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»Die Weite des Himmels« erzählt die Geschichte von Lord Otori Shigeru – Takeos späteren Mentors. Damit ist der Roman zugleich Anfang und Ende der großen Otori-Saga. Der junge Shigeru, von Geburt an auf seine Rolle als Clanführer vorbereitet, erkennt schnell, dass seinem Land durch machtgierige Männer große Gefahr droht. Er muss sich ganz auf seine Klugheit, seine Tapferkeit und sein gutes Herz verlassen. Die ganze Otori-Reihe auf einen Blick: »Das Schwert in der Stille« »Der Pfad im Schnee« »Der Glanz des Mondes« »Der Ruf des Reihers« Und die Vorgeschichte: »Die Weite des Himmels«
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Seitenzahl: 789
Veröffentlichungsjahr: 2018
Lian Hearn
Widmung
Das Netz des Himmels [...]
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Danksagung
Für R
Das Netz des Himmels ist unermesslich, doch jede seiner Maschen ist fein. tenmou kaikai so ni shite morasazu
Laotse
Der Schritt war leicht und kaum wahrnehmbar unter den Tausenden von Geräuschen des Herbstwalds: das Rascheln der Blätter, die der Nordwestwind verwehte, der ferne Flügelschlag, mit dem Gänse nach Süden flogen, das Echo der Laute aus dem Dorf weit unten; doch Isamu hörte den Schritt und erkannte ihn.
Er legte die Grabwerkzeuge ins feuchte Gras, dazu die Wurzeln, die er gesammelt hatte, und entfernte sich. Die scharfe Klinge sprach ihn an, und er wollte von keinem Werkzeug, keiner Waffe verlockt werden. Er drehte sich seinem näher kommenden Cousin zu und wartete. Kotaro kam unsichtbar auf die Lichtung, wie es im Stamm üblich war, doch Isamu dachte nicht daran, sich auf die gleiche Art zu verbergen. Er kannte alle Fertigkeiten seines Cousins; sie waren fast gleich alt, Kotaro ein knappes Jahr jünger; sie hatten gemeinsam trainiert und dabei immer versucht, einander zu übertreffen; sie waren ihr Leben lang gewissermaßen Freunde und Rivalen zugleich gewesen.
Isamu hatte gedacht, er sei in dieses abgelegene Dorf an der östlichen Grenze der Drei Länder entkommen, weit weg von den großen Städten, in denen die Angehörigen des Stamms am liebsten lebten, arbeiteten, ihre übernatürlichen Fähigkeiten an den Meistbietenden verkauften und in diesen Zeiten der Intrigen und Streitigkeiten unter den Clanführern Aufträge in Hülle und Fülle fanden. Aber niemand entkommt dem Stamm für immer.
Wie oft hatte er diese Warnung als Kind gehört? Wie oft hatte er sie für sich wiederholt und dabei das finstere Vergnügen genossen, das die alten Fertigkeiten hervorrufen, während er den lautlosen Messerstoß ausführte, die Garrotte zudrehte oder, seine eigene Lieblingsmethode, das Gift in den Mund eines Schlafenden oder in ein ungeschütztes Auge träufelte.
Er hatte keinen Zweifel daran, dass Kotaro jetzt das Echo dieser Gedanken vernahm, während die Gestalt des Cousins flimmernd sichtbar wurde.
Einen Augenblick schauten sie einander wortlos an. Der Wald schien ebenfalls zu verstummen, und in dieser Stille glaubte Isamu weit drunten die Stimme seiner Frau zu hören. Wenn er sie hörte, dann hörte Kotaro sie auch, denn beide Cousins verfügten über die Fähigkeit der Kikuta, weit Entferntes zu hören, genau wie bei beiden die gerade Linie der Kikuta die Handfläche teilte.
»Ich habe lange gebraucht, um dich zu finden«, sagte Kotaro schließlich.
»Das war meine Absicht«, erwiderte Isamu. Mitgefühl war ihm noch immer nicht vertraut, und er schreckte zurück vor dem Schmerz, den es in seinem Herzen auslöste. Mit Bedauern dachte er an die Güte seiner Frau, ihr Temperament, ihre Tugend; er wünschte, er könnte ihr Leid ersparen; er fragte sich, ob ihre kurze Ehe schon neues Leben in sie gepflanzt hätte und was sie nach seinem Tod tun würde. Sie würde Trost bei ihrem Volk finden, bei den Verborgenen. Ihre innere Kraft würde sie stärken. Sie würde um ihn weinen und für ihn beten; beides würde keiner im Stamm tun.
Er folgte einem kaum verstandenen Instinkt wie die Vögel an diesem wilden Ort, den er inzwischen kannte und liebte, und beschloss, seinen Tod zu verschieben und Kotaro tief in den Wald zu führen; vielleicht würden sie beide aus dieser endlosen Weite nicht zurückkehren.
Er spaltete sich und schickte sein zweites Ich zu seinem Cousin, während er schnell und völlig lautlos zwischen die schlanken Stämme der jungen Zedern lief, wobei seine Füße kaum den Boden berührten, über Felsklötze sprang, die von darübergelegenen Klippen gefallen waren, über glatte schwarze Steine unter Wasserfällen hüpfte, die im Schaum verschwanden und wieder auftauchten. Er bemerkte alles um sich herum: den grauen Himmel und die feuchte Luft des zehnten Monats, den kalten Wind, der den Winter ankündete und ihn daran erinnerte, dass er nie wieder Schnee sehen würde, das ferne heisere Bellen eines Hirschs, das Flügelschwirren und die gellenden Schreie, als seine Flucht einen Krähenschwarm aufscheuchte. So lief er, und Kotaro folgte ihm, bis Isamu Stunden später und Meilen von dem Dorf entfernt, das er zu seinem Zuhause gemacht hatte, seine Schritte verlangsamte und seinem Cousin erlaubte, ihn einzuholen.
Er war tiefer in den Wald gekommen als je zuvor; hier gab es keine Sonnenstrahlen. Er hatte keine Ahnung, wo er war, und hoffte, dass Kotaro ebenso orientierungslos war. Hier in den Bergen, an diesem einsamen Hang über einer tiefen Schlucht, wünschte er seinem Cousin den Tod. Aber er würde ihn nicht töten. Er, der so häufig getötet hatte, würde nie wieder töten, noch nicht einmal, um das eigene Leben zu retten. Diesen Schwur hatte er abgelegt und er wusste, dass er ihn nicht brechen würde.
Der Wind hatte gedreht, er kam nun von Osten und es war wesentlich kälter geworden, doch durch die Verfolgung war Kotaro ins Schwitzen geraten; Isamu sah die glänzenden Schweißtropfen, als sein Cousin näher kam. Keiner von ihnen atmete schwer, trotz ihrer Anstrengung. Ihr leichter Körperbau täuschte über eisenharte Muskeln und Jahre des Trainings hinweg.
Kotaro blieb stehen und zog ein Stöckchen aus seiner Jacke. Er streckte es aus und sagte: »Es ist nichts Persönliches, Cousin. Das möchte ich klarmachen. Die Kikutafamilie hat die Entscheidung getroffen. Wir haben Lose gezogen und es traf mich. Aber wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, den Stamm zu verlassen?«
Als Isamu nicht antwortete, fuhr Kotaro fort: »Ich nehme an, das ist es, was du wolltest. Zu diesem Schluss ist die ganze Familie gekommen, als wir über ein Jahr lang nichts von dir hörten, als du weder nach Inuyama noch ins Mittlere Land zurückkamst und keine der dir übertragenen Aufgaben ausführtest, die von Iida Sadayoshi in Auftrag gegeben – und, lass mich das hinzufügen, bezahlt – wurden. Einige meinten, du wärst tot, aber niemand hatte davon berichtet und mir fiel es schwer, das zu glauben. Wer könnte dich töten, Isamu? Niemand könnte dir nah genug kommen, um es mit Messer oder Schwert oder Garrotte zu tun. Du schläfst nie unabsichtlich ein, du wirst nie betrunken. Du hast dich gegenüber allen Giften immun gemacht; dein Körper heilt sich selbst von allen Krankheiten. Es hat in der Geschichte des Stamms nie einen Attentäter wie dich gegeben, selbst ich gebe deine Überlegenheit zu, obwohl es mir schwerfällt, das zu sagen. Jetzt finde ich dich hier, sehr lebendig, sehr weit von dem Ort entfernt, wo du sein solltest. Ich muss akzeptieren, dass du den Stamm verlassen hast, und dafür gibt es nur eine Strafe.«
Isamu lächelte leicht, schwieg aber immer noch. Kotaro legte das Stöckchen in die Vorderfalte seiner Jacke zurück. »Ich will dich nicht töten«, sagte er leise. »Das ist das Urteil der Kikutafamilie, falls du nicht mit mir zurückkehrst. Wie gesagt, wir haben Lose gezogen.«
Die ganze Zeit war seine Haltung wachsam, sein Auge ruhelos, der ganze Körper angespannt in Erwartung des bevorstehenden Kampfes.
