Die Legende von Shikanoko – Herrscher der acht Inseln - Lian Hearn - E-Book

Die Legende von Shikanoko – Herrscher der acht Inseln E-Book

Lian Hearn

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Beschreibung

Ihre ›Otori‹-Saga ist ein Welterfolg: Jetzt endlich erscheint ein neues Epos der Bestsellerautorin! Shikanoko ist eigentlich nur der Sohn eines einfachen Vasallen. Doch als er von einem Magier eine übernatürliche Maske vermacht bekommt, wird aus ihm das Kind des Hirsches, und er verfügt fortan über magische Fähigkeiten und besonderes Kampfgeschick. Als der alte Kaiser stirbt, gerät Shikanoko in die Fänge des Fürstabts, der alles daransetzt, die höchste Macht im Land – den Lotusthron – an sich zu reißen. Shikanoko muss fliehen und entkommt dabei mehr als einmal nur knapp dem Tod. Doch er muss unbedingt Aki finden, die Herbstprinzessin, die er liebt, und die ein großes Geheimnis verbirgt. Denn in ihrer Obhut befindet sich niemand anderes als der rechtmäßige Nachfolger für den legendären Lotusthron. Mystisch und martialisch – der erste Teil des großen neuen Fantasy-Epos von Bestsellerautorin Lian Hearn, das dem ›Otori‹-Zyklus um nichts nachsteht: ebenso brachial, ebenso brillant! Pressestimmen zu diesem Buch: »Auf magische Art verführerisch!« Kirkus Review »Schonungslos spannende Historical Fantasy« Herald Sun »Exzellent erzählt« West Australian »Gewaltige erfinderische Kraft« Sydney Morning Herald »Unwiderstehliche Charaktere und ein fesselndes Weltkonstrukt!« The Japan Times Schutzumschlag mit Goldfolienveredelung

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Seitenzahl: 644

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Lian Hearn

Die Legende von Shikanoko

Herrscher der acht Inseln

 

 

Über dieses Buch

 

 

Nach dem Welterfolg der ›Otori‹-Saga: Bestseller-Autorin Lian Hearn ist zurück mit einem neuen monumentalen Epos!

 

Shikanoko ist eigentlich nur der Sohn eines einfachen Vasallen. Dann kommt er in den Besitz einer magischen Maske, die ihn mit außerordentlichen kämpferischen Fähigkeiten ausstattet, und er gerät ins Zentrum eines erbitterten Kampfs um die höchste Macht im Land: Der Krieg um den Lotusthron des Kaisers der acht Inseln ist auf seinem Höhepunkt. Doch die Legende des Shikanoko nimmt erst ihren Anfang.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Karte]

Personen

Buch 1 Herrscher der acht Inseln

1 Kazumaru

2 Kazumaru/Shikanoko

3 Kiyoyori

4 Shikanoko

5 Kiyoyori

6 Shikanoko

7 Kiyoyori

8 Akihime

9 Tama

10 Shikanoko

11 Kiyoyori

12 Shikanoko

13 Tama

14 Kiyoyori

15 Aki

16 Kiyoyori

17 Aki

18 Shikanoko

19 Hina

20 Tama

21 Masachika

22 Aki

23 Shikanoko

Buch 2 Herbstprinzessin, Drachenkind

1 Shikanoko

2 Masachika

3 Aki

4 Takaakira

5 Shikanoko

6 Aki

7 Yoshi

8 Shikanoko

9 Hina

10 Aki

11 Masachika

12 Hina

13 Masachika

14 Tama

15 Takaakira

16 Aki

17 Shikanoko

Anmerkung der Autorin

Leseprobe

1 HINA (YAYOI)

Die australische Originalausgabe erschien [...]

Personen

Hauptpersonen

Kumayama no Kazumaru, später Shikanoko oder Shika genannt

Nishimi no Akihime, die Herbstprinzessin, Aki

Kuromori no Kiyoyori, Fürst von Kuromori

Fürstin Tama, seine Gattin, Herrin von Matsutani

Masachika, Kiyoyoris jüngerer Bruder

Hina, manchmal Yayoi genannt, Kiyoyoris Tochter

Tsumaru, Kiyoyoris Sohn

Bara oder Ibara, Hinas Dienerin

Yoshimori, auch Yoshimaru, der Verborgene Kaiser, Yoshi

Takeyoshi, auch Takemaru, Sohn von Shikanoko und Akihime, Take

Die Hexerin Tora

Shisoku, der Berghexer

Sesshin, ein alter Weiser

Der Fürstabt

Akuzenji, König des Berges, Räuberhauptmann

Hisoku, Diener von Fürstin Tama

Der Clan der Miboshi

Fürst Aritomo, Oberhaupt des Clans, auch bekannt als Fürst von Minatogura

Yukikuni no Takaakira

Fürstin Yukikuni, seine Gattin

Takauji, deren gemeinsamer Sohn

Arinori, Kapitän und Fürst der Region Aomizu

Yamada Keisaku, Masachikas Adoptivvater

Gensaku, ein Bediensteter von Takaakira

Yasuie, ein Gefolgsmann von Masachika

Yasunobu, Yasuies Bruder

Der Clan der Kakizuki

Fürst Keita, Oberhaupt des Clans

Hosokawa no Masafusa, ein Verwandter von Kiyoyori

Tsuneto, ein Krieger von Kiyoyori

Sadaike, ein Krieger von Kiyoyori

Tachiyama no Enryo, ein Krieger von Kiyoyori

Hatsu, Enryos Frau

Kongyo, Kiyoyoris ältester Gefolgsmann

Haru, Kongyos Frau

Chikamaru, später Motochika, Chika, deren Sohn

Kaze, deren Tochter

Hironaga, Bediensteter in Kuromori

Tsunesada, Bediensteter in Kuromori

Taro, ein Diener in Kiyoyoris Haus in Miyako

Am Kaiserhof

Der Kaiser

Prinz Momozono, der Kronprinz

Prinzessin Shinmei’in, seine Gattin, Yoshimoris Mutter

Daigen, Prinz Momozonos jüngerer Bruder, später der Kaiser

Fürstin Natsue, Daigens Mutter, Schwester des Fürstabts

Yoriie, ein Bediensteter

Nishimi no Hidetake, Akis Vater, Ziehvater von Yoshimori

Kai, Hidetakes Adoptivtochter

Im Kloster Ryusonji

Gessho, ein Kriegermönch

Eisei, ein junger Mönch, später einer der Verbrannten Zwillinge

In Kumayama

Shigetomo, Shikanokos Vater

Sademasa, sein Bruder, Shikanokos Onkel, jetzt Herrscher über Kumayama

Nobuto, einer seiner Krieger

Tsunemasa, einer seiner Krieger

Naganori, einer seiner Krieger

Nagatomo, Naganoris Sohn, Shikas Kinderfreund, später einer der Verbrannten Zwillinge

In Nishimi

Sadako und Masako, Hinas Lehrerinnen

Saburo, ein Stallbursche

Die Leute vom Fluss

Fuji, die Herrin der Lustboote

Asagao, Musikerin und Unterhaltungskünstlerin

Yuri, Sen, Sada und Teru, junge Mädchen im Kloster

Sarumaru, Saru, ein Akrobat und Affendresseur

Kinmaru und Monmaru, Akrobaten und Affendresseure

Das Spinnenvolk

Kiku, später Meister Kikuta, ältester Sohn der Hexerin Tora

Mu, ihr zweiter Sohn

Kuro, ihr dritter Sohn

Ima, ihr vierter Sohn

Ku, ihr fünfter Sohn

Tsunetomo, ein Krieger und Kikus Diener

Shida, Mus Gattin, eine Fuchsfrau

Kinpoge, deren Tochter

Unagi, ein Kaufmann in Kitakami

Übernatürliche Wesen

Tadashii, ein Tengu

Hidari und Migi, Schutzgeister von Matsutani

Das Drachenkind

Ban, ein fliegendes Pferd

Gen, ein künstlicher Wolf

Kon und Zen, Werhabichte

Pferde

Nyorin, Akuzenjis weißer Hengst, später Shikanokos Pferd

Risu, eine launische braune Stute

Tan, deren Fohlen

Waffen

Jato, Schlangenschwert

Jinan, Zweiter Sohn

Ameyumi, Regenbogen

Kodama, Echo

Buch 1Herrscher der acht Inseln

Hinfällig ihr Sein

Fäden aus Reif verwoben

Mit Garnen des Tau

Denn Brokat in den Bergen

Entsteht um zu verwehen

 

aus Kokin-wakashū

1Kazumaru

»Konntest du sehen, was vorgefallen ist?«

»Wo ist dein Vater?« Zwei Männer ragten über ihm auf. Ihre Umrisse zeichneten sich dunkel vor dem Abendhimmel ab. Einer der beiden war sein Onkel Sademasa, der andere Nobuto, den Kazumaru nicht leiden konnte.

»Wir haben ein merkwürdiges Geräusch gehört.« Kazumaru imitierte das Klacken von Steinen auf einem Brett. »Klack, klack, klack. Vater sagte mir, ich solle hier warten.«

Die beiden Männer hatten den siebenjährigen Jungen im hohen Gras entdeckt, an einer flachgetretenen Stelle, wie Hirsche sie für ihre Kälber anlegen. Fast wären die Pferde auf Kazumaru getreten. Als Sademasa den Jungen hochnahm, sah er, dass die Gräser tiefe Abdrücke auf seiner Wange hinterlassen hatten. Er musste viele Stunden dort gelegen haben.

»Wer nimmt denn ein Kind zum Kundschaften mit?«, fragte Nobuto leise.

»Er will nicht von dem Jungen getrennt sein«, sagte Sademasa.

»So einen närrischen Vater habe ich noch nie erlebt!«

»Und ich noch nie so ein verwöhntes Kind. Wenn das mein Sohn wäre …«

Kazumaru gefiel der Tonfall der beiden nicht, sie schienen sich über ihn lustig zu machen. Er schwieg vorerst, nahm sich aber vor, seinem Vater davon zu erzählen, wenn er ihn wiedersah.

»Irgendein Hinweis auf sein Pferd?«, fragte Sademasa Nobuto.

Der ältere Mann blickte zu den Bäumen hinüber. »Die Spuren führen dort entlang.«

Ein paar verkrüppelte Bäume klammerten sich ans Vulkangestein des Bergs. Einige kümmerten, andere waren schon abgestorben. Die Luft roch nach Schwefel, und Dampf zischte aus Spalten im Boden. Vorsichtig gingen die Männer weiter, die Bögen gespannt. Kazumaru folgte ihnen.

»Sieht aus, als läge ein Fluch über diesem Ort«, bemerkte Nobuto.

Die großen Baumstümpfe waren von schmalen Rissen durchzogen. Am Boden lagen einige schwarze Steine und eine Handvoll weißer Muscheln verstreut.

»Hier ist Blut.« Nobuto deutete auf einen Fleck an einem hellen Felsen, ging in die Hocke und berührte die Stelle. »Noch feucht.«

Das Blut war dunkel, fast purpurrot.

»Ist es seines?«, flüsterte Sademasa.

»Sieht nicht menschlich aus«, antwortete Nobuto und roch an seinem Finger. »Der Geruch ist auch anders.« Er wischte das Blut am Felsen ab, stand auf, blickte sich um und rief: »Fürst Shigetomo! Wo seid Ihr?«

Ihr, ihr, ihr hallte das Echo von den Bergen wider, gefolgt von einem Rauschen, das wie Flügelschlagen klang.

Kazumaru blickte zum Himmel auf. Eine Schar seltsamer Wesen flog über sie hinweg. Sie hatten Flügel, Schnäbel und Krallen wie Vögel, waren aber mit roten Jacken und blauen Beinlingen bekleidet. Die Wesen deuteten auf Kazumaru und lachten. Eines von ihnen schwenkte ein Schwert in der einen Kralle, einen Bogen in der anderen.

»Das sind seine Waffen!«, rief Nobuto aus. »Das ist Ameyumi!«

»Dann ist Shigetomo tot«, sagte Sademasa. »Den Bogen hätte er niemals hergegeben, wenn er noch am Leben wäre.«

Später wusste Kazumaru nicht mehr, was Erinnerung und was Traum war. Sein Vater und seine kluge geistreiche Mutter hatten während der langen schneereichen Winter in Kumayama gerne und oft Go gespielt. Kazumaru war mit dem ruhigen Klacken der Steine auf dem Spielbrett groß geworden, ihrem Klappern in den Schalen aus Holz. An diesem Tag hatten sein Vater und er diese Laute gemeinsam vernommen. Sie waren weit vor den anderen geritten. Sein Vater übernahm immer gerne die Führung, und sein schwarzes Pferd war kraftvoll und lebhaft. Es war ein Geschenk von Fürst Kiyoyori, zu dessen Vasallen die Familie gehörte und auf dessen Befehl die Gruppe so weit nach Norden geritten war.

Sein Vater zügelte das Pferd, stieg ab und hob Kazumaru herunter. Das Pferd begann zu grasen. Sie streiften durchs hohe Gras und traten beinahe auf das Hirschkalb, das dort in einer Mulde lag. Kazumaru sah noch die dunklen Augen und die weichen Lippen, dann sprang das Kalb auf und lief davon. Er wusste, dass die anderen Männer es getötet hätten, wenn sie hier gewesen wären. Doch sein Vater lachte nur und ließ das Tier entkommen.

»Das ist Ameyumis Zeit nicht wert«, sagte er. Ameyumi war der Name seines gewaltigen Bogens, einem kostbaren Familienerbstück, das aus vielen Holzschichten mit feinster Bindung gefertigt war.

Sie schlichen auf die Bäume zu, zwischen denen die Laute hervordrangen. Kazumaru erinnerte sich noch, dass es ihm wie ein Spiel vorkam, lautlos durchs Gras zu pirschen, das so hoch war wie er selbst.

Dann blieb sein Vater plötzlich stehen und hielt die Luft an, als habe er etwas Erschreckendes entdeckt. Rasch nahm er Kazumaru hoch, und dabei sah er die Tengu, die unter den Bäumen Go spielten, sah die Flügel, die Gesichter mit den Schnäbeln, die Krallenhände.

Dann trug sein Vater ihn schnell zurück zu der Stelle, wo sie das Hirschkalb gefunden hatten. Kazumaru spürte den pochenden Herzschlag seines Vaters.

»Warte hier«, sagte er und legte seinen Sohn auf dem zerdrückten Gras nieder, wo das Hirschkalb gelegen hatte. »Sei wie das Kind des Hirschs. Rühr dich nicht.«

»Wohin gehst du?«

»Ich werde Go spielen«, antwortete sein Vater mit einem Lachen. »Wie oft bekommt man schon Gelegenheit, Go gegen Tengu zu spielen?«

Kazumaru wollte das nicht. Er hatte Geschichten über die Tengu gehört, Berggeister, die als gerissen und grausam galten. Doch sein Vater war furchtlos und folgte immer nur seinem eigenen Willen.

Später an jenem Tag fanden die Männer Shigetomos Leiche. Kazumaru wurde nicht erlaubt, sie zu sehen, doch er hörte das erschrockene Raunen und erinnerte sich an die scharfen Schnäbel und Krallen, als die Tengu über sie hinwegflogen. Sie haben mich gesehen, dachte er. Sie kennen mich.

Als sie nach Hause zurückkehrten, berichtete Sademasa, dass sein älterer Bruder von wilden Stämmen des Nordens getötet worden war. Doch wer ihn auch tatsächlich getötet haben mochte – Kazumaru jedenfalls wusste, dass sein Vater gestorben war, weil er mit den Tengu Go gespielt und dabei verloren hatte.

* * *

Die Nachricht vom Tod ihres Mannes stürzte Kazumarus Mutter in so tiefe Trauer, dass jeder fürchtete, sie würde nicht am Leben bleiben. Sademasa bat sie inständig, ihn zu heiraten, und erklärte, er wolle Kazumaru großziehen wie seinen eigenen Sohn. Auf einen heiligen ochsenköpfigen Talisman schwor Sademasa sogar einen Eid.

»Ihr beide erinnert mich nur immerzu an Shigetomo«, sagte sie. »Nein, ich muss mir das Haar scheren und Nonne werden. Ich muss mich so weit von Kumayama entfernen wie nur irgend möglich.« Sobald der Winter vorüber war, brach sie auf und sprach kaum Worte des Abschieds. Sie ermahnte Kazumaru nur, dass er seinem Onkel gehorchen solle.

Der Familie war von Fürst Kiyoyori eine kleine Parzelle Land zugesprochen worden, an jener Bergseite, die als Kumayama bekannt war. Diese Gegend bestand aus schroffen Felswänden und Tälern, in denen niemals die Sonne schien. Man hatte ein paar Reisfelder angelegt an den Ufern der Flüsse, die den Berg hinabrauschten, durch Wälder aus Zypressen und Sicheltannen, reich an Bären, Wölfen, Serauziegen, Hirschen und Wildschweinen, vorüber an Bambushainen, in denen Wachteln und Fasane nisteten. Von der Hauptstadt aus erreichte man Kumayama in sieben Tagen, von der Festung der Miboshi in Minatogura in vier Tagen.

Als die Jahre ins Land gingen, zeigte sich, dass Sademasa nicht daran gelegen war, seinen Schwur einzuhalten. Es gefiel ihm, Fürst von Kumayama zu sein, und er hatte nicht die Absicht, darauf zu verzichten. Die Macht, gepaart mit Unbehagen ob seiner eigenen Treulosigkeit, brachte seine gewalttätige Seite zum Vorschein. Er ging grob mit seinem Neffen um, unter dem Vorwand, ihn zum Krieger ausbilden zu wollen. Noch bevor Kazumaru zwölf Jahre alt wurde, hatte er verstanden, dass sein Onkel jeden Tag aufs Neue darüber enttäuscht war, dass sein Neffe noch unter den Lebenden weilte.

Einige von Sademasas Kriegern, allen voran ein gewisser Naganori, dessen Sohn ein Jahr älter war als Kazumaru, bedauerten zutiefst die gnadenlose Behandlung des einstigen Fürstensohns. Andere, wie Nobuto, bewunderten Sademasa für seine Grobheit und Gefühllosigkeit. Den anderen war es gleichgültig, vor allem nachdem Sademasa heiratete und eigenen Nachwuchs bekam. Man nahm ohnehin an, dass Kazumaru seine Jugend nicht überleben, geschweige denn sein Erbe antreten würde. Allerdings waren die meisten dann erstaunt darüber, dass er die grausame Behandlung in seiner Kindheit nicht nur überstand, sondern sogar daran zu wachsen schien. Denn er übte unermüdlich das Bogenschießen, und aus seiner Wut bildeten sich übermenschliche Kräfte heraus. Mit zwölf Jahren schon war er hoch aufgeschossen und konnte eine Sehne aufspannen und den Bogen handhaben wie ein erwachsener Mann. Dennoch war Kazumaru scheu und wild wie ein Wolf. Einzig Naganoris Sohn, der in seinem Initiationsritual den Namen »Nagatomo« erhielt, war sein Freund.

Er war auch der Einzige, von dem Kazumaru sich verabschiedete, als sein Onkel im Herbst von Kazumarus sechzehntem Lebensjahr verkündete, man werde gemeinsam in den Bergen auf die Jagd gehen.

»Wenn ich nicht zurückkomme«, sagte Kazumaru zu seinem Freund, »dann weißt du, dass er mich getötet hat. Nächstes Jahr würde ich volljährig sein, aber mein Onkel wird mir niemals die Nachfolge überlassen. Er ist viel zu besessen davon, Herr über Kumayama zu bleiben. Gewiss will er mich in den Wäldern umbringen.«

»Wenn ich dich doch nur begleiten könnte«, sagte Nagatomo. »Doch dein Onkel hat es ausdrücklich verboten.«

»Was nur bestätigt, dass meine Vermutung zutrifft«, erwiderte Kazumaru. »Aber selbst wenn er mich nicht töten sollte, werde ich nicht zurückkommen. Hier gibt es kein Leben für mich. Manchmal erinnere ich mich verschwommen daran, wie es früher war, als ich geliebt und bewundert wurde und nicht immerzu Angst hatte. Und am Tage träume ich manchmal davon, was geschehen wäre, wenn mein Vater nicht gestorben wäre, wenn meine Mutter mich nicht verlassen hätte, wenn die Männer hier mir die Treue gehalten hätten … aber es ist nun einmal so und nicht anders gekommen. Trauere nicht um mich. So kann ich nicht mehr leben. Jeden Tag bete ich, entfliehen zu können – und wenn das nur durch den Tod gelingen kann, dann soll es so sein.«

2Kazumaru/Shikanoko

Die Sommerstürme hatten nachgelassen, und von Tag zu Tag überzog das leuchtende Rot der Blätter größere Flächen der Berghänge. Die Hirschkälber dieses Jahres waren beinahe ausgewachsen, folgten jedoch noch immer ihren Müttern durch die lichtgesprenkelten Wälder.

Dort lebte ein berühmter alter Hirsch mit einem prachtvollen Geweih, das Sademasa schon lange begehrte. Jener Hirsch aber war schlau und vorsichtig und hatte sich bislang nie umzingeln lassen. Doch in diesem Jahr, verkündete Sademasa, werde er ihn erlegen.

Sademasa nahm seinen Neffen, seinen meistgeschätzten Diener Nobuto und einen weiteren Mann mit auf die Jagd. Sie gingen zu Fuß, denn das Gelände war selbst für die kletterkundigen Pferde, die für gewöhnlich an den unteren Hängen von Kumayama weideten, zu unwegsam. Die Männer lebten wie Waldbewohner, sammelten Nüsse und Beeren, erlegten Fasane und stellten Fallen für Hasen auf. Tag für Tag drangen die Männer weiter in die Wildnis vor, erhaschten ab und an einen Blick auf die begehrte Beute, verloren sie aber wieder aus den Augen, bis sie erneut auf Hufspuren in der weichen Erde oder die feste braune Losung stießen. Kazumaru erwartete, dass sein Onkel ungeduldig werden würde. Doch stattdessen war Sademasa so heiter, als würde er bald eine Bürde loswerden, die ihn schon lange belastete. Abends erzählten die Männer Geistergeschichten über Tengu und Berghexer und heranwachsende Jungen, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden waren. Kazumaru schwor sich selbst, dass er am Leben bleiben würde. Er wagte es kaum zu schlafen, sank aber immer wieder in eine Art Wachtraum, in dem er das Klacken von Go-Steinen hörte und die Adleraugen der Tengu vor sich sah.

Als die Männer eines Nachmittags den Gipfel eines steilen Felskliffs erreichten, stand der Hirsch vor ihnen. Sein Geweih schimmerte im Licht der Abendsonne am westlichen Himmel, seine Flanken hoben und senkten sich heftig von der Anstrengung des Aufstiegs. Die Männer keuchten. Ein Augenblick der Stille entstand. Sademasa und Kazumaru hatten ihren Bogen gespannt, die beiden anderen Männer zückten ihre Messer. Sademasa wies seinen Neffen an, nach links zu treten. Kazumaru wollte auch gerade seinen Bogen spannen und auf das Herz des Hirschs zielen. Das Tier starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Dann huschte sein Blick zu Sademasa. Kazumaru folgte der Bewegung mit den Augen. In diesem kurzen Augenblick sah er, dass sein Onkel auf ihn zielte, nicht auf den Hirsch. Der sprang jetzt vorwärts, um zu flüchten. Der Pfeil flog, der Hirsch prallte auf Kazumaru und riss ihn mit sich in den Abgrund.

Das Tier dämpfte Kazumarus Sturz. Als sie beide reglos dalagen, spürte Kazumaru das heftige Pochen des Herzens unter sich. Er hielt sich am Geweih des Hirschs fest, stand auf und griff nach seinem Messer. Das Tier war schwerverletzt, seine Läufe waren gebrochen. Mit starrem Blick sah es ihn an. Kazumaru sprach ein kurzes Gebet. Dann schnitt er dem Hirsch die Kehle durch, und heißes Blut sprudelte heraus, während das Tier verendete.

Dichte Sträucher verbargen Kazumaru vor Blicken von oben. Er hörte die Rufe der Männer, gab aber keinen Laut von sich. Ob sein Onkel das prächtige Geweih so sehr begehrte, dass er Kazumaru folgen würde, wusste er nicht. Doch von dem hohen Felsen konnte man nicht herabklettern, nur springen oder fallen. Als es schließlich still wurde oben, schleifte Kazumaru den Hirsch mit sich, so weit er konnte, und entdeckte schließlich eine kleine Höhle unter einem Felsvorsprung, in der sich trockene Blätter angesammelt hatten. Kazumaru legte sich hin, umschlang das tote Tier und löschte seinen Durst mit dem warmen Blut. Dabei sah er die Szene auf dem Felsen erneut vor sich. Mühelos hätte Kazumaru sich einreden können, es sei ein Unfall gewesen, fand es jedoch wichtig, die Wahrheit zu kennen. Sein Onkel hatte auf ihn gezielt, doch der Pfeil hatte den Hirsch getroffen. Das Tier hatte Kazumaru das Leben gerettet. Und dann erlebte er im Geiste den Sturz aufs Neue. Seine Hand hatte den Bogen umklammert, als könne der ihn auffangen. Kazumaru war zu jung, um seiner Sterblichkeit ins Auge zu blicken, und doch hatte er ungläubig gefürchtet, dass er nun sterben werde.

In der Nacht spürte er die wilden Tiere, die umherschlichen, angelockt vom Geruch des frischen Blutes. Er hörte das Tappen von Pfoten, das Rascheln von Blättern. Zahllose Sterne funkelten in der Dunkelheit, und der Himmelsfluss leuchtete milchig weiß.

Im Morgengrauen war der Kadaver des Hirschs kalt geworden. Kazumaru zog ihn auf die Lichtung und begann, ihn zu häuten. Sorgsam schnitt er das Geweih mitsamt der Schädeldecke heraus und fand es schmerzlich, wie schnell das Leben aus den Augen des Tiers gewichen war. Dennoch war er erfüllt von Dankbarkeit.

Mit scharfen Steinen schabte er das Fleisch von der Haut. Am Vormittag erreichten die Sonnenstrahlen das Tal, und eine Zeitlang wurde es heiß. Nachmittags schnitt Kazumaru das Fleisch von der Keule des Hirschs in dünne Streifen, damit sie schnell trockneten, und fädelte sie, durch Blätter getrennt, auf einen Stab, den er sich aus Eichenholz geschnitzt hatte. Den Rest des Kadavers überließ er Füchsen und Wölfen und machte sich auf Richtung Norden.

Er nutzte vor allem die Nacht für den Marsch; der Mond nahm zu und brachte den ersten Frost mit sich. Um die Mittagszeit schlief Kazumaru ein wenig, nachdem er die Haut des Hirschs mit Wasser und seinem eigenen Harn weicher gemacht und zum Trocknen ausgelegt hatte. Er begegnete keinem einzigen Menschen, doch am dritten Tag merkte er, dass ein Tier ihm folgte. Hinter sich hörte er Rascheln und das Tappen von Pfoten und sah grün leuchtende Augen. Mehrmals spannte er den Bogen, doch dann verschwanden die grünen Augen jedes Mal, und Kazumaru schoss nicht, weil er im Dunkeln keinen Pfeil einbüßen wollte.

Das Tier schien ihn zu leiten, oder vielleicht eher zu treiben, dachte er unbehaglich. Ab und an glaubte er, es sei verschwunden, doch bei Einbruch der Dämmerung erschien es von neuem. Einmal bekam er es kurz zu Gesicht und erkannte an Größe und Farbe, dass es ein Wolf war, wohl angelockt vom Geruch des Fleisches und der Hirschhaut. Die Jäger hatten den Hirsch verfolgt bis zu dessen Erschöpfung, und nun tat dieser Wolf dasselbe mit Kazumaru. Tiefer und tiefer in die Wälder wurde er getrieben, und wenn er erschöpft und vor Hunger geschwächt wäre, würde der Wolf ihm an die Kehle springen. Kazumaru versuchte, ihn zu überlisten, indem er sich schlafend stellte und dann lautlos aufstand und eine andere Richtung einschlug. Doch der Wolf schien seine Absichten bereits zu kennen, und unversehens leuchteten die grünen Augen erneut in der Dunkelheit.

Eines Morgens in der Dämmerung rastete Kazumaru an einem Bach, der aus einer Quelle weiter oben am Berg entsprang und durch eine Lichtung floss. Den Rest des Trockenfleischs hatte Kazumaru am Vortag verzehrt. Im Gras war ein Pfad niedergetrampelt, der zum Ufer führte, und Kazumaru sah, dass das Gewässer Hirschen, Füchsen und Wölfen als Tränke diente. Hastig löschte er seinen Durst, indem er Wasser aus der hohlen Hand schlürfte. Dann suchte er sich ein gegen den Wind gerichtetes Versteck, den Bogen in der Hand.

Er musste wohl eingedöst sein, denn eine plötzliche Bewegung weckte ihn. Was er sah, war ein Bild wie aus einem Traum. Zwei Tiere staksten nebeneinanderher, einander zugewandt, und trugen gemeinsam etwas im Maul. Ihr Gang war seltsam steif, als seien sie nicht lebendig. Die Köpfe waren mit Lack überzogene knöcherne Schädel, die Augen schimmernde Lapislazulisplitter. Die Haut umspannte kein Fleisch, sondern schien mit Stroh und Zweigen angefüllt zu sein. Als Kazumaru ein durchdringender Geruch nach beißendem Rauch und Verwesung in die Nase stieg, wurde ihm übel, und sein Magen hob sich.

Die beiden Wesen kamen näher, und Kazumaru konnte sehen, dass sie einen Wasserkrug mit zwei Griffen festhielten. Dann traten die seltsamen Wesen in die flache Senke und tauchten den Krug in das strömende Gewässer. Als er gefüllt war, machten sie kehrt und trugen ihn den Pfad entlang, wobei sie ab und an stolperten und Wasser verschütteten.

Kazumaru folgte den Kreaturen wie im Traum, widerstandslos, doch nicht ohne Furcht. Er spürte das Pulsieren seines Bluts in Kopf und Brustkorb, weil er wusste, dass er sich der Behausung eines Berghexers näherte. Die Begleiter seines Onkels hatten davon erzählt. Kazumaru wäre gern geflüchtet, wurde aber nicht nur von seiner eigenen Neugier und von seinem Hunger vorwärtsgetrieben, sondern auch von dem Wolf, der jetzt deutlich sichtbar hinter ihm hertrabte.

Ein Felsen ähnelte einem Bären, ein gespaltener Baumstumpf schien Hasenohren zu haben. Als Kazumaru sich einer kleinen Hütte unter einem Kaiserbaum näherte, ließen sich die Figuren aus Stein oder Holz ringsum besser erkennen: Einige hatten lackierte Schädel wie die beiden anderen Wesen, waren mit Häuten behängt oder mit Geweihen versehen. Es gab künstliche Eulen, Adler und Kraniche mit Gefieder und Fledermäuse mit ledrigen Flügeln.

Das Dach der Hütte war mit Knochen gedeckt, die Wände mit Tierhäuten bespannt. Aus einem Eimer am Eingang stieg durchdringender Harngeruch auf. Damit macht er wohl die Tierhäute geschmeidig, dachte Kazumaru in irgendeinem entlegenen Winkel seines Gehirns. Auch er selbst hatte die Hirschhaut mit Harn weicher gemacht. Zwei echte kleine Füchse zankten in der Nähe um einen toten Hasen. Der Wolf hockte sich hechelnd hin, und die beiden Wesen mit dem Krug blieben vor der Hütte stehen und winselten. Nach wenigen Sekunden kam der Hexer heraus. Er nahm den Wesen den Krug ab und befahl ihnen mit einer Geste, sich zu setzen, als seien sie Hunde. Die Haut des Hexers sah wie gegerbtes Leder aus, seine langen Haare und sein dünner Bart waren schwarz ohne jede Spur von Grau. Der Mann wirkte alt und jung zugleich, und seine Bewegungen waren so geschmeidig und kraftvoll wie die eines Tiers. Doch als er zu Kazumaru sprach, war seine Stimme menschlich.

»Willkommen zu Hause. Du bist also zurückgekehrt zu Shisoku.«

»War ich schon einmal hier?«, fragte Kazumaru. Der Wolf hinter ihm heulte.

»In diesem oder einem anderen Leben.«

Und vielleicht war es so. Wer wusste schon, wo die Seele umherstreifte, während der Körper schlief? Vielleicht war sie so fremd und vertraut zugleich wie Träume.

»Hast du die Schulterblätter mitgebracht?«, fragte der Mann namens Shisoku unvermittelt.

»Nein, ich –«, begann Kazumaru, doch der Hexer fiel ihm ins Wort.

»Einerlei. Sie werden eines Tages wiederauftauchen. Gib mir das Geweih. Wir haben noch Zeit.«

»Wofür?«

»Um das Kind des Hirschs aus dir zu machen. Deshalb bist du hier.«

»Was bedeutet das?«

»Dein Leben gehört dir nicht. Du wirst in dem einen Leben sterben und in einem anderen neu beginnen, um zu dem zu werden, der zu sein, du bestimmt bist.«

Kazumaru fuhr herum und wollte weglaufen, doch der Hexer sagte erst etwas in einer fremden Sprache und fügte dann hinzu: »Du wirst bleiben!« Die Worte umschlossen Kazumaru wie Gitter. Knochige Hände schienen seine Arme zu ergreifen, obwohl der Hexer ein Stück entfernt von ihm stand. Langsam ging er rückwärts, und Kazumaru folgte ihm willenlos in die Hütte.

* * *

Er konnte nicht ermessen, ob er sich in einer Behausung, einer Werkstatt oder einem Schrein befand. Der Geruch von Lack, Kampfer und Räucherwerk war durchdringend, überdeckte jedoch nicht den Gestank von Verwesung. Ein Eisenkessel hing über einem Feuer, in dem ein obskures Gebräu blubberte. Auf einer rußgeschwärzten Werkbank lagen Schnitzgeräte und Pinsel. Der Boden bestand aus festgetretener Erde, doch an einem Ende der Hütte waren Teppiche und Kissen vor einer Art Altar ausgebreitet, der von leuchtenden Kerzen und Lämpchen umgeben war. Auf dem Altar und daneben standen Statuen von Gottheiten mit lackierten Gesichtern, und an den Wänden hingen zahlreiche Masken und Tierköpfe mitsamt Fell. Kazumaru entdeckte auch zwei menschliche Totenschädel, und er verstand, dass er sich jetzt an einem jener Orte befand, wo die Welten ineinanderfließen; ähnlich jenem Ort, an dem sein Vater mit den Tengu Go gespielt hatte und der immer wieder bedrohlich in Kazumarus Kindheitsträumen erschienen war. Er begann zu zittern, aber es gab kein Entkommen. Draußen war die Hütte umzingelt von echten und zauberischen Tieren, im Inneren befand sich der Hexer.

Ohne sich zu erinnern, wie das geschehen war, lag Kazumaru unversehens nackt vor dem Altar, nur bedeckt von der Haut des Hirschs und wie jener mit Todesfurcht in den Augen. Shisoku verabreichte dem Jungen einen Trank aus Pilzen und Kiefernnadeln, gemischt mit Lack und Zinnober, der für gewöhnlich jeden Mann getötet hätte. Kazumaru dagegen sank in eine tiefe Trance, und die Zeit blieb stehen.

Er beobachtete, wie der Hexer das Geweih mit der Schädeldecke in eine Maske verwandelte und dabei ein geheimnisvolles Sutra sang, das Kazumaru noch nie zuvor gehört hatte. Nach und nach wich der Tag der Nacht. Draußen hörte man Tiere rumoren und rufen. Kazumaru schien es, als lege sich eine Frau zu ihm, und er fürchtete sich, denn er hatte sich noch nie mit einer Frau vereint. Den wissenden Blicken der Mädchen in Kumayama war er stets ausgewichen. Er misstraute dem, was sie anzubieten hatten, scheute die Verletzungen, die Menschen einander antun. Doch diese Frau brachte ihn dazu, mit ihr eins zu werden, viele Male in dieser Nacht und den kommenden Nächten, und seine Schreie klangen wie die Rufe der Tiere. