lässt, gerät er in höchste Gefahr ... Auftakt der internationalen Megabestseller-Asienfantasy, für alle Fans von Elizabeth Lim, Sophie Kim und Amélie Wen Zhao. Die ganze Otori-Reihe auf einen Blick: Band 1: »Das Schwert in der Stille« Band 2: »Der Pfad im Schnee« Band 3: »Der Glanz des Mondes« Band 4: »Der Ruf des Reihers« Und die Vorgeschichte: »Die Weite des Himmels«

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Lian Hearn

Der Clan der Otori. Das Schwert in der Stille

 

 

Inhalt

Motto

Die drei Länder

Die Clans

Die Otori

Die Tohan

Die Seishuu

Der Stamm

Die Familie der Muto

Die Familie der Kikuta

Die Familie der Kuroda

Weitere Stammesangehörige

Andere

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Danksagung

Leseprobe aus Band 2: Der Clan der Otori. Der Pfad im Schee

Kapitel 1

Der Hirsch vereint mit

Dem herbstlichen Klee

Hat wie es heißt

Ein einziges Kitz gezeugt

Dieses mein Kitz

Der einsame Junge

Geht auf die Reise

Gras ist sein Kissen

 

(Gedichtanthologie Manyoshu Bd. 9 Nr. 1790)

 

Nach: Hiroaki Sato und Burton Watson,

The Country of the Eight Islands

Die drei Länder

Personen

Die Clans

Die Otori

(Mittleres Land; Sitz des Schlosses: Hagi)

Otori Shigeru

rechtmäßiger Erbe des Clans (1)

Otori Takeshi

sein jüngerer Bruder, von den Tohan ermordet (g.)

Otori Takeo

(Geburtsname: Tomasu), sein Adoptivsohn (1)

Otori Shigemori

Shigerus Vater, gefallen in der Schlacht von Yaegahara (g.)

Otori Ichiro

ein entfernter Verwandter, Shigerus und Takeos Lehrer (1)

Chiyo und Haruka

Dienerinnen in Shigerus Haus (1)

Shiro

ein Zimmermannsmeister aus Hagi (1)

Otori Shoichi

Shigerus Onkel, Oberhaupt des Clans (1)

Otori Masahiro

sein jüngerer Bruder (1)

Otori Yoshitomi

Masahiros Sohn (1)

Miyoshi Kahei und Miyoshi Gemba

Brüder, Freunde von Takeo (1)

Miyoshi Satoru

ihr Vater, Hauptmann der Wachen im Schloss von Hagi (3)

Endo Chikara

ein alter Gefolgsmann (3)

Terada Fumifusa

ein Pirat (3)

Terada Fumio

sein Sohn, Freund von Takeo (1)

Ryoma

ein Fischer, Masahiros unehelicher Sohn (3)

Die Tohan

(Der Osten; Sitz des Schlosses: Inuyama)

Iida Sadamu

Oberhaupt des Clans (1)

Iida Nariaki

sein Cousin (3)

Ando und Abe

Iidas Gefolgsleute (1)

Lord Noguchi

ein Verbündeter (1)

Lady Noguchi

seine Frau (1)

Junko

Dienerin im Schloss Noguchi (1)

Die Seishuu

(Eine Allianz mehrerer alteingesessener Familien. Der Westen; Sitz der Schlösser: Kumamoto und Maruyama)

Arai Daiichi

ein Kriegsherr (1)

Niwa Satoru und Akita Tsutomu

Arais Gefolgsleute (2)

Sonoda Mitsuru

Akitas Neffe (2)

Maruyama Naomi

Oberhaupt der Domäne Maruyama, Shigerus Geliebte (1)

Mariko

ihre Tochter (1)

Sachie

ihre Dienerin (1)

Sugita Haruki

oberster Gefolgsmann der Domäne Maruyama (1)

Sugita Hiroshi

sein Neffe (3)

Sakai Masaki

Hiroshis Cousin (3)

Lord Shirakawa

Oberhaupt der Domäne Shirakawa (1)

Kaede

seine älteste Tochter (1)

Ai und Hana

seine jüngeren Töchter (2)

Ayame und Manami

Dienerinnen im Haus der Shirakawa (2)

Ayako

Dienerin im Haus der Shirakawa (3)

Amano Tenzo

ein Gefolgsmann (1)

Shoji Kiyoshi

der älteste Gefolgsmann von Lord Shirakawa (1)

Der Stamm

Die Familie der Muto

Muto Kenji

Takeos Lehrer, Mutomeister (1)

Muto Shizuka

Kenjis Nichte, Arais Geliebte und Kaedes Dienerin und Gefährtin (1)

Zenko und Taku

ihre beiden Söhne (3)

Muto Seiko

Kenjis Frau (2)

Muto Yuki

die Tochter der beiden (1)

Muto Yuzuru

ein Verwandter von Kenji (2)

Sadako

Dienerin in Kenjis Haus (2)

Kana und Miyabi

Mägde im Haus von Shizukas Großeltern (3)

Die Familie der Kikuta

Kikuta Isamu

Takeos leiblicher Vater (g.)

Kikuta Kotaro

sein Cousin, Kikutameister (1)

Kikuta Gosaburo

Kotaros jüngster Bruder (2)

Kikuta Akio

deren Neffe (1)

Kikuta Hajime

ein Ringer (2)

Die Familie der Kuroda

Kuroda Shintaro

ein berühmter Attentäter (1)

Kondo Kiichi

Sohn von Kuroda Tetsuo, Gefolgsmann von Arai und Kaede (2)

Weitere Stammesangehörige

Kudo Keiko

(1)

Imai Kazuo

(2)

Vorwort

Der Clan der Otori umfasst drei Bücher, die von einem imaginären Land in einer feudalen Epoche erzählen. Weder der Schauplatz noch das Zeitalter sollen mit einer wahren historischen Epoche übereinstimmen, obwohl Anklänge an viele japanische Sitten und Traditionen zu finden sind und Landschaft und Jahreszeiten den japanischen entsprechen. Nachtigallenböden (uguisubari) sind wirkliche Erfindungen und wurden auf dem Gelände vieler Herrenhäuser und Tempel gebaut; die berühmtesten Beispiele sind in Kyoto bei Schloss Nijo und Chion’In zu sehen. Ich habe den Orten japanische Namen gegeben, doch sie stehen selten im Zusammenhang mit tatsächlichen Orten; Ausnahmen sind Hagi und Matsue, die mehr oder weniger in ihrer realen geographischen Lage angesiedelt sind. Die Romangestalten sind alle erfunden bis auf den Künstler Sesshu, der sich unmöglich nachbilden lässt.

Puristen vergeben mir hoffentlich die Freiheiten, die ich mir genommen habe. Meine einzige Entschuldigung ist, dass es sich hier um ein Werk der Phantasie handelt.

 

Lian Hearn

Kapitel 1

Meine Mutter drohte oft, mich in acht Stücke zu reißen, wenn ich den Wassereimer umstieß oder vorgab, ihren Ruf nicht zu hören, während die Dämmerung dichter wurde und die Zikaden lauter schrillten. Dann hörte ich ihre Stimme, die rau und heftig durch das einsame Tal schallte. »Wo ist dieser schreckliche Junge? Den zerreiße ich, wenn er zurückkommt.«

Aber wenn ich dann zurückkam, schmutzig vom Hangrutschen, grün und blau geschlagen von Raufereien und einmal mit einer stark blutenden Kopfwunde von einem Stein (ich habe immer noch die Narbe, wie ein versilberter Daumennagel), dann warteten auf mich das Feuer, der Duft der Suppe und die Arme meiner Mutter. Sie zerriss mich keineswegs, sondern versuchte, mich festzuhalten, mir das Gesicht abzuwaschen oder das Haar zu ordnen, während ich mich wand wie eine Eidechse, um von ihr loszukommen. Meine Mutter war kräftig durch endlose harte Arbeit und nicht alt: Sie hatte mich geboren, bevor sie siebzehn war, und wenn sie mich festhielt, sah ich, dass wir die gleiche Haut hatten, auch wenn wir uns sonst nicht sehr ähnlich waren; sie hatte flächige, sanfte Züge, während meine, wie man mir sagte (denn wir hatten keine Spiegel in dem abgelegenen Bergdorf Mino), feiner waren, wie die eines Falken. Der Ringkampf endete meistens mit ihrem Sieg, und ihr Preis war die Umarmung, der ich nicht entfliehen konnte. Und ihre Stimme flüsterte mir die Segensworte der Verborgenen ins Ohr, während mein Stiefvater nachsichtig murrte, dass sie mich verwöhne, und die kleinen Mädchen, meine Halbschwestern, um uns herumsprangen und ihren Anteil an der Umarmung und den Segensworten verlangten.