Isamu sagte: »Ich will dich auch nicht töten. Aber ich werde nicht mit dir gehen. Du hast recht, wenn du sagst, ich habe den Stamm verlassen. Ich habe ihn für immer verlassen. Ich werde nie zurückkehren.«
»Dann habe ich den Auftrag, dich hinzurichten.« Kotaro sprach förmlich, wie einer, der ein Urteil überbringt. »Wegen Ungehorsams gegenüber deiner Familie und dem Stamm.«
»Ich verstehe«, antwortete Isamu ebenso förmlich. Keiner rührte sich. Kotaro schwitzte immer noch stark trotz des kalten Windes. Sie schauten einander an, und Isamu spürte die Kraft im Blick seines Cousins. Beide hatten die Fähigkeit, einen Gegner einzuschläfern; beide konnten dem gleichermaßen widerstehen. Der stille Kampf zwischen ihnen dauerte viele Augenblicke, bis Kotaro ihn beendete, indem er sein Messer hervorzog. Seine Bewegungen waren schwerfällig und ungeschickt, ganz ohne seine übliche Gewandtheit.
»Du musst tun, was du tun musst«, sagte Isamu. »Ich vergebe dir und ich bete, dass der Himmel dir auch vergibt.«
Seine Worte schienen Kotaro noch mehr zu reizen.
»Du vergibst mir? Was ist denn das für eine Sprache? Wer im Stamm hat je jemandem vergeben? Es gibt entweder totalen Gehorsam oder Strafe. Wenn du das vergessen hast, bist du dumm oder verrückt geworden – jedenfalls ist die einzige Lösung der Tod!«
»Das weiß ich alles so gut wie du. Genau wie ich weiß, dass ich dir oder diesem Urteil nicht entkommen kann. Also führe es aus mit der Gewissheit, dass ich dich von aller Schuld freispreche. Ich hinterlasse niemanden, der mich rächt. Du wirst dem Stamm gehorcht haben und ich … meinem Herrn.«
»Du wirst dich nicht verteidigen? Du wirst noch nicht einmal versuchen, mit mir zu kämpfen?«, fragte Kotaro.
»Wenn ich versuche, mit dir zu kämpfen, dann werde ich dich beinah mit Sicherheit töten. Ich glaube, das wissen wir beide.« Isamu lachte. In all den Jahren, in denen er und Kotaro miteinander gewetteifert hatten, war er sich nie einer solchen Macht über den anderen bewusst gewesen. Er streckte weit die Arme aus, seine Brust war frei und ungeschützt. Er lachte immer noch, als das Messer in sein Herz drang; der Schmerz durchströmte ihn, der Himmel verdunkelte sich, seine Lippen formten die Worte des Abschieds. Er trat die Reise an, auf die er zu seiner Zeit so viele andere geschickt hatte. Sein letzter Gedanke galt seiner Frau und ihrem Körper, in dem er – auch wenn er es nicht wusste – einen Teil von sich hinterlassen hatte.
Das waren die Jahre, in denen der Kriegsherr Iida Sadayoshi, der so viele Stammesangehörige einschließlich Kikuta Kotaro beschäftigte, den Osten der Drei Länder zu einen suchte und weniger bedeutende Familien und Clans zwang, sich dem dreifachen Eichenblatt der Tohan zu unterwerfen. Das Mittlere Land hatte seit Jahrhunderten den Otori gehört und der gegenwärtige Führer des Clans, Lord Shigemori, hatte zwei junge Söhne, Shigeru und Takeshi, sowie zwei unzufriedene und ehrgeizige Halbbrüder, Shoichi und Masahiro.
Im Jahr von Takeshis Geburt war Lady Otori zweiunddreißig geworden; viele Frauen hielten in diesem Alter bereits ihre Enkel im Arm. Sie war mit Shigemori verheiratet worden, als sie siebzehn war und er fünfundzwanzig. Fast sofort hatte sie ein Kind empfangen und große Hoffnung auf eine rasche Sicherung der Erbfolge ausgelöst, doch das Kind, ein Junge, wurde tot geboren, und das nächste, ein Mädchen, lebte nur wenige Stunden nach der Geburt. Mehrere Fehlgeburten folgten, alle diese sogenannten Wasserkinder wurden der Obhut von Jizo anvertraut. Anscheinend war ihr Leib zu schwach, um ein Kind bis zuletzt auszutragen. Ärzte, dann Priester wurden konsultiert, schließlich zog man einen Schamanen aus den Bergen hinzu. Die Ärzte verschrieben Nahrung, die den Leib stärken sollte: klebrigen Reis, Eier und vergorene Sojabohnen; sie rieten davon ab, Aal oder irgendeinen anderen Fisch zu essen, und brauten Tees, die beruhigend wirkten. Die Priester sangen Gebete und füllten das Haus mit Weihrauch und Talismanen von fernen Schreinen. Der Schamane band eine Strohschnur um Lady Otoris Bauch und verbot ihr, die Farbe Rot anzuschauen, damit sie in ihrem Leib nicht wieder den Wunsch zu bluten weckte. Lord Shigemoris älteste Gefolgsleute empfahlen ihm insgeheim, sich eine Konkubine – oder mehrere – zu nehmen, doch seine Halbbrüder Shoichi und Masahiro waren gegen diese Idee und machten geltend, dass bei den Otori die Erbfolge immer an legitime Nachfolger gegangen sei. Andere Clans mochten ihre Angelegenheiten anders regeln, doch die Otori stammten schließlich von der kaiserlichen Familie ab und ein illegitimer Erbe würde sicher den Kaiser beleidigen. Das Kind könnte natürlich adoptiert und damit legitimiert werden, doch Shoichi und Masahiro fühlten sich ihrem älteren Bruder so wenig verbunden, dass sie ihre eigenen Vorstellungen über das Erbe hatten.
Chiyo, die älteste Dienerin in Lady Otoris Haushalt, ihre einstige Amme, die sie aufgezogen hatte, ging heimlich in die Berge zu einem Schrein, der Kannon gewidmet war. Sie brachte einen Talisman zurück, der, aus Pferdehaar und Papierstreifen gewoben, nicht mehr als eine Spinnwebe wog und einen Zauberspruch barg, den sie in den Saum des Nachtgewands ihrer Herrin stickte, ohne jemandem etwas davon zu erzählen. Als das Kind empfangen war, sorgte Chiyo dafür, dass ihre eigenen Regeln für eine sichere Schwangerschaft befolgt wurden: Ruhe, gute Ernährung und keinerlei Aufregung, keine Ärzte, Priester oder Schamanen. Lady Otori war niedergeschlagen wegen ihrer vielen Fehlgeburten und hatte wenig Hoffnung für das Leben dieses Kindes – eigentlich wagte kaum jemand, auf einen lebendigen Säugling zu hoffen. Als dann ein Junge geboren wurde, noch dazu mit allen Anzeichen von Überlebenskraft, zeigte sich Lord Shigemori überglücklich und erleichtert. Lady Otori war überzeugt, dass das Kind nur zur Welt gekommen war, um ihr wieder genommen zu werden, und konnte es nicht stillen. Chiyos Tochter hatte gerade ihren zweiten Sohn geboren und wurde die Amme des Jungen, der mit zwei Jahren den Namen Shigeru bekam.
Zwei weitere Fehlgeburten wurden der Obhut von Jizo anvertraut, bevor Chiyo erneut eine Pilgerreise in die Berge machte. Diesmal nahm sie die Nabelschnur von Shigeru als Opfergabe für die Göttin mit und trug bei der Rückkehr einen weiteren gewebten Talisman bei sich.
Shigeru war vier, als sein Bruder geboren wurde. Der zweite Sohn wurde Takeshi genannt – die Otori bevorzugten Namen mit Shige und Take, die ihre Söhne an die Bedeutung von Land und Schwert erinnerten, an die Segnungen des Friedens und an die Freuden des Kampfes.
Die legitime Erbfolge war somit zur großen Erleichterung aller gesichert, außer möglicherweise Shoichi und Masahiro, die ihre Enttäuschung hinter der gefassten Haltung verbargen, die von der Kriegerklasse erwartet wurde. Shigerus Erziehung folgte der strengen, disziplinierten Tradition der Otori, die bei Männern Mut und physische Gewandtheit, scharfe Intelligenz, geistige Wachheit, Selbstkontrolle und Höflichkeit schätzten, bei Kindern Gehorsam. Er erhielt Unterricht im Reiten, im Gebrauch von Schwert, Bogen und Speer, in Kriegskunst und Strategie, Regierungskunst und Geschichte des Clans sowie in der Verwaltung und Besteuerung seiner Ländereien.
Dieser Besitz umfasste das ganze Mittlere Land vom nördlichen bis zum südlichen Meer. Im Norden war die Hafenstadt Hagi die Residenz der Otori. Handel mit dem Festland und Fischerei im Nordmeer sorgten für den Wohlstand der Bewohner. Handwerker aus Silla auf dem Festland siedelten sich hier an und führten viele kleine Industrien ein, vor allem die Töpferei mit ihren schönen Erzeugnissen. Der Ton, der hier gefunden wurde, hatte eine besondere Farbe, die den hellen Glasierungen den Glanz eines schönen Teints verlieh. Yamagata in der Landesmitte war die zweitwichtigste Stadt, reger Handel wurde auch im Süden vom Hafen in Hofu aus getrieben. Von den Drei Ländern war das Mittlere Land das reichste, und das bedeutete, dass es von seinen Nachbarn immer begehrlich betrachtet wurde.
