Der Clan der Otori. Der Glanz des Mondes - Lian Hearn - E-Book

Der Clan der Otori. Der Glanz des Mondes E-Book

Lian Hearn

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Beschreibung

Ihre Liebe ist stark, aber ist sie mächtiger als der Krieg? Der dritte Band des international erfolgreichen Asien-Fantasy Bestsellers für alle ab 14 Endlich sind die Takeo und Kaede wieder vereint! Doch sie können ihr gemeinsames Glück nicht lange genießen, denn die Otori-Lords wollen Takeo seine Herrschaft streitig machen und rüsten sich bereits zum Kampf. Als Takeo in die Schlacht zieht, bleibt Kaede zurück, voller unguter Vorahnungen. Nun wird sich zeigen, ob sich die Prophezeiung um Takeo erfüllt ... - Grandioses Setting, actionreiche Schlachten und die packende Liebesgeschichte von Takeo und Kaede – ein Buch wie ein Blockbuster! - Band 3 der atemberaubenden All-Age Asien-Romantasy von Bestseller-Autorin Lian Hearn – für Leser*innen ab 14 - Für alle Fans von »Song of Silver«, »Ein Kleid aus Seide und Sternen« und »Kings and Thieves«  Die ganze Otori-Reihe auf einen Blick: Band 1: »Das Schwert in der Stille« Band 2: »Der Pfad im Schnee« Band 3: »Der Glanz des Mondes« Band 4: »Der Ruf des Reihers« Und die Vorgeschichte: »Die Weite des Himmels«

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Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Lian Hearn

Der Clan der Otori. Der Glanz des Mondes

 

 

Inhalt

Widmung

Motto

Die drei Länder

Die Clans

Die Otori

Die Tohan

Die Seishuu

Der Stamm

Die Familie der Muto

Die Familie der Kikuta

Die Familie der Kuroda

Weitere Stammesangehörige

Andere

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Nachwort

Danksagung

Leseprobe Band 4

Kapitel 1

Für B

Auch andere, in den entferntesten Dörfern,

blicken ohne Zweifel zu diesem Mond,

der niemals fragt, welcher Betrachter

die Nacht gerade sein Eigen nennt …

Laut, im unsichtbaren Wind des Berges,

schallt der Ruf des Hirschs und lässt das Herz erbeben

und irgendwo von einem Zweig

fällt ein einsames Blatt zu Boden

 

Das Schlagholz (»Kinuta«) von Zeami

 

Aus: Japanese No Dramas, Penguin Books

Übertragung ins Englische: Royall Tyler

Die drei Länder

Personen

Die Clans

Die Otori

(Mittleres Land; Sitz des Schlosses: Hagi)

Otori Shigeru

rechtmäßiger Erbe des Clans (1)

Otori Takeshi

sein jüngerer Bruder, von den Tohan ermordet (g.)

Otori Takeo

(Geburtsname: Tomasu), sein Adoptivsohn (1)

Otori Shigemori

Shigerus Vater, gefallen in der Schlacht von Yaegahara (g.)

Otori Ichiro

ein entfernter Verwandter, Shigerus und Takeos Lehrer (1)

Chiyo

Dienerinnen in Shigerus Haus (1)

Haruka

Dienerinnen in Shigerus Haus (1)

Shiro

ein Zimmermannsmeister aus Hagi (1)

Otori Shoichi

Shigerus Onkel, Oberhaupt des Clans (1)

Otori Masahiro

sein jüngerer Bruder (1)

Otori Yoshitomi

Masahiros Sohn (1)

Miyoshi Kahei

Brüder, Freunde von Takeo (1)

Miyoshi Gemba

Brüder, Freunde von Takeo (1)

Miyoshi Satoru

ihr Vater, Hauptmann der Wachen im Schloss von Hagi (3)

Endo Chikara

ein alter Gefolgsmann (3)

Terada Fumifusa

ein Pirat (3)

Terada Fumio

sein Sohn, Freund von Takeo (1)

Ryoma

ein Fischer, Masahiros unehelicher Sohn (3)

Die Tohan

(Der Osten; Sitz des Schlosses: Inuyama)

Iida Sadamu

Oberhaupt des Clans (1)

Iida Nariaki

sein Cousin (3)

Ando

Iidas Gefolgsleute (1)

Abe

Iidas Gefolgsleute (1)

Lord Noguchi

ein Verbündeter (1)

Lady Noguchi

seine Frau (1)

Junko

Dienerin im Schloss Noguchi (1)

Die Seishuu

(Eine Allianz mehrerer alteingesessener Familien. Der Westen; Sitz der Schlösser: Kumamoto und Maruyama)

Arai Daiichi

ein Kriegsherr (1)

Niwa Satoru

Arais Gefolgsleute (2)

Akita Tsutomu

Arais Gefolgsleute (2)

Sonoda Mitsuru

Akitas Neffe (2)

Maruyama Naomi

Oberhaupt der Domäne Maruyama, Shigerus Geliebte (1)

Mariko

ihre Tochter (1)

Sachie

ihre Dienerin (1)

Sugita Haruki

oberster Gefolgsmann der Domäne Maruyama (1)

Sugita Hiroshi

sein Neffe (3)

Sakai Masaki

Hiroshis Cousin (3)

Lord Shirakawa

Oberhaupt der Domäne Shirakawa (1)

Kaede

seine älteste Tochter (1)

Ai

seine jüngeren Töchter (2)

Hana

seine jüngeren Töchter (2)

Ayame

Dienerinnen im Haus der Shirakawa (2)

Manami

Dienerinnen im Haus der Shirakawa (2)

Ayako

Dienerinnen im Haus der Shirakawa (3)

Amano Tenzo

ein Gefolgsmann (1)

Shoji Kiyoshi

der älteste Gefolgsmann von Lord Shirakawa (1)

Der Stamm

Die Familie der Muto

Muto Kenji

Takeos Lehrer, Mutomeister (1)

Muto Shizuka

Kenjis Nichte, Arais Geliebte und Kaedes Dienerin und Gefährtin (1)

Zenko

ihre beiden Söhne (3)

Taku

ihre beiden Söhne (3)

Muto Seiko

Kenjis Frau (2)

Muto Yuki

die Tochter der beiden (1)

Muto Yuzuru

ein Verwandter von Kenji (2)

Sadako

Dienerin in Kenjis Haus (2)

Kana

Mägde im Haus von Shizukas Großeltern (3)

Miyabi

Mägde im Haus von Shizukas Großeltern (3)

Die Familie der Kikuta

Kikuta Isamu

Takeos leiblicher Vater (g.)

Kikuta Kotaro

sein Cousin, Kikutameister (1)

Kikuta Gosaburo

Kotaros jüngster Bruder (2)

Kikuta Akio

deren Neffe (1)

Kikuta Hajime

ein Ringer (2)

Die Familie der Kuroda

Kuroda Shintaro

ein berühmter Attentäter (1)

Kondo Kiichi

Sohn von Kuroda Tetsuo, Gefolgsmann von Arai und Kaede (2)

Weitere Stammesangehörige

Kudo Keiko

(1)

Imai Kazuo

(2)

Vorwort

Diese Geschehnisse ereigneten sich in den Monaten nach der Hochzeit von Otori Takeo und Shirakawa Kaede im Tempel von Terayama. Die Heirat bestärkte Kaede in ihrem Entschluss, ihr Erbe der Domäne von Maruyama anzutreten. Takeo erlangte durch die Eheschließung die Verstärkung, die er benötigte, um seinen Adoptivvater Shigeru zu rächen und zum Oberhaupt des Clans der Otori aufzusteigen. Die Hochzeit erzürnte jedoch auch Arai Daiichi, den Kriegsherrn, der nun über den größten Teil der Drei Länder herrschte, und stellte eine Beleidigung für den Edelmann Lord Fujiwara dar, der sich mit Kaede verlobt wähnte.

Im Winter davor war Takeo, vom Stamm zum Tode verurteilt, nach Terayama geflohen, wo man ihm sowohl sämtliche Aufzeichnungen über den Stamm überreichte, die Shigeru gesammelt hatte, als auch Jato, das Schwert der Otori. Unterwegs rettete Jo-An, ein Ausgestoßener, Angehöriger der verbotenen Sekte der Verborgenen, Takeo das Leben und brachte ihn zu einem Schrein in den Bergen, wo Takeo die Prophezeiung einer heiligen Frau vernahm.

Dreierlei Blut ist in dir vermischt. Du wurdest bei den Verborgenen geboren, doch dein Leben ist ins Offene gebracht worden und gehört nicht mehr nur dir. Die Erde wird vollbringen, was der Himmel begehrt.

Dein Land wird sich von Meer zu Meer erstrecken. Aber der Frieden kommt um den Preis des Blutvergießens. Fünf Schlachten werden dir den Frieden bringen, viermal wirst du den Sieg davontragen, einmal musst du dich geschlagen geben …

Kapitel 1

In meiner Hand lag eine Feder. Ich hielt sie sehr behutsam, denn sie war zart und sehr alt. Doch sie schimmerte strahlend weiß, und die Spitze leuchtete noch immer zinnoberrot.