Deshalb hielt ich es für eine Redensart. Mino war ein friedlicher Ort, zu abgeschieden, als dass er mit den wilden Schlachten der Clans in Berührung gekommen wäre. Nie hatte ich mir vorgestellt, dass Männer und Frauen tatsächlich in acht Stücke zerrissen werden könnten, dass man ihre starken, honigfarbenen Glieder aus den Gelenken zerrte und den wartenden Hunden vorwarf. Aufgewachsen unter den Verborgenen, wusste ich nicht, dass Menschen einander so etwas antaten.

Ich wurde fünfzehn, und meine Mutter begann, unsere Ringkämpfe zu verlieren. Ich wuchs in einem Jahr zwölf Zentimeter und war mit sechzehn größer als mein Stiefvater. Er murrte öfter, ich solle zur Ruhe kommen, aufhören, wie ein wilder Affe über den Berg zu streifen, und in eine der Dorffamilien einheiraten. Ich hatte nichts gegen den Vorschlag, eines der Mädchen zu heiraten, mit denen ich aufgewachsen war, und in diesem Sommer arbeitete ich fleißiger neben ihm, bereit, meinen Platz unter den Männern des Dorfs einzunehmen. Aber hin und wieder konnte ich dem Ruf des Bergs nicht widerstehen und stahl mich am Ende des Tages durchs Bambusgehölz mit seinen hohen, glatten Stämmen und dem schrägen grünen Lichteinfall davon, folgte dem steinigen Pfad hinauf am Schrein des Berggotts vorbei, wo die Dorfbewohner Hirse und Orangen als Opfergaben hinterließen, in den Birken- und Zedernwald, wo der Kuckuck und die Nachtigall lockend riefen, wo ich Füchse und Hirsche beobachtete und den melancholischen Ruf der Milane über mir hörte.

An diesem Abend war ich über den Berg gegangen, zu einem Platz, wo die besten Pilze wuchsen. Mein Tuch war voll von den kleinen, fadenartigen weißen und den dunklen, fächerförmigen orangefarbenen. Ich stellte mir vor, wie sich meine Mutter freuen würde und wie die Pilze meinen Stiefvater vom Schimpfen abhielten. Schon konnte ich sie auf der Zunge kosten. Während ich durch den Bambus lief und hinaus in die Reisfelder, wo die roten Herbstlilien schon blühten, glaubte ich, Essensgeruch im Wind zu riechen.

Die Dorfhunde bellten wie so oft am Ende des Tages. Der Geruch wurde stärker und beißend. Ich hatte keine Angst, noch nicht, aber irgendeine Vorahnung ließ mein Herz schneller schlagen. Vor mir war ein Feuer.

Im Dorf brachen oft Feuer aus; fast alles, was wir besaßen, war aus Holz oder Stroh. Doch ich konnte kein Rufen hören, kein Geräusch von Eimern, die von Hand zu Hand gereicht wurden, keine der üblichen Schreie und Flüche. Die Zikaden schrillten so laut wie immer; Frösche quakten im Reis. In der Ferne grollte Donner um die Berge. Die Luft war drückend und feucht.

Ich schwitzte, aber der Schweiß wurde kalt auf meiner Stirn. Ich sprang über den Graben des letzten Terrassenfelds und schaute hinunter auf die Stelle, wo mein Zuhause immer gewesen war. Das Haus war weg.

Ich ging näher. Flammen züngelten immer noch und leckten an den geschwärzten Balken. Von meiner Mutter oder meinen Schwestern war nichts zu sehen. Ich wollte rufen, aber meine Zunge war plötzlich zu groß für meinen Mund, und der Rauch nahm mir den Atem und ließ meine Augen tränen. Das ganze Dorf brannte. Aber wo waren alle?

Dann hörte ich die Schreie.

Sie kamen aus der Richtung des Schreins, um den sich die meisten Häuser drängten. Sie klangen wie das Schmerzgeheul eines Hundes, nur dass der Hund menschliche Worte sprechen, sie unter Höllenqualen brüllen konnte. Ich glaubte, die Gebete der Verborgenen zu erkennen, und im Nacken und auf den Armen standen mir alle Haare zu Berge. Wie ein Geist glitt ich zwischen den brennenden Häusern auf die Schreie zu.

Das Dorf war verlassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo alle hingegangen waren. Ich sagte mir, sie seien weggelaufen: Meine Mutter habe meine Schwestern in die Sicherheit des Waldes gebracht. Ich würde ihnen nachgehen und sie finden, sobald ich festgestellt hätte, wer schrie. Doch als ich aus der Gasse auf die Hauptstraße kam, sah ich zwei Männer am Boden liegen. Ein leichter Regen fiel, und die Männer sahen überrascht aus, als hätten sie keine Ahnung, warum sie da im Regen lagen. Sie würden nie wieder aufstehen, und es machte nichts, dass ihre Kleidung nass wurde.

Einer von ihnen war mein Stiefvater.

In diesem Moment veränderte sich die Welt für mich. Eine Art Nebel stieg vor meinen Augen auf, und als er sich auflöste, schien nichts mehr wirklich. Ich hatte das Gefühl, in die andere Welt hinübergegangen zu sein, die neben unserer eigenen liegt, und die wir in Träumen besuchen. Mein Stiefvater trug seine besten Sachen. Das indigoblaue Tuch war dunkel vom Regen und vom Blut. Es tat mir leid, dass sie ruiniert waren: Er war so stolz darauf gewesen.

Ich ging an den Leichen vorbei, durch die Tore und in den Schrein. Der Regen war kühl auf meinem Gesicht. Die Schreie hörten plötzlich auf.

Auf dem Gelände waren Männer, die ich nicht kannte. Sie sahen aus, als würden sie irgendein Ritual für ein Fest durchführen. Sie hatten Tücher um die Köpfe gebunden; ihre Jacken hatten sie ausgezogen, die Arme glänzten von Schweiß und Regen. Sie keuchten und ächzten und fletschten die weißen Zähne, als wäre Töten eine ebenso harte Arbeit wie das Einbringen der Reisernte.

Wasser rieselte aus dem Brunnen, wo man sich Hände und Mund wusch, um sich beim Eintritt in den Schrein zu reinigen. Früher, als die Welt normal gewesen war, musste jemand Weihrauch im großen Kessel angezündet haben. Die letzten Schwaden wehten über den Hof und überdeckten den bitteren Geruch von Blut und Tod.

Der Mann, der zerrissen worden war, lag auf den nassen Steinen. Die Gesichtszüge des abgetrennten Kopfes waren gerade noch zu erkennen. Es war Isao, der Anführer der Verborgenen. Sein Mund war noch offen, in einer letzten Schmerzverzerrung erstarrt.

Die Mörder hatten ihre Jacken ordentlich neben einer Säule gestapelt. Ich sah deutlich das Wappen mit dem dreifachen Eichenblatt. Das waren Tohanmänner aus der Clanhauptstadt Inuyama. Ich erinnerte mich an einen Reisenden, der am Ende des siebten Monats durch das Dorf gekommen war. Er hatte die Nacht in unserem Haus verbracht, und als meine Mutter vor der Mahlzeit betete, hatte er versucht, sie zum Schweigen zu bringen.

