Der Clan der Otori. Der Pfad im Schnee - Lian Hearn - E-Book

Der Clan der Otori. Der Pfad im Schnee E-Book

Lian Hearn

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Beschreibung

Sie beide verbindet eine einzigartige Liebe. Doch das Schicksal und ihre Feinde stehen zwischen ihnen…. Takeo, rechtmäßiger Erbe des Otori-Clans, wird vom geheimnisvollen Stamm gezwungen, seinem Recht auf Reichtum, Land und Macht abzuschwören. Ebenso wird er von seiner großen Liebe Kaede getrennt. Doch Takeo kann sich den Regeln des Stamms nicht beugen; zu stark ist seine Verbindung zu den Otori und zu Kaede. Er flieht und begibt sich mitten im Winter auf eine gefährliche Reise durch die Berge. Kaede, nunmehr ein wertvolles Pfand in den Händen ruchloser Kriegsherrn, braucht all ihre Intelligenz und Schönheit, um in einer Welt voller machthungriger Männer zu bestehen ... Band 2 der internationalen Megabestseller-Asienfantasy, für alle Fans von Elizabeth Lim, Sophie Kim und Amélie Wen Zhao. Die ganze Otori-Reihe auf einen Blick: Band 1: »Das Schwert in der Stille« Band 2: »Der Pfad im Schnee« Band 3: »Der Glanz des Mondes« Band 4: »Der Ruf des Reihers« Und die Vorgeschichte: »Die Weite des Himmels«

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Seitenzahl: 463

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Lian Hearn

Der Clan der Otori. Der Pfad im Schnee

 

 

Inhalt

Motto

Die drei Länder

Die Clans

Die Otori

Die Tohan

Die Seishuu

Der Stamm

Die Familie der Muto

Die Familie der Kikuta

Die Familie der Kuroda

Weitere Stammesangehörige

Andere

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Danksagung

Leseprobe Band 3

Kapitel 1

In Nächten,

wenn, vom Wind getrieben,

Regen fällt,

In Nächten,

wenn der Schnee,

vermischt mit Regen, fällt

 

Yamanoue no Okura: Ein Dialog über Armut

 

Nach: The Country of the Eight Islands

Übersetzung ins Englische: Hiroaki Sato

Die drei Länder

Personen

Die Clans

Die Otori

(Mittleres Land; Sitz des Schlosses: Hagi)

Otori Shigeru

rechtmäßiger Erbe des Clans (1)

Otori Takeshi

sein jüngerer Bruder, von den Tohan ermordet (g.)

Otori Takeo

(Geburtsname: Tomasu), sein Adoptivsohn (1)

Otori Shigemori

Shigerus Vater, gefallen in der Schlacht von Yaegahara (g.)

Otori Ichiro

ein entfernter Verwandter, Shigerus und Takeos Lehrer (1)

Chiyo und Haruka

Dienerinnen in Shigerus Haus (1)

Shiro

ein Zimmermannsmeister aus Hagi (1)

Otori Shoichi

Shigerus Onkel, Oberhaupt des Clans (1)

Otori Masahiro

sein jüngerer Bruder (1)

Otori Yoshitomi

Masahiros Sohn (1)

Miyoshi Kahei und Miyoshi Gemba

Brüder, Freunde von Takeo (1)

Miyoshi Satoru

ihr Vater, Hauptmann der Wachen im Schloss von Hagi (3)

Endo Chikara

ein alter Gefolgsmann (3)

Terada Fumifusa

ein Pirat (3)

Terada Fumio

sein Sohn, Freund von Takeo (1)

Ryoma

ein Fischer, Masahiros unehelicher Sohn (3)

Die Tohan

(Der Osten; Sitz des Schlosses: Inuyama)

Iida Sadamu

Oberhaupt des Clans (1)

Iida Nariaki

sein Cousin (3)

Ando und Abe

Iidas Gefolgsleute (1)

Lord Noguchi

ein Verbündeter (1)

Lady Noguchi

seine Frau (1)

Junko

Dienerin im Schloss Noguchi (1)

Die Seishuu

(Eine Allianz mehrerer alteingesessener Familien. Der Westen; Sitz der Schlösser: Kumamoto und Maruyama)

Arai Daiichi

ein Kriegsherr (1)

Niwa Satoru und Akita Tsutomu

Arais Gefolgsleute (2)

Sonoda Mitsuru

Akitas Neffe (2)

Maruyama Naomi

Oberhaupt der Domäne Maruyama, Shigerus Geliebte (1)

Mariko

ihre Tochter (1)

Sachie

ihre Dienerin (1)

Sugita Haruki

oberster Gefolgsmann der Domäne Maruyama (1)

Sugita Hiroshi

sein Neffe (3)

Sakai Masaki

Hiroshis Cousin (3)

Lord Shirakawa

Oberhaupt der Domäne Shirakawa (1)

Kaede

seine älteste Tochter (1)

Ai und Hana

seine jüngeren Töchter (2)

Ayame und Manami

Dienerinnen im Haus der Shirakawa (2)

Ayako

Dienerin im Haus der Shirakawa (3)

Amano Tenzo

ein Gefolgsmann (1)

Shoji Kiyoshi

der älteste Gefolgsmann von Lord Shirakawa (1)

Der Stamm

Die Familie der Muto

Muto Kenji

Takeos Lehrer, Mutomeister (1)

Muto Shizuka

Kenjis Nichte, Arais Geliebte und Kaedes Dienerin und Gefährtin (1)

Zenko und Taku

ihre beiden Söhne (3)

Muto Seiko

Kenjis Frau (2)

Muto Yuki

die Tochter der beiden (1)

Muto Yuzuru

ein Verwandter von Kenji (2)

Sadako

Dienerin in Kenjis Haus (2)

Kana und Miyabi

Mägde im Haus von Shizukas Großeltern (3)

Die Familie der Kikuta

Kikuta Isamu

Takeos leiblicher Vater (g.)

Kikuta Kotaro

sein Cousin, Kikutameister (1)

Kikuta Gosaburo

Kotaros jüngster Bruder (2)

Kikuta Akio

deren Neffe (1)

Kikuta Hajime

ein Ringer (2)

Die Familie der Kuroda

Kuroda Shintaro

ein berühmter Attentäter (1)

Kondo Kiichi

Sohn von Kuroda Tetsuo, Gefolgsmann von Arai und Kaede (2)

Weitere Stammesangehörige

Kudo Keiko

(1)

Imai Kazuo

(2)

Vorwort

Was in diesem Buch erzählt wird, ereignete sich im Jahr nach dem Tod von Otori Shigeru in Inuyama, der Festung der Tohan.

Shigerus Adoptivsohn Otori Takeo tötete nach weitverbreiteter Ansicht aus Rache den Anführer der Tohan, Iida Sadamu, und Arai Daiichi vom Clan der Seishuu aus Kumamoto besiegte den Clan der Tohan und nutzte das Chaos nach dem Fall von Inuyama, um die Drei Länder in seine Gewalt zu bekommen. Arai hatte gehofft, ein Bündnis mit Takeo zu schließen und dessen Heirat mit Shirakawa Kaede zu arrangieren, die jetzt Erbin der Domänen Maruyama und Shirakawa war.

Doch im Zwiespalt zwischen Shigerus letzten Befehlen und den Forderungen der Familie seines richtigen Vaters, der Kikuta, Angehörigen des Stammes, verzichtete Takeo auf sein Erbe und auf die Heirat mit Kaede, die er innig liebte. Er beschloss, sich dem Stamm anzuschließen, mit dem er sich durch Herkunft und Schwur verbunden fühlte.

Otori Shigeru wurde in Terayama beerdigt, einem abgelegenen Bergtempel im Herzen des Mittleren Landes. Nach den Schlachten um Inuyama und Kushimoto besuchte Arai den Tempel, um dem getöteten Verbündeten seine Verehrung zu erweisen und die neuen Bündnisse zu festigen. Hier trafen sich Takeo und Kaede zum letzten Mal.

Kapitel 1

Shirakawa Kaede lag in dem tiefen, der Bewusstlosigkeit nahen Schlaf, den Angehörige der Familie Kikuta durch ihren Blick bewirken konnten. Die Nacht verging, die Sterne verblassten im Morgengrauen, die Geräusche des Tempels um Kaede herum schwollen an und nahmen ab, doch sie regte sich nicht. Sie hörte nicht, wie ihre Begleiterin Shizuka sie immer wieder besorgt beim Namen rief, um sie zu wecken. Sie spürte nicht Shizukas Hand auf der Stirn. Sie hörte nicht, wie Lord Arai Daiichis Männer mit wachsender Ungeduld zur Veranda kamen und Shizuka mitteilten, der Kriegsherr warte darauf, mit Lady Shirakawa zu sprechen. Kaedes Atem ging friedlich und ruhig, ihre Züge waren so unbewegt wie die einer Maske.

Gegen Abend schien sich ihr Schlaf zu verändern. Kaedes Lider zuckten, und auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Die Finger, die sich locker zu den Handflächen gebogen hatten, streckten sich.