Im vierten Monat des Jahres nach Kikuta Isamus Tod besuchte der zwölfjährige Otori Shigeru seine Mutter, wie er es einmal in der Woche zu tun pflegte, seit er das Haus seiner Kindheit verlassen hatte und als Erbe seines Vaters im Schloss lebte. Das Haus lag auf einer kleinen Landspitze kurz vor der Vereinigung der Zwillingsflüsse, die Hagi umkreisten. Die Bauernhöfe und Wälder am gegenüberliegenden Ufer gehörten der Familie seiner Mutter. Das Haus war aus Holz erbaut, die Veranden rundum waren von niedrigen Dachvorsprüngen überdeckt. Der älteste Teil trug ein Strohdach, doch Shigerus Großvater hatte einen Anbau hinzufügen lassen mit einem zweiten Stockwerk und einem Dach aus Rindenschindeln, einem Raum im Obergeschoss und einer Treppe aus polierter Eiche. Obwohl Shigeru noch nicht volljährig war, trug er ein kurzes Schwert im Gürtel seines Gewands. Da der Besuch bei seiner Mutter einen gewissen offiziellen Charakter hatte, war er an diesem Tag entsprechend gekleidet mit dem Otorireiher auf dem Rücken seiner weitärmeligen Jacke und geteilten weiten Hosen unter dem langen Gewand. Er wurde in einer schwarz lackierten Sänfte mit Seitenwänden aus gewebtem Schilfgras und geölten Seidenvorhängen getragen, die er immer hochrollte. Er wäre lieber geritten – er liebte Pferde –, doch als Erbe des Clans wurden gewisse Förmlichkeiten von ihm erwartet, und er gehorchte, ohne sie in Frage zu stellen.
In einer zweiten Sänfte begleitete ihn sein Lehrer Ichiro, ein entfernter Cousin seines Vaters, der für Shigerus Erziehung verantwortlich war, seit der vierjährige Junge seinen herkömmlichen Unterricht in Lesen, Schreiben mit dem Pinsel, Geschichte, den klassischen Künsten und Poesie begonnen hatte. Die Sänftenträger liefen durch das Tor. Alle Wachtposten traten vor und fielen auf die Knie, als die Sänfte abgesetzt wurde und Shigeru ausstieg. Er dankte für ihre Verbeugungen, indem er leicht den Kopf neigte, und wartete respektvoll, bis Ichiro seine Sänfte verlassen hatte. Der Lehrer war an eine sitzende Lebensweise gewohnt und litt bereits unter Gelenkschmerzen, die ihm manche Bewegungen erschwerten. Der alte Mann und der Junge blieben einen Augenblick stehen und betrachteten den Garten, beide empfanden die gleiche jähe Freude. Gerade blühten die Azaleen, und ein roter Schimmer überglänzte die Büsche. Um die Teiche standen weiße und violette Iris, die Blätter der Obstbäume prangten in frischem Grün. Ein Bach floss durch den Garten und rotgoldene Karpfen flitzten unter der Oberfläche. Von draußen kam das Geräusch des Flusses, ein sanftes Wellenschlagen – und unter dem Blumenduft lag der vertraute Geruch nach Schlamm und Fisch.
In der Mauer war ein Bogen, durch den der Bach in den Fluss dahinter floss. Ein Gitter aus zusammengebundenen Bambusstäben stand gewöhnlich vor der Öffnung und versperrte streunenden Hunden den Zugang zum Garten – Shigeru bemerkte, dass es zur Seite gezogen war, und lächelte insgeheim, weil er sich erinnerte, wie er selbst auf diesem Weg zum Flussufer gegangen war. Takeshi spielte wahrscheinlich draußen, vermutlich bekämpften sich zwei Gruppen mit Steinwürfen, und seine Mutter machte sich Sorgen um ihn. Auf Takeshi wartete eine Strafpredigt, weil er nicht in seinen besten Sachen bereitstand, um den älteren Bruder zu begrüßen, aber Mutter und Bruder würden ihm rasch verzeihen. Beim Gedanken an das Wiedersehen mit seinem Bruder wurde Shigeru noch heiterer.
Chiyo rief einen Willkommensgruß von der Veranda, Shigeru drehte sich um und sah neben ihr eine Dienerin, die mit einer Wasserschüssel auf den Brettern kniete und darauf wartete, den Ankömmlingen die Füße zu waschen. Ichiro stieß einen tiefen, befriedigten Seufzer aus, lächelte so breit wie nie im Schloss und ging auf das Haus zu – doch bevor Shigeru ihm folgen konnte, ertönte ein Schrei jenseits der Gartenmauer und Endo Akira kam platschend durchs Wasser gerannt. Er war von Schmutz bedeckt und blutete an Stirn und Hals.
»Shigeru! Dein Bruder! Er ist in den Fluss gefallen!« Vor noch nicht langer Zeit hatte sich Shigeru an ähnlichen Kämpfen beteiligt, und Akira war einer seiner Helfer gewesen. Die Otorijungen, Akira und Takeshis bester Freund Miyoshi Kahei waren in eine ständige Fehde mit den Söhnen der Morifamilie verstrickt, die am anderen Ufer lebten und das Fischwehr als ihre eigene Privatbrücke betrachteten. Die Jungen trugen ihre Kämpfe mit runden schwarzen Steinen aus, die sie bei Niedrigwasser aus dem Schlamm gruben. Jeder war irgendwann in den Fluss gefallen und hatte gelernt, mit dessen trügerischen Launen zurechtzukommen. Shigeru zögerte, eigentlich wollte er nicht ins Wasser springen, seine Kleidung beschmutzen und seine Mutter warten lassen.
»Mein Bruder kann schwimmen!«
»Nein. Er ist nicht wieder aufgetaucht.«
Angst durchfuhr Shigeru und machte ihm den Mund trocken.
»Zeig mir, wo.« Er sprang in den Bach, und Akira folgte ihm. Von der Veranda hörte er Ichiro wütend rufen: »Lord Shigeru! Jetzt ist keine Zeit zum Spielen! Ihre Mutter wartet auf Sie.«
Shigeru fiel auf, wie tief er unter dem Bogen den Kopf senken musste. Er hörte die verschiedenen Melodien des Wassers, die Kaskade vom Garten, das Klatschen, mit dem der Bach unter dem Mauerbogen ans Flussufer schlug. Er ließ sich in den Schlamm fallen, spürte, wie seine Sandalen darin versanken, riss sie sich von den Füßen, warf sie ohne nachzudenken zusammen mit Jacke und Gewand in den Schlick und sah nur die grüne leere Oberfläche des Flusses. Stromabwärts, rechts von ihm, ragte der erste Pfeiler der noch unvollendeten Steinbrücke aus dem Wasser, die hereinströmende Flut wirbelte zwischen ihren Fundamenten und trug ein Boot mit sich, das von einem jungen Mädchen gesteuert wurde. Als Shigeru kurz zu ihr hinüberschaute, merkte er, dass sie von dem Unfall wusste, weil sie aufstand, aus ihrem Obergewand schlüpfte und zum Sprung bereit war. Dann blickte er stromaufwärts zum Fischwehr, wo die beiden jüngeren Morijungen knieten und ins Wasser spähten.
»Mori Yuta ist auch hineingefallen«, sagte Akira.
In diesem Moment teilte sich das Wasser mit einem Platsch und Miyoshi Kahei tauchte auf. Er rang nach Luft, sein Gesicht war fast grün, seine Augen quollen hervor. Er atmete zwei- oder dreimal tief ein und tauchte wieder.
»Dort sind sie«, sagte Akira.
»Geh und hol die Wachtposten«, sagte Shigeru, doch er wusste, dass keine Zeit blieb, auf Hilfe zu warten. Er rannte vor und sprang in den Fluss. Ein paar Schritte vom Ufer entfernt wurde das Wasser plötzlich tief, die Flut strömte kräftig zurück und schob Shigeru zum Fischwehr. Knapp vor ihm tauchte Kahei wieder auf, er hustete und spuckte.
»Shigeru!«, schrie er. »Sie sind unter dem Wehr eingeklemmt.«
Shigeru hatte jetzt nur noch den Gedanken, dass er Takeshi nicht im Fluss sterben lassen konnte. Er tauchte hinab in das trübe Wasser und spürte dabei die zunehmende Stärke der Flut. Er sah die verschwommenen Gestalten wie Schatten, ihre blassen Glieder waren miteinander verschlungen, als würden sie noch raufen. Yuta, der Ältere und Schwerere, war dem Ufer näher. Er wurde gegen die Holzkonstruktion des Wehrs geschoben und hatte in seiner Panik Takeshi noch weiter zwischen die Pfähle gezwängt. Sein Lendentuch schien sich an einem gezackten Holzstück verfangen zu haben.
Shigeru zählte in Gedanken, um ruhig zu bleiben. Das Blut klopfte in seinen Ohren, als seine Lungen nach Luft verlangten. Er zog an dem nassen Tuch, aber es kam nicht frei, er konnte Yuta nicht aus dem Weg schieben, um Takeshi zu erreichen. Er spürte eine Bewegung des Wassers neben sich und merkte, dass er nicht allein war. Er rechnete mit Kahei, doch dann sah er den bleichen Umriss einer Mädchenbrust vor dem dunklen Holz und dem grünen Tang. Das Mädchen packte Yuta und zog an ihm. Das Tuch riss los. Der Junge hatte den Mund geöffnet, ohne dass Luftblasen herauskamen. Er sah bereits tot aus – Shigeru konnte einen retten, aber nicht beide, und in diesem Moment dachte er an keinen außer Takeshi. Er tauchte tiefer und packte den Arm seines Bruders.
Shigerus Lungen schienen zu bersten, vor seinen Augen war nur noch Rot. Es sah aus, als würde Takeshi die Glieder bewegen, doch sie wurden vom Wasser geschaukelt. Für einen Achtjährigen wirkte er ungewöhnlich schwer, zu schwer, als dass Shigeru ihn jetzt allein an die Oberfläche heben könnte. Aber Shigeru ließ ihn nicht los. Eher würde er in diesem Fluss sterben, als seinen Bruder darin alleinzulassen. Das Mädchen war neben ihm, zog an Takeshi, schob beide empor. Shigeru konnte nur ihre Augen erkennen, die dunkel waren und geweitet vor Anstrengung. Sie schwamm wie ein Kormoran, besser als er.
Das Licht war schmerzhaft nah. Er sah es gebrochen durch die Wasseroberfläche, konnte es aber nicht erreichen. Unbewusst öffnete er den Mund – vielleicht zum Atmen, vielleicht, um nach Hilfe zu rufen – und schluckte Wasser. Seine Lungen schienen vor Schmerz zu schreien. Der Fluss war zum Gefängnis geworden, sein Wasser war nicht mehr flüssig und zart, sondern wie eine feste Membran, die sich um ihn schloss und ihn erwürgte.
Schwimm hinauf. Schwimm hinauf. Es war, als hätte sie es zu ihm gesagt. Ohne zu wissen wie, entdeckte er in sich einen winzigen Rest Kraft. Das Licht wurde blendend hell, dann brach sein Kopf durch die Oberfläche, und er schnappte nach Luft. Der Fluss lockerte seinen Schlangengriff, hielt ihn und Takeshi jetzt wieder sanft in seinen Armen.
Der Bruder hatte die Augen geschlossen, offenbar atmete er nicht. Shigeru trat zitternd Wasser, legte dabei den Mund auf den von Takeshi und gab ihm seinen Atem, wobei er alle Götter und Geister anflehte, ihm zu helfen, den Flussgott und den Tod scharf zurechtwies und ihnen verbot, Takeshi in ihre dunkle Welt hinunterzuholen.
Wachtposten vom Haus waren ans Flussufer gekommen und wateten ins Wasser. Einer von ihnen nahm Takeshi und schwamm mit kräftigen Zügen zurück an Land. Ein anderer packte Kahei und half ihm zurückzuschwimmen. Ein dritter versuchte, Shigeru zu helfen, doch der stieß ihn zurück.
»Mori Yuta ist noch dort unten. Hol ihn herauf.« Der Mann erbleichte und tauchte sofort.
Shigeru hörte den jüngsten Mori am Wehr schluchzen. Irgendwo in der Ferne schrie eine Frau, es klang wie der schrille Ruf eines Brachvogels. Während Shigeru zum Ufer schwamm und aus dem Wasser schwankte, nahm er die gewohnte friedliche Stimmung des späten Nachmittags wahr, die Wärme der Sonne, die Gerüche von Blüten und Schlamm, die sanfte Berührung des Südwinds.
Der Wachtposten hatte Takeshi mit dem Gesicht nach unten auf den Strand gelegt, kniete neben ihm und drückte ihm behutsam auf den Rücken, um das Wasser aus seinen Lungen zu entfernen. Der Mann sah ernst und erschrocken aus, immer wieder schüttelte er den Kopf.
»Takeshi!«, rief Shigeru. »Wach auf! Takeshi!«
»Lord Shigeru.« Die Stimme des Mannes zitterte, er konnte die schreckliche Ahnung nicht aussprechen und drückte in seiner Erregung stärker auf die Schultern des Kindes.
Takeshi blinzelte und hustete heftig. Wasser kam aus seinem Mund, er erstickte fast, schrie auf und würgte. Shigeru hob ihn hoch, wischte ihm das Gesicht ab und hielt ihn, während der Junge wieder würgte und seine Augen feucht wurden. Shigeru glaubte, sein Bruder würde weinen vor Erleichterung oder Schock, doch Takeshi kämpfte sich auf die Füße und stieß Shigeru weg.
»Wo ist Yuta? Habe ich ihn geschlagen? Das wird ihn lehren, nicht auf unsere Brücke zu kommen!«
Takeshis Lendentuch und die Ärmel waren voller Steine. Der Wachtposten leerte sie lachend.
»Deine Waffen haben dich fast umgebracht! Das war nicht sehr klug, nicht wahr!«
»Yuta hat mich hineingestoßen!«, schrie Takeshi. Trotz seines Protests trug der Mann ihn ins Haus.
Die Nachricht von dem Unfall hatte sich rasch verbreitet; die Dienerinnen des Haushalts waren auf die Straße gerannt und drängten sich am Ufer.
Shigeru hob seine Kleider aus dem Schlamm und zog sie an. Er überlegte, ob er baden und sich umziehen sollte, bevor er zu seiner Mutter ging. Er schaute zurück zum Fluss. Das Mädchen war wieder ins Boot geklettert und zog sich an. Sie schaute nicht in seine Richtung, sie ruderte gegen die Strömung flussabwärts. Männer tauchten immer noch nach Yuta. Shigeru dachte an den umklammernden, erstickenden Griff des Flusses und zitterte wieder trotz der Sonnenwärme. Er bückte sich und hob einen der kleinsten Steine auf – einen runden schwarzen Kiesel, vom Wasser geglättet.
»Lord Shigeru!« Chiyo rief ihn. »Kommen Sie, ich bringe Ihnen frische Kleidung.«
»Du musst mich bei meiner Mutter entschuldigen«, sagte er, während er am Ufer hinauflief. »Es tut mir leid, dass ich sie warten lasse.«
»Ich glaube nicht, dass sie böse ist.« Chiyo lächelte und warf einen schnellen Blick auf Shigerus Gesicht. »Sie wird stolz auf Sie sein und Ihr Vater auch. Machen Sie sich keine Gedanken. Sie haben Ihrem Bruder das Leben gerettet.«
Er fühlte sich schwach vor Erleichterung. Das Ausmaß des möglichen Unglücks war noch zu gegenwärtig. Wenn er nicht im Garten gewesen wäre, wenn Akira ihn nicht gefunden hätte, wenn er zuerst die Wachtposten gerufen hätte, wenn das Mädchen nicht nach ihm getaucht wäre … Er war dazu erzogen worden, den Tod nicht zu fürchten und den Tod anderer nicht übermäßig zu betrauern, doch er hatte noch nie einen Nahestehenden verloren und nicht gewusst, wie leidenschaftlich er seinen Bruder liebte. Jetzt näherte sich ihm das Leid mit seinem grauen, betäubenden Atem und seinen heimtückischen Waffen, die das Herz zerreißen und den Geist foltern. Er erkannte das Leid als einen Feind, der mehr zu fürchten ist als jeder Krieger; ihm wurde klar, dass er gegen diesen Angriff nicht gerüstet war. Und er wusste, er würde sein Leben lang darum kämpfen, das Leid in Grenzen zu halten, indem er dafür sorgte, dass Takeshi am Leben blieb.
Am nächsten Tag wurde Mori Yutas Leiche am gegenüberliegenden Ufer angeschwemmt, etwas flussabwärts vom Haus seiner Familie. Ihren eigenen Kummer, so groß er auch sein mochte, verbargen seine Eltern unter ihrer Scham und Reue darüber, dass der Sohn des Clanherrn beinah ertrunken wäre. Yuta war zwölf, fast ein Mann. Er hätte sich nicht an kindischen Spielen beteiligen und einen Achtjährigen in Gefahr bringen sollen. Nach der Beerdigung bat der Vater um eine Audienz bei Lord Otori, die ihm gewährt wurde.
Shigemori und seine jüngeren Brüder saßen in der großen Halle der Otoriresidenz, die innerhalb des Schlossgeländes lag und von Gärten umgeben war. Die ältesten Gefolgsleute waren ebenfalls im Raum: Endo Chikara, Miyoshi Satoru und Irie Masahide. Das Wellengeräusch und der Salzgeruch drangen durch die offenen Türen. Im Lauf des Sommers nahmen Wärme und Feuchtigkeit täglich zu, doch hier wurde die Luft vom Meer gekühlt und vom Wald auf dem kleinen Hügel hinter dem Schloss. Dort befand sich der Schrein für den Meeresgott mit der großen Bronzeglocke, die angeblich ein Riese gegossen hatte. Sie wurde geläutet, wenn fremde Schiffe in Sicht kamen oder ein Wal strandete.
Die drei Otorilords waren zeremoniell gekleidet, jeder hatte einen kleinen schwarzen Hut auf und hielt einen Fächer in der Hand. Shigeru kniete neben ihnen. Auch er trug formelle Gewänder – nicht die nassen, beschmutzten. Sie waren sorgfältig gewaschen und dann beim Haus seiner Mutter in dem kleinen Schrein, der dem Flussgott geweiht war, mit vielen anderen Gaben wie Reiswein und Silber dargeboten worden in der Hoffnung, den Geist so zu besänftigen. Viele in der Stadt murmelten, der Wassergott sei durch den Bau der neuen Brücke beleidigt und habe die Jungen im Zorn gepackt – zur Warnung. Der Bau solle sofort eingestellt werden. Der Steinmetz wurde bespuckt, seine Familie bedroht. Doch für Lord Shigemori war die Brücke ein Herzenswunsch, von dem er sich nicht abbringen ließ. Die Fundamente der Bögen waren gelegt und der erste Bogen strebte bereits in die Höhe.