»Weißt du nicht, dass die Tohan die Verborgenen hassen und planen, uns anzugreifen? Lord Iida hat geschworen, uns auszulöschen«, flüsterte er. Meine Eltern waren am nächsten Tag zu Isao gegangen und hatten es ihm erzählt, aber niemand hatte ihnen geglaubt. Wir waren weit von der Hauptstadt entfernt, und die Machtkämpfe der Clans hatten uns nie interessiert. In unserem Dorf lebten die Verborgenen neben allen anderen, sie sahen genauso aus, verhielten sich genauso bis auf die Gebete. Warum sollte jemand uns etwas antun wollen? Es schien undenkbar.

Und so schien es mir immer noch, als ich wie angewurzelt am Brunnen stand. Das Wasser rieselte immer weiter und weiter, und ich wollte damit das Blut von Isaos Gesicht waschen und sanft seinen Mund schließen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich wusste, dass die Männer des Tohanclans sich jeden Augenblick umdrehen und mich sehen könnten, und dann würden sie mich in Stücke reißen. Sie würden weder Mitleid noch Gnade kennen. Sie waren bereits vom Tod besudelt, nachdem sie einen Mann innerhalb des Schreins getötet hatten.

Aus der Ferne hörte ich mit schärfster Klarheit das trommelnde Geräusch eines galoppierenden Pferds. Als die Hufschläge näher kamen, überkam mich ein Gefühl der Vorauserinnerung, wie man es aus Träumen kennt. Ich wusste, wen ich eingerahmt zwischen den Toren des Schreins sehen würde. Noch nie im Leben hatte ich ihn gesehen, doch meine Mutter hatte ihn uns als eine Art menschenfressendes Ungeheuer dargestellt, damit wir gehorchten: Strolcht nicht auf dem Berg herum, spielt nicht am Fluss, sonst erwischt euch Iida! Ich erkannte ihn sofort: Iida Sadamu, Lord des Tohanclans.

Das Pferd bäumte sich auf und wieherte, als es Blut roch. Iida saß so still, als wäre er aus Eisen gegossen. Er war von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Panzer gekleidet, sein Helm trug ein Geweih. Unter seinem grausamen Mund hatte er einen kurzen schwarzen Bart. Seine Augen glänzten wie bei einem Mann auf der Jagd.

Diese glänzenden Augen waren auf mich gerichtet. Sofort wusste ich zwei Dinge über ihn: erstens, dass er nichts im Himmel oder auf Erden fürchtete; zweitens, dass er das Töten um des Tötens willen liebte. Jetzt, da er mich gesehen hatte, gab es keine Hoffnung.

Er hielt das Schwert in der Hand. Das Einzige, was mich rettete, war der Widerwille des Pferdes vor dem Tor. Es bäumte sich erneut auf und tänzelte zurück. Iida rief. Die Männer im Schrein drehten sich um, sahen mich und schrien in ihrem rauen Tohandialekt auf. Ich schnappte den Rest Weihrauch, bemerkte dabei kaum, dass ich mir die Hand verbrannte, und rannte durch das Tor. Als sich das scheuende Pferd mir näherte, warf ich ihm den Weihrauch in die Flanke. Es bäumte sich über mir auf, die riesigen Füße schlugen an meinen Wangen vorbei. Ich hörte, wie das Schwert durch die Luft sauste, und wusste, dass die Tohan alle um mich herum waren. Es schien unmöglich, dass sie mich verfehlten, aber es kam mir vor, als hätte ich mich in zwei Personen gespalten. Ich stürzte mich wieder auf das Pferd. Es schnaubte vor Schmerz und bockte. Iida war durch den Schwertschlag, der irgendwie sein Ziel verfehlt hatte, aus dem Gleichgewicht gekommen, jetzt fiel er über den Pferdehals nach vorne und rutschte schwer zu Boden.

Entsetzen packte mich, danach Panik. Ich hatte den Lord der Tohan vom Pferd gestürzt. Eine solche Tat konnte nur durch endlose Folter und Qual gesühnt werden. Ich hätte mich zu Boden werfen und den Tod verlangen müssen. Aber ich wollte nicht sterben. Etwas regte sich in meinem Blut und sagte mir, dass ich nicht vor Iida sterben würde. Zuerst würde ich ihn tot sehen.

Ich wusste nichts über den Krieg der Clans, nichts über ihre starren Regeln und ihre Fehden. Ich hatte mein ganzes Leben unter den Verborgenen verbracht, die nicht töten dürfen und die man lehrt, einander zu vergeben. Aber in diesem Moment machte mich die Rache zu ihrem Schüler. Ich erkannte sie sofort und lernte auf der Stelle ihre Lektionen. Sie war das, was ich ersehnte; sie würde mich vor dem Gefühl retten, ein lebender Geist zu sein. In diesem Bruchteil einer Sekunde nahm ich sie in meinem Herzen auf. Ich trat gegen den Mann, der mir am nächsten war, traf ihn zwischen den Beinen, grub meine Zähne in eine Hand, die mein Handgelenk gepackt hatte, riss mich los und lief auf den Wald zu.

Drei kamen mir nach. Sie waren größer als ich und konnten schneller rennen, aber ich kannte mich hier aus, und die Dunkelheit brach herein. Der Regen war jetzt stärker und machte die steilen Bergpfade schlüpfrig und tückisch. Zwei der Männer riefen mir dauernd zu, was sie mir mit dem größten Vergnügen antun würden, sie verfluchten mich in Worten, deren Bedeutung ich nur erraten konnte, aber der Dritte lief schweigend, und vor ihm hatte ich Angst. Die beiden anderen würden wohl nach einer Weile umkehren zu ihrem Maisschnaps oder sonstigem Fusel, mit dem sich die Tohan betranken, und behaupten, sie hätten mich auf dem Berg verloren, aber dieser würde nie aufgeben. Er würde mich unaufhörlich verfolgen, bis er mich getötet hätte.

Als der Pfad in der Nähe des Wasserfalls steiler wurde, blieben die beiden Lärmenden ein wenig zurück, doch der Dritte beschleunigte sein Tempo wie ein Tier, das bergauf läuft. Wir kamen am Schrein vorbei; ein Vogel pickte in der Hirse und flog mit einem Aufblitzen von Grün und Weiß in den Flügeln davon. Der Pfad bog um den Stamm einer riesigen Zeder, und während ich mit schweren Beinen und keuchendem Atem an dem Baum vorbeirannte, tauchte jemand aus seinem Schatten auf und stellte sich mir in den Weg.

Ich lief direkt in ihn hinein. Er ächzte, als hätte ich ihm den Atem genommen, aber er hielt mich sofort fest. Er schaute mir ins Gesicht, und ich sah etwas in seinen Augen aufblitzen: Überraschung, Erkennen. Was immer es sein mochte, er verstärkte seinen Griff. Diesmal konnte ich nicht fliehen. Ich hörte, wie der Tohan anhielt, dann die schweren Schritte der beiden anderen, die ihm nachkamen.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Mann, den ich fürchtete, mit ruhiger Stimme. »Sie haben den Verbrecher gefasst, den wir verfolgt haben. Danke.«

Der Mann, der mich festhielt, drehte mich um, so dass ich im Angesicht meiner Häscher stand. Ich wollte um Hilfe schreien, ihn anflehen, aber ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Ich fühlte das weiche Tuch seiner Kleidung, seine glatten Hände. Er war zweifellos irgendein Lord, genau wie Iida. Sie waren alle vom gleichen Schlag. Er würde nichts tun, um mir zu helfen. Ich schwieg und dachte an die Gebete, die meine Mutter mir beigebracht hatte, dachte kurz an den Vogel beim Schrein.