Hab Geduld. Er wird dich holen.

Kaede träumte, dass sie in Eis verwandelt worden war. Die Worte klangen hell in ihrem Kopf wider. In ihrem Traum gab es keine Angst, nur das Gefühl, von etwas Kühlem und Weißem in einer stillen, gefrorenen und verzauberten Welt gehalten zu werden.

Sie öffnete die Augen.

Es war noch hell. Die Schatten sagten ihr, dass es Abend sei. Ein Glockenspiel erklang leise, dann war die Luft wieder ruhig. Der Tag, an den sich Kaede nicht erinnerte, musste warm gewesen sein. Ihre Haut unter dem Haar war feucht. Vögel zwitscherten vom Dachgesims, und Schwalben klapperten mit den Schnäbeln, während sie die letzten Insekten des Tages fingen. Bald würden sie nach Süden fliegen. Es war schon Herbst.

Die Geräusche der Vögel erinnerten Kaede an das Bild, das Takeo ihr hier vor vielen Wochen geschenkt hatte, eine Skizze von einem Waldvogel, der sie damals an Freiheit denken ließ. Sie hatte die Zeichnung und alles, was ihr sonst noch gehörte, ihre Hochzeitsgewänder und alle anderen Kleider, beim Schlossbrand in Inuyama verloren. Jetzt besaß sie nichts mehr. Shizuka war es gelungen, in dem Haus, in dem sie gewohnt hatten, ein paar alte Kleider für sie aufzutreiben und Kämme und andere Sachen zu leihen. Nie zuvor war Kaede an einem solchen Ort gewesen, im Haus eines Händlers, wo es nach gärender Soja roch und sich viele Leute befanden, denen sie fernzubleiben versuchte, obwohl hin und wieder die Dienerinnen kamen und durch die Ritzen der Wandschirme nach ihr spähten.

Kaede fürchtete, dass jeder ihr ansah, was in der Nacht, als das Schloss zerstört wurde, mit ihr geschehen war. Sie hatte einen Mann getötet, sie hatte einem anderen beigelegen, sie hatte neben ihm gekämpft und dabei das Schwert des Toten geschwungen. Sie konnte nicht glauben, dass sie das alles getan hatte. Manchmal fürchtete sie, verflucht zu sein, wie die Leute behaupteten. Sie sagten über sie, dass jeder Mann, der sie begehrte, starb – und das stimmte. Männer waren gestorben. Aber nicht Takeo.

Seit sie als Geisel auf Schloss Noguchi von einem Wachtposten angegriffen worden war, fürchtete sie sich vor allen Männern. Ihre Furcht vor Iida war so groß gewesen, dass sie sich gegen ihn verteidigt hatte; doch vor Takeo hatte sie sich nicht geängstigt. Ihm wollte sie nur näher sein. Seit ihrer ersten Begegnung in Tsuwano hatte ihr Körper sich nach seinem gesehnt. Sie hatte sich gewünscht, seine Haut an ihrer zu fühlen. Jetzt, als sie sich an diese Nacht erinnerte, wurde ihr erneut unmissverständlich klar, dass sie keinen anderen als ihn heiraten könne, keinen anderen als ihn lieben werde. Ich werde geduldig sein, versprach sie. Doch woher waren diese Worte gekommen?

Sie drehte leicht den Kopf und sah den Umriss von Shizukas Gestalt am Rand der Veranda. Dahinter ragten die uralten Bäume des Schreins empor. Die Luft roch nach Zedern und Staub. Die Tempelglocke schlug die Abendstunde. Kaede sagte nichts. Sie wollte mit niemandem sprechen, keine Stimme hören. Sie wollte zurück zu diesem eisigen Ort, an dem sie geschlafen hatte. Dann bemerkte sie etwas jenseits der winzigen Staubteilchen, die in den letzten Sonnenstrahlen flirrten: ein Geist, dachte sie, doch mehr als ein Geist, weil es Substanz hatte; es war da, unleugbar und tatsächlich, leuchtend wie frischer Schnee. Kaede starrte wie gebannt hin und richtete sich dabei halb auf, doch sowie sie die Erscheinung erkannt hatte, die Weiße Göttin, die große Mitfühlende, die große Gnädige, war sie verschwunden.

»Was ist?« Shizuka hörte, dass sich etwas bewegte, und lief zu ihr. Kaede schaute Shizuka an und sah die tiefe Besorgnis in ihren Augen. Sie erkannte, wie wichtig diese Frau für sie geworden war, ihre engste, eigentlich ihre einzige Freundin.

»Nichts. Ein Halbtraum.«

»Geht es Ihnen gut? Wie fühlen Sie sich?«

»Ich weiß nicht. Ich fühle …« Kaedes Stimme erstarb. Sie betrachtete Shizuka einige Augenblicke. »Habe ich den ganzen Tag geschlafen? Was ist mit mir passiert?«

»Er hätte Ihnen das nicht antun sollen.« Shizukas Ton war scharf vor Sorge und Wut.

»War es Takeo?«

Shizuka nickte. »Ich hatte keine Ahnung, dass er über diese Fähigkeit verfügt. Es ist eine Begabung der Kikutafamilie.«

»Das Letzte, an das ich mich erinnere, sind seine Augen. Wir haben einander angeschaut, und dann bin ich eingeschlafen.«

Nach einer Pause sagte Kaede: »Er ist fort, nicht wahr?«

»Mein Onkel Muto Kenji und das Familienoberhaupt der Kikuta, Kotaro, haben ihn letzte Nacht abgeholt«, antwortete Shizuka.

»Und ich werde ihn nie wiedersehen?« Kaede dachte an ihre Verzweiflung in der vergangenen Nacht, vor dem langen, tiefen Schlaf. Sie hatte Takeo gebeten, sie nicht zu verlassen. Sie hatte sich vor der Zukunft ohne ihn geängstigt, war wütend und gekränkt gewesen, weil er sie zurückwies. Doch dieser ganze Sturm hatte sich gelegt.

»Sie müssen ihn vergessen.« Shizuka nahm Kaedes Hand und streichelte sie sanft. »Von jetzt an können sein und Ihr Leben einander nicht berühren.«

Kaede lächelte schwach. Ich kann ihn nicht vergessen, dachte sie. Und er kann mir nie genommen werden. Ich habe im Eis geschlafen. Ich habe die Weiße Göttin gesehen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Shizuka wieder, diesmal drängend. »Nicht viele Menschen überleben den Kikutaschlaf – die meisten werden getötet, bevor sie wieder daraus erwachen können. Ich weiß nicht, wie er auf Sie gewirkt hat.«

»Er hat mir nicht geschadet. Aber er hat mich in gewisser Weise verändert. Ich habe das Gefühl, nichts zu wissen. Als müsste ich alles neu lernen.«

Shizuka kniete sich verwirrt vor sie, forschend betrachtete sie Kaedes Gesicht. »Was werden Sie jetzt tun? Wohin werden Sie gehen? Werden Sie mit Arai nach Inuyama zurückkehren?«

»Ich glaube, ich sollte nach Hause, zu meinen Eltern. Ich muss meine Mutter sehen. Ich habe solche Angst, dass sie gestorben ist, während wir die ganze Zeit in Inuyama aufgehalten wurden. Ich werde am Morgen aufbrechen. Wahrscheinlich solltest du Lord Arai davon unterrichten.«

»Ich verstehe Ihre Sorge«, entgegnete Shizuka. »Aber Arai möchte Sie vielleicht nicht gehen lassen.«

»Dann werde ich ihn überreden müssen«, sagte Kaede ruhig. »Zuerst muss ich etwas essen. Lässt du mir eine Kleinigkeit zubereiten? Und bring mir Tee, bitte.«

»Lady.« Shizuka verneigte sich vor ihr und verließ die Veranda. Während sie davonging, hörte Kaede die klagenden Klänge einer Flöte, die jemand, der nicht zu sehen war, im Garten hinter dem Tempel spielte. Sie glaubte den Musiker, einen der jungen Mönche, von ihrem ersten Besuch im Tempel zu kennen, aber sie erinnerte sich nicht an seinen Namen. Damals hatten sie sich die berühmten Gemälde von Sesshu angesehen. Die Musik machte ihr das Unvermeidliche von Leiden und Verlust klar. Die Bäume rauschten im aufkommenden Wind, und Eulenrufe tönten vom Berg herab.

Shizuka kam mit dem Tee zurück und goss Kaede eine Tasse ein. Kaede trank, als würde sie zum ersten Mal Tee kosten, jeder Tropfen offenbarte ihrer Zunge seinen eigenen unverkennbaren, rauchigen Geschmack. Und als die alte Frau, die sich um Gäste kümmerte, Reis und Gemüse mit Bohnenmus brachte, war es, als hätte Kaede noch nie zuvor Essen geschmeckt. Sie staunte im Stillen über die neuen Kräfte, die in ihr geweckt worden waren.