»Sie stammt von einem heiligen Vogel, dem Houou«, erzählte mir Matsuda Shingen, der Abt des Tempels von Terayama. »Sie gehörte Ihrem Adoptivvater Shigeru, als er fünfzehn Jahre alt war, jünger als Sie jetzt sind. Hat er Ihnen das jemals erzählt, Takeo?«

Ich schüttelte den Kopf. Matsuda und ich standen in seinem Zimmer am einen Ende des Kreuzgangs, der den zentralen Innenhof des Tempels umgab. Die üblichen Laute des Tempels, Gesänge und Glockenklang, wurden übertönt von den Geräuschen eines eiligen Aufbruchs, vom Kommen und Gehen vieler Menschen. Ich hörte meine Gattin Kaede vor den Toren mit Amano Tenzo darüber sprechen, wie schwierig es sein würde, unser Heer während des Marschs zu verpflegen. Wir wollten nach Maruyama ziehen, der großen Domäne im Westen, deren rechtmäßige Erbin Kaede war, und ihren Anspruch darauf geltend machen. Falls nötig, waren wir zum Kampf bereit. Seit dem Ende des Winters hatten sich Krieger in Terayama eingefunden, um sich mir anzuschließen, und mein Heer umfasste inzwischen fast tausend Mann. Sie waren im Tempel und den umliegenden Dörfern untergebracht. Auch die Bauern des Distrikts standen auf meiner Seite.

Amano aus Shirakawa, dem Herkunftsort meiner Frau, war ihr treuester Diener und ein großartiger Reiter, der mit allen Tieren hervorragend umgehen konnte. In den Tagen nach unserer Hochzeit hatten Kaede und ihre Dienerin Manami großes Geschick beim Verteilen von Nahrungsmitteln und notwendigen Dingen gezeigt. Sie besprachen alles mit Amano und trugen ihm auf, ihre Anweisungen den Kriegern zu übermitteln. An diesem Morgen zählte er die Ochsenkarren und Packpferde, die uns zur Verfügung standen. Ich bemühte mich, nicht dem Gespräch draußen zu lauschen, sondern stattdessen Matsuda zuzuhören. Doch ich war ruhelos, wollte endlich aufbrechen.

»Haben Sie Geduld«, sagte Matsuda gelassen. »Es dauert nicht lange. Was wissen Sie über den Houou?«

Widerstrebend richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Feder auf meiner Handfläche und versuchte, mich daran zu erinnern, was mein einstiger Lehrer Ichiro mich gelehrt hatte, während ich in Lord Shigerus Haus in Hagi lebte. »Der Houou ist der heilige Sagenvogel, der sich zeigt, wenn Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Sein Name wird mit demselben Schriftzeichen geschrieben wie der Name meines Clans, der Otori.«

»Das ist richtig«, sagte Matsuda und lächelte. »Den Houou bekommt man nur selten zu sehen, da Gerechtigkeit und Frieden in diesen Zeiten eine Seltenheit geworden sind. Shigeru jedoch hat ihn erblickt, und ich glaube, dieses Erlebnis hat Shigeru darin bestärkt, jene Tugenden anzustreben. Ich sagte ihm damals, dass die Federn mit Blut befleckt sind. Und fürwahr – unser Leben, Ihres und meines, sind noch immer bestimmt von Shigerus Blut, von seinem Tod.«

Ich betrachtete die Feder genauer. Sie lag quer über der Narbe in meiner rechten Handfläche, die ich mir vor langer Zeit in Mino, meinem Geburtsort, verbrannt hatte, an jenem Tag, als Shigeru mir das Leben rettete. Meine Hand war auch gezeichnet von der geraden Linie der Kikuta, der Stammesfamilie, der ich angehörte und vor der ich im vorherigen Winter davongelaufen war. Mein Vermächtnis, meine Vergangenheit und meine Zukunft schienen sich hier zu vereinen, im Inneren meiner Hand.

»Warum zeigen Sie mir das jetzt?«

»Sie werden bald aufbrechen. Sie haben hier den ganzen Winter gelernt und sich vorbereitet, um Shigerus letzte Befehle an Sie auszuführen. Ich wollte Sie teilhaben lassen an seiner Vision, um daran zu erinnern, dass Gerechtigkeit sein Ziel war. Und das sollte auch Ihres sein.«

»Das werde ich niemals vergessen«, gelobte ich. Ehrfurchtsvoll verbeugte ich mich über der Feder, die jetzt in der Kuhle meiner Hände ruhte, und bot sie dann dem Abt dar. Er nahm die Feder, verbeugte sich und legte sie in das Lackkästchen zurück, dem er sie entnommen hatte. Ich blieb stumm, dachte an alles, was Shigeru für mich getan hatte, und an alles, was ich in seinem Sinne noch erreichen musste.

»Vom Houou hat mir Ichiro erzählt, als er mir beibrachte, meinen Namen zu schreiben«, sagte ich schließlich. »Letztes Jahr in Hagi riet mir Ichiro, hier auf ihn zu warten, doch wir müssen noch in dieser Woche nach Maruyama aufbrechen.« Seit der Schneeschmelze hatte ich mich um meinen einstigen Lehrer gesorgt. Denn ich wusste, dass Shigerus Onkel, die Otorifürsten, sich meines Anwesens und meiner Ländereien in Hagi bemächtigen wollten, und dass Ichiro sich ihnen hartnäckig widersetzte.

Ich konnte nicht wissen, dass Ichiro bereits tot war. Am nächsten Tag erfuhr ich es. Ich sprach gerade mit Amano im Innenhof, als von unten aus der Ebene Lärm zu vernehmen war: wütende Schreie, schnelle Schritte, Hufschlag. Ich erschrak, als ich hörte, wie Pferde den Hang hinaufgaloppierten. Zum Tempel von Terayama kam für gewöhnlich niemand geritten. Man ging zu Fuß den steilen Berg hinauf, und wer alt war oder nicht gehen konnte, wurde von kräftigen Trägern hinaufgeschleppt.

Kurz darauf nahm Amano den Lärm auch wahr, aber da rannte ich schon zu den Tempeltoren und schrie den Wachen Befehle zu.

Rasch verschlossen sie die Tore und verbarrikadierten sie. Matsuda kam über den Hof geeilt, ohne Rüstung, aber mit seinem Schwert im Gürtel. Bevor wir sprechen konnten, vernahmen wir einen Ruf aus dem Wachhaus.

»Wer wagt es, bis zum Tempeltor zu reiten? Steigt ab und nähert euch diesem Ort des Friedens mit Ehrfurcht!«

Das war die Stimme von Kubo Makoto, einem der jungen Kriegermönche aus dem Kloster, der in den letzten Monaten zu meinem engsten Freund geworden war. Ich rannte zu den Holzpalisaden und kletterte die Leiter zum Wachhaus hinauf. Makoto wies auf das Guckloch. Durch die Spalte sah ich vier Reiter, die mit ihren Pferden den Berg hinaufgaloppiert waren und die keuchenden schnaubenden Tiere nun zum Halten brachten. Die Männer steckten in Rüstungen, aber auf ihren Helmen war das Wappen der Otori zu erkennen. Einen Augenblick lang dachte ich, die Krieger seien Boten von Ichiro. Doch dann fiel mein Blick auf den Korb, der an einem der Sättel festgebunden war, und mein Herz versteinerte. Nur allzu leicht konnte ich mir ausmalen, was sich in einem solchen Korb befand.

Die Pferde brachen aus und bäumten sich ängstlich auf. Zwei bluteten schon aus Wunden an der Hinterhand. Eine Horde wütender Männer, bewaffnet mit Holzprügeln und Sicheln, marschierte den schmalen Pfad herauf. In einigen der Männer erkannte ich Bauern aus dem benachbarten Dorf. Der hinterste Krieger griff sie an und ließ sein Schwert wirbeln, und die Männer wichen zurück, ergriffen aber nicht die Flucht, sondern blieben drohend im Halbkreis stehen.

Der Anführer der Reiter warf ihnen einen verächtlichen Blick zu und rief dann Richtung Tor:

»Ich bin Fuwa Dosan vom Clan der Otori aus Hagi. Ich überbringe eine Nachricht meiner Fürsten Shoichi und Masahiro für den Emporkömmling, der sich Otori Takeo nennt.«

Makoto rief zurück: »Wenn ihr mit friedlicher Absicht kommt, steigt ab und lasst eure Schwerter zurück. Dann werden die Tore geöffnet.«

Ich ahnte schon, was ihre Botschaft sein würde, und spürte, wie mich rasende Wut erfasste.

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Fuwa höhnisch. »Unsere Botschaft ist kurz. Richtet dem sogenannten Takeo aus, dass die Otori seine Ansprüche nicht anerkennen und dass ihm und seinen Gefolgsleuten dasselbe widerfahren wird, was ihr gleich zu sehen bekommt.«

Der Mann neben ihm ließ die Zügel seines Pferdes fallen, öffnete den Korb und zog heraus, was ich befürchtet hatte. Ichiros Kopf, am Haarknoten gehalten, wurde über die Mauer aufs Tempelgelände geschleudert.

Mit einem dumpfen Aufprall fiel er auf den mit Blütenblättern gesprenkelten Rasen im Garten.

Ich riss mein Schwert Jato aus dem Gürtel.

»Öffnet das Tor! Ich gehe hinaus!«, schrie ich.

Dann stieg ich rasch die Leiter hinunter, gefolgt von Makoto.

Als die Tore aufgingen, wendeten die Otori ihre Pferde und ritten, die Schwerter schwingend, in die Menschenmenge hinein. Vermutlich rechneten die Krieger nicht damit, angegriffen zu werden. Doch was dann geschah, erstaunte sogar mich. Statt auszuweichen, stürmten die Bauern vorwärts. Zwei von ihnen wurden sofort getötet, entzweigeteilt von Schwertern, doch dann ging das erste Pferd zu Boden, und der Reiter kam inmitten der Meute zu Fall. Die anderen Krieger ereilte ein ähnliches Schicksal. Sie kamen gar nicht mehr zum Schwertkampf, sondern wurden zu Tode geprügelt wie Hunde.