»Was hat dieser Verbrecher getan?«, fragte der Lord. Der Mann vor mir hatte ein langes Wolfsgesicht.

»Entschuldigen Sie«, sagte er wieder, jetzt weniger höflich. »Das geht Sie nichts an. Diese Sache betrifft nur Iida Sadamu und den Tohanclan.«

»Oh!«, sagte der Lord. »Wirklich? Und wer könnten Sie sein, dass Sie glauben, mir sagen zu können, was mich betrifft und was nicht?«

»Überlassen Sie ihn einfach uns!«, knurrte der Wolfsmann grob. Er trat einen Schritt vor, und ich wusste plötzlich, dass der Lord mich ihm nicht aushändigen würde. Mit einer geschmeidigen Bewegung schob er mich hinter seinen Rücken und ließ mich los. Zum zweiten Mal hörte ich das Zischen eines Kriegerschwerts, das zum Leben erweckt wird. Der Wolfsmann zog ein Messer hervor. Die beiden anderen hatten Stangen. Der Lord hob das Schwert mit beiden Händen, machte einen Schritt unter eine der Stangen, schlug dem Mann, der sie hielt, den Kopf ab, wandte sich wieder dem Wolfsmann zu und hieb ihm den rechten Arm mit dem Messer ab. Das alles geschah in einem Augenblick, doch es dauerte eine Ewigkeit. Es geschah im letzten Tageslicht, im Regen, aber wenn ich jetzt die Augen schließe, sehe ich immer noch jede Einzelheit.

Die kopflose Leiche fiel mit einem dumpfen Aufschlag und einem Blutschwall, der Kopf rollte den Hang hinunter. Der dritte Mann ließ seinen Stock fallen, lief rückwärts und rief um Hilfe. Der Wolfsmann lag auf den Knien und versuchte, das Blut aus dem Stumpf am Ellbogen zu stillen. Weder stöhnte noch redete er.

Der Lord wischte das Schwert ab und steckte es wieder in die Scheide an seinem Gürtel. »Komm«, sagte er zu mir.

Ich stand zitternd da und konnte mich nicht rühren. Dieser Mann war aus dem Nichts aufgetaucht. Er hatte vor meinen Augen getötet, um mein Leben zu retten. Ich fiel vor ihm auf den Boden und suchte nach Worten, ihm zu danken.

»Steh auf«, sagte er. »Der Rest von ihnen wird gleich hinter uns her sein.«

»Ich kann nicht weggehen«, brachte ich heraus. »Ich muss meine Mutter finden.«

»Nicht jetzt. Jetzt ist es für uns Zeit zu laufen!« Er zog mich auf die Füße und drängte mich den Hang hinauf. »Was ist dort unten geschehen?«

»Sie haben das Dorf angezündet und getötet …« Die Erinnerung an meinen Stiefvater kehrte zurück, und ich konnte nicht weitersprechen.

»Verborgene?«

»Ja«, flüsterte ich.

»Das geschieht in der gesamten Provinz. Iida schürt überall den Hass gegen sie. Ich nehme an, du bist einer von ihnen?«

»Ja.« Ich schauderte. Obwohl noch Spätsommer war und der Regen warm, hatte ich noch nie so gefroren.

»Aber nicht nur deshalb waren sie hinter mir her. Ich war schuld daran, dass Lord Iida vom Pferd gefallen ist.«

Zu meiner Überraschung prustete der Lord lachend los. »Das hätte ich gern gesehen! Aber dadurch bist du zweifellos doppelt in Gefahr. Es ist eine Beleidigung, die er tilgen muss. Doch du stehst jetzt unter meinem Schutz. Iida darf dich mir nicht wegnehmen.«

»Sie haben mein Leben gerettet. Von diesem Tag an gehört es Ihnen.«

Aus irgendeinem Grund brachte ihn das wieder zum Lachen. »Wir haben mit leerem Magen und nassen Kleidern einen langen Weg vor uns. Vor Tagesanbruch müssen wir über der Bergkette sein, wenn sie uns verfolgen.« Er schritt schnell voraus, und ich lief ihm nach, meine Beine durften nicht zittern, meine Zähne nicht klappern. Ich kannte noch nicht einmal seinen Namen, aber ich wollte, dass er stolz auf mich war und nie bereute, mir das Leben gerettet zu haben.

»Ich bin Otori Shigeru«, sagte er, als wir zum Joch hinaufstiegen. »Vom Clan der Otori aus Hagi. Aber unterwegs benutze ich diesen Namen nicht, also gebrauche du ihn auch nicht.«

Hagi war für mich so fern wie der Mond, und obwohl ich von den Otori gehört hatte, wusste ich über sie nur, dass sie vor zehn Jahren von den Tohan bei einer großen Schlacht in der Ebene von Yaegahara besiegt worden waren.

»Wie heißt du, Junge?«

»Tomasu.«

»Das ist ein häufiger Name unter den Verborgenen. Leg ihn besser ab.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er kurz aus der Dunkelheit: »Du kannst Takeo heißen.«

Und so verlor ich zwischen dem Wasserfall und dem Berggipfel meinen Namen, wurde ein Neuer und vereinigte mein Schicksal mit dem der Otori.

 

Die Morgenröte fand uns frierend und hungrig im Dorf Hinode, berühmt für seine heißen Quellen. Ich war schon weiter von meinem eigenen Haus entfernt als je zuvor in meinem Leben. Von Hinode wusste ich nur, was die Jungen in meinem Dorf sagten: dass die Männer Betrüger waren und die Frauen so heiß wie die Quellen, bereit, sich für den Preis eines Bechers Wein mit einem hinzulegen. Ich hatte keine Gelegenheit festzustellen, ob etwas davon der Wahrheit entsprach. Keiner wagte es, Lord Otori zu betrügen, und die einzige Frau, die ich sah, war die Frau des Wirts, die unsere Mahlzeiten brachte.

Ich schämte mich, weil ich schmutzig und blutbefleckt war in den alten Kleidern, die meine Mutter so oft geflickt hatte, dass man unmöglich sagen konnte, welche Farbe sie ursprünglich hatten. Ich konnte nicht glauben, dass der Lord annahm, ich würde bei ihm in der Herberge schlafen. Ich dachte, ich würde im Stall bleiben. Aber offenbar wollte er mich nicht zu oft aus den Augen lassen. Er sagte der Frau, sie solle meine Kleider waschen, und schickte mich zum Baden in die heiße Quelle. Als ich zurückkam, schlaftrunken von der Wirkung des heißen Wassers nach der schlaflosen Nacht, war das Frühstück im Zimmer serviert, und er aß bereits. Er winkte mir, ihm Gesellschaft zu leisten. Ich kniete mich auf den Boden und sprach die Gebete, die wir immer vor der ersten Mahlzeit des Tages sagten.

»Das kannst du nicht machen«, sagte Lord Otori, den Mund voller Reis und eingelegtem Gemüse. »Noch nicht einmal, wenn du allein bist. Wenn du weiterleben willst, musst du diesen Teil deines Lebens vergessen. Er ist für immer vorbei.« Er schluckte und nahm einen weiteren Bissen. »Man kann für Besseres sterben.«

Ein wahrer Gläubiger hätte wahrscheinlich trotzdem auf den Gebeten bestanden. Ob das wohl die toten Männer meines Dorfs getan hätten? Ich erinnerte mich an ihre Augen, die leer und überrascht zugleich ausgesehen hatten, und hörte auf zu beten. Ich hatte keinen Appetit mehr.

»Iss«, sagte der Lord nicht unfreundlich. »Ich will dich nicht den ganzen Weg bis Hagi tragen.«

Ich zwang mich, ein wenig zu essen, damit er mich nicht verspottete. Dann wies er mich an, der Frau zu sagen, sie solle die Betten ausbreiten. Es war mir unangenehm, ihr Befehle zu erteilen; zum einen fürchtete ich, sie würde mich auslachen und fragen, ob ich die Hände nicht mehr gebrauchen könne, zum anderen geschah etwas mit meiner Stimme. Ich spürte, wie sie mir versagte, als wären Worte zu schwach, um auszudrücken, was meine Augen gesehen hatten. Doch sobald die Frau begriffen hatte, was ich meinte, verbeugte sie sich fast so tief wie vor Lord Otori und beeilte sich zu gehorchen.

Lord Otori legte sich nieder und schloss die Augen.

Er schien sofort einzuschlafen.

Ich dachte, auch ich würde sofort einschlafen, aber meine Gedanken sprangen entsetzt und erschöpft hin und her. Die verbrannte Hand schmerzte, und ich hörte alles um mich herum mit ungewöhnlicher und leicht beängstigender Klarheit – jedes Wort, das in der Küche gesprochen wurde, jedes Geräusch aus dem Ort. Immer wieder dachte ich an meine Mutter und die kleinen Mädchen. Ich sagte mir, dass ich sie nicht tot gesehen hatte. Vielleicht waren sie weggelaufen und in Sicherheit. Jeder in unserem Dorf mochte meine Mutter. Sie hätte nicht den Tod gewählt. Obwohl sie als Verborgene geboren worden war, gehörte sie nicht zu den Fanatikern. Sie entzündete Weihrauch im Schrein und brachte dem Gott des Berges Opfergaben. Meine Mutter mit dem breiten Gesicht, den rauen Händen und der honigfarbenen Haut konnte nicht tot sein, konnte nicht irgendwo neben ihren Töchtern unter dem Himmel liegen, die scharfen Augen jetzt leer und überrascht!

Meine Augen waren nicht leer. Sie waren beschämend voll von Tränen. Ich vergrub mein Gesicht in der Matratze und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Doch trotz aller Willenskraft konnte ich nichts daran ändern, dass meine Schultern zuckten und mein Atem in rauen Schluchzern kam. Nach einigen Augenblicken spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, und Lord Otori sagte leise: »Der Tod kommt plötzlich, und das Leben ist zerbrechlich und kurz. Niemand kann das ändern, weder durch Gebete noch durch Zaubersprüche. Kinder weinen deshalb, aber Männer und Frauen weinen nicht. Sie müssen es ertragen.«

Seine Stimme brach beim letzten Wort. Lord Otori war ebenso traurig wie ich. Sein Gesicht war angespannt, doch die Tränen liefen ihm immer noch aus den Augen. Ich wusste, um wen ich weinte, doch ich wagte es nicht, ihn zu befragen.

 

Ich musste eingeschlafen sein, denn ich träumte, dass ich zu Hause war und das Abendessen aus einer Schüssel aß, die mir so vertraut war wie die eigenen Hände. In der Suppe war eine schwarze Krabbe, sie sprang aus der Schüssel und lief in den Wald. Ich lief ihr nach und wusste bald nicht mehr, wo ich war. Ich wollte rufen: »Ich habe mich verirrt!«, aber die Krabbe hatte mir die Stimme gestohlen.

Ich wachte auf, Lord Otori schüttelte mich.

»Steh auf!«

Ich hörte, dass es nicht mehr regnete. Das Licht sagte mir, dass es mitten am Tag war. Der Raum wirkte eng und stickig, die Luft war drückend und still. Die Strohmatten rochen säuerlich.

»Ich will nicht, dass Iida mich mit hundert Kriegern verfolgt, nur weil er wegen eines Jungen vom Pferd gefallen ist«, brummte Lord Otori gutgelaunt. »Wir müssen schnell weiter.«

Ich sagte nichts. Meine Kleider lagen gewaschen und trocken auf dem Boden. Ich zog sie schweigend an.

»Aber wie du es gewagt hast, Sadamu so mutig gegenüberzutreten, wenn du zu ängstlich bist, zu mir ein Wort zu sagen …«

Ich war ihm gegenüber eigentlich nicht ängstlich – eher voller Ehrfurcht. Es kam mir vor, als wäre mir plötzlich einer von Gottes Engeln erschienen oder einer der Waldgeister oder ein Held aus vergangenen Zeiten und hätte mich unter seinen Schutz genommen. Ich hätte kaum sagen können, wie er aussah, denn ich wagte es nicht, ihn direkt anzuschauen. Wenn ich einen scheuen Seitenblick auf ihn warf, war sein Gesicht normalerweise ruhig – nicht gerade streng, aber ausdruckslos. Ich wusste noch nicht, wie sein Lächeln es veränderte. Er war vielleicht dreißig Jahre alt oder etwas jünger, weit über mittelgroß, breitschultrig. Seine Hände waren hellhäutig, fast weiß, gut geformt und mit langen, nervösen Fingern, die dazu gemacht schienen, sich um den Schwertgriff zu legen. Das taten sie jetzt, als er das Schwert von der Matte aufhob. Der Anblick ließ mich schaudern. Ich stellte mir vor, dass es das Fleisch, das Lebensblut vieler Menschen gekannt, ihre Todesschreie gehört hatte. Es erschreckte und faszinierte mich.

»Jato.« Lord Otori war meinem Blick gefolgt. Er lachte und klopfte auf die abgenutzte schwarze Scheide. »In Reisekleidung wie ich. Zu Hause tragen wir beide etwas Eleganteres!«

Jato, wiederholte ich leise vor mich hin. Das Schlangenschwert, das mein Leben gerettet hatte, indem es Leben nahm.

Wir verließen die Herberge und wanderten weiter, an den nach Schwefel riechenden Quellen von Hinode vorbei und einen anderen Berg hinauf. Die Reisfelder machten Bambusgehölzen Platz, wie denen um mein Dorf; dann gingen wir an Kastanien, Ahornbäumen und Zedern vorbei. Der Wald dampfte von der Sonnenwärme, obwohl er so dicht war, dass wenig Sonnenlicht bis zu uns durchdrang. Zweimal glitten uns Schlangen aus dem Weg, die eine war eine kleine schwarze Viper, die andere, größere hatte die Farbe von Tee. Sie schien zu rollen wie ein Reifen und sprang ins Dickicht, als wüsste sie, dass Jato ihr den Kopf abschlagen könnte. Zikaden sangen schrill, und die Min-min stöhnten mit nervtötender Monotonie.

Wir gingen rasch trotz der Hitze. Manchmal war Lord Otori nicht einzuholen, und ich erklomm mühsam den Pfad, als wäre ich völlig allein, hörte nur seine Schritte vor mir und traf ihn dann auf dem Gipfel, wo er über die Berge schaute, hinter denen sich weitere Berge hinzogen, ringsum lag undurchdringlicher Wald.

Er schien sich in diesem wilden Land auszukennen. Wir gingen lange am Tag und schliefen nur wenige Stunden in der Nacht, manchmal in einem abgelegenen Bauernhaus, manchmal in einer verlassenen Berghütte. Außerhalb der Orte, an denen wir anhielten, trafen wir nur wenige Menschen auf dieser einsamen Straße: einen Holzfäller, zwei Mädchen, die Pilze sammelten und bei unserem Anblick davonliefen, einen Mönch auf dem Weg zu einem fernen Tempel. Nach einigen Tagen überquerten wir den Gebirgskamm des Landes. Wir hatten immer noch steile Hügel zu ersteigen, doch häufiger gingen wir bergab. Das Meer wurde sichtbar, zuerst ein fernes Glitzern, dann eine breite, seidige Fläche mit Inseln, die aufragten wie ertrunkene Berge. Das war für mich etwas Neues, und ich konnte mich daran nicht sattsehen. Manchmal glich es einer hohen Wand, die gleich über das Land stürzen würde.

Meine Hand heilte langsam, eine silbrige Narbe blieb auf der rechten Handfläche zurück.

Die Dörfer wurden größer, und schließlich suchten wir ein Nachtquartier in einem Ort, der nur als Stadt bezeichnet werden konnte. Er lag an der Hauptstraße zwischen Inuyama und der Küste und hatte viele Herbergen und Gaststätten. Wir waren immer noch im Tohangebiet, und überall war das dreifache Eichenblatt angebracht, das mir Angst machte, auf die Straßen zu gehen, doch ich spürte, dass die Menschen in der Herberge Lord Otori irgendwie erkannten. Der übliche Respekt, den ihm die Leute zollten, hatte eine andere Qualität, als gäbe es eine alte Treue, die verborgen bleiben musste. Sie behandelten mich freundlich, obwohl ich nicht mit ihnen redete. Ich hatte seit Tagen nicht gesprochen, noch nicht einmal mit Lord Otori. Es schien ihm nicht viel auszumachen. Er war selbst ein schweigsamer Mann, in seine eigenen Gedanken vertieft, aber hin und wieder sah ich ihn verstohlen an und stellte fest, dass er mich mit einer Miene betrachtete, die vielleicht Mitleid ausdrückte. Er schien etwas sagen zu wollen; dann seufzte er und murmelte:

»Macht nichts, macht nichts, da lässt sich nichts ändern.« Die Dienstboten schwatzten ausgiebig, und ich hörte ihnen gern zu. Sie waren sehr an einer Frau interessiert, die in der vergangenen Nacht angekommen war und eine weitere Nacht bleiben würde. Sie reiste allein nach Inuyama, natürlich mit Dienstboten, aber ohne Ehemann oder Bruder oder Vater, und wollte offenbar Lord Iida treffen. Sie war sehr schön, obwohl ziemlich alt, mindestens dreißig, sehr nett, gütig und höflich zu allen. Aber – allein zu reisen! Wie geheimnisvoll! Der Koch wollte wissen, dass sie kürzlich Witwe geworden war und zu ihrem Sohn in die Hauptstadt fuhr, doch die Hausdame sagte, das sei Unsinn, die Frau habe nie Kinder gehabt und sei nie verheiratet gewesen; und dann sagte der Pferdeknecht, der gerade sein Abendessen verschlang, er habe von den Sänftenträgern gehört, dass sie zwei Kinder habe, einen Jungen, der gestorben sei, und ein Mädchen, das als Geisel in Inuyama lebte.

Die Zimmermädchen seufzten und murmelten, dass selbst Wohlstand und hohe Geburt einen nicht vor dem Schicksal beschützten, und der Pferdeknecht sagte:

»Wenigstens lebt das Mädchen, denn sie sind Maruyama und erben in der weiblichen Linie.«

Diese Neuigkeit wurde überrascht und verständnisvoll kommentiert und verstärkte die Neugier auf Lady Maruyama, die selbst über ihr Land bestimmte, den einzigen Besitz, der an Töchter weitergegeben wurde, nicht an Söhne.

»Kein Wunder, dass sie es wagt, allein zu reisen«, sagte der Koch.

Von seinem Erfolg beflügelt, fuhr der Pferdeknecht fort: »Aber Lord Iida hält das für ungehörig. Er will ihren Besitz übernehmen, entweder durch Gewalt oder, wie es heißt, durch Heirat.«

Der Koch gab ihm einen Klaps aufs Ohr. »Gib acht, was du sagst! Du weißt nie, wer zuhört!«

»Wir waren einmal Otori und werden es wieder sein«, murmelte der Junge.

Die Hausdame sah mich am Eingang stehen und bat mich hereinzukommen. »Wohin reist du? Ihr müsst von weit her gekommen sein!«

Ich lächelte und schüttelte den Kopf. Eins der Zimmermädchen tätschelte mir auf dem Weg zu den Gästezimmern den Arm und sagte: »Er redet nicht. Schade, nicht wahr?«

»Was ist passiert?«, fragte der Koch. »Hat dir jemand Staub in den Mund geworfen wie dem Ainuhund?«

Sie neckten mich nicht unfreundlich, dann kam das Zimmermädchen zurück, gefolgt von einem Mann, der wohl einer der Maruyamadiener war, denn er trug auf seiner Jacke das Wappen des Bergs in einem Kreis. Zu meiner Überraschung sprach er mich höflich an. »Meine Herrin wünscht, mit dir zu reden.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich mit ihm gehen sollte, doch er sah aus wie ein redlicher Mann, und ich war neugierig auf die geheimnisvolle Frau. Ich folgte ihm durch den Gang und den Hof. Er trat auf die Veranda und kniete sich an die Tür eines Raums, sagte kurz etwas und winkte mir dann heraufzukommen.

Ich warf der Dame einen kurzen Blick zu, fiel auf die Knie und senkte tief den Kopf. Ich war davon überzeugt, eine Prinzessin vor mir zu haben. Ihr Haar fiel wie schwarze Seide bis auf den Boden. Ihre Haut war weiß wie Schnee. Sie trug Gewänder in dunkler werdenden Schattierungen von Creme, Elfenbein und Taubengrau, die mit roten und rosa Pfingstrosen bestickt waren. Um sie herum war eine Stille, die mich zuerst an tiefe Bergteiche denken ließ, dann aber plötzlich an den gehärteten Stahl von Jato, dem Schlangenschwert.

»Sie sagten mir, dass du nicht sprichst.« Ihre Stimme war so ruhig und klar wie Wasser.

Ich spürte das Mitgefühl in ihrem Blick, und das Blut schoss mir ins Gesicht.

»Mit mir kannst du reden«, fuhr sie fort. Sie nahm meine Hand und zeichnete mir mit dem Finger das Zeichen der Verborgenen auf die Handfläche. Ein Schreck durchfuhr mich wie das Brennen einer Nessel. Instinktiv zog ich die Hand zurück.

»Erzähl mir, was du gesehen hast.« Ihr Ton war nicht weniger freundlich, dabei aber drängend. »Es war Iida Sadamu, nicht wahr?«

Fast wider Willen schaute ich sie an. Sie lächelte, doch ohne Heiterkeit.

»Und du bist von den Verborgenen«, fügte sie hinzu. Lord Otori hatte mich davor gewarnt, mich zu verraten. Ich hatte geglaubt, ich hätte mein altes Selbst mit dem Namen Tomasu beerdigt. Doch vor dieser Frau war ich hilflos. Ich wollte gerade nicken, da hörte ich Lord Otoris Schritte im Hof. Mir wurde klar, dass ich ihn am Schritt erkannte, und ich wusste, dass eine Frau ihm folgte und der Mann, der mit mir gesprochen hatte. Ich hörte, wie der Stallknecht aufstand und die Küche verließ. Ich hörte den Klatsch der Zimmermädchen und erkannte jedes an seiner Stimme. Diese Hellhörigkeit, die langsam zugenommen hatte, seit ich nicht mehr sprach, überwältigte mich jetzt mit einer Flut von Geräuschen. Es war fast unerträglich, als hätte ich schlimmstes Fieber. Ich fragte mich, ob die Frau vor mir eine Zauberin war, die mich behext hatte. Ich wagte nicht, sie anzulügen, doch ich konnte nicht sprechen.

Die Frau, die ins Zimmer kam, rettete mich. Sie kniete sich vor Lady Maruyama und sagte leise: »Seine Lordschaft sucht den Jungen.«

»Bitte ihn herein«, entgegnete die Dame. »Und, Sachie, würdest du bitte das Teezubehör bringen?«

Lord Otori trat in den Raum, und er und Lady Maruyama tauschten tiefe, respektvolle Verbeugungen. Sie sprachen höflich miteinander wie Fremde, und sie redete ihn nicht mit seinem Namen an, doch ich hatte das Gefühl, dass sie sich gut kannten. Zwischen ihnen war eine Spannung, die ich erst später verstand; damals machte sie mich nur noch befangener.

»Die Zimmermädchen haben mir von dem Jungen erzählt, der mit Ihnen reist«, sagte sie. »Ich wollte ihn selbst sehen.«

»Ja, ich bringe ihn nach Hagi. Er ist der einzige Überlebende eines Massakers. Ich wollte ihn nicht Sadamu überlassen.« Mehr schien er nicht sagen zu wollen, doch nach einer Weile setzte er hinzu: »Ich habe ihm den Namen Takeo gegeben.«

Jetzt lächelte sie – ein echtes Lächeln. »Ich bin froh. Er hat etwas Gewisses an sich.«

»Finden Sie? Ich fand das auch.«

Die Frau kam mit einem Tablett, einem Teekessel und einer Schale in den Raum. Sie stellte die Gegenstände in meiner Augenhöhe auf die Matten, wo ich sie deutlich sehen konnte. In der Glasur der Schale waren das Grün des Waldes, das Blau des Himmels.

»Eines Tages werden Sie nach Maruyama ins Teehaus meiner Großmutter kommen«, sagte die Dame. »Dort können wir die Zeremonie vollziehen, wie es sich gehört. Aber jetzt müssen wir uns so gut wie möglich behelfen.«

Sie goss das heiße Wasser ein, und ein bittersüßer Geruch stieg aus der Schale.

»Setz dich auf, Takeo«, sagte sie.

Mit dem Teebesen schlug sie den Tee zu grünem Schaum. Dann reichte sie die Schale Lord Otori. Er nahm sie in beide Hände, drehte sie dreimal, trank daraus, wischte mit dem Daumen den Rand ab und gab die Schale mit einer Verbeugung zurück.

Lady Maruyama füllte sie wieder und reichte sie mir. Ich machte sorgsam alles, was der Lord gemacht hatte, hob die Schale an die Lippen und trank die schaumige Flüssigkeit.

Sie schmeckte bitter, doch sie machte mir den Kopf klar und beruhigte mich. So etwas hatten wir in Mino nie: Unser Tee wurde aus Zweigen und Bergkräutern gemacht.

Ich wischte die Stelle ab, von der ich getrunken hatte, und gab die Schale mit einer linkischen Verbeugung Lady Maruyama zurück. Ich fürchtete, Lord Otori würde mein Ungeschick bemerken und sich meiner schämen, aber als ich ihn rasch anschaute, galt sein Blick nur der Dame.

Sie trank dann selbst. Wir drei saßen schweigend da. Im Raum war ein Gefühl von etwas Heiligem, als hätten wir gerade am rituellen Mahl der Verborgenen teilgenommen. Mich überkam eine Welle der Sehnsucht nach meinem Heim, meiner Familie, meiner alten Umgebung, aber obwohl mir die Augen brannten, erlaubte ich mir nicht zu weinen. Ich würde lernen zu ertragen.

In meiner Handfläche spürte ich noch den Druck von Lady Maruyamas Finger.

 

Die Herberge war viel größer und luxuriöser als alle anderen, in denen wir bei unserer schnellen Reise durch die Berge übernachtet hatten, und was wir an diesem Abend aßen, war anders als alles, was ich je gekostet hatte. Es gab Aal in einer würzigen Soße und süßen Fisch aus den Bächen der Gegend, viele Portionen Reis, der weißer war als alles in Mino, wo wir nur dreimal im Jahr Reis aßen, wenn wir Glück hatten. Zum ersten Mal trank ich Reiswein. Lord Otori war in gehobener Stimmung – »schwebend«, wie meine Mutter zu sagen pflegte –, sein Schweigen, seine Trauer waren von ihm gewichen, und der Wein übte seinen fröhlichen Zauber auch auf mich aus.

Als wir gegessen hatten, schickte mich Lord Otori zu Bett: Er wollte noch einen Spaziergang machen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Zimmermädchen kamen und breiteten die Betten aus. Ich legte mich nieder und horchte auf die Geräusche der Nacht. Der Aal oder der Wein hatten mich unruhig gemacht, und ich konnte zu viel hören. Jeder ferne Lärm schreckte mich wieder auf. Von Zeit zu Zeit konnte ich die Hunde der Stadt bellen hören, einer fing an, die anderen stimmten ein. Nach einer Weile war mir, als würde ich die Stimme eines jeden erkennen. Ich dachte über Hunde nach, wie sie mit zuckenden Ohren schlafen und nur von gewissen Geräuschen gestört werden. Ich würde lernen müssen, wie sie zu sein, oder ich würde nie mehr schlafen können.

Als ich die Tempelglocken um Mitternacht läuten hörte, stand ich auf und ging zum Abort. Das Geräusch meiner Pisse war wie ein Wasserfall. Ich goss mir am Brunnen im Hof Wasser über die Hände und blieb einen Augenblick horchend stehen.

Es war eine stille, milde Nacht vor dem Vollmond des achten Monats. In der Herberge war es ruhig: Jeder lag im Bett und schlief. Frösche quakten am Fluss und in den Reisfeldern, ein- oder zweimal hörte ich eine Eule rufen. Als ich leise auf die Veranda trat, hörte ich Lord Otoris Stimme. Einen Augenblick dachte ich, er sei in unser Zimmer zurückgekehrt und rede mit mir, doch eine Frauenstimme antwortete ihm. Es war Lady Maruyama. Ich wusste, dass ich nicht lauschen sollte. Es war ein geflüstertes Gespräch, das niemand hören konnte außer mir. Ich ging ins Zimmer zurück, schob die Tür zu, legte mich auf die Matratze und entschloss mich einzuschlafen. Doch meine Ohren lauschten mit einer unbestreitbaren Sehnsucht, und jedes Wort fiel deutlich in sie hinein.

Die beiden sprachen von ihrer Liebe zueinander, ihren wenigen Begegnungen, ihren Plänen für die Zukunft. Vieles von dem, was sie sagten, war vorsichtig und kurz, und vieles verstand ich nicht. Ich erfuhr, dass Lady Maruyama auf dem Weg in die Hauptstadt war, um ihre Tochter zu besuchen, und dass sie fürchtete, Iida würde wieder auf einer Heirat bestehen. Seine eigene Frau war krank, man rechnete mit ihrem Tod. Der einzige Sohn, den sie ihm geboren hatte, auch er leidend, war eine Enttäuschung für Iida.

»Du wirst keinen anderen als mich heiraten«, flüsterte er, und sie antwortete: »Das ist mein einziger Wunsch. Das weißt du.« Dann schwor er ihr, nie eine andere Frau zu nehmen als sie und bei keiner anderen zu liegen, und er sprach von einer Strategie, die er hatte, aber nicht erklärte. Ich hörte meinen Namen und verstand, dass ich irgendwie damit zu tun haben sollte. Ich erkannte, dass es eine lange Feindschaft zwischen ihm und Iida gab, die bis zur Schlacht von Yaegahara zurückreichte.

»Wir werden am selben Tag sterben«, sagte Lord Otori. »Ich kann nicht in einer Welt leben, in der du nicht bist.«

Dann wurden aus dem Flüstern andere Geräusche, solche der Leidenschaft zwischen einem Mann und einer Frau. Ich steckte die Finger in die Ohren. Ich wusste Bescheid über Begierde, hatte meine eigene mit den anderen Jungen in meinem Dorf oder mit Mädchen im Bordell befriedigt, aber von Liebe wusste ich nichts. Ich schwor mir, nie von dem zu reden, was ich gehört hatte. Ich würde diese Geheimnisse so bewahren wie die Verborgenen die ihren. Ich war dankbar dafür, dass ich keine Stimme hatte.