»Lord Arai wünscht, Sie zu sprechen, bevor der Tag zu Ende geht«, sagte Shizuka. »Ich habe ihm erklärt, dass Sie sich nicht wohl fühlen, aber er hat darauf bestanden. Wenn Sie ihn jetzt nicht sehen möchten, richte ich ihm das aus.«

»Ich weiß nicht, ob wir uns gegenüber Lord Arai so verhalten können«, sagte Kaede. »Wenn er es befiehlt, muss ich zu ihm gehen.«

»Er ist sehr wütend«, sagte Shizuka leise. »Dass Takeo verschwunden ist, hat ihn beleidigt und erzürnt. Er sieht darin den Verlust von zwei wichtigen Verbündeten. Jetzt ist fast sicher, dass er ohne Takeo an seiner Seite gegen die Otori kämpfen muss. Er hatte auf eine rasche Hochzeit zwischen Ihnen gehofft …«

»Sprich nicht davon«, unterbrach sie Kaede. Sie aß den letzten Reis, legte die Stäbchen auf das Tablett und verneigte sich zum Dank für das Essen.

Shizuka seufzte. »Arai versteht den Stamm nicht richtig, er weiß nicht, wie er organisiert ist, welche Forderungen er an die stellt, die ihm angehören.«

»Hat er niemals bemerkt, dass du eine vom Stamm bist?«

»Er wusste, dass ich mich darauf verstehe, Dinge in Erfahrung zu bringen, Botschaften weiterzugeben. Er nutzte mit Vergnügen meine Fähigkeiten, als es darum ging, eine Allianz mit Lord Shigeru und Lady Maruyama zu bilden. Er hatte vom Stamm gehört, doch wie die meisten Leute dachte er, das sei wenig mehr als eine Gilde. Dass der Stamm in Iidas Tod verstrickt gewesen sein sollte, erschreckte ihn zutiefst, obwohl er davon profitierte.« Sie hielt inne und sagte dann ruhig: »Er hat jedes Vertrauen zu mir verloren – ich glaube, er fragt sich, wie er so häufig mit mir schlafen konnte, ohne selbst ermordet zu werden. Nun, wir werden jedenfalls nie mehr miteinander schlafen. Das ist vorbei.«

»Hast du Angst vor ihm? Hat er dich bedroht?«

»Er ist mir böse«, antwortete Shizuka. »Er hat das Gefühl, ich hätte ihn betrogen und, schlimmer, hätte ihn zum Narren gehalten. Ich glaube nicht, dass er mir je verzeiht.« Ein bitterer Ton schlich sich in ihre Stimme. »Ich war seine engste Vertraute, seine Geliebte, seine Freundin, seit ich ein Kind war. Ich habe ihm zwei Söhne geboren. Doch er würde mich sofort töten lassen, wenn Sie nicht da wären.«

»Ich werde jeden Mann töten, der versucht, dir etwas anzutun«, sagte Kaede.

Shizuka lächelte. »Wie grimmig Sie aussehen, wenn Sie das sagen!«

»Männer sterben leicht.« Kaedes Stimme war ausdruckslos. »Durch einen Nadelstich, durch einen Messerstoß. Du hast mir das beigebracht.«

»Aber ich hoffe, diese Fertigkeiten müssen Sie noch erproben«, entgegnete Shizuka. »Obwohl Sie sich in Inuyama gut geschlagen haben. Takeo verdankt Ihnen sein Leben.«

Kaede schwieg einen Moment. Dann sagte sie leise: »Ich habe mehr getan, als mit dem Schwert zu kämpfen. Du weißt nicht alles.«

Shizuka starrte sie an. »Was sagen Sie mir da? Dass Sie es waren, die Iida getötet hat?«, flüsterte sie.

Kaede nickte. »Takeo hat ihm den Kopf abgeschlagen, aber da war er schon tot. Ich habe getan, was du mich gelehrt hast. Er wollte mich vergewaltigen.«

Shizuka packte Kaedes Hände. »Lassen Sie das nie jemanden wissen! Keiner dieser Krieger würde Sie am Leben lassen, noch nicht einmal Arai.«

»Ich empfinde weder Schuld noch Reue«, sagte Kaede. »Nie habe ich etwas getan, was weniger schändlich war. Ich habe mich nicht nur geschützt, ich habe auch den Tod von vielen gerächt: Lord Shigeru, meine Verwandte Lady Maruyama und ihre Tochter und alle die Unschuldigen, die Iida gefoltert und ermordet hat.«

»Trotzdem, wenn das allgemein bekannt würde, würden Sie dafür bestraft. Männer würden glauben, die Welt steht auf dem Kopf, wenn Frauen nach Waffen greifen und Rache üben.«

»Meine Welt steht bereits auf dem Kopf«, sagte Kaede. »Dennoch muss ich gehen und Lord Arai aufsuchen. Bring mir …« Sie unterbrach sich und lachte. »Ich wollte sagen, bring mir etwas zum Anziehen, aber ich habe nichts. Ich habe gar nichts!«

»Sie haben ein Pferd«, entgegnete Shizuka. »Takeo hat Ihnen das graue dagelassen.«

»Er hat mir Raku dagelassen?« Kaede lächelte, ein richtiges Lächeln, das ihr Gesicht leuchten ließ. Sie schaute in die Ferne, ihre Augen waren dunkel und nachdenklich.

»Lady?« Shizuka berührte sie an der Schulter.

»Kämme mir das Haar und schicke Lord Arai eine Nachricht, dass ich ihn sogleich aufsuchen werde.«

 

Es war fast völlig dunkel, als sie die Frauengemächer verließen und zum Hauptgästehaus gingen, wo Arai und seine Männer untergebracht waren. Lichter leuchteten vom Tempel her, und weiter oben am Hang unter den Bäumen standen Männer mit lodernden Fackeln um Lord Shigerus Grab. Selbst zu dieser Stunde kamen Menschen hierher mit Weihrauch und Opfergaben, stellten Laternen und Kerzen rund um den Stein auf den Boden und suchten Hilfe bei dem Toten, der täglich mehr zu einem ihrer Götter wurde.

Er schläft unter einer Flammendecke, dachte Kaede und betete lautlos zu Shigerus Geist um Rat, während sie überlegte, was sie zu Arai sagen sollte. Sie war die Erbin von Shirakawa und Maruyama; sie wusste, dass Arai ein starkes Bündnis mit ihr anstrebte, vielleicht eine Heirat, die sie einband in die Macht, die er ständig vergrößerte. Sie hatten ein paarmal miteinander geredet während ihres Aufenthaltes in Inuyama und dann wieder auf der Reise, doch damals galt Arais Aufmerksamkeit der Sicherung des Landes und seinen Strategien für die Zukunft. Er hatte nicht mit ihr darüber gesprochen, er hatte lediglich den Wunsch geäußert, dass die Otorihochzeit stattfinden möge. Einst, vor einer Ewigkeit, wie es Kaede jetzt vorkam, hatte sie mehr sein wollen als ein Pfand in den Händen der Krieger, die ihr Schicksal bestimmten. Jetzt, mit der neugefundenen Kraft, die der eisige Schlaf ihr geschenkt hatte, beschloss sie erneut, ihr Leben selbst zu bestimmen. Ich brauche Zeit, dachte sie. Ich darf nichts überstürzen. Ich muss nach Hause reisen, bevor ich irgendwelche Entscheidungen treffe.

Einer von Arais Männern – sie erinnerte sich, dass er Niwa hieß – begrüßte sie am Rand der Veranda und führte sie zur Tür. Die Läden waren alle geöffnet. Arai saß mit drei Männern seines Gefolges hinten im Raum. Niwa nannte Kaedes Namen, und der Kriegsherr schaute zu ihr auf. Einen Augenblick musterten sie einander. Sie hielt seinem Blick stand und spürte die Kraft in ihren Adern pulsieren. Dann sank sie auf die Knie und verneigte sich vor ihm; die Geste war ihr unangenehm, doch sie wusste, dass sie fügsam erscheinen musste.

Er erwiderte ihre Verbeugung, und sie setzten sich beide zugleich auf. Kaede spürte seinen Blick auf sich. Sie hob den Kopf und sah ihn ebenso unerschrocken an. Das konnte er nicht lange ertragen. Ihr Herz hämmerte bei dieser Kühnheit. In der Vergangenheit hatte sie diesen Mann gemocht, sie hatte ihm vertraut. Jetzt bemerkte sie Veränderungen in seinem Gesicht. Die Linien um Mund und Augen waren tiefer geworden. Er war pragmatisch und wandlungsfähig zugleich gewesen, doch jetzt beherrschte ihn allein die Gier nach Macht.

Nicht weit vom Haus ihrer Eltern floss der Shirakawa durch große Kalksteinhöhlen, wo das Wasser Säulen und Statuen geformt hatte. Als Kind war Kaede jedes Jahr dort hingebracht worden, um der Göttin zu huldigen, die in einer dieser Säulen unter dem Berg lebte. Die Statue hatte eine fließende, lebendig wirkende Gestalt, als ob der Geist in ihr versuchte, aus der ihn umschließenden Kalkschicht auszubrechen. Jetzt dachte Kaede an diese Steinschicht. War Macht ein kalkhaltiger Fluss, der alle erstarren ließ, die es wagten, darin zu schwimmen?