Das alles ging Shigeru durch den Sinn, als Mori Yusuke sich vor den drei Otoribrüdern auf den Boden warf. Er war Pferdezüchter und lehrte Shigeru und die anderen Kriegersöhne reiten. Er züchtete die Otoripferde und ritt sie zu, sie waren angeblich vom Flussgott gezeugt worden; jetzt hatte der Fluss ihm dafür seinen Sohn genommen. Seine Familie war von mittlerem Rang, aber wohlhabend. Ihre Fähigkeiten und ihre Ländereien am Fluss hatten ihnen Reichtum eingetragen. Shigemori hatte Yusuke dadurch begünstigt, dass er ihm die Erziehung seiner Söhne anvertraute.
Yusuke war bleich, aber gefasst. Auf Shigemoris Befehl hob er den Kopf und sprach mit leiser, klarer Stimme.
»Lord Otori, ich bedauere zutiefst das Leid, das ich Ihnen zugefügt habe. Ich bin gekommen, um Ihnen mein Leben darzubieten. Ich bitte nur um Ihre Erlaubnis, mich nach Kriegerart selbst zu töten.«
Shigemori schwieg mehrere Sekunden. Yusuke senkte wieder den Kopf. Shigeru sah, wie unentschlossen sein Vater war, er kannte die Gründe dafür. Der Clan konnte es sich nicht leisten, einen Mann von Yusukes Kompetenz zu verlieren, doch die Beleidigung musste gesühnt werden, sonst würde sein Vater das Gesicht verlieren, als schwach wahrgenommen werden. Er glaubte, Ungeduld auf den Gesichtern seiner Onkel zu lesen, und auch Endo runzelte die Stirn.
Shoichi räusperte sich. »Darf ich etwas sagen, Bruder?«
»Ich möchte gern deine Meinung hören«, sagte Lord Otori.
»Die Beleidigung und Kränkung unserer Familie sind in meinen Augen unentschuldbar. Es ist fast zu viel der Ehre, dieser Person zu erlauben, sich selbst das Leben zu nehmen. Das Leben der ganzen Familie sollte zudem gefordert werden sowie die Beschlagnahmung ihrer Ländereien und ihres Besitzes.«
Shigemori blinzelte nervös. »Das erscheint mir etwas übertrieben«, sagte er. »Masahiro, was denkst du?«
»Ich muss meinem Bruder zustimmen.« Masahiro fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Dein geliebter Sohn Takeshi ist fast gestorben. Lord Shigeru war ebenfalls in Gefahr. Unser Schreck, unser Kummer waren außerordentlich. Die Familie Mori muss dafür zahlen.«
Shigeru kannte seine Onkel nicht gut. Als er noch im Haus seiner Mutter lebte, hatte er sie selten gesehen. Beide waren erheblich jünger als sein Vater, Söhne der zweiten Frau seines Großvaters, die noch bei ihrem ältesten Sohn Shoichi lebte. Shigeru wusste, dass sie eigene jüngere Kinder hatten, noch Kleinkinder oder Säuglinge, die er nie zu Gesicht bekommen hatte. Jetzt betrachtete er die Gesichter seiner Onkel und hörte ihre Worte, als wären sie Fremde. Ihre Äußerungen sprachen von Loyalität gegenüber ihrem Bruder und Ergebenheit gegenüber ihrer Familie, doch er glaubte hinter den gefälligen Sätzen etwas Verborgenes und Selbstsüchtiges zu erkennen. Und sein Vater hatte recht: Die geforderte Strafe war viel zu hart; es gab keinen Grund, das Leben der ganzen Familie zu fordern – er dachte an den schluchzenden Jungen am Wehr und den anderen Bruder, an die Frau, die geschrien hatte wie ein Brachvogel –, es sei denn, die Onkel begehrten, was die Familie besaß: Yusukes fruchtbares Land und vor allem die Pferde.
Sein Vater unterbrach seine Gedanken. »Lord Shigeru, du warst von diesen unglücklichen Ereignissen am unmittelbarsten betroffen. Was wäre deiner Meinung nach die gerechte und zugleich ausreichende Strafe?«
Es war das erste Mal, dass er bei einer Audienz zum Sprechen aufgefordert wurde, und er hatte schon an vielen teilgenommen.
»Ich bin überzeugt, dass meine Onkel nur von der Treue zu meinem Vater veranlasst wurden, so zu reden.« Er verneigte sich tief. Dann setzte er sich auf und fuhr fort: »Aber ich glaube, Lord Otori hat recht. Lord Mori muss sich nicht das Leben nehmen, sondern soll wie zuvor dem Clan dienen, der von seiner Ergebenheit und seinen Fähigkeiten großen Nutzen hat. Lord Mori hat seinen ältesten Sohn verloren und damit schon die Strafe des Himmels erfahren. Lasst ihn bereuen, indem er einen seiner anderen Söhne dem Flussgott weiht, damit er dem Schrein dient, und indem er dem Schrein außerdem Pferde schenkt.«
Shoichi sagte: »Lord Shigeru zeigt Weisheit über seine Jahre hinaus. Doch ich glaube nicht, dass damit die Beleidigung unserer Familie gesühnt wird.«
»So groß war die Beleidigung nicht«, sagte Shigeru. »Es war ein Unfall bei einem Spiel der Jungen. Auch die Söhne anderer Familien waren beteiligt. Sind ihre Väter ebenfalls verantwortlich zu machen?«
Alle betroffenen Väter waren anwesend – Endo, Miyoshi, Mori und sein eigener … Zornig stieß er hervor: »Wir sollten nicht unsere eigenen Leute töten. Unsere Feinde brennen darauf, das zu tun.«
Das Argument klang in seinen Ohren hoffnungslos kindisch, und er schwieg. Masahiro schien ihn spöttisch anzuschauen.
Lord Otori sagte: »Ich stimme meinem Sohn zu. Es soll sein, wie er vorschlägt. Mit einer Ergänzung: Mori, ich glaube, du hast zwei überlebende Söhne. Lass den jüngeren zum Schrein gehen und schicke den älteren hierher. Er wird Shigeru zu Diensten sein und mit ihm erzogen werden.«
»Die Ehre ist zu groß«, widersprach Mori, doch Shigemori hob die Hand.
»Das ist meine Entscheidung.«
Shigeru bemerkte den verborgenen Ärger seiner Onkel über das Urteil des Vaters, und das verwirrte ihn. Sie hatten alle Vorteile von Rang und hinreichendem Wohlstand und doch waren sie nicht zufrieden. Sie hatten Moris Tod nicht der Ehre wegen verlangt, sondern aus anderen, dunkleren Gründen – Habgier, Grausamkeit, Neid. Er glaubte nicht, das seinem Vater oder den älteren Gefolgsleuten gegenüber äußern zu können – es erschien ihm zu illoyal gegenüber der Familie –, doch von diesem Tag an beobachtete er sie genau, ohne es sich anmerken zu lassen, und verlor jedes Vertrauen zu ihnen.
Mori Kiyoshige wurde Shigerus engster Gefährte. Während sein jüngerer Bruder am Wehr geschluchzt hatte, war Kiyoshige nach Hause gelaufen, um Hilfe zu holen. Weder damals noch später hatte er geweint: Es wurde behauptet, dass er nie Tränen vergieße. Seine Mutter war auf den Tod ihres Mannes und den Ruin der Familie vorbereitet gewesen. Als Yusuke lebend nach Hause kam mit der Nachricht, Kiyoshige solle ins Schloss gehen, weinte sie vor Erleichterung und Freude.
Kiyoshige war schmächtig, doch bereits ungeheuer stark für sein Alter. Wie sein Vater hatte er eine große Liebe zu Pferden und großes Geschick im Umgang mit ihnen. Er war selbstbewusst bis zur Dreistigkeit, und sobald er seine Scheu überwunden hatte, behandelte er Shigeru so wie seinen älteren Bruder, stritt mit ihm, neckte ihn und raufte sogar gelegentlich mit ihm. Seine Lehrer hielten ihn für unbezähmbar – vor allem Ichiro fand seine Geduld bis zur Grenze strapaziert –, doch Kiyoshiges gute Laune und Fröhlichkeit, sein Mut und sein Talent beim Reiten sicherten ihm die Zuneigung der Erwachsenen im gleichen Maß, wie er sie irritierte, und seine Treue zu Shigeru war vollkommen.
Trotz ihres relativen Reichtums lebte seine fleißige Familie sehr genügsam. Kiyoshige war daran gewöhnt, vor Sonnenaufgang aufzustehen und seinem Vater mit den Pferden zu helfen und dann vor dem Morgenunterricht auf dem Feld zu arbeiten. Am Abend, wenn seine Mutter und die Schwestern nähten, mussten er und seine Brüder lernen, wenn sie nicht mit praktischen Aufgaben beschäftigt waren, zum Beispiel Sandalen aus Stroh anzufertigen, während ihr Vater ihnen aus den Klassikern vorlas oder Theorien der Pferdezucht diskutierte.
Die Otori schätzten zwei Pferdearten vor allen anderen: Rappen und helle Graue mit schwarzen Mähnen und Schwänzen. Mori Yusuke züchtete beide und ließ sie auf den Feuchtwiesen grasen. Gelegentlich war ein Grauer so hell, dass er fast weiß erschien, mit weißer Mähne und weißem Schwanz. Wenn die Pferde gemeinsam galoppierten, sahen sie aus wie eine schwarzweiße Sturmwolke. In dem Jahr, in dem Kiyoshige ins Schloss kam, gab sein Vater Shigeru ein junges schwarzes Hengstfohlen, seinem Sohn einen Grauen mit schwarzer Mähne und stiftete dem Schrein zusammen mit seinem jüngsten Sohn Hiroki einen Schimmel, der selbst zu einer Art Gott wurde. Jeden Tag wurde er zu einem Stall auf dem Schreingelände geführt, wo Leute ihm Karotten, Korn und andere Gaben brachten. Er wurde sehr dick und ziemlich gierig. Der Schrein lag unweit des Hauses von Shigerus Mutter, und gelegentlich wurden er und sein Bruder zu Festen dorthin mitgenommen. Shigeru bedauerte das Pferd, das nicht frei mit den anderen laufen konnte, aber es schien mit seinem neuen göttlichen Status völlig zufrieden zu sein.
»Vater hat dieses Pferd wegen seines friedlichen Charakters ausgewählt«, vertraute Kiyoshige eines Tages in diesem Sommer Shigeru an, als sie sich über die Stangen vor dem Pferdestall beugten. »Aus ihm würde nie ein Streitross, hat er gesagt.«
»Dem Flussgott sollte das beste Pferd geweiht werden«, sagte Takeshi.
»Es sieht am besten aus.« Kiyoshige tätschelte den schneeweißen Hals. Das Pferd rieb die Schnauze an ihm, suchte nach Leckerbissen, zog, als es keine fand, die rosa Lippen zurück und biss den Jungen leicht in den Arm. Kiyoshige gab ihm einen Klaps. Ein Priester, der den Eingang zum Schrein gekehrt hatte, eilte herbei und schimpfte mit den Jungen. »Lasst das heilige Pferd in Ruhe!«
»Es ist immer noch nur ein Pferd«, sagte Kiyoshige ruhig. »Mit so schlechten Manieren sollte es nicht davonkommen!«
Hiroki, sein jüngerer Bruder, folgte dem Priester mit zwei Strohbesen, die größer als er waren.
»Armer Hiroki! Leidet er darunter, dass er der Diener des Priesters sein muss?«, fragte Takeshi. »Mir würde das nicht gefallen!«
»Ihm macht das nichts aus«, flüsterte Kiyoshige vertraulich. »Vater hat das auch gesagt – Hiroki ist von Natur kein Krieger. Hast du das gewusst, Shigeru? Als du bei der Audienz deine Meinung gesagt hast?«
»Ich habe ihn im vergangenen Jahr beim Reihertanz beobachtet«, sagte Shigeru. »Es schien ihn tief zu berühren. Und er weinte im Gegensatz zu dir, als euer älterer Bruder ertrank.«
Kiyoshiges Gesichtsausdruck verhärtete sich, und er schwieg ein paar Sekunden. Schließlich lachte er und schlug Takeshi auf die Schulter. »Du hast schon getötet – und du bist erst acht. Du hast uns beide übertroffen!«
Niemand hatte es gewagt, das laut zu sagen, doch Shigeru hatte es auch schon gedacht und manch anderer, wie er wusste, ebenfalls.
»Es war ein Unfall«, sagte er. »Takeshi hat Yuta nicht töten wollen.«
»Vielleicht doch«, murmelte Takeshi erregt. »Aber er hat auf jeden Fall versucht, mich zu töten!«
Sie standen im Schatten der gewölbten Dachvorsprünge am Eingang zum Schrein. »Für Vater kommen die Pferde immer zuerst«, sagte Kiyoshige. »Selbst wenn es um eine Gabe für die Götter geht. Das Pferd muss den richtigen Charakter für eine Opfergabe haben – die meisten Pferde würden unglücklich sein, wenn sie den ganzen Tag im Stall stehen müssten und nie galoppieren dürften.«
»Oder in eine Schlacht ziehen«, sagte Takeshi sehnsüchtig.
In eine Schlacht ziehen. Die Köpfe der Jungen waren voll davon. Stundenlang trainierten sie mit Schwert und Bogen, studierten die Geschichte der Kriege und ihre Strategie und hörten am Abend den älteren Männern zu, die Geschichten von klassischen Helden und deren Feldzügen erzählten. Sie erfuhren von Otori Takeyoshi, der vor Hunderten von Jahren als Erster das legendäre Schwert Jato – die Schlange – vom Kaiser erhalten und damit eigenhändig einen Stamm von Riesen besiegt hatte. Und von allen anderen Otorihelden bis zu Matsuda Shingen, dem größten Schwertkämpfer der Gegenwart, der ihren Vätern den Gebrauch des Schwertes beigebracht und Shigemori gerettet hatte, als der allein mit fünf Männern von vierzig Tohankriegern an der Grenze zum Osten aus einem Hinterhalt überfallen worden war. Dann war Matsuda Shingen zum Erleuchteten gerufen worden, dem er jetzt im Tempel von Terayama diente.
Inzwischen war Jato an Shigerus Vater übergegangen und eines Tages würde es Shigeru gehören.
Über ihren Köpfen hingen Schnitzereien der langnasigen Kobolde, die im Berg wohnten. Kiyoshige schaute zu ihnen hinauf und sagte: »Matsuda Shingen wurde von Kobolden im Schwertkampf unterrichtet. Deshalb kam ihm keiner zu nahe.«
»Ich wünschte mir, ich könnte von Kobolden lernen!«, sagte Takeshi.
»Lord Irie ist ein Kobold«, erwiderte Kiyoshige lachend – ihr Lehrmeister im Schwertkampf hatte tatsächlich eine ungewöhnlich lange Nase.
»Aber die Kobolde könnten dir alles Mögliche beibringen, das Irie nicht kann«, sagte Takeshi. »Zum Beispiel, wie man sich unsichtbar macht.«
Es gab viele Geschichten über Menschen mit seltsamen Fähigkeiten, über einen Stamm von Zauberern. Die Jungen kamen immer wieder darauf zu sprechen, mit einem gewissen Neid, denn ihre eigenen Talente zeigten sich nur langsam und nach strengem Training. Zu gern hätten sie sich ihren Lehrern durch Unsichtbarkeit oder andere magische Künste entzogen.
»Können Menschen das wirklich?«, fragte Shigeru. »Oder bewegen sie sich nur so schnell, dass es aussieht, als wären sie unsichtbar. Wie Lord Iries Stange, wenn sie dich trifft!«
»Wenn es Geschichten darüber gibt, dann muss es irgendjemand zu irgendeiner Zeit gekonnt haben«, sagte Takeshi.
Kiyoshige widersprach ihm. Sie flüsterten, denn die Zauberer vom Stamm konnten auch aus der Ferne hören und sehen. Die andere Welt mit Kobolden, Geistern und übermenschlichen Kräften lag neben ihrer eigenen; gelegentlich wurde die Membran zwischen beiden Welten dünner und schließlich durchlässig. Es gab auch Geschichten von Menschen, die sich in die andere Welt verirrt hatten und bei ihrer Rückkehr feststellen mussten, dass in einer einzigen Nacht hundert Jahre vergangen waren. Oder von Wesen, die vom Mond oder dem Himmel kamen, wie Frauen aussahen und Männer dazu brachten, sich in sie zu verlieben. Es gab angeblich eine Straße nach Süden, wo eine wunderschöne Frau mit schlangengleichem langem Hals junge Männer in den Wald lockte und sich von ihrem Fleisch ernährte.
»Hiroki hat oft aus Angst vor den Kobolden geweint«, sagte Kiyoshige. »Und jetzt lebt er hier mitten unter ihnen!«
»Er weint über alles«, sagte Takeshi verächtlich.
Isamus Leiche wurde zuerst von fallenden Blättern und dann von Schnee begraben, sie blieb unentdeckt bis zum folgenden Frühjahr, als die Dorfjungen in den Bergen nach Kräutern und Vogeleiern suchten. Bis dahin war sein Mörder, sein Cousin Kotaro, längst zurück in Inuyama, der Clanhauptstadt von Iida Sadayoshi und den Tohan, wo er Produkte aus Sojabohnen herstellte, Geld verlieh und sich beinah wie jeder andere Kaufmann in der Stadt verhielt. Kotaro erzählte niemandem genaue Einzelheiten, er berichtete nur von der ausgeführten Hinrichtung und Isamus Tod und versuchte, die ganze Angelegenheit mit seiner üblichen Gefühlskälte zu verdrängen, doch nachts erschien Isamus Gesicht vor seinen Augen, und er wurde oft von dem furchtlosen und unverständlichen Gelächter seines Cousins geweckt. Die Tatsache, dass Isamu sich nicht verteidigt, sondern von Vergebung und Gehorsam zu irgendeinem Herrn geredet hatte, quälte ihn. Der Tod hatte seinen Rivalen, den Verräter, nicht ausgelöscht, er hatte ihn mächtiger und tatsächlich unbesiegbar gemacht.
Kotaro gebot über ein Netzwerk von Spionen, denn der Stamm operierte überall in den Drei Ländern und arbeitete zu dieser Zeit hauptsächlich für die Familie Iida, die ihren Zugriff auf den Osten festigte und überlegte, wie sie sich ins Mittlere Land und darüber hinaus ausdehnen könnte. Die Familie Iida beobachtete scharf die Otori, die sie mit Recht als ihre wichtigsten Rivalen betrachtete. Die Clans im Westen waren nicht so kriegerisch und schlossen bereitwilliger Bündnisse durch Heirat. Zudem war das Mittlere Land reich, hatte viele Silberminen und beherrschte Fischerei und Handel im Nord- und Südmeer. Die Otori würden es nicht ohne weiteres aufgeben.
Kotaro holte Auskünfte ein über die Dörfer, in deren Nähe er Isamu verfolgt hatte. Keines davon war auf irgendeiner Landkarte verzeichnet oder als Steuerquelle einer Domäne bekannt. Es gab viele solcher Orte in den Drei Ländern, der Stamm bewohnte selbst einige. Zweierlei verursachte Kotaro Unbehagen: die ständige Furcht, dass Isamu ein Kind hinterlassen haben könnte, und die allmähliche Erkenntnis, dass es etwas gab, von dem er bisher wenig gewusst hatte. Es gab eine geheime Sekte, die unerkannt unter den Ärmsten existierte – Landarbeitern, Ausgestoßenen, Prostituierten –, Menschen also, die zu sehr mit eigenen Kämpfen beschäftigt waren, um sich viel mit ihren Nachbarn zu beschäftigen; aus diesem Grund waren die Sektenangehörigen als die Verborgenen bekannt.
Kotaro begann jede noch so kleine Information über sie zu sammeln und gab sie mit Bedacht an seine Kontaktleute unter den Kriegern Iidas weiter, vor allem an einen Mann namens Ando, dessen Abstammung obskur war, der aber wegen seiner Grausamkeit und seines brutalen Umgangs mit dem Schwert einer der Gefolgsleute geworden war, denen Sadayoshi am meisten vertraute.
Die beiden wichtigsten Tatsachen, die über die Verborgenen bekannt wurden – dass sie niemandem das Leben nahmen, auch sich selbst nicht, und dass sie einem nie gesehenen Gott Treue schworen, der größer war als jeder Lord –, kamen Beleidigungen der Kriegerklasse gleich. Es fiel nicht schwer, durch Andos Berichte Sadayoshis Sohn Sadamu Hass auf die Sekte einzuflößen und die Bereitschaft zu ihrer Vernichtung hervorzurufen.
Kotaro selbst fand das Dorf nie, aber er vertraute darauf, dass früher oder später Iida Sadamu und seine Krieger es finden und Kinder, die Isamu hinterlassen haben mochte, töten würden.
Die Fohlen wuchsen heran und wurden mit drei Jahren von Lord Mori mit Kiyoshiges Hilfe zugeritten. Die Routine aus Unterricht und Training dauerte an. Zu Shigeru und Kiyoshige gesellten sich die beiden Söhne von Kitano Tadakazu, Tadao und Masaji. Tadakazu war der Herr von Tsuwano, einer kleinen Schlossstadt, die eine Dreitagereise südlich von Hagi entfernt im Schatten der großen Gebirgskette lag, die das Mittlere Land teilte. Tsuwano war ein wichtiger Haltepunkt auf der Hauptstraße nach Yamagata, der zweitgrößten Stadt des Otoriclans, und entsprechend gab es dort viele Gasthöfe und Lokale. Die Familie Kitano hatte außerdem einen Wohnsitz in Hagi, wo die Jungen lebten, während sie mit den anderen ihrer Generation ihre Erziehung fortsetzten. Sie entwickelten eine enge Gemeinschaft, von ihren Lehrern dazu ermuntert, nicht miteinander zu wetteifern, sondern starke Bande der Treue und Freundschaft zu knüpfen, als Basis für die künftige Stabilität des Clans. Ihre unterschiedlichen Fähigkeiten wurden anerkannt und gefördert: Shigerus Umgang mit dem Schwert, Tadaos Geschick mit dem Bogen, Kiyoshiges Reitkunst und Masajis Gewandtheit mit dem Speer.
Während sie zu Männern wurden, erlebten sie gemeinsam die ersten Bedrängungen der Begierde. Shigeru träumte häufig von dem Mädchen im Fluss, obwohl er sie nicht wiedersah, und ertappte sich dabei, wie er sehnsüchtig die Gestalt einer am Eingang knienden Dienerin betrachtete, den Schwung ihres Nackens, die Kurven ihres Körpers unter dem leichten Gewand. Kiyoshige war zwar ein Jahr jünger, aber frühreif in seiner Entwicklung und ebenso aufgewühlt. Als nahe Freunde wandten sie sich einander zu, entdeckten die Freuden des Körpers und besiegelten ihren Bund mit Leidenschaft. Eines Tages kam eine Dienerin, ein oder zwei Jahre älter als Shigeru, in ihr Zimmer und überraschte sie – das Mädchen bat sehr um Verzeihung, doch sie atmete rascher, und Röte stieg ihr in die Wangen; sie löste ihr Gewand und leistete ihnen sehr bereitwillig Gesellschaft. Shigeru war zwei Wochen lang von ihr gefesselt – bezaubert von ihrer zarten, seidigen Haut, dem Duft, der von ihrem Körper ausging, und der Art, wie sie sich gegenseitig ohne Scham begehrten –, bis sie plötzlich verschwand und sein Vater ihn zu sich rief.
Zu seiner Überraschung waren sie allein im Raum – soweit er sich erinnerte, zum ersten Mal ohne die Anwesenheit der älteren Gefolgsleute oder seiner Onkel. Lord Otori winkte ihn näher, und als sie Knie an Knie saßen, betrachtete sein Vater prüfend sein Gesicht.
»Du bist anscheinend beinah ein Mann und musst lernen, wie du dich gegenüber Frauen verhalten sollst. Sie gehören zu den größten Freuden des Lebens und es ist ganz natürlich, sie zu genießen. Aber deine Stellung bedeutet, dass du dich ihnen nicht so frei hingeben kannst wie möglicherweise deine Freunde. Es ist eine Frage von Vererbung und Rechtmäßigkeit. Die Frau, um die es geht, ist fortgeschickt worden; sollte sie ein Kind empfangen haben, könnte es Probleme geben, vor allem wenn wir nicht wissen, ob du der Vater bist oder Kiyoshige. Zur rechten Zeit werde ich dich mit einer Konkubine versorgen, die allein dir gehört. Am besten wird es sein, keine Kinder mit ihr zu haben. Kinder sollten nur von deiner rechtmäßigen Ehefrau geboren werden. Eine Ehe wird natürlich arrangiert werden, aber im Moment bist du zu jung und es gibt keine passende Verbindung.« Sein Ton änderte sich leicht, als er sich vorbeugte und leiser sprach. »Ich muss dir auch raten, dich nicht betören zu lassen. Es gibt nichts Verächtlicheres als einen Mann, der wegen der Liebe zu einer Frau seine Pflicht vernachlässigt, sein Ziel aus den Augen verliert oder sich auf andere Art schwächen lässt. Du bist jung und deshalb sehr anfällig. Sei wachsam. Die meisten Frauen sind anders, als sie erscheinen. Ich werde dir von meiner eigenen Erfahrung erzählen. Ich hoffe, das wird dich davor schützen, den gleichen Fehler zu begehen – einen, der mich mein Leben lang verfolgt hat.«
Shigeru beugte sich ebenfalls vor, damit ihm kein Wort entging.
»Ich war ungefähr in deinem Alter – fünfzehn –, als mir ein Mädchen auffiel, das hier als Dienerin arbeitete. Sie war nicht schön, aber sie hatte etwas an sich, das ich ungeheuer anziehend, fast unwiderstehlich fand. Sie war voller Lebenskraft, anmutig und wirkte sehr selbstbewusst. Immer verhielt sie sich vollkommen ehrerbietig und erledigte ihre Dienste einwandfrei, und doch schien es die ganze Zeit so, als würde sie lachen – über Männer im Allgemeinen, über die Schlossherren, mich eingeschlossen. Sie wusste, was ich für sie empfand – sie war sehr aufgeweckt und aufmerksam: Ich hatte das Gefühl, sie könnte meine Gedanken hören. Eines Nachts, als ich allein war, kam sie zu mir und gab sich mir hin. Wir waren füreinander die erste Liebe. Ich war von ihr besessen, und sie sagte mir oft, dass sie mich liebe. Mein eigener Vater hatte mit mir gesprochen, so wie ich jetzt mit dir, über die Gefahren, mit Dienerinnen zu schlafen, und über die Torheit, sich zu verlieben. Aber ich konnte meine Gefühle nicht bekämpfen. Sie waren stärker als ich.«
Er schwieg und schien in Erinnerungen an seine ferne Jugend zu versinken. »Jedenfalls kam sie eines Tages unerwartet zu mir und sagte, sie müsse mit mir reden. Es war während des Unterrichts. Ich wartete auf einen meiner Lehrer und versuchte, sie wegzuschicken. Doch zugleich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie in die Arme zu nehmen. Mein Lehrer kam an die Tür. Ich bat ihn zu warten, sagte, mir sei nicht gut. Ich wollte sie verstecken – aber das war nicht nötig. Sie hatte ihn lange vor mir gehört; es war, als wäre sie verschwunden. Sie war nirgends zu sehen. Nachdem mein Lehrer gegangen war, war sie wieder da. Einen Augenblick war sie nirgendwo, im nächsten stand sie vor mir. Alle Merkwürdigkeiten, die ich über sie wusste, gingen mir durch den Sinn: ihr unnatürlich scharfes Gehör, die seltsamen Linien auf ihren Handflächen, die sie zu halbieren schienen. Ich glaubte auf einmal, meine Betörung zu verstehen: Ganz klar hatte sie mich verhext. Sie musste eine Art Zauberin sein. Mit würgender Angst wurden mir die Risiken klar, die ich eingegangen war. Da sagte sie mir, wer sie war: eine vom Stamm.«
Er unterbrach sich und schaute Shigeru fragend an. »Weißt du, was das heißt?«
»Ich habe den Namen gehört. Manchmal reden die Jungen über die Menschen vom Stamm.« Er schwieg, dann fügte er hinzu: »Die Leute fürchten sie.«
»Aus gutem Grund. Der Stamm besteht aus mehreren Familien, vier oder fünf vielleicht, die behaupten, sich Fähigkeiten aus der Vergangenheit erhalten zu haben – Talente, die der Kriegerklasse verlorengingen. Ich habe einige dieser Fertigkeiten mit eigenen Augen gesehen und weiß, dass es sie tatsächlich gibt. Ich habe gesehen, wie eine Person verschwindet und wieder sichtbar wird. Angehörige des Stamms werden besonders von den Tohan als Spione und Attentäter genutzt. Sie sind äußerst tüchtig.«
»Benutzen die Otori sie?«, fragte Shigeru.