Makoto und ich versuchten, die Bauern zurückzuhalten, und schließlich gelang es uns, sie von den Leichen wegzutreiben. Für Ruhe sorgen konnten wir nur, indem wir die Köpfe der Krieger abtrennten und an den Toren des Tempels zur Schau stellten. Die aufgebrachte Meute schrie eine Zeitlang Verwünschungen, bevor sie den Hang hinunterstapfte. Doch auch dabei verkündeten die Bauern noch lauthals, anderen Fremden, die es wagen sollten, sich dem Tempel zu nähern und Lord Otori Takeo, den Engel von Yamagata, zu beleidigen, stünde dasselbe Los bevor.

Makoto zitterte vor Wut und einem anderen Gefühl, über das er mit mir sprechen wollte, aber ich hatte keine Zeit dafür. Ich eilte aufs Tempelgelände zurück. Kaede hatte weiße Tücher und eine Holzschale mit Wasser gebracht, kniete im Garten unter den Kirschbäumen und wusch behutsam den Kopf. Die Haut war bläulich-grau, die Augen halbgeschlossen. Den Hals hatte man nicht säuberlich durchtrennt, sondern mit mehreren Hieben abgehackt. Dennoch ging Kaede so sorgsam und achtungsvoll damit um, als handle es sich um einen schönen und kostbaren Gegenstand.

Ich ging neben ihr auf die Knie, streckte die Hand aus und berührte das Haar. Es war von grauen Strähnen durchwirkt, doch das Gesicht wirkte jünger als bei meiner letzten Begegnung mit Ichiro in dem Haus in Hagi. Damals war er im Bann der Trauer gewesen, von Geistern heimgesucht, hatte mir aber dennoch mit Rat und Zuwendung zur Seite gestanden.

»Wer war das?«, fragte Kaede leise.

»Ichiro. Mein Lehrer in Hagi. Er war auch Shigerus Lehrer.«

Mir war das Herz so schwer, dass ich nicht weitersprechen konnte. Ich blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten, als ich an unsere letzte Begegnung dachte. Ich wünschte mir, damals meine Dankbarkeit und Achtung mehr zum Ausdruck gebracht zu haben, und fragte mich, wie Ichiro gestorben war, ob sein Tod qualvoll und demütigend gewesen war. Und ich sehnte mich danach, dass die toten Augen sich öffnen, die blutleeren Lippen wieder sprechen würden. Wie unwiederbringlich die Toten doch sind, wie endgültig sie von uns gehen! Selbst wenn ihre Geister wiederkehren, erzählen sie nichts über ihren eigenen Tod.

Ich war bei den Verborgenen geboren und von ihnen großgezogen worden. Die Verborgenen glauben, dass nur, wer die Gebote des Geheimen Gottes befolgt, auf ein Wiedersehen im Jenseits hoffen kann. Alle anderen würden in den Flammen der Hölle schmoren. Ich wusste nicht, ob mein Adoptivvater Shigeru gläubig gewesen war. Doch er war vertraut gewesen mit allen Lehren der Verborgenen und hatte vor seinem Tod deren Gebete gesprochen, in einem Atemzug mit dem Namen des Erleuchteten. Bei seinem Berater und Gefolgsmann Ichiro hatte es derlei Anzeichen nicht gegeben, im Gegenteil: Ichiro hatte von Anfang an vermutet, dass Shigeru mich vor dem Kriegsherrn Iida Sadamu gerettet hatte, der die Verborgenen vernichten wollte. Deshalb hatte Ichiro mich stets scharf beobachtet, um zu sehen, ob ich mich durch etwas verraten würde.

Doch ich lebte nicht mehr nach den Geboten meiner Kindheit und konnte auch nicht glauben, dass ein so ehrenwerter und treuer Mann wie Ichiro nun in der Hölle landen würde. Ich war vielmehr außer mir vor Zorn über diesen niederträchtigen Mord und die Tatsache, dass ich nun einen weiteren Toten rächen musste.

»Diese Männer haben mit ihrem Leben dafür bezahlt«, sagte Kaede. »Warum haben sie einen alten Mann getötet und sich all diesen Mühen ausgesetzt, nur um dir seinen Kopf zu bringen?« Sie entfernte die letzten Blutspuren und umwickelte den Kopf mit einem sauberen weißen Tuch.

»Ich vermute, die Kriegsherren der Otori wollen mich hervorlocken«, antwortete ich. »Sie wollen vermeiden, Terayama anzugreifen, weil sie dort auf das Heer von Arai stoßen würden. Deshalb versuchen sie, mich über die Grenze zu locken, um dort gegen mich zu kämpfen.« Ich konnte es kaum erwarten, meine Feinde ein für alle Mal zu vernichten. Der Tod der Krieger hatte meinen Zorn vorübergehend besänftigt, doch ich spürte, dass er noch in meinem Herzen schwelte. Aber ich musste mich in Geduld wappnen, denn ich wollte mich vorher nach Maruyama zurückziehen und dort mein Heer zusammenstellen. Von dieser Strategie durfte ich mich nicht abbringen lassen.

Ich berührte mit der Stirn das Gras, um Abschied zu nehmen von meinem Lehrer. Manami kam aus den Gästeräumen und kniete ein Stück hinter uns.

»Ich habe ein Behältnis gebracht, Herrin«, flüsterte sie.

»Gib es mir«, erwiderte Kaede. Es war eine Schachtel, geflochten aus Weidenzweigen und rotgefärbten Lederriemen. Als Kaede sie öffnete, stieg der Duft von Aloeblüten auf. Kaede legte das weiße Bündel hinein und ordnete die Blüten ringsum an. Dann stellte sie die Schachtel auf den Boden vor sich, und wir drei verbeugten uns erneut davor.

Ein Buschsänger trällerte sein Frühlingslied, und ein Kuckuck antwortete aus der Tiefe des Waldes. In diesem Jahr hörte ich den Ruf des Kuckucks zum ersten Mal.

Am nächsten Tag hielten wir die Bestattungszeremonie ab und begruben den Kopf unweit von Shigerus Grab. Ich ordnete an, dass auch für Ichiro dort ein Gedenkstein aufgestellt werden sollte, und fragte mich besorgt, was aus Chiyo, der alten Dienerin, und allen anderen in dem Anwesen in Hagi geworden war. Die Vorstellung quälte mich, dass es das Haus vielleicht gar nicht mehr gab, dass man es niedergebrannt hatte: das Teezimmer, den Raum im Obergeschoss, in dem wir so oft gesessen und auf den Garten hinausgeblickt hatten, den Nachtigallenboden. Womöglich war all das zerstört, das Zwitschern des Bodens für immer verstummt. Ich sehnte mich danach, nach Hagi zu eilen und mein Erbe anzutreten, bevor es mir entrissen wurde. Doch ich wusste wohl, dass die Otori es genau darauf anlegten.

Fünf der Bauern waren sofort gestorben, zwei weitere erlagen später ihren Verletzungen. Wir begruben sie auf dem Tempelfriedhof. Zwei Pferde waren so schwer verletzt, dass Amano sie töten lassen musste, aber die anderen beiden waren unversehrt. Das eine gefiel mir besonders gut: ein prachtvoller schwarzer Hengst, der mich an Shigerus Rappen Kyu erinnerte; er hätte sein Halbbruder sein können. Auf Makotos Drängen hin bestatteten wir die Otorikrieger mit allen Ehren und beteten, dass die Geister uns nicht vor Empörung über die schmachvolle Todesart heimsuchen würden.

An diesem Abend kam der Abt in die Gästeräume, und wir sprachen bis spät in die Nacht. Makoto und Miyoshi Kahei, einer meiner Verbündeten und Freunde aus Hagi, war auch dabei. Kaheis jüngerer Bruder Gemba war nach Maruyama vorausgeschickt worden, um dem Verwalter, Sugita Haruki, Bescheid zu geben, dass wir in Kürze aufbrechen würden. Sugita hatte Kaede im vorherigen Winter versichert, dass er ihre Ansprüche unterstützen werde. Kaede nahm nicht an dem Gespräch teil – aus verschiedenen Gründen kamen sie und Makoto nicht gut miteinander aus, und sie versuchte, ihm stets aus dem Weg zu gehen. Doch ich hatte Kaede zuvor gesagt, sie könne hinter dem Wandschirm sitzen und mithören, denn ich legte großen Wert auf ihre Meinung. In der kurzen Zeit seit unserer Hochzeit hatte ich so viel mit Kaede gesprochen wie mit keinem Menschen zuvor in meinem Leben. So lange hatte ich geschwiegen, dass ich gar nicht genug davon bekommen konnte, ihr meine Gedanken mitzuteilen, und ihre Meinung und Weisheit bedeuteten mir viel.

»Sie befinden sich nun im Krieg«, sagte der Abt, »und Ihr Heer hat sein erstes Gefecht erlebt.«

»Ein Heer kann man das wohl kaum nennen«, warf Makoto ein. »Eine Horde Bauern! Wie wirst du sie bestrafen?«

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Bauern steht es nicht zu, Krieger zu töten«, antwortete Makoto. »Jeder andere in deiner Stellung würde sie mit äußerster Grausamkeit bestrafen. Man würde sie kreuzigen, in heißes Öl werfen, bei lebendigem Leibe häuten.«

»Das geschieht ohnehin, wenn sie in die Hände der Otori fallen«, murmelte Kahei.