Arais körperliche Größe und Stärke ließen sie innerlich zittern in der Erinnerung an jenen Moment der Hilflosigkeit in Iidas Armen, an die Kraft von Männern, die Frauen zu allem zwingen konnten, was sie wollten. Lass nie zu, dass sie diese Kraft gebrauchen, dachte sie, und dann: Sei immer bewaffnet. In ihrem Mund war ein Geschmack so süß wie Dattelpflaumen, so stark wie Blut, das Wissen um die Macht und ihren Geschmack. Trieb das die Männer an, ständig aneinanderzugeraten, einander zu versklaven und zu zerstören? Warum sollte eine Frau nicht auch darüber verfügen?

Kaede betrachtete die Stellen an Arais Körper, wo Nadel und Messer Iida durchbohrt und geöffnet hatten für die Welt, die er beherrschen wollte, so dass sein Lebensblut auslief. Ich darf das nie vergessen, sagte sie sich. Männer können auch von Frauen getötet werden. Ich habe den mächtigsten Kriegsherrn in den Drei Ländern getötet.

Ihre Erziehung hatte sie gelehrt, sich den Männern zu unterwerfen, sich deren Willen und größerer Intelligenz zu fügen. Kaedes Herz klopfte so heftig, dass sie fürchtete, sie könne ohnmächtig werden. Sie atmete tief, wandte an, was Shizuka sie gelehrt hatte, und spürte, wie sich das Blut in ihren Adern beruhigte.

»Lord Arai, morgen werde ich nach Shirakawa aufbrechen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich von Männern aus Ihrem Gefolge nach Hause begleiten lassen könnten.«

»Mir wäre es lieber, Sie blieben im Osten«, sagte er langsam. »Aber nicht darüber will ich zuerst mit Ihnen reden.« Er schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Otoris Verschwinden. Können Sie diesen außergewöhnlichen Vorfall irgendwie erklären? Ich glaube, ich habe mein Recht auf Herrschaft begründet. Ich war bereits mit Shigeru verbündet. Wie kann der junge Otori alle seine Verpflichtungen gegenüber mir und seinem toten Vater missachten? Wie kann er sich darüber hinwegsetzen und davongehen? Und wohin ist er gegangen? Meine Männer haben das Gebiet bis Yamagata den ganzen Tag durchsucht. Er ist wie vom Erdboden verschwunden.«

»Ich weiß nicht, wo er ist«, antwortete sie.

»Ich habe erfahren, dass er gestern Nacht mit Ihnen gesprochen hat, bevor er ging.«

»Ja«, sagte sie nur.

»Er muss Ihnen wenigstens erklärt haben …«

»Er war durch andere Verpflichtungen gebunden.« Kaede spürte, wie der Kummer in ihr wuchs, während sie redete. »Es war nicht seine Absicht, Sie zu beleidigen.« Sie erinnerte sich nicht daran, dass Takeo Arai ihr gegenüber erwähnt hatte, aber das sagte sie nicht.

»Verpflichtungen gegenüber dem sogenannten Stamm?« Arai hatte seine Wut beherrscht, doch jetzt entlud sie sich in seiner Stimme, seinen Augen. Er drehte ein wenig den Kopf, und Kaede nahm an, dass er an ihr vorbei zu Shizuka schaute, die im Dunkel auf der Veranda kniete. »Was wissen Sie über die Stammesangehörigen?«

»Sehr wenig«, antwortete sie. »Mit ihrer Hilfe ist Lord Takeo in die Festung Inuyama gelangt. Ich nehme an, dafür stehen wir alle in ihrer Schuld.«

Dass sie Takeos Namen aussprach, ließ sie erschauern. Sie erinnerte sich daran, wie sein Körper ihren berührt hatte, an den Augenblick, als sie beide damit rechneten zu sterben. Ihre Augen wurden dunkler, ihr Gesicht weicher. Arai merkte es, ohne den Grund zu kennen, und als er wieder redete, hörte sie noch etwas anderes als Zorn aus seiner Stimme heraus.

»Für Sie kann eine andere Hochzeit arrangiert werden. Es gibt andere junge Männer bei den Otori, Cousins von Shigeru. Ich werde Gesandte nach Hagi schicken.«

»Ich trauere um Lord Shigeru«, entgegnete sie. »Ich kann nicht über eine Hochzeit mit irgendjemandem nachdenken. Ich werde nach Hause gehen und mich von meinem Kummer erholen.« Ob mich je einer heiraten will, wenn er meinen Ruf kennt?, überlegte sie und konnte nicht umhin, den Gedanken anzuschließen: Takeo ist nicht gestorben. Sie hatte geglaubt, Arai würde weiterargumentieren, doch nach einem Augenblick stimmte er ihr zu.

»Vielleicht ist es das Beste, Sie gehen zu Ihren Eltern. Ich werde Sie holen lassen, wenn ich nach Inuyama zurückgekehrt bin. Dann reden wir über Ihre Heirat.«

»Werden Sie Inuyama zu Ihrer Hauptstadt machen?«

»Ja, ich habe vor, das Schloss wiederaufzubauen.« Im flackernden Licht wirkte sein Gesicht finster und grüblerisch. Kaede sagte nichts. Abrupt fuhr er fort: »Aber zurück zum Stamm. Mir war nicht klar, wie stark sein Einfluss sein muss. Dass er Takeo dazu bringt, vor einer solchen Heirat, einem solchen Erbe davonzulaufen, und ihn dann so geschickt verbirgt. Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, womit ich es zu tun hatte.« Er schaute wieder zu Shizuka hinüber.

Er wird sie töten, dachte Kaede. Das ist mehr als nur Zorn über Takeos Ungehorsam. Auch seine Selbstachtung ist tiefverletzt. Er muss Shizuka verdächtigen, ihn jahrelang bespitzelt zu haben. Sie fragte sich, was aus der Liebe und Begierde zwischen den beiden geworden war. Hatte sich das alles über Nacht aufgelöst? Bedeuteten die Jahre der Ergebenheit, des Vertrauens und der Treue gar nichts mehr?

»Ich werde es mir zur Aufgabe machen, mehr über den Stamm zu erfahren«, fuhr Arai fort, als führte er ein Selbstgespräch. »Es muss Leute geben, die Bescheid wissen, die reden werden. Ich kann nicht zulassen, dass eine solche Organisation existiert. Sie wird meine Macht untergraben, wie die weiße Ameise sich durchs Holz frisst.«

Kaede sagte: »Ich glaube, Sie waren es, der mir Muto Shizuka geschickt hat, damit sie mich beschützt. Diesem Schutz verdanke ich mein Leben. Und ich glaube, ich habe im Schloss Noguchi Ihr Vertrauen gerechtfertigt. Zwischen uns gibt es starke Bindungen, und sie sollen nicht zerstört werden. Mein künftiger Ehemann, wer immer es sein mag, wird Ihnen Treue schwören. Shizuka wird in meinem Dienst bleiben und mit mir ins Haus meiner Eltern gehen.«

Jetzt schaute er sie an, und wieder begegnete sie seinem Blick mit eiskalten Augen. »Es ist kaum fünfzehn Monate her, seit ich Ihretwegen einen Mann getötet habe«, sagte er. »Sie waren kaum mehr als ein Kind. Sie haben sich verändert …«

»Man hat mich gezwungen, erwachsen zu werden.« Sie unterdrückte den Gedanken an ihr geliehenes Gewand, ihre völlige Besitzlosigkeit. Ich bin Erbin einer großen Domäne, sagte sie sich und sah ihm weiter in die Augen, bis er widerstrebend den Kopf senkte.

»Nun gut. Ich werde ein paar Männer mit Ihnen nach Shirakawa schicken, und Sie können die Mutofrau mitnehmen.«

»Lord Arai.« Erst jetzt senkte sie den Blick und verneigte sich.

Arai befahl Niwa, Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen, und Kaede verabschiedete sich mit sehr respektvollen Worten. Sie spürte, dass sie die Begegnung gut überstanden hatte; jetzt konnte sie es sich leisten, so zu tun, als verfügte er über alle Macht.

Schweigend kehrte sie mit Shizuka zu den Gemächern der Frauen zurück. Die Alte hatte bereits die Betten ausgebreitet, half jetzt Shizuka, Kaede auszuziehen, und brachte Nachtkleidung für sie. Dann wünschte sie ihnen gute Nacht und zog sich in den angrenzenden Raum zurück.

Shizuka war blass und so still, wie Kaede sie noch nie erlebt hatte. Sie berührte Kaedes Hand und flüsterte: »Danke«, doch mehr sagte sie nicht. Als sie beide unter den Baumwolldecken lagen, als Stechmücken um ihre Köpfe surrten und Motten gegen die Lampen flatterten, spürte Kaede den starren Körper der anderen neben sich und wusste, dass Shizuka mit ihrem Kummer kämpfte. Doch sie weinte nicht.

Kaede legte die Arme um Shizuka und drückte sie wortlos an sich. Sie teilte das tiefe Leid, doch keine Tränen traten ihr in die Augen. Nichts durfte die Kraft schwächen, die in ihr lebendig wurde.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen standen Sänften und eine Eskorte für die Frauen bereit. Sie reisten gleich nach Sonnenaufgang ab. Kaede dachte an den Rat ihrer Cousine Lady Maruyama und bestieg vorsichtig die Sänfte, als wäre sie so zerbrechlich und kraftlos wie die meisten Frauen, doch sie überzeugte sich, dass die Stallknechte Takeos Pferd herausbrachten, und sobald sie auf der Straße waren, öffnete sie die Vorhänge aus gewachstem Papier, damit sie hinausschauen konnte.

Dennoch wurde ihr übel. Die schaukelnde Bewegung konnte sie nicht ertragen, und bei der ersten Rast in Yamagata war ihr so schwindlig, dass sie kaum gehen konnte. Den Imbiss mochte sie gar nicht anschauen, und als sie ein wenig Tee trank, musste sie sich sofort übergeben. Sie war wütend über die körperliche Schwäche, die ihr neuentdecktes Stärkegefühl zu untergraben schien. Shizuka führte sie zu einem kleinen Raum im Gasthaus, badete ihr das Gesicht in kaltem Wasser und riet ihr, sich eine Weile hinzulegen. Die Übelkeit verging so rasch, wie sie gekommen war, und Kaede konnte ein wenig rote Bohnensuppe und eine Tasse Tee zu sich nehmen.

Doch beim Anblick der schwarzen Sänfte wurde ihr wieder schlecht. »Bringt mir das Pferd«, sagte sie. »Ich werde reiten.«

Der Pferdeknecht hob sie auf Rakus Rücken, Shizuka stieg gewandt hinter ihr auf, und so ritten sie den Rest des Morgens dahin, ohne viel zu reden, jede in ihre eigenen Gedanken versunken, doch getröstet durch die Nähe der anderen.

Hinter Yamagata stieg die Straße steil an. Stellenweise hatte sie Stufen aus großen flachen Steinen. Der Himmel war wolkenlos blau und die Luft warm, doch es gab schon Anzeichen des Herbstes. Buche, Sumach und Ahorn färbten sich golden und zinnoberrot. Schwärme von Wildgänsen flogen hoch über ihnen. Der Wald wurde dichter, still und stickig. Das Pferd ging vorsichtig, mit gesenktem Kopf, während es sich seinen Weg über die Stufen suchte. Die Männer wirkten wachsam und nervös. Seit dem Sturz von Iida und den Tohan war das Gebiet voll von herrenlosen Soldaten aller Dienstgrade, die lieber Banditen wurden, als neue Treueschwüre zu leisten.

Raku war kräftig und ausdauernd. Trotz Hitze und Steigung zeigte sein Fell kaum dunkle Schweißflecken, als sie an einer kleinen Herberge oben auf dem Pass wieder anhielten. Es war kurz nach Mittag. Die Pferde wurden zum Füttern und Tränken weggeführt, die Männer zogen sich in den Baumschatten um die Quelle zurück, und eine alte Frau breitete Matratzen auf dem Boden eines mattenbelegten Raums aus, damit Kaede eine oder zwei Stunden lang ruhen konnte.

Kaede legte sich nieder, dankbar streckte sie sich aus.

Das Licht im Zimmer war gedämpft und grün. Riesige Zedern schirmten die grellen Sonnenstrahlen ab. In der Ferne hörte Kaede das kühle Plätschern der Quelle und Stimmen: das leise Gespräch der Männer, gelegentlich unterdrücktes Gelächter, Shizukas Plaudern in der Küche. Zuerst klang Shizukas Stimme hell und klatschsüchtig, und Kaede freute sich, dass ihre Begleiterin offenbar wieder guter Laune war, doch dann sprach sie leiser, und die Person, mit der sie redete, reagierte ebenso. Kaede konnte nicht mehr verstehen, was sie sagten.

Nach einiger Zeit war das Gespräch beendet. Shizuka kam leise herein und legte sich neben Kaede.

»Mit wem hast du gesprochen?«

Shizuka drehte den Kopf, damit sie direkt in Kaedes Ohr flüstern konnte. »Eine Cousine von mir arbeitet hier.«

»Du hast überall Cousinen.«

»So ist es beim Stamm.«

Kaede schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie:

»Vermuten nicht auch andere Leute, wer du bist, und wollen …«

»Wollen was?«

»Nun, dich loswerden?«

Shizuka lachte. »Das wagt niemand. Wir haben unendlich viel mehr Möglichkeiten, sie loszuwerden. Und niemand weiß je etwas Genaues über uns. Die Leute stellen ihre Vermutungen an. Aber Sie haben vielleicht bemerkt, dass mein Onkel Kenji und ich uns vielfältig tarnen können. Die Angehörigen des Stammes sind schwer zu erkennen, daneben beherrschen sie zahlreiche andere Künste.«

»Wirst du mir mehr über den Stamm erzählen?« Kaede war fasziniert von dieser Welt, die sich unter der ihr bekannten Welt verbarg.

»Ein wenig kann ich Ihnen erzählen. Nicht alles. Später, wenn uns niemand hören kann.«

Von draußen hörte man den rauen Ruf einer Krähe. Shizuka sagte: »Zwei Neuigkeiten habe ich von meiner Cousine erfahren. Einmal, dass Takeo Yamagata nicht verlassen hat. Arai hat Suchtrupps ausgeschickt und Wachen auf den Überlandstraßen postiert. Sie werden ihn in der Stadt versteckt haben.« Die Krähe rief wieder. Aah! Aah!

Vielleicht bin ich heute an seinem Versteck vorbeigekommen, dachte Kaede. Nach einem langen Moment sagte sie: »Was war das Zweite?«

»Unterwegs könnte es einen Unfall geben.«

»Was für einen Unfall?«

»Für mich. Anscheinend will Arai mich loswerden, wie Sie es ausgedrückt haben. Aber es soll aussehen wie ein Unfall, ein Überfall von Räubern, etwas in der Art. Arai kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich weiterlebe, aber er will Sie nicht direkt beleidigen.«

»Du musst weg.« Kaede wurde laut vor Erregung. »Solange du bei mir bist, weiß er, wo er dich findet.«

»Pst!«, warnte Shizuka. »Ich erzähle es Ihnen nur, damit Sie nichts Unüberlegtes tun.«

»Was wäre unüberlegt?«

»Ihr Messer zu gebrauchen, mich verteidigen zu wollen.«

»Das würde ich tun«, sagte Kaede.

»Ich weiß. Aber Sie müssen Ihre Kühnheit und diese Fertigkeiten verheimlichen. Jemand reist mit uns, der mich beschützt. Vielleicht mehr als einer. Überlassen Sie ihnen das Kämpfen.«

»Wer ist es?«

»Wenn meine Lady es errät, werde ich ihr ein Geschenk machen!«, sagte Shizuka leichthin.

»Was ist aus deinem gebrochenen Herzen geworden?«, fragte Kaede neugierig.

»Ich habe es mit Zorn geflickt«, antwortete Shizuka. Dann sagte sie ernster: »Vermutlich liebe ich nie wieder einen Mann so sehr. Aber ich habe nichts Schändliches getan. Ich bin es nicht, die unehrenhaft gehandelt hat. Zuvor war ich mit ihm verbunden, eine Geisel für ihn. Indem er sich von mir trennte, hat er mich befreit.«

»Du solltest mich verlassen«, sagte Kaede wieder.

»Wie kann ich Sie jetzt verlassen? Sie brauchen mich mehr denn je.«

Kaede lag ganz still. »Warum jetzt mehr denn je?«

»Lady, das müssen Sie doch wissen. Ihre Blutung ist überfällig, Ihr Gesicht ist weicher, Ihr Haar dicker. Die Übelkeit, danach der Hunger …« Shizukas Stimme war weich, voller Mitleid.

Kaedes Herz raste. Sie wusste es tief in ihrem Innern, doch sie konnte es sich nicht eingestehen.

»Was werde ich tun?«

»Wessen Kind ist es? Doch nicht das von Iida?«

»Ich habe Iida getötet, bevor er mich vergewaltigen konnte. Wenn es stimmt, dass ein Kind unterwegs ist, kann es nur von Takeo sein.«

»Wann?«, flüsterte Shizuka.

»In der Nacht, in der Iida starb. Takeo kam in mein Zimmer. Wir rechneten beide mit dem Tod.«

Shizuka atmete hörbar aus. »Manchmal glaube ich, er ist vom Wahnsinn gestreift.«

»Nicht Wahnsinn. Vielleicht Verzauberung«, sagte Kaede. »Es ist, als stünden wir beide unter einem Bann, seit wir uns in Tsuwano begegnet sind.«

»Nun, daran sind zum Teil mein Onkel und ich schuld. Wir hätten Sie nie zusammenbringen sollen.«

»Ihr oder sonst jemand hättet es durch nichts verhindert.« Kaede konnte eine leise Freude nicht unterdrücken.