»Gelegentlich, aber nicht so oft wie die anderen.« Shigemori seufzte. »Diese Frau erzählte mir, dass sie aus der Familie der Kikuta stamme – die Linien auf den Handflächen seien für diese Familie charakteristisch. Sie sagte, sie sei tatsächlich aus Inuyama als Spionin hergeschickt worden. Sie gab das ganz ruhig zu, als wäre es auf keinen Fall das Wichtigste, das sie mir sagen wollte. Ich schwieg, ich war völlig schockiert. Es war, als hätte mich ein Geist von jenseits des Himmels oder eine Gestaltwandlerin gefangen. Sie nahm meine Hand und wollte, dass ich mich zu ihr setzte. Sie sagte, sie müsse mich verlassen, wir würden einander nie wiedersehen – doch sie liebe mich und trage in sich den Beweis unserer Liebe: mein Kind. Ich dürfe es nie jemandem sagen. Wenn die Wahrheit je herauskäme, müssten sie und das Kind sterben. Sie ließ es mich schwören. Durch Schreck und Leid schwanden mir fast die Sinne. Ich versuchte, sie in die Arme zu nehmen, dabei packte ich sie grob, vielleicht mit dem Gedanken, sie lieber zu töten als zu verlieren. Aber sie schien sich unter meiner Berührung aufzulösen. Ich hielt sie – dann waren meine Arme leer, und ich umschlang nur die Luft. Die Frau war fort. Ich sah sie nie wieder.
Das ist mehr als dreißig Jahre her, aber ich habe nie aufgehört, mich nach ihr zu sehnen. Inzwischen ist sie mit großer Wahrscheinlichkeit tot – und unser Kind, wenn es am Leben blieb, ist in den mittleren Jahren. Ich träume oft von ihm – ich bin überzeugt, dass es ein Sohn war. Ich bin voller Angst, dass er eines Tages auftaucht und mich als seinen Vater beansprucht, und voll Trauer weiß ich, dieser Tag wird nie kommen. Es ist wie eine chronische Krankheit gewesen, für die ich mich verachte. Ich habe eine Heirat verschoben, solange es möglich war – wenn ich sie nicht haben konnte, dann wollte ich gar keine Frau. Ich habe nie jemandem von dieser Schwäche erzählt und ich vertraue darauf, dass du es nie weitererzählen wirst. Als ich deine Mutter heiratete, dachte ich, ich würde darüber hinwegkommen. Doch die vielen totgeborenen Kinder und das Leid deiner Mutter, ihr Wunsch zu empfangen und ihre Angst, kein lebendes Kind zu gebären, ließen keine Zufriedenheit zwischen uns aufkommen. Ich sehnte mich die ganze Zeit nach dem einen lebenden Kind, das für immer für mich verloren war.
Natürlich trösteten mich deine Geburt und die von Takeshi«, fügte Shigemori hinzu, aber die Worte klangen hohl. Shigeru spürte, dass er in der folgenden Stille etwas sagen sollte, aber es fiel ihm nichts ein. Das Verhältnis zu seinem Vater war nie eng gewesen; er hatte keine Worte, die er gebrauchen, kein Muster, dem er folgen konnte.
»Ein Fehler genügt, um ein Leben zu vergiften«, sagte Lord Otori bitter. »Männer sind am törichtsten und am leichtesten verletzbar, wenn sie sich von ihren Vernarrtheiten leiten lassen. Ich erzähle dir das alles in der Hoffnung, dass du die Falle meidest, in die ich gestürzt bin. Ich schicke dich zu Matsuda nach Terayama. Dort wirst du keine Frauen finden. Die Disziplin des Tempellebens und Matsudas Unterweisungen werden dich lehren, deine Begierden zu kontrollieren. Wenn du zurückkehrst, werden wir eine geeignete Konkubine finden, in die du dich nicht verlieben wirst, und danach eine passende Ehefrau – vorausgesetzt, wir sind bis dahin nicht im Krieg gegen die Tohan. In diesem Fall werden wir unsere persönliche Zufriedenheit zurückstellen und uns auf die Kriegskunst konzentrieren müssen.«
Wenige Tage danach waren die Reisevorbereitungen getroffen, und Shigeru brach mit Irie Masahide auf nach Terayama, wo sie vor der Regenzeit mit ihrer unangenehmen schwülen Wärme eintreffen wollten. Pferde und Männer wurden in großen flachen Booten über den Fluss gebracht. Von der Steinbrücke waren bereits drei der vier Bögen vollendet. Sie wird fertig sein, wenn ich zurückkomme, dachte Shigeru.
Die Reise nach Tsuwano würde drei Tage dauern; die Straße folgte dem Flusstal zwischen den Hügelketten, doch hinter Tsuwano, wo das Land viel gebirgiger wurde, umkreiste sie die Hänge und kurvte dann über zwei oder drei steile Pässe zurück nach Yamagata. Hier würde Shigeru einige Zeit verbringen und sich die bekannte Stadt neu erobern, bevor er die kurze Reise durch die Berge zum Tempel antrat.
Kiyoshige sollte ihn nicht begleiten, er kehrte ins Haus seiner Familie zurück. Sein Vater war in einen höheren Rang mit besserer Besoldung befördert worden. Das konnte kaum als Strafe betrachtet werden, doch Shigeru empfand es fast als solche. Ihm fehlte der muntere, ausgelassene Kiyoshige, seine Respektlosigkeit und seine Witze. Während er den Rappen Karasu ritt, vermisste er Kiyoshiges Grauen mit der schwarzen Mähne, Kamome, neben sich. Doch er behielt seine Gefühle für sich. Die Kitanobrüder reisten mit ihm, sie wurden von ihrem Vater nach Tsuwano gerufen. Der plötzliche Befehl erschien den Jungen rätselhaft. Sie hatten erwartet, in Hagi zu bleiben oder mit Shigeru nach Terayama zu gehen. Sie beneideten ihn um die Gelegenheit, von Matsuda Shingen unterrichtet zu werden, und fragten sich, warum ihr Vater ihnen nicht erlaubte, diese Gelegenheit zu ihrem Vorteil zu nutzen.
»Es wäre besser, in Hagi zu bleiben«, sagte Tadao zum vierten oder fünften Mal. »In Tsuwano haben wir keine Lehrer wie Lord Irie oder Lord Miyoshi. Vater ist ein großer Krieger, aber er ist so altmodisch.«
Die Frühlingsaussaat war beendet, und das klare Grün der jungen Sämlinge leuchtete vor der spiegelnden Oberfläche der Reisfelder, die das Bild des Himmels mit den hohen weißen Wolken wiedergab. An einigen Ufern um die Felder waren Bohnen gepflanzt, ihre weißen und violetten Blüten lockten viele Bienen an. Frösche quakten und die Sommerzikaden begannen zu zirpen. Shigeru hätte sich gewünscht, das Land eingehender betrachten und mit den Bauern über ihre Erträge und Methoden reden zu können. Die beiden vergangenen Jahre hatten gute Ernten gebracht – kein Insektenbefall, keine größeren Sturmschäden – und dadurch waren alle guter Dinge, doch Shigeru hätte gern mehr über ihr Leben gewusst. Er kannte die Bauern lediglich als Zahlen aus den Unterlagen des Clans über die erwarteten Erträge ihrer Felder und ihren Steueranteil.
Die Geheimnisse, die ihm sein Vater anvertraut hatte, gingen ihm nicht aus dem Sinn. Der Gedanke, dass er möglicherweise einen Bruder hatte, so viele Jahre älter als er, quälte und faszinierte ihn. Und die Mutter des Jungen, die Frau vom Stamm, die Zauberin und Gestaltwandlerin! Sein Vater hatte eine solche Frau getroffen, hatte mit ihr geschlafen. Die Vorstellung entsetzte und erregte ihn zugleich. Er sann über das Leben seines Vaters nach und sah seine Schwächen deutlicher. Er fragte sich auch, wie viele unter den Reitknechten, die sie jetzt auf der Reise begleiteten, oder den Bediensteten in den Gasthäusern Angehörige des Stamms, Spione oder Attentäter sein könnten. Diese Gedanken teilte er mit niemandem, doch er beschloss, während seines Aufenthalts in Terayama Matsuda Shingen zu befragen. Er hatte wenig Lust, den anderen Jungen bei ihrem Klatsch und ihren Klagen zuzuhören, er hatte zu viel zu überdenken, doch er zwang sich, leichthin mit ihnen zu scherzen und seine Gedanken zu verbergen. Dabei stellte er fest, dass er zwei Personen zugleich sein konnte: der normale Fünfzehnjährige und zugleich ein altersloser Mann, der weit aufmerksamer und vorsichtiger war, sein kommendes erwachsenes Ich.