»Sie haben für mich gekämpft«, wandte ich ein. Insgeheim dachte ich, dass die Krieger ihr schmachvolles Ende verdient hatten, wenn ich auch bedauerte, sie nicht alle selbst getötet zu haben. »Ich werde diese Bauern nicht bestrafen. Ich frage mich eher, wie ich sie schützen kann.«

»Du hast ein Ungeheuer freigelassen«, erwiderte Makoto. »Hoffen wir, dass du es beherrschen kannst.«

Der Abt lächelte in seinen Weinbecher. Seine vorherigen Äußerungen über Frieden und Gerechtigkeit ungeachtet, hatte er mich den ganzen Winter lang in Kriegsführung unterwiesen, kannte meine Einschätzung der Schlacht von Yamagata und anderer Feldzüge und wusste, wie ich zu meinen Bauern stand.

»Die Otori versuchen, mich herauszufordern«, sagte ich zu ihm, wie zuvor zu Kaede.

»Ja, dieser Versuchung muss widerstanden werden«, erwiderte der Abt. »Das Rachegelüst ist nur allzu verständlich, doch selbst wenn Sie deren Heer im Kampf besiegen würden, dann würden sich die restlichen Krieger nach Hagi zurückziehen. Eine lange Belagerung wäre verheerend. Die Stadt ist nahezu uneinnehmbar, und über kurz oder lang würden Arais Truppen von hinten angreifen.«

Arai Daiichi war jener Kriegsherr aus Kumamoto, der nach dem Sturz der Tohan die Herrschaft über die Drei Länder an sich gerissen hatte. Im letzten Jahr hatte ich ihn gegen mich aufgebracht, indem ich verschwunden war, um beim Stamm zu leben, und nun würde ihn meine Heirat mit Kaede gewiss noch mehr erzürnen. Er verfügte über ein großes Heer, dem ich mich nicht stellen wollte, bevor ich mein eigenes gestärkt hatte.

»Dann müssen wir wie geplant zuerst nach Maruyama ziehen. Aber wenn das Kloster ungeschützt ist, könnten alle hier und die Menschen in der Gegend von den Otori bestraft werden.«

»Wir können viele Menschen innerhalb der Mauern schützen«, entgegnete der Abt. »Ich denke, dass wir ausreichend Waffen und Vorräte haben, um die Otori abzuwehren, falls sie angreifen. Was ich allerdings nicht glaube. Arai und seine Verbündeten werden Yamagata nicht ohne erbitterten Kampf aufgeben, und unter den Otori wird es viele geben, die zögern, diesen Ort zu zerstören, der dem Clan heilig ist. Und es wird ihnen ohnehin wichtiger sein, Sie zu verfolgen.« Er hielt inne. Dann fuhr er fort: »Man kann keinen Krieg führen, ohne Opfer in Kauf zu nehmen. In den Kämpfen werden Männer sterben, und wenn Sie unterliegen, werden viele Krieger, darunter auch Sie selbst, vermutlich qualvoll getötet werden. Die Otori erkennen Ihre Adoption nicht an und kennen Ihre Herkunft nicht. Aus deren Sicht sind Sie ein Emporkömmling, der weit unter ihnen steht. Sie können dem Kampf nicht ausweichen, weil dabei Menschen zu Tode kommen werden. Das wissen sogar Ihre Bauern. Sieben von ihnen sind heute gestorben, doch die restlichen sind nicht traurig, sondern feiern ihren Sieg über die Männer, die Sie beleidigt haben.«

»Das weiß ich«, erwiderte ich und sah Makoto an. Seine Lippen waren verkniffen, und obwohl sein Gesicht ausdruckslos war, wusste ich, dass er meine Haltung missbilligte. Erneut wurde ich mir meiner Schwächen als Anführer bewusst, und ich fürchtete, dass Makoto und Kahei, die man beide zu Kriegern erzogen hatte, mich irgendwann verachten würden.

»Unserer Verbundenheit mit Shigeru wegen haben wir uns Ihnen angeschlossen, Takeo«, fuhr der Abt fort, »und weil wir glauben, dass Sie im Recht sind.«

Ich neigte den Kopf, nahm den Tadel an und gelobte mir selbst, dass der Abt nie wieder so mit mir sprechen müsse. »Wir werden übermorgen nach Maruyama aufbrechen.«

»Makoto wird Sie begleiten«, sagte der Abt. »Wie Sie wissen, hat er Ihre Sache zu der seinen gemacht.«

Makotos Mundwinkel zogen sich etwas nach oben, als er zustimmend nickte.

Später am Abend, in der zweiten Hälfte der Stunde der Ratte, als ich mich gerade zu Kaede legen wollte, hörte ich draußen Stimmen, und kurz darauf rief Manami leise vor unserer Tür, dass ein Mönch eine Nachricht vom Wachhaus gebracht habe.

»Wir haben einen Mann gefangen genommen«, berichtete der Mönch, als ich mit ihm sprach. »Er versteckte sich in den Büschen am Tor. Die Wachen haben ihn verfolgt und hätten ihn auf der Stelle getötet, wenn er nicht Ihren Namen gerufen und behauptet hätte, er gehöre zu Ihnen.«

»Ich rede mit ihm«, sagte ich und steckte Jato in meinen Gürtel. Es konnte sich nur um Jo-An handeln, fürchtete ich. Der Ausgestoßene hatte mich in Yamagata gesehen, als ich seinen Bruder und andere Verborgene durch den Tod erlöste. Und Jo-An hatte mir damals den Namen »Engel von Yamagata« gegeben und mir während meiner Flucht nach Terayama im Winter das Leben gerettet. Ich hatte dem Ausgestoßenen gesagt, ich werde ihn im Frühling zu mir holen, und er solle warten, bis er von mir höre. Doch der Mann handelte unberechenbar, denn er folgte meist etwas, wovon er behauptete, es sei die Stimme des Geheimen Gottes.

Die Nacht war warm und windstill und schon geschwängert von der Feuchtigkeit des Sommers. In den Zedern rief eine Eule. Jo-An lag gleich innerhalb des Tores am Boden, die Beine verkrümmt, die Hände hinter dem Rücken verschnürt. Sein Gesicht war mit Blut und Schmutz beschmiert, sein Haar verfilzt. Er bewegte lautlos die Lippen, betete stumm. Zwei Mönche standen in sicherer Entfernung und beobachteten ihn mit Abscheu.

Als ich seinen Namen rief, öffnete Jo-An die Augen, und Erleichterung zeichnete sich darin ab. Er versuchte, sich auf die Knie zu rappeln, fiel aber aufs Gesicht, weil er sich nicht stützen konnte.

»Nehmt ihm die Fesseln ab«, befahl ich.

»Aber er ist ein Ausgestoßener«, entgegnete einer der Mönche. »Wir dürfen ihn nicht berühren.«

»Wer hat ihn dann gefesselt?«

»Da wussten wir das noch nicht.«

»Ihr könnt euch später säubern. Dieser Mann hat mein Leben gerettet. Nehmt ihm die Fesseln ab.«

Widerstrebend gingen sie zu Jo-An, zogen ihn hoch und lösten die Seile. Er kroch vorwärts und warf sich vor mir nieder.

»Setz dich auf, Jo-An«, sagte ich. »Warum bist du hier? Ich sagte, du solltest kommen, wenn ich nach dir schicken lasse. Du kannst von Glück sagen, dass du nicht getötet wurdest, weil du ohne Erlaubnis und Vorankündigung hier erschienen bist.«

Als ich Jo-An zum letzten Mal gesehen hatte, war ich ebenso abgerissen gewesen wie er jetzt, ein entkräfteter, halbverhungerter Flüchtling. Nun trug ich eine feine Robe und die Haartracht der Krieger, und in meinem Gürtel steckte mein Schwert. Ich wusste, dass die Mönche vollkommen erschüttert sein würden, weil ich mit einem Ausgestoßenen sprach. Ein Teil von mir war versucht, Jo-An hinauswerfen zu lassen, jegliche Verbindung zwischen uns abzuleugnen und ihn zugleich für immer aus meinem Leben zu verbannen. Wenn ich den Wachen den Befehl geben würde, dann würden sie Jo-An ohne Umschweife töten. Doch dazu war ich außerstande. Er hatte mir schließlich das Leben gerettet; außerdem musste ich ihn wie einen aufrechten Mann und nicht wie einen Ausgestoßenen behandeln, weil wir beide bei den Verborgenen auf die Welt gekommen waren.

»Niemand wird mich töten, bis der Geheime mich zu sich ruft«, murmelte Jo-An, hob den Blick und sah mich an. »Bis dahin gehört mein Leben Ihnen.« Nur die Laterne, die der Mönch aus dem Wachhaus mitgebracht und neben uns abgestellt hatte, spendete Licht, aber ich konnte dennoch das Leuchten in Jo-Ans Augen erkennen. Wie so oft fragte ich mich unwillkürlich, ob er vielleicht gar kein Mensch, sondern ein Besucher aus einer anderen Welt war.

»Was willst du hier?«, fragte ich.

»Ich muss Ihnen etwas sagen. Etwas sehr Wichtiges. Sie werden froh sein, dass ich hergekommen bin.«

Die Mönche waren zurückgewichen, um nicht weiter verunreinigt zu werden, konnten uns aber noch hören.

»Ich muss mit diesem Mann sprechen«, sagte ich. »Wohin können wir gehen?«

Die beiden Wachen sahen sich beunruhigt an. Dann sagte der Ältere: »In den Pavillon im Garten vielleicht?«

»Ihr müsst mich nicht begleiten.«

»Wir sollten Lord Otori aber beschützen«, wandte der Jüngere ein.