»Wenn es Iidas Kind wäre, wüsste ich, was tun«, sagte Shizuka. »Ich würde nicht zögern. Es gibt Dinge, die ich Ihnen geben kann, damit es abgetrieben wird. Aber Takeos Kind ist mit mir verwandt, ist von meinem Blut.«

Kaede sagte nichts. Das Kind erbt vielleicht Takeos Begabung, dachte sie. Diese Begabung, die ihn wertvoll macht. Jeder wollte ihn für eigene Zwecke gebrauchen. Aber ich liebe ihn nur um seiner selbst willen. Ich werde nie sein Kind abtreiben. Und ich werde es mir vom Stamm nie wegnehmen lassen. Doch würde Shizuka das versuchen? Würde sie mich so hintergehen?

Sie schwieg so lange, dass Shizuka sich aufsetzte, um zu sehen, ob sie eingeschlafen war. Doch Kaede hatte die Augen geöffnet, sie schaute in das grüne Licht hinter dem Eingang.

»Wie lange wird die Übelkeit andauern?«, fragte sie.

»Nicht lange. Und drei oder vier Monate wird man Ihnen nichts ansehen.«

»Du kennst dich aus mit diesen Dingen. Du hast gesagt, du hast zwei Söhne?«

»Ja. Arais Kinder.«

»Wo sind sie?«

»Bei meinen Großeltern. Er weiß nicht, wo sie sind.«

»Hat er sie nicht anerkannt?«

»Er hat sich für sie interessiert, bis er heiratete und von seiner rechtmäßigen Frau einen Sohn bekam«, sagte Shizuka. »Dann sah er in meinen Söhnen, die ja älter sind, eine Bedrohung für seinen Erben. Als mir seine Überlegungen klarwurden, brachte ich die Jungen in ein verborgenes Dorf der Mutofamilie. Er darf nie wissen, wo sie sind.«

Kaede fröstelte trotz der Hitze. »Glaubst du, er könnte ihnen gefährlich werden?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Lord, ein Krieger, so etwas tut«, antwortete Shizuka bitter.

»Ich habe Angst vor meinem Vater«, sagte Kaede. »Wie wird er reagieren?«

Shizuka flüsterte: »Angenommen, Lord Shigeru fürchtete Iidas Verrat und bestand auf einer geheimen Hochzeit in Terayama an dem Tag, an dem wir den Tempel besuchten. Ihre Verwandte Lady Maruyama und deren Dienerin Sachie waren die Trauzeugen, doch sie überlebten nicht.«

»So kann ich die Welt nicht belügen«, sagte Kaede.

»Sie brauchen gar nichts zu sagen«, beruhigte Shizuka sie. »Alles ist geheim gewesen. Sie befolgen die Wünsche Ihres verstorbenen Mannes. Ich werde es scheinbar ganz unabsichtlich ausplaudern. Sie werden sehen, dass diese Männer kein Geheimnis bewahren können.«

»Was ist mit Dokumenten, Beweisen?«

»Als Inuyama fiel, gingen sie mit allem anderen verloren. Das Kind wird von Shigeru sein und, wenn es ein Junge ist, der Erbe der Otori.«

»So weit in die Zukunft sollten wir nicht denken«, sagte Kaede schnell. »Fordere das Schicksal nicht heraus.« Denn Shigerus richtiges ungeborenes Kind kam ihr in den Sinn, das still im Körper seiner Mutter in den Flusswassern von Inuyama umgekommen war. Sie betete, dass sein Geist nicht eifersüchtig sein möge, sie betete, dass ihr eigenes Kind am Leben blieb.

Vor dem Ende der Woche hatte die Übelkeit ein wenig nachgelassen. Kaedes Brüste schwollen an, ihre Brustwarzen schmerzten, und sie bekam plötzlich zu unerwarteten Zeiten Heißhunger, doch davon abgesehen fühlte sie sich wohl, besser als je zuvor. Ihre Sinne wurden schärfer, es war fast so, als würde das Kind seine Gaben mit ihr teilen. Erstaunt stellte sie fest, wie Shizukas geheime Information sich unter den Männern verbreitete; einer nach dem anderen sprach sie mit gesenkter Stimme und abgewandtem Blick als Lady Otori an. Das Täuschungsmanöver war ihr unangenehm, doch sie machte mit, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.

Sie beobachtete die Männer genau und versuchte herauszufinden, wer dem Stamm angehörte und Shizuka im entscheidenden Moment schützen würde. Shizuka hatte ihre Munterkeit wiedergewonnen, sie lachte und scherzte mit allen gleichermaßen, und alle reagierten mit unterschiedlichen Gefühlen von Dankbarkeit bis Begierde, doch keiner schien besonders wachsam zu sein.

Weil die Männer Kaede selten direkt anschauten, bemerkten sie nicht, wie genau sie von ihr beobachtet wurden. Kaede konnte sie im Dunkeln unterscheiden nach ihrem Schritt, ihrer Stimme, manchmal sogar nach ihrem Geruch. Sie gab ihnen Namen: Narbe, Schielauge, Schweiger, Langarm.

Langarm roch nach dem scharf gewürzten Öl, mit dem die Männer ihren Reis schmackhafter machten. Er sprach mit tiefer Stimme und rauem Akzent. Auf Kaede wirkte er frech, seine Art von Ironie ärgerte sie. Er war mittelgroß, hatte eine große Stirn und Augen, die etwas hervorquollen und so schwarz waren, dass es aussah, als hätte er keine Pupillen. Er hatte die Angewohnheit, sie zu verdrehen, dann den Kopf zurückzuwerfen und die Nase zu rümpfen. Seine Arme waren ungewöhnlich lang und seine Hände groß. Wenn jemand eine Frau ermorden sollte, dachte Kaede, dann er.

In der zweiten Woche hielt ein plötzliches Unwetter die Gruppe in einem kleinen Dorf fest. Kaede war durch den Regen an ein enges, unbequemes Zimmer gefesselt und wurde immer unruhiger. Gedanken an ihre Mutter quälten sie. Wenn Kaede die Erinnerung an sie heraufbeschwören wollte, begegnete ihr nur Dunkelheit. Sie versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, vergeblich. Ebenso wenig konnte sie sich das Aussehen ihrer Schwestern vor Augen führen. Die jüngste würde fast neun sein. Kaede fürchtete, dass ihre Mutter tot war; dann müsste sie ihren Platz einnehmen, eine Mutter für ihre Schwestern sein, den Haushalt führen – das Kochen, Putzen, Weben und Nähen überwachen, all die ständigen Pflichten der Frauen, in denen die Mädchen von ihren Müttern und Tanten und Großmüttern unterwiesen wurden. Kaede verstand nichts von solchen Dingen. Als sie eine Geisel gewesen war, hatte die Familie Noguchi sie vernachlässigt. Sie hatten ihr nur wenig beigebracht; während sie wie ein Dienstmädchen umherlief und die Krieger bediente, hatte sie lediglich gelernt, im Schloss zu überleben. Nun, jetzt würde sie sich diese praktischen Kenntnisse aneignen müssen. Das Kind schenkte ihr Gefühle und Instinkte, die sie zuvor nicht gekannt hatte: den Instinkt, sich um ihre Angehörigen zu kümmern. Sie dachte an die Gefolgsleute in Shirakawa, Männer wie Shoji Kiyoshi und Amano Tenzo, die ihren Vater begleitet hatten, als er sie im Schloss Noguchi besuchte, und an die Hausbediensteten wie Ayame, die sie fast so sehr wie ihre Mutter vermisst hatte, als sie mit sieben fortgebracht worden war. Ob Ayame noch lebte? Würde sie sich an das Mädchen erinnern, um das sie sich gekümmert hatte? Kaede kehrte zurück, angeblich verheiratet und verwitwet, ein weiterer Mann war ihretwegen gestorben, und schwanger war sie zudem. Wie würde sie in ihrem Elternhaus aufgenommen werden? Die Verzögerung irritierte auch die Männer. Kaede spürte, dass sie diese ermüdende Aufgabe hinter sich bringen wollten, dass sie darauf brannten, in die Schlachten zurückzukehren, die ihre eigentliche Arbeit waren, ihr Leben. Sie wollten an Arais Siegen über die Tohan im Osten beteiligt sein, statt fern von den Ereignissen zwei Frauen im Westen zu beschützen.

Arai war nur einer von ihnen, dachte sie verwundert. Wie war er plötzlich so mächtig geworden? Was an ihm veranlasste diese Männer, jeder von ihnen erwachsen und körperlich kräftig, ihm folgen und gehorchen zu wollen? Sie erinnerte sich wieder an die jähe Grausamkeit, mit der er dem Wachtposten, der sie im Schloss Noguchi angegriffen hatte, die Kehle durchschnitt. Arai würde ohne Zögern jeden dieser Männer ebenso töten. Doch nicht aus Angst gehorchten sie ihm. War es eine Art Vertrauen in diese Grausamkeit, in diese Bereitschaft, sofort zu handeln, ob die Handlung nun gut war oder schlecht? Würden sie je einer Frau so vertrauen? Könnte sie selbst solche Männer befehligen wie er? Würden Krieger wie Shoji und Amano ihr gehorchen? Der Regen hörte auf, und sie zogen weiter. Das Unwetter hatte die letzte Feuchtigkeit hinweggefegt, jetzt strahlten die Tage, der Himmel dehnte sich weit und blau über den Berggipfeln, auf denen die Ahornbäume jeden Tag mehr Rot zeigten. Die Nächte wurden kühler und brachten schon einen Hauch von künftigem Frost. Die Reise zog sich hin, die Tage waren lang und ermüdend. Schließlich sagte Shizuka eines Morgens: »Das ist der letzte Pass. Morgen sind wir in Shirakawa.«

Sie stiegen einen steilen Pfad hinab, der so dicht mit Tannennadeln bedeckt war, dass die Pferdehufe keinen Lärm machten. Shizuka ging neben Raku, während Kaede ritt. Zwischen den Tannen und Zedern war es dunkel, aber knapp vor ihnen fielen Sonnenstrahlen schräg durch ein Bambusgehölz und verbreiteten ein gesprenkeltes grünliches Licht.

»Warst du schon einmal auf diesem Weg?«, fragte Kaede.

»Schon oft. Zum ersten Mal vor Jahren. Ich war jünger als Sie jetzt und wurde nach Kumamoto geschickt, um für die Familie Arai zu arbeiten. Der alte Lord lebte damals noch. Er herrschte mit eiserner Faust über seine Söhne, doch der älteste, Daiichi, fand trotzdem Wege, mit den Dienerinnen ins Bett zu gehen. Ich widerstand ihm lange – das ist, wie Sie wissen, nicht einfach für Mädchen, die in Schlössern leben. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dass er mich nicht so schnell vergessen sollte wie die meisten anderen. Und natürlich hatte ich auch die Anweisungen meiner Familie, der Muto.«

»Du hast ihn also die ganze Zeit bespitzelt«, murmelte Kaede.

»Gewisse Leute waren an den Bündnissen der Arai interessiert. Vor allem an Daiichi, bevor er zu den Noguchi ging.«

»Ist mit gewissen Leuten Iida gemeint?«

»Natürlich. Das war Teil der Vereinbarung mit dem Clan der Seishuu nach der Schlacht von Yaegahara. Arai diente Noguchi nur ungern. Er mochte Iida nicht und hielt Noguchi für einen Verräter, doch er musste gehorchen.«

»Du hast für Iida gearbeitet?«

»Sie wissen, für wen ich arbeite«, sagte Shizuka ruhig. »In erster Linie immer für die Familie Muto, für den Stamm. Iida hatte damals viele Muto angestellt.«

»Ich werde das nie verstehen«, sagte Kaede. Die Bündnisse ihrer Klasse waren kompliziert genug mit den neuen, die durch Heirat entstanden, den alten, die durch Geiseln aufrechterhalten wurden, und gebrochenen Gelöbnissen wegen plötzlicher Beleidigungen oder Fehden oder aus reinem Opportunismus. Doch das alles schien ganz einfach zu sein im Vergleich zu den Intrigen des Stamms. Wieder kam Kaede der unangenehme Gedanke, dass Shizuka nur auf Befehl der Familie Muto bei ihr blieb.

»Bespitzelst du mich?«

Shizuka bat sie mit einer Handbewegung, still zu sein. Die Männer ritten vor und hinter ihnen, außer Hörweite, fand Kaede.

»Nun?«

Shizuka legte dem Pferd die Hand auf die Schulter. Kaede schaute hinunter auf ihren Hinterkopf, den weißen Nacken unter dem dunklen Haar. Shizuka hatte den Kopf abgewandt, so dass Kaede ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie hielt Schritt mit dem Pferd, während es den Hang hinunterstapfte und die Hinterbacken schwang, um das Gleichgewicht zu halten. Kaede neigte sich vor und versuchte, leise zu sprechen. »Sag schon.«

Da scheute das Pferd und bäumte sich plötzlich auf. Aus Kaedes Vorbeugen wurde eine jähe Abwärtsbewegung.

»Ich falle«, dachte sie überrascht, und der Boden raste auf sie zu, während sie und Shizuka gemeinsam stürzten.

Das Pferd sprang zur Seite, es versuchte, nicht auf die Frauen zu treten. Kaede spürte, dass noch mehr Verwirrung und Gefahr sie umgab.

»Shizuka!«, rief sie.

»Unten bleiben«, antwortete das Mädchen und stieß sie zu Boden, doch Kaede wehrte sich, sie wollte sehen, was vorging.

Auf dem Pfad vor ihnen waren zwei Männer, nach ihrem Aussehen wilde Banditen, mit gezogenen Schwertern. Kaede tastete nach ihrem Messer, wünschte sich ein Schwert oder wenigstens einen Stock, erinnerte sich an ihre Versprechen – und das alles im Bruchteil einer Sekunde, bevor sie das Surren einer Bogensehne hörte. Ein Pfeil flog am Ohr des Pferds vorbei, es sprang hoch und bockte wieder.

Ein kurzer Schrei ertönte, und ein Mann stürzte vor ihre Füße. Blut strömte aus seinem Hals, wo der Pfeil ihn durchbohrt hatte.

Der zweite Mann zögerte einen Augenblick. Das Pferd sprang zur Seite und warf ihn aus dem Gleichgewicht. Er schwang vergeblich sein Schwert nach Shizuka, dann war Langarm bei ihm, duckte sich unter dem Schlag, kam mit fast übernatürlicher Schnelligkeit hoch, und die Spitze seines Schwerts schien wie von selbst den Weg in die Kehle des Mannes zu finden.

Die Männer vorn drehten sich um und rannten zurück, die von hinten kamen vorgelaufen. Shizuka hatte das Pferd am Zügel gefasst und beruhigte es.

Langarm half Kaede auf die Füße. »Keine Angst, Lady Otori«, sagte er mit seinem rauen Akzent, sein Atem roch kräftig nach Pfefferöl. »Das waren nur Straßenräuber.«

Nur Straßenräuber?, dachte Kaede. Sie starben so plötzlich und unter so viel Blutvergießen. Straßenräuber, vielleicht, aber in wessen Sold?

Die Männer nahmen den Banditen die Waffen ab und verlosten sie, dann warfen sie die Leichen ins Gestrüpp. Es war unmöglich festzustellen, ob einer von ihnen den Überfall vorausgesehen hatte oder von dessen Misserfolg enttäuscht war. Ihr Respekt vor Langarm schien gewachsen zu sein, und Kaede merkte, dass sie von der Schnelligkeit seiner Reaktion und seiner Geschicklichkeit beim Kämpfen beeindruckt waren. Doch ansonsten verhielten sie sich, als sei das ein normaler Vorfall, eines der Risiken beim Reisen. Einer oder zwei neckten Shizuka damit, dass die Banditen sie zur Frau haben wollten, und sie antwortete im gleichen Ton und fügte hinzu, der Wald sei voll von solchen Verzweifelten, doch selbst ein Bandit hätte mehr Chancen als irgendeiner aus der Eskorte.

»Nie hätte ich deinen Beschützer erraten«, sagte Kaede später. »Ganz im Gegenteil. Ihn habe ich verdächtigt, dass er dich mit diesen großen Händen töten will.«

Shizuka lachte. »Er ist ein ziemlich kluger Bursche und ein harter Kämpfer. Man unterschätzt ihn leicht oder beurteilt ihn falsch. Nicht nur Sie hat er überrascht. Hatten Sie in diesem Augenblick Angst?«

Kaede versuchte, sich zu erinnern. »Nein, vor allem, weil dazu keine Zeit war. Ich habe mir ein Schwert gewünscht.«

Shizuka sagte: »Sie verfügen über die Gabe des Muts.«

»Das stimmt nicht. Ich habe oft Angst.«

»Das glaubt Ihnen keiner«, murmelte Shizuka. Sie waren inzwischen in einer Herberge in einer kleinen Stadt an der Grenze zur Domäne Shirakawa angelangt. Kaede hatte in der heißen Quelle baden können, jetzt trug sie bereits ihr Nachtgewand und wartete auf das Abendessen. Sie war in der Herberge unfreundlich empfangen worden, und der Zustand der Stadt machte sie beklommen. Es schien wenig Nahrung zu geben, die Menschen waren missmutig und niedergeschlagen.

Vom Sturz war die eine Seite ihres Körpers voller blauer Flecken, und sie fürchtete um ihr Kind. Außerdem machte der Gedanke an das Wiedersehen mit ihrem Vater sie nervös. Würde er glauben, dass sie verheiratet war? Es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, wie wütend er sein würde, wenn er die Wahrheit herausfand.

»Momentan komme ich mir nicht sehr mutig vor«, gestand sie.