Ich sah die Dame nicht mehr. Wir verließen die Herberge früh am nächsten Morgen, etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang. Es war schon warm; in den Tempelklöstern sprengten Mönche Wasser, und die Luft roch nach Staub. Die Zimmermädchen in der Herberge hatten uns Tee, Reis und Suppe gebracht, bevor wir gingen, eine von ihnen unterdrückte ein Gähnen, als sie die Teller vor mich hinstellte, und entschuldigte sich dann lachend. Sie hatte mir am Vortag den Arm getätschelt, und als wir uns auf den Weg machten, kam sie heraus und rief: »Viel Glück, kleiner Lord! Gute Reise! Vergiss uns hier nicht!«

Ich wünschte, ich könnte noch eine Nacht bleiben. Der Lord lachte darüber, neckte mich und sagte, er würde mich vor den Mädchen in Hagi beschützen müssen. Er konnte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen haben, doch hatte er offensichtlich immer noch gute Laune. Energischer als sonst ging er die große Straße entlang. Ich dachte, wir würden Yamagata auf der Poststraße passieren, doch wir gingen durch die Stadt und folgten einem kleineren Fluss als dem breiten neben der Hauptstraße, überquerten ihn dort, wo er sich schnell und schmal zwischen Felsen zwängte, und erklommen wieder einen Berghang.

Wir hatten Proviant für den Tag aus der Herberge mitgenommen, denn sobald wir die kleinen Dörfer am Fluss hinter uns hatten, begegneten wir niemandem mehr. Es war ein enger, einsamer Pfad und ein steiler Aufstieg. Als wir den Gipfel erreicht hatten, machten wir Rast und aßen. Es war später Nachmittag, und die Sonne schickte schräge Schatten über die Ebene unter uns. Die Bergketten dahinter im Osten wurden indigoblau und stahlgrau.

»Dort ist die Hauptstadt.« Lord Otori war meinem Blick gefolgt.

Ich dachte, er meine Inuyama, und war verwirrt.

Er sah es und fuhr fort: »Nein, die richtige Hauptstadt des ganzen Landes – in der der Kaiser lebt. Weit hinter den fernsten Bergen. Inuyama liegt im Südosten.« Er deutete zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Weil wir so weit von der Hauptstadt entfernt sind und der Kaiser so schwach ist, können Kriegsherren wie Iida tun, was sie wollen.« Seine gute Stimmung schlug um, wurde düster. »Und unter uns ist der Schauplatz der schlimmsten Niederlage der Otori, dort wurde mein Vater getötet. Das ist Yaegahara. Die Otori wurden von den Noguchi verraten, die ins Lager von Iida überwechselten. Mehr als zehntausend starben.« Er schaute mich an und sagte: »Ich weiß, wie es ist, wenn man die Liebsten erschlagen sieht. Ich war nicht viel älter, als du jetzt bist.«

Ich starrte hinaus auf die leere Ebene. Eine Schlacht konnte ich mir nicht vorstellen. Ich dachte an das Blut von zehntausend Männern, das in die Erde von Yaegahara sickerte. In dem feuchten Dunst wurde die Sonne rot, als hätte sie Blut aus dem Land gesogen. Milane flogen über uns und stießen traurige Schreie aus.

»Ich wollte nicht nach Yamagata«, sagte Lord Otori, als wir den Abstieg begannen. »Zum Teil, weil mich dort jeder kennt, zum Teil aus anderen Gründen. Eines Tages werde ich dir davon erzählen. Aber das bedeutet, dass wir heute Nacht draußen schlafen müssen, Gras wird unser Kissen sein, denn keine Stadt ist nahe genug, um dort zu übernachten. Wir werden die Lehnsgrenze auf einem geheimen Weg überqueren, den ich kenne, und dann sind wir auf dem Gebiet der Otori, außer Reichweite und sicher vor Sadamu.«

Ich wollte die Nacht nicht auf der einsamen Ebene verbringen. Ich hatte Angst vor zehntausend Geistern und vor den Ungeheuern und Kobolden, die im Wald ringsum wohnten. Das Murmeln eines Bachs klang für mich wie die Stimme des Wassergeistes, und jedes Mal, wenn ein Fuchs bellte oder eine Eule rief, wachte ich mit rasendem Puls auf. Einmal bebte die Erde leicht, so dass die Bäume rauschten und irgendwo in der Ferne Steine polterten. Ich glaubte, die Stimmen der Toten zu hören, die nach Rache riefen, und ich versuchte zu beten, fühlte aber nichts als eine ungeheure Leere. Der Geheime Gott, den die Verborgenen verehren, war mit meiner Familie verschwunden. Ohne sie hatte ich keine Verbindung zu ihm.

Neben mir schlief Lord Otori so friedlich wie im Gästezimmer der Herberge. Doch noch mehr als ich musste er sich der Forderungen bewusst sein, die von den Toten gestellt wurden. Beklommen dachte ich an die Welt, die ich betreten würde – eine Welt, von der ich nichts wusste, die Welt der Clans mit ihren strengen Regeln und ihren harten Gesetzen. Was mich hineinführte, war die Laune dieses Lords, der sozusagen mein Besitzer war; vor meinen Augen hatte sein Schwert einen Mann geköpft. Ich schauderte in der feuchten Nachtluft.

Vor dem Morgengrauen standen wir auf, und als sich der Himmel grau färbte, überquerten wir den Fluss, der die Grenze zur Domäne der Otori war.

Nach der Schlacht von Yaegahara waren die Otori, die zuvor das ganze Mittlere Land regiert hatten, von den Tohan in einen schmalen Landstreifen zwischen der letzten Bergkette und dem Meer im Norden abgedrängt worden. Auf der wichtigen Poststraße wurde die Grenze von Iidas Männern bewacht, aber in diesem wilden, abgelegenen Land gab es viele Stellen, an denen man über die Grenze schlüpfen konnte; die meisten Tagelöhner und Bauern betrachteten sich immer noch als Otori und waren nicht gut auf die Tohan zu sprechen. Lord Otori erklärte mir das alles an diesem Tag auf unserer Wanderung; das Meer lag jetzt immer rechts von uns. Er erzählte mir auch von der Landschaft, machte mich auf die angewandten landwirtschaftlichen Methoden aufmerksam, auf die Kanäle, die zur Bewässerung angelegt worden waren, die selbstgewebten Netze der Fischer, die Salzgewinnung aus dem Meer. Er interessierte sich für alles und wusste über alles Bescheid. Allmählich wurde der Weg zu einer belebten Straße. Bauern gingen zum Markt ins nächste Dorf, sie brachten Süßkartoffeln und Gemüse, Eier und getrocknete Pilze, Lotuswurzeln und Bambus. Am Markt machten wir halt und kauften neue Strohsandalen, weil unsere zerfielen.

Als wir an diesem Abend zur Herberge kamen, kannte dort jeder Lord Otori. Sie liefen heraus, um ihn mit Freudenrufen zu begrüßen, und warfen sich vor ihm nieder. Die besten Zimmer wurden vorbereitet, und zur Abendmahlzeit gab es einen Gang nach dem anderen mit köstlichen Gerichten. Der Lord schien sich vor meinen Augen zu verwandeln. Natürlich hatte ich gewusst, dass er von hoher Geburt war und der Kriegerklasse angehörte, aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wer er war oder welche Rolle er in der Hierarchie seines Clans spielte. Doch jetzt dämmerte es mir, dass er einen hohen Rang einnahm. In seiner Gegenwart wurde ich noch schüchterner. Ich spürte, dass jeder mich von der Seite ansah und beobachtete, was ich machte, und mich am liebsten mit einem Klaps aufs Ohr davongeschickt hätte.

Am nächsten Morgen trug der Lord Kleider, die seiner Stellung entsprachen; Pferde warteten auf uns und vier oder fünf Gefolgsleute. Sie grinsten einander zu, als sie sahen, dass ich nichts von Pferden verstand, und schienen überrascht, als Lord Otori einem von ihnen befahl, mich hinter sich auf sein Pferd zu nehmen, obwohl natürlich keiner etwas zu sagen wagte. Auf der Reise versuchten sie, mit mir zu reden – sie fragten mich, woher ich kam und wie ich hieß –, doch als sie merkten, dass ich stumm war, hielten sie mich auch noch für dumm und taub. Sie redeten mich laut mit einfachen Worten an und benutzten die Zeichensprache.