»Mir droht keine Gefahr von diesem Mann. Lasst uns alleine. Aber richtet Manami aus, sie soll Wasser, Essen und Tee bringen.«

Die beiden verbeugten sich und gingen weg. Als die Wachen den Innenhof durchquerten, begannen sie zu flüstern. Ich verstand jedes Wort und seufzte.

»Komm mit«, sagte ich zu Jo-An. Er humpelte hinter mir her zum Pavillon in der Nähe des großen Teichs. Die Oberfläche glitzerte im Sternenlicht, und dann und wann sprang ein Fisch in die Luft und fiel mit lautem Platschen zurück ins Wasser. Hinter dem Teich leuchteten die Grabsteine grauweiß in der Dunkelheit. Die Eule rief wieder, näher diesmal.

»Gott hat mir befohlen, zu Ihnen zu kommen«, sagte Jo-An, als wir uns auf dem Holzboden des Pavillons niedergelassen hatten.

»Du sollst nicht so offen über Gott sprechen«, ermahnte ich ihn. »Du befindest dich in einem Tempel. Die Mönche hier schätzen die Verborgenen nicht mehr als diese Krieger.«

»Aber Sie sind hier«, murmelte er. »Sie sind unsere Hoffnung und unser Schutz.«

»Ich bin nur ein einzelner Mensch. Ich kann nicht euch alle vor den Gefühlen eines ganzen Landes schützen.«

Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Der Geheime denkt unentwegt an Sie, auch wenn Sie ihn vergessen haben.«

Diese Art von Botschaften wollte ich nicht hören.

»Was hast du mir zu sagen?«, fragte ich ungeduldig.

»Die Männer, die Sie letztes Jahr gesehen haben, die Köhler, haben ihren Gott in die Berge zurückgebracht. Ich habe sie unterwegs getroffen, und sie haben mir berichtet, dass die Heere der Otori jede Straße um Terayama und Yamagata im Auge behalten. Ich habe mich selbst davon überzeugt. Überall sind Krieger versteckt. Sie werden euch aus dem Hinterhalt überfallen, sobald ihr aufbrecht. Wenn ihr losziehen wollt, müsst ihr euch überall den Weg freikämpfen.«

Jo-An betrachtete mich forschend. Ich verfluchte mich, weil ich so lange im Kloster geblieben war, obwohl ich die ganze Zeit gewusst hatte, dass Schnelligkeit und Überraschung meine wichtigsten Waffen waren. Vor Tagen schon hätte ich aufbrechen sollen, doch ich hatte es aufgeschoben, weil ich auf Ichiro warten wollte. Vor meiner Hochzeit war ich Nacht für Nacht losgezogen und hatte die Wege im Umkreis des Klosters beobachtet, um mich zu wappnen. Doch seit Kaede bei mir war, konnte ich mich nicht mehr von ihr losreißen. Und nun saß ich wegen meiner Unentschlossenheit und mangelnden Wachsamkeit in der Falle.

»Was schätzt du – wie viele Männer sind es?«

»Fünf- oder sechstausend«, antwortete Jo-An.

Ich hatte noch nicht einmal tausend.

»Sie müssen also den Weg über den Berg nehmen, wie damals im Winter. Es gibt dort einen Pfad nach Westen. Den beobachtet niemand, weil auf dem Pass noch Schnee liegt.«

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich kannte den Pfad, von dem Jo-An sprach. Er führte an dem Schrein vorbei, in dem Makoto damals den Winter zubringen wollte, bevor ich dort aus dem Schnee hereingestolpert kam, auf meiner Flucht nach Terayama. Vor wenigen Wochen hatte ich diesen Pfad selbst ausgekundschaftet, war aber umgekehrt, als der Schnee zu hoch wurde, um weiterzugehen. Ich dachte an meine Streitkräfte – Ochsenkarren, Pferde, Fußvolk. Für die Ochsen war dieser Weg unbegehbar, aber zu Fuß und mit Pferden mochte es möglich sein. Am besten nachts, um die Otori in dem Glauben zu lassen, wir seien noch im Kloster … Ich musste sofort mit den Vorbereitungen beginnen und mit dem Abt sprechen.

Meine Gedanken wurden unterbrochen durch das Eintreffen von Manami und einem der Diener. Der Mann trug eine Schüssel mit Wasser, Manami ein Tablett, auf dem eine Schale mit Reis und Gemüse und zwei Tassen grüner Tee standen. Manami stellte das Tablett ab und warf Jo-An einen so angewiderten Blick zu, als sei er eine Giftschlange. Der Diener benahm sich gleichermaßen entsetzt, und ich überlegte kurz, ob es meinem Ansehen schaden würde, wenn ich mit Ausgestoßenen gesehen wurde. Ich sagte den beiden, sie könnten gehen, und sie verschwanden im Nu, doch ich hörte, wie Manami auf dem ganzen Weg zum Gästehaus empört vor sich hin murmelte.

Nachdem Jo-An sich Hände und Gesicht gewaschen hatte, sprach er mit gefalteten Händen das erste Gebet der Verborgenen. Die vertrauten Worte rührten mich an, machten mich aber zugleich zornig und ungeduldig. Jo-An hatte erneut sein Leben aufs Spiel gesetzt für mich, um mir diese wichtige Nachricht zu überbringen. Aber es ärgerte mich, dass er seinen Glauben nicht besser verbarg, denn damit brachte er mich in Gefahr.

Als er gegessen hatte, sagte ich: »Du solltest jetzt aufbrechen. Du hast einen langen Heimweg.«

Jo-An sprach nicht, sondern wandte nur leicht den Kopf, wie immer, wenn er zuhörte.

»Nein«, sagte er schließlich. »Ich muss an Ihrer Seite bleiben.«

»Das ist ausgeschlossen. Das möchte ich nicht.«

»Gott will es so«, erwiderte er.

Ich konnte es ihm nicht ausreden, und ihn einzusperren oder gar zu töten hätte ich als üble Belohnung für seine Hilfe empfunden.

»Nun gut«, sagte ich, »aber du kannst nicht hier im Kloster bleiben.«

»Nein«, pflichtete er mir bei, »ich muss die anderen holen.«

»Welche anderen, Jo-An?«

»Den Rest unserer Gruppe. Die Männer, die mit mir gekommen sind. Sie sind einigen von ihnen begegnet.«

Ich hatte sie in der Gerberei am Fluss gesehen, wo Jo-An arbeitete, und würde niemals den hoffnungsvollen Blick vergessen, mit dem diese Männer mir nachsahen: Von mir erwarteten sie Schutz und Gerechtigkeit. Wiederum dachte ich an die Feder: Gerechtigkeit war auch Shigerus Wunsch gewesen. Ich würde dafür kämpfen müssen, sowohl um Shigerus Andenken zu wahren, als auch zum Wohl jener Männer.

Jo-An legte erneut die Hände zusammen und dankte für das Essen.

In der Stille hörten wir einen Fisch aus dem Wasser springen.

»Wie viele Männer sind es?«, fragte ich.

»An die dreißig. Sie verstecken sich in den Bergen. Seit mehreren Wochen haben sie alleine und zu zweit die Grenze überquert.«

»Wird sie bewacht?«

»Es hat Gefechte zwischen den Otori und den Kriegern von Arai gegeben. Im Augenblick herrscht Ruhe, und die Grenzen sind alle offen. Die Otori haben zu verstehen gegeben, dass sie weder Arai herausfordern noch Yamagata zurückerobern wollen. Ihr Ziel ist lediglich, Sie zu vernichten.«

Damit waren sie offenbar nicht allein.

»Haben die Otori Rückhalt im Volk?«, fragte ich.

»Natürlich nicht!«, antwortete Jo-An beinahe ungeduldig. »Sie wissen doch, wen das Volk unterstützt: den Engel von Yamagata. Das tun wir alle. Weshalb wären wir sonst hier?«

Ich war mir nicht sicher, ob ich Wert legte auf diese Unterstützung, konnte aber nicht umhin, den Mut dieser Männer zu bewundern.

»Danke«, sagte ich.

Jo-An grinste, wobei seine Zahnlücken zum Vorschein kamen, und ich musste an die Folter denken, die er meinetwegen bereits durchlitten hatte. »Wir treffen uns auf der anderen Seite des Berges. Sie werden merken, wie sehr Sie uns brauchen werden.«

Ich ließ die Wachen das Tor öffnen, verabschiedete mich von Jo-An und sah zu, wie die magere gebückte Gestalt in der Dunkelheit verschwand. Im Wald schrie eine Füchsin wie ein gequälter Geist, und ich schauderte. Jo-An schien von einer starken übernatürlichen Kraft erfüllt und geleitet zu sein, und obwohl ich nicht mehr an diese Kraft glaubte, fürchtete ich ihre Macht doch wie ein abergläubisches Kind.

Meine Haut kribbelte, und im Gästehaus entledigte ich mich meiner Kleider. Obwohl es spätnachts war, trug ich Manami auf, meine Kleidung sofort wegzubringen, zu waschen und einer rituellen Reinigung zu unterziehen. Danach ließ ich mich von Manami im Badehaus von Kopf bis Fuß abschrubben. Eine Viertelstunde blieb ich im heißen Wasser, zog danach frische Sachen an und trug Manami auf, Kahei zu holen und den Abt um eine Unterredung zu bitten. Es war die erste Hälfte der Stunde des Ochsen.

Ich traf Kahei im Korridor und berichtete kurz, was sich zugetragen hatte, bevor wir zum Zimmer des Abtes gingen. Dann trug ich der Dienerin auf, Makoto aus dem Tempel zu holen, wo er Nachtwache hielt. Gemeinsam kamen wir dann überein, dass wir so schnell wie möglich mit dem gesamten Heer aufbrechen sollten. Nur eine kleine berittene Truppe sollte noch einen Tag als Nachhut in Terayama bleiben, um uns zu decken.

Kahei und Makoto begaben sich sofort ins Dorf, um Amano und die anderen Männer zu wecken und mit dem Packen zu beginnen. Der Abt schickte Diener zu den Mönchen, damit sie uns nicht durch das Läuten der Tempelglocke etwaigen Spionen verrieten. Ich ging zu Kaede.

Sie hatte ihre Nachtrobe angelegt und erwartete mich. Der Anblick von Kaedes schwarzem Haar, das über ihren Rücken floss, dunkel auf ihrer weißen Haut und der elfenbeinfarbenen Seide, raubte mir wie immer fast den Atem. Was auch mit uns geschehen mochte – niemals würde ich diesen Frühling mit Kaede vergessen. Mein Leben schien mit allerlei Gaben gesegnet zu sein, die ich nicht verdient hatte, und meine Frau war das größte Geschenk von allen.

»Manami sagte, du habest einen Ausgestoßenen durchs Tor eingelassen und mit ihm gesprochen.« Kaede klang nicht minder entsetzt als ihre Zofe.

»Ja. Er heißt Jo-An. Ich habe ihn in Yamagata kennengelernt.« Ich entkleidete mich, zog meine Robe an und ließ mich Kaede gegenüber nieder. Unsere Knie berührten sich.

Sie sah mich forschend an. »Du siehst erschöpft aus. Komm, leg dich zu mir.«

»Gleich. Wir sollten versuchen, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, denn wir müssen im Morgengrauen aufbrechen. Die Otori haben das Kloster umstellt, wir müssen den Weg durch die Berge nehmen.«

»Hat der Ausgestoßene dir diese Nachricht überbracht?«

»Er hat sein Leben dafür aufs Spiel gesetzt.«

»Warum? Wie hast du ihn kennengelernt?«

»Erinnerst du dich an den Tag, als wir mit Lord Shigeru hierhergeritten sind?«, fragte ich.

Kaede lächelte. »Wie könnte ich den vergessen.«

»In der Nacht davor war ich in die Burg eingedrungen und hatte das Leiden der Gefangenen beendet, die man in Körben an die Mauer gehängt hatte. Es waren Männer von den Verborgenen. Hast du schon von ihnen gehört?«

Kaede nickte. »Shizuka hat mir von ihnen erzählt. Sie wurden von den Noguchi auf die gleiche Weise gefoltert.«

»Einer der Männer, die ich damals getötet habe, war Jo-Ans Bruder. Jo-An sah mich, nachdem ich aus dem Burggraben gestiegen war, und hielt mich für einen Engel.«

»Der Engel von Yamagata«, sagte Kaede langsam. »Als wir an diesem Abend zurückkamen, sprach die ganze Stadt darüber.«

»Danach bin ich Jo-An noch einmal begegnet. Unsere Wege scheinen vom Schicksal verknüpft zu sein. Im letzten Jahr hat er mir geholfen hierherzugelangen. Ohne ihn wäre ich im Schnee gestorben. Unterwegs brachte er mich zu einer heiligen Frau, die mir einiges vorausgesagt hat.«

Ich hatte noch mit niemandem, nicht einmal mit Makoto oder Matsuda, über die Prophezeiung gesprochen. Doch Kaede wollte ich sie nun anvertrauen. Ich raunte die Worte: In meinen Adern fließe dreierlei Blut. Ich sei geboren worden bei den Verborgenen, aber mein Leben gehöre nun nicht mehr mir. Es sei mir vorherbestimmt, über das Reich zwischen den Meeren in Frieden zu herrschen, wenn die Erde vollbringe, was der Himmel begehre. Diese Worte hatte ich selbst viele Male im Geiste wiederholt; manchmal glaube ich daran und manchmal nicht. Ich offenbarte Kaede auch die Prophezeiung, dass fünf Schlachten uns Frieden bringen würden, von denen ich eine verlieren würde. Doch ich verschwieg, was die Heilige über meinen Sohn gesagt hatte: dass ich von seiner Hand sterben würde. Ich redete mir ein, dass ich Kaede nicht mit dieser schlimmen Nachricht belasten wolle, doch in Wahrheit wollte ich nicht über ein weiteres Geheimnis sprechen, das ich ihr verschwieg: dass ein Mädchen aus dem Stamm, Muto Kenjis Tochter Yuki, mein Kind unter dem Herzen trug.

»Du wurdest bei den Verborgenen geboren?«, fragte Kaede zögernd. »Aber der Stamm hat Anspruch auf dich erhoben wegen der Abkunft deines Vaters. Das hat Shizuka mir zu erklären versucht.«

»Als er zum ersten Mal in Shigerus Haus kam, hat Muto Kenji offenbart, dass Kikuta mein Vater war. Doch im Gegensatz zu Shigeru wusste Muto Kenji nicht, dass mein Vater auch ein halber Otori war.« Ich hatte Kaede bereits die Dokumente gezeigt, die das bestätigten. Shigerus Vater Otori Shigemori war mein Großvater.

»Und wer war deine Mutter?«, fragte Kaede leise. »Wenn du darüber sprechen möchtest …«

»Meine Mutter gehörte zu den Verborgenen, und unter ihnen bin ich auch aufgewachsen. Mein Vater wurde von Iidas Kriegern in unserem Dorf Mino getötet. Und wenn Shigeru mich nicht gerettet hätte, wäre auch ich nicht mehr am Leben.« Ich hielt eine Weile inne und sprach dann aus, was ich mir bisher nicht einmal zu denken erlaubt hatte. »Ich hatte zwei Schwestern. Sie waren sieben und neun Jahre alt, und ich fürchte, sie sind auch ermordet worden.«

»Wie grauenvoll«, sagte Kaede. »Ich habe immer Angst um meine Schwestern. Ich hoffe, wir können sie zu uns holen, wenn wir in Maruyama eintreffen. Und ich hoffe, sie sind in Sicherheit.«

Ich schwieg und dachte an Mino, wo wir uns alle so sicher gefühlt hatten.

»Wie seltsam dein Leben gewesen ist«, fuhr Kaede fort. »Als ich dich kennenlernte, hatte ich das Gefühl, dass du alles vor mir geheim hältst. Es schien mir, als würdest du dich immer wieder an einen dunklen verborgenen Ort zurückziehen. Ich wollte dir dorthin folgen, wollte alles über dich erfahren.«

»Ich werde dir alles erzählen. Doch jetzt wollen wir uns hinlegen und ruhen.«

Kaede zog die Decke zurück, und wir legten uns auf die Matratze. Ich zog Kaede in meine Arme, öffnete unsere Roben, um ihre Haut an meiner zu spüren. Sie rief Manami zu, die Laternen sollten gelöscht werden. Als sich Manamis Schritte entfernten, blieb der Geruch von Rauch und Öl in der Luft zurück.

Mittlerweile war ich vertraut mit den nächtlichen Geräuschen im Tempelkloster: Zeiten der Stille, dann wieder Schritte, wenn die Mönche im Dunkeln aufstanden und zu beten begannen. Die leisen Gesänge, dann und wann der Klang einer Glocke. Doch heute Nacht war dieser ruhige Rhythmus gestört durch viele Menschen, die kamen und gingen.

Ich war ruhelos, weil ich mich verpflichtet fühlte, an den Vorbereitungen beteiligt zu sein, konnte mich aber nicht von Kaede lösen.

Sie flüsterte: »Was bedeutet es, einer der Verborgenen zu sein?«

»Ich wurde in einem bestimmten Glauben großgezogen, dem ich mich aber nicht mehr verbunden fühle.« Kaum hatte ich das gesagt, kribbelte etwas in meinem Nacken, als sei ein kalter Hauch darübergestrichen. Hatte ich den Glauben meiner Kindheit wirklich aufgegeben, für den meine Familie gestorben war, anstatt ihm abzuschwören?

»Es heißt, Iida habe Lord Shigeru nur töten wollen, weil er einer der Verborgenen war – und auch meine Verwandte, Lady Maruyama«, murmelte Kaede.

»Shigeru hat nie mit mir darüber gesprochen. Er kannte diese Gebete und sprach sie vor seinem Tod. Aber sein letztes Wort war der Name des Erleuchteten.«

Bis zum heutigen Tag hatte ich kaum an diesen Augenblick gedacht. Er war überdeckt worden durch die grauenhaften Ereignisse danach und meine Trauer. Doch heute dachte ich schon zum zweiten Mal daran, und plötzlich verstand ich, was Shigeru und die Heilige mir mitteilen wollten. »Alles ist eins«, hatte sie gesagt. Shigeru hatte das also auch geglaubt. Ich hörte wieder das Lachen der Heiligen und sah, wie Shigeru mich anlächelte. Unversehens hatte ich etwas ungeheuer Bedeutsames verstanden, das ich jedoch niemals in Worte fassen könnte. In meinem Erstaunen schien mir fast das Herz auszusetzen, und Bilder standen mir plötzlich vor Augen: Shigerus Gefasstheit vor seinem Tod, das Mitgefühl der Heiligen, meine eigene freudige Ahnung, als ich zum ersten Mal nach Terayama kam, die Hououfeder mit der roten Spitze in meiner Hand. Ich erkannte die Wahrheit hinter den Lehren und dem Glauben, verstand, wie das menschliche Streben die Klarheit des Lebens trübte, sah mit Bedauern, wie sehr wir alle dem Verlangen und dem Tod unterworfen waren, der Krieger ebenso wie der Verstoßene, der Priester, der Bauer, ja, sogar der Kaiser. Wie sollte ich diese Klarheit nennen? Himmel? Gott? Schicksal? Oder sollte ich ihr vielerlei Namen geben, so wie jenen zahllosen alten Geistern, an die man in diesem Land glaubte? Sie waren Gesichter des Gesichtslosen, Ausdruck von etwas, für das es keinen Ausdruck gibt, Teile einer Wahrheit, aber niemals die ganze Wahrheit.

»Und Lady Maruyama?«, fragte Kaede, verwundert über mein langes Schweigen.

»Ich denke, sie war sehr gläubig, aber ich habe nie mit ihr darüber gesprochen. Als ich sie kennenlernte, malte sie das Zeichen in meine Hand.«

»Zeig mir, wie«, flüsterte Kaede, und ich strich mit dem Finger über ihre Handfläche.

»Sind die Verborgenen gefährlich? Warum werden sie von allen gehasst?«

»Nein, sie sind nicht gefährlich. Es ist ihnen untersagt zu töten, und deshalb verteidigen sie sich nicht. Sie glauben, dass in den Augen ihres Gottes alle Menschen gleich sind, und dass er über jeden Menschen nach dessen Tod urteilen wird. Große Fürsten wie Iida hassen diese Lehren, ebenso die meisten Krieger. Wenn alle Menschen gleich sind und Gott alles beobachtet, muss es nämlich falsch sein, Menschen so schlecht zu behandeln. Unsere Welt würde von Grund auf verändert werden, wenn alle so denken würden wie die Verborgenen.«

»Und du glaubst das auch?«

»Ich glaube nicht, dass es einen solchen Gott gibt. Aber ich glaube, dass allen Menschen die gleiche Achtung zuteilwerden sollte. Ausgestoßene, Bauern, die Verborgenen – sie alle sollten geschützt werden vor der Grausamkeit und Gier der Kriegerkaste. Und ich möchte jeden einsetzen, der mir helfen möchte, einerlei, ob er Bauer oder Ausgestoßener ist. Ich werde jeden in mein Heer aufnehmen.«

Kaede antwortete nicht; ich nahm an, dass diese Gedanken fremd und erschreckend auf sie wirkten. Zwar glaubte ich vielleicht nicht mehr an den Gott der Verborgenen, doch deren Lehren hatten mich geprägt. Ich dachte daran, wie die Bauern vor dem Klostertor gegen die Otorikrieger gekämpft hatten. Da ich die Bauern als gleichwertige Menschen empfand, hatte ich deren Verhalten als richtig empfunden. Makoto dagegen war entsetzt und empört. Hatte er recht? Ließ ich ein Ungeheuer frei, das ich nicht mehr beherrschen konnte?

Leise sagte Kaede: »Glauben die Verborgenen auch, dass Frauen genauso viel wert sind wie Männer?«

»In den Augen Gottes ist das so. Für gewöhnlich sind Priester Männer. Aber wenn kein Mann im richtigen Alter zur Verfügung steht, können auch ältere Frauen Priesterinnen werden.«

»Würdest du mir erlauben, in deinem Heer zu kämpfen?«

»Da du hervorragend kämpfen kannst, wäre ich froh, dich in Gefechten an meiner Seite zu haben, wie damals in Inuyama. Aber du bist die Erbin von Maruyama. Wenn du im Kampf getötet würdest, wäre unser Feldzug vollkommen nutzlos. Außerdem könnte ich es nicht ertragen.«

Ich zog Kaede an mich und barg mein Gesicht in ihrem Haar. Etwas anderes musste ich dringend noch mit ihr besprechen. Es betraf eine weitere Lehre der Verborgenen, die niemand aus der Kriegerkaste begreifen konnte: dass man sich selbst nicht das Leben nehmen darf. Ich flüsterte: »Hier waren wir in Sicherheit. Wenn wir das Kloster verlassen, ist das nicht mehr der Fall. Ich hoffe sehr, dass wir zusammenbleiben können, aber zeitweilig werden wir unweigerlich getrennt werden. Viele Menschen wünschen meinen Tod, doch es wird erst dazu kommen, wenn die Prophezeiung sich erfüllt, und in unserem Land zwischen den Meeren Frieden herrscht. Ich möchte, dass du mir etwas versprichst. Was auch geschieht, was man dir auch berichtet: Glaube erst, dass ich tot bin, wenn du es mit eigenen Augen gesehen hast. Versprich mir, dass du dir nicht das Leben nehmen wirst, bevor du mich tot gesehen hast.«

»Das verspreche ich dir«, erwiderte Kaede leise. »Und bitte versprich du mir das auch.«

Ich gelobte es. Als Kaede eingeschlafen war, lag ich im Dunkeln und dachte über alles nach, was man mir offenbart hatte. Alles, was mir an Gutem zuteilwurde, galt nicht mir, sondern dem Ziel, das ich erreichen sollte: Frieden und Gerechtigkeit für dieses Land, damit der Houou sich künftig hier nicht nur zeigen, sondern auch sein Nest bauen und seine Jungen großziehen würde.

Kapitel 2

Wir schliefen ein Weilchen. Als ich erwachte, war es noch dunkel, und ich hörte, wie draußen Männer und Pferde den Berg hinaufstapften. Ich rief nach Manami, weckte Kaede und sagte ihr, sie solle sich ankleiden, ich würde sie holen, wenn die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Dann übergab ich ihr die Truhe, die Shigerus Aufzeichnungen über den Stamm enthielt. Diese Unterlagen mussten unter allen Umständen geschützt werden, denn sie waren meine Absicherung gegen das Todesurteil, das der Stamm über mich verhängt hatte, und eine mögliche Verhandlungsgrundlage für ein Bündnis mit Arai Daiichi, dem nun mächtigsten Kriegsherrn der Drei Länder.

Im Tempelkloster herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Die Mönche bereiteten sich nicht nur auf die frühmorgendlichen Gebete vor, sondern auch auf einen Angriff der Otori und eine etwaige lange Belagerung. Das Licht der Fackeln huschte über die entschlossenen Gesichter der Männer, die sich auf einen Krieg vorbereiteten. Ich legte eine Lederrüstung an, geschnürt mit roten und goldenen Bändern. Diese Rüstung trug ich zum ersten Mal zum Kampf. Ich fühlte mich älter darin und hoffte, dass sie mir Kraft geben würde. Dann ging ich zum Tor und beobachtete den Abmarsch meiner Männer in der Morgendämmerung. Makoto und Kahei waren bereits mit der Vorhut losgezogen. Aus dem Tal hörte man die Rufe von Kiebitzen und Fasanen. Tautropfen glitzerten in Gräsern und Spinnweben, die gleich darauf zertrampelt wurden.

Als ich ins Zimmer zurückkehrte, trugen Kaede und Manami bereits Männerkleidung für unterwegs. Kaede hatte die Rüstung angelegt, die ich für sie ausgesucht hatte, und die man eigentlich für einen Knappen angefertigt hatte. Ich hatte auch ein Schwert für Kaede schmieden lassen, das sie nun neben einem Messer im Gürtel trug. Rasch nahmen wir ein wenig kalte Nahrung zu uns und stießen dann zu Amano, der bei den Pferden wartete.

Neben ihm stand der Abt, angetan mit Helm und Lederkürass, das Schwert im Gürtel. Ich kniete vor dem Abt nieder und dankte ihm für alles, was er für mich getan hatte. Er umarmte mich wie ein Vater.

»Schickt Boten aus Maruyama«, sagte er heiter. »Vor Neumond werdet ihr dort sein.«

Sein Glauben an mich machte mir Mut und stärkte mich.

Kaede ritt auf Raku, dem grauen Pferd mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif, das ich ihr geschenkt hatte. Mein Pferd war der Rappe, den wir den Otorikriegern abgenommen hatten. Amano hatte ihn Aoi genannt. Manami und einige andere Frauen, die das Heer begleiteten, wurden auf Packpferde gehoben. Die Truhe mit den Unterlagen war hinter Manami auf ihrem Pferd festgeschnürt. Wir schlossen uns dem Zug an, der sich durch den Wald und den steilen Pfad hinaufbewegte, den Makoto und ich im Vorjahr beim ersten Schnee hinuntergestapft waren. Der Himmel stand in Flammen; die Sonne erreichte gerade die schneebedeckten Berggipfel und färbte sie rosig und golden, und die Luft war so kalt, dass sich Wangen und Finger wie betäubt anfühlten.

Ich blickte zurück zum Tempelkloster, dessen ausladende geschwungene Dächer aus dem Meer junger Blätter herausragten wie große Schiffe. Weiße Tauben flatterten um die Giebel, und die Anlage sah so friedlich aus, als könne nichts ihr etwas anhaben. Ich betete stumm, dass sie so bleiben könne, dass man sie in künftigen Kämpfen nicht zerstören oder niederbrennen würde.

Der flammende Morgenhimmel machte seine Drohung wahr und schickte binnen kurzem schwere graue Wolken von Westen, die zuerst Schauer und dann Dauerregen brachten. Als wir uns dem Bergpass näherten, wurde aus dem Regen nasser Schnee. Die Reiter kamen zunächst besser vorwärts als die Träger, die schwere Körbe auf dem Rücken schleppten. Doch als die Schneemassen am Boden höher wurden, taten sich auch die Pferde schwer. Ich hatte mir einen Feldzug heldenhaft vorgestellt, mit wehenden Fahnen und dem kämpferischem Klang des Schneckenhorns. Niemals hätte ich erwartet, dass es ein zäher Kampf gegen das Wetter und einen Bergpfad sein würde, ein mühsamer Anstieg.

Schließlich blieben die Pferde stehen, und Amano und ich stiegen ab, um sie zu führen. Als wir den Pass überquerten, waren wir bereits durchnässt bis auf die Haut. Auf dem schmalen Pfad konnte ich weder nach vorne noch nach hinten reiten, um nach meinen Männern zu sehen. Als sich das Heer an den Abstieg machte, sah ich den Zug, der sich abwärtswand wie eine Schlange, dunkel vor den Schneeresten, eine riesenhafte vielfüßige Kreatur. Hinter Felsen und Geröll, das nun durch den Regen sichtbar wurde, erstreckten sich weite Wälder. Falls dort jemand im Hinterhalt lag, wären wir den Angreifern hilflos ausgeliefert.

Doch niemand lauerte in den Wäldern. Die Otori erwarteten uns auf der anderen Seite des Berges. Als wir den Schutz der Bäume erreichten, schlossen wir zu Kahei auf, der seine Vorhut rasten ließ. Auch wir gönnten den Männern eine Pause, damit sie sich erleichtern und essen konnten. Der scharfe Geruch von Urin hing in der feuchten Luft. Wir waren fünf oder sechs Stunden unterwegs gewesen, doch ich stellte erfreut fest, dass sowohl die Krieger als auch die Bauern gut durchgehalten hatten.

Während der Rast wurde der Regen stärker. Ich machte mir Sorgen um Kaede, die monatelang krank gewesen war, doch sie beklagte sich nicht, obwohl sie durchgefroren wirkte. Wir aßen ein paar Bissen, konnten jedoch nichts wärmen, da wir keine Zeit zum Feuermachen verschwenden durften. Manami war außergewöhnlich still, behielt Kaede im Auge und zuckte bei jedem unerwarteten Geräusch zusammen. Meiner Schätzung nach war es früher Nachmittag, zwischen der Stunde der Ziege und der Stunde des Affen. Das Gefälle wurde etwas schwächer und der Weg breiter, so dass ich an den anderen vorbeireiten konnte. Ich ließ Kaede bei Amano, trieb mein Pferd an und galoppierte den Abhang hinunter zu Makoto und Kahei an der Spitze des Zuges.

Makoto kannte sich in dieser Gegend besser aus als wir alle. Er sagte, am anderen Ufer des Flusses, nicht weit entfernt, gäbe es eine kleine Stadt, Kibi, wo wir nächtigen könnten.

»Wird sie verteidigt?«

»Falls überhaupt, dann nur von einer kleinen Garnison. Es gibt keine Burg dort, und die Stadt selbst ist kaum befestigt.«

»Auf wessen Grund befindet sie sich?«

»Arai hat dort einen Vogt eingesetzt«, antwortete Kahei. »Der einstige Fürst und seine Söhne haben sich in Kushimoto aufseiten der Tohan geschlagen und sind dort alle zu Tode gekommen. Einige der Bediensteten haben sich Arai angeschlossen. Die anderen waren herrenlos und zogen als Wegelagerer in die Berge.«

»Schickt Männer voraus. Sie sollen verkünden, dass wir für die Nacht Unterkunft brauchen, und erklären, dass wir in friedlicher Absicht hier und nur auf der Durchreise sind. Dann warten wir ab, wie die Antwort lautet.«

Kahei nickte, rief drei seiner Männer zu sich und wies sie an, rasch in die Stadt zu reiten. Der Rest des Zuges bewegte sich weiter langsam voran. Kaum eine Stunde später kehrten die Männer zurück. Die Beine der keuchenden Pferde waren bis weit über die Fesseln schlammbedeckt, die geblähten Nüstern gerötet.

»Der Fluss ist überflutet, die Brücke eingebrochen«, berichtete der Anführer. »Wir haben versucht, durch den Fluss zu schwimmen, aber die Strömung ist zu stark. Und selbst wenn es uns gelungen wäre – das Fußvolk und die Packpferde würden es niemals schaffen.«

»Gibt es Wege entlang des Flusses? Wo ist die nächste Brücke?«

»Die Straße Richtung Osten führt durch das Tal zurück nach Yamagata, auf direktem Weg zu den Otori. Die Straße nach Süden führt weg vom Fluss über den Berg nach Inuyama, aber um diese Jahreszeit ist der Pass nicht begehbar.«

Wenn wir den Fluss nicht überqueren konnten, saßen wir also in der Falle.

»Begleite mich«, sagte ich zu Makoto. »Wir machen uns selbst ein Bild.«

Ich wies Kahei an, langsam mit dem Heer weiterzuziehen, bis auf eine Nachhut von hundert Mann, die im Osten angreifen sollte, falls wir aus dieser Richtung bereits verfolgt wurden.

Makoto und ich hatten kaum eine halbe Meile zurückgelegt, als ich schon das grollende Donnern des reißenden Flusses hörte. Durch die Schneeschmelze angeschwollen, die der Frühling unausweichlich mit sich brachte, überflutete der Fluss nun mit seinem gelbgrünen Wasser das Land. Als wir aus dem Wald herausritten und uns durch die Bambushaine dem Schilf näherten, kam es mir vor, als seien wir am Meer. So weit das Auge reichte, erstreckte sich nur Wasser vor uns, so grau wie der Himmel, von dem unablässig der Regen herabströmte. Offenbar keuchte ich erschrocken bei diesem Anblick, denn Makoto sagte: »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Das sind hauptsächlich bewässerte Felder.«

Da bemerkte ich die rechteckigen Muster, die durch Dämme und Wege entstanden. Die Reisfelder würden also schlammig, aber flach sein; dennoch strömte der Fluss mitten hindurch. Er war an die hundert Fuß breit und angestiegen bis über die Schutzdämme, musste also mindestens zwölf Fuß tief sein. Ich sah auch die Reste der Holzbrücke: Die Spitzen von zwei Pfeilern ragten gerade noch aus den wirbelnden Fluten heraus. Sie wirkten unsagbar verloren in dem strömenden Regen, ganz als sei jegliche menschliche Bemühung vergeblich, weil sie ohnehin von Natur und Zeit zunichtegemacht würde.

Ich blickte auf den Fluss und überlegte, ob wir hindurchschwimmen oder die Brücke wiederaufbauen oder was um alles in der Welt wir tun konnten. Da vernahm ich über das Rauschen des Flusses hinweg Geräusche, die auf Menschen schließen ließen. Ich horchte und hörte Stimmen, die Schläge einer Axt, dann das Krachen eines umstürzenden Baums.

Rechterhand verschwand der Fluss hinter einer Biegung. Dort war der Wald näher am Ufer gelegen, und ich sah Überreste eines Stegs oder Landekais, wo man wohl Holz verladen hatte, um es in die Stadt zu befördern. Ich wendete mein Pferd und ritt durch die Felder auf die Flussbiegung zu.

»Was ist?«, rief Makoto und folgte mir.

»Da ist jemand.« Ich krallte mich in Aois Mähne fest, als er ins Rutschen kam und beinahe gestürzt wäre.

»Komm zurück!«, schrie Makoto. »Das ist gefährlich! Du solltest nicht alleine weiterreiten!«

Ich hörte hinter mir, wie er einen Pfeil aus dem Köcher zog und in den Bogen spannte. Wasser spritzte hoch, als die Pferde durch die überfluteten Felder trabten. Und eine Erinnerung brach sich Bahn, von einem anderen Fluss, der damals aus anderen Gründen nicht durchquert werden konnte. Ich wusste nun, was – oder vielmehr wen – ich vorfinden würde.

Jo-An war dort an der Biegung, mit an die dreißig Ausgestoßenen. Die Männer hatten Schilf geschnitten und verbanden damit Holz von dem überfluteten Steg mit Baumstämmen zu einer Floßbrücke.

Als sie mich sahen, unterbrachen die Männer ihre Arbeit und fielen im Schlamm auf die Knie. Einige kamen mir aus der Gerberei bekannt vor. Sie sahen so abgemagert und elend wie immer aus, und in ihren Augen leuchtete dieses hungrige Licht. Ich versuchte, mir vorzustellen, was es für sie bedeutete, ihre eigene Welt zurückzulassen und gegen die Gesetze zu verstoßen, indem sie Bäume fällten. Das alles taten sie für die schwache Hoffnung, dass es mir gelingen mochte, dem Land Frieden und Gerechtigkeit zu bringen. Ich wollte nicht daran denken, wie man diese Männer leiden lassen würde, falls ich scheitern sollte.

»Jo-An!«, rief ich, und er trat zu mir. Mein Pferd schnaubte und versuchte auszuschlagen, aber er packte es am Zaumzeug und beruhigte das Tier. »Sag ihnen, sie sollen weiterarbeiten«, trug ich Jo-An auf. »Nun stehe ich also noch mehr in deiner Schuld.«

»Sie schulden mir gar nichts«, erwiderte er. »Alles haben Sie Gott zu verdanken.«

Makoto kam angeritten, und ich hoffte, dass er Jo-Ans Worte nicht gehört hatte. Die Pferdemäuler berührten sich, und mein Rappe versuchte zu beißen. Jo-An schlug ihm auf den Hals.

Makoto bemerkte Jo-An und sagte fassungslos: »Ausgestoßene? Was machen die hier?«

»Unser Leben retten. Indem sie ein Schwimmfloss bauen.«

Makoto ließ sein Pferd einige Schritte zurückgehen, und ich bemerkte, wie er unter seinem Helm verächtlich den Mund verzog. »Keiner wird es benutzen –«, begann er, doch ich unterbrach ihn.

»Doch, weil ich den Befehl dazu gebe. Das ist unser einziger Fluchtweg.«

»Wir könnten uns den Weg zur Brücke von Yamagata freikämpfen.«