Shizuka sagte: »Ich massiere Ihnen den Kopf. Sie sehen erschöpft aus.«

Doch schon als sie sich zurücklehnte und es genoss, die Finger des Mädchens auf ihrer Kopfhaut zu spüren, wuchsen Kaedes Befürchtungen. Sie erinnerte sich, wovon sie im Augenblick des Überfalls gesprochen hatten.

»Morgen werden Sie zu Hause sein.« Shizuka spürte Kaedes Anspannung. »Die Reise ist fast vorüber.«

»Shizuka, sag die Wahrheit. Warum bleibst du bei mir? Um mich zu bespitzeln? Wer hat die Familie Muto jetzt engagiert?«

»Niemand engagiert uns zurzeit. Iidas Sturz hat die gesamten Drei Länder in Verwirrung gestürzt. Arai sagt, dass er den Stamm auslöschen wird. Wir wissen noch nicht, ob er es ernst meint oder ob er zur Vernunft kommt und mit uns zusammenarbeitet. Inzwischen will mein Onkel Kenji, der Lady Shirakawa sehr bewundert, über ihr Wohlbefinden und ihre Absichten informiert werden.«

Und über mein Kind, dachte Kaede, sprach es aber nicht aus. Stattdessen fragte sie: »Meine Absichten? Was genau ist damit gemeint?«

»Sie sind Erbin einer der reichsten und mächtigsten Domänen im Westen, Maruyama, sowie Ihres eigenen Besitzes Shirakawa. Der, den Sie heiraten, wird eine Schlüsselfigur in der Zukunft der Drei Länder sein. Gegenwärtig nimmt jeder an, dass Sie das Bündnis mit Arai aufrechterhalten und seine Stellung im Westen festigen, während er die Otorifrage klärt: Ihr Schicksal ist eng mit dem Clan der Otori und dem Mittleren Land verbunden.«

»Vielleicht heirate ich niemanden«, sagte Kaede, halb zu sich. Und warum, dachte sie, sollte ich in diesem Fall nicht selbst eine Schlüsselfigur werden?

Kapitel 3

Die Geräusche des Tempels von Terayama, die Mitternachtsglocke, der Gesang der Mönche verklangen, als ich den beiden Meistern Kikuta Kotaro und Muto Kenji einen einsamen, steilen und überwachsenen Pfad am Fluss entlang folgte. Wir gingen schnell, das Wasserrauschen übertönte unsere Schritte. Wir sprachen wenig, und wir begegneten niemandem.

Als wir nach Yamagata kamen, brach schon fast der Morgen an, und die ersten Hähne krähten. Die Straßen der Stadt waren verlassen, obwohl die Sperrstunde aufgehoben war und die Tohan nicht mehr patrouillierten. Wir gingen zum Haus eines Kaufmanns mitten in der Stadt, nicht weit von der Herberge, in der wir beim Totenfest übernachtet hatten. Ich kannte die Straße bereits von meinen nächtlichen Stadterkundungen. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.

Kenjis Tochter Yuki öffnete das Tor, als hätte sie die ganze Nacht auf uns gewartet, obwohl wir so leise waren, dass noch nicht einmal ein Hund bellte. Sie sagte nichts, doch mir fiel auf, wie intensiv sie mich anschaute. Ihr Gesicht, ihre lebhaften Augen, ihr anmutiger, muskulöser Körper erinnerten mich nur zu deutlich an die schrecklichen Ereignisse in Inuyama in der Nacht, als Shigeru starb. Ich hatte halb erwartet, Yuki in Terayama zu sehen, denn sie war es, die Tag und Nacht gereist war, um Shigerus Kopf zum Tempel zu bringen und die Nachricht von seinem Tod zu verbreiten. Über vieles hätte ich sie gern befragt: ihre Reise, den Aufstand in Yamagata, den Sturz der Tohan. Als ihr Vater und der Kikutameister ins Haus vorausgingen, blieb ich ein wenig zurück, so dass sie und ich gemeinsam auf die Veranda traten. Ein schwaches Licht brannte am Eingang. Sie sagte: »Ich habe nicht erwartet, dich lebend wiederzusehen.«

»Ich habe nicht erwartet, am Leben zu bleiben.« Ich dachte an ihre Gewandtheit und Skrupellosigkeit und fügte hinzu: »Ich bin tief in deiner Schuld. Ich kann das nie wiedergutmachen.«

Sie lächelte. »Ich habe eigene Schulden zurückgezahlt. Du schuldest mir nichts. Aber ich hoffe, wir werden Freunde sein.«

Das Wort schien nicht stark genug, um zu beschreiben, wie wir bereits zueinanderstanden. Sie hatte mir Shigerus Schwert Jato gebracht und mir geholfen, Shigeru zu retten und zu rächen – die wichtigsten und verzweifeltsten Handlungen meines Lebens.

Ich empfand tiefe Dankbarkeit für sie, gemischt mit Bewunderung. Sie verschwand einen Augenblick und kam mit Wasser zurück. Die Schale stellte sie mir hin. Ich wusch mir die Füße und hörte den beiden Meistern zu, die sich im Haus unterhielten. Sie hatten vor, ein paar Stunden lang zu ruhen, dann sollte ich mit Kotaro weiterreisen. Erschöpft schüttelte ich den Kopf. Ich war es müde zuzuhören.

»Komm«, sagte Yuki und führte mich in die Mitte des Hauses, wo sich wie in Inuyama ein verborgener Raum befand, so eng wie eine Besenkammer.

»Bin ich wieder ein Gefangener?« Ich betrachtete die fensterlosen Wände.

»Nein, es ist nur zu deiner Sicherheit, damit du dich ein paar Stunden ausruhen kannst. Dann wirst du weiterreisen.«

»Ich weiß; ich habe es gehört.«

»Natürlich«, sagte sie, »ich habe vergessen, dass du alles hörst.«

»Zu viel.« Ich setzte mich auf die Matratze, die bereits auf dem Boden ausgebreitet war.

»Begabungen sind eine Last. Aber mit ihnen lebt man besser als ohne sie. Ich hole dir etwas zu essen, der Tee ist fertig.«

Gleich darauf kehrte sie zurück. Ich trank den Tee, doch das Essen war mir zuwider. »Zum Baden ist kein heißes Wasser da«, sagte sie. »Tut mir leid.«

»Ich werde es überleben.« Schon zweimal hatte sie mich gebadet. Einmal hier in Yamagata, als ich nicht wusste, wer sie war, und sie meinen Rücken geschrubbt und meine Schläfen massiert hatte, dann wieder in Inuyama, als ich kaum mehr gehen konnte. Die Erinnerung überflutete mich. Unsere Blicke trafen sich, und ich wusste, dass sie das Gleiche dachte. Dann schaute sie weg und sagte leise: »Ich gehe und lasse dich schlafen.«

Ich legte mein Messer dicht neben die Matratze und schlüpfte unter die Decke, ohne mich auszuziehen. Ich dachte darüber nach, was Yuki über Begabungen gesagt hatte. Ich glaubte nicht, dass ich je wieder so glücklich sein würde wie damals in Mino, dem Dorf, in dem ich geboren war – aber in Mino war ich ein Kind gewesen, und jetzt war das Dorf zerstört, meine gesamte Familie getötet. Ich durfte nicht in der Vergangenheit verweilen. Ich war einverstanden gewesen, zum Stamm zu kommen. Sie wollten mich wegen meiner Begabungen, und nur beim Stamm würde ich lernen, diese Talente zu entwickeln und zu beherrschen.

Ich dachte an Kaede, die ich schlafend in Terayama zurückgelassen hatte. Hoffnungslosigkeit überkam mich, dann Resignation. Nie würde ich sie wiedersehen. Ich würde versuchen, sie zu vergessen. Langsam wurde die Stadt um mich herum lebendig. Endlich, als das Licht jenseits der Türen heller wurde, schlief ich ein.

Plötzlich erwachte ich durch den Lärm von Menschen und Pferden auf der Straße jenseits der Hausmauern. Das Licht im Zimmer hatte sich verändert, als ob die Sonne das Dach überquert hätte, doch ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Ein Mann schrie, eine Frau reagierte mit Protest und wurde wütend. Ich verstand, worum es ging. Die Männer waren Gefolgsleute von Arai, und auf der Suche nach mir gingen sie von Haus zu Haus.

Ich schob die Decke zurück und tastete nach meinem Messer. Gerade nahm ich es in die Hand, da wurde die Tür aufgeschoben, und Kenji kam leise herein. Die falsche Wand schloss sich hinter ihm. Kenji betrachtete mich kurz, schüttelte den Kopf und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das winzige Stück Boden zwischen Matratze und Wand.

Ich erkannte die Stimmen – die Männer waren mit Arai in Terayama gewesen. Ich hörte, wie Yuki die zornige Frau beruhigte und den Männern etwas zu trinken anbot.

»Wir sind jetzt alle im selben Boot«, sagte sie und lachte. »Glaubt ihr, wenn Otori Takeo hier wäre, könnten wir ihn verstecken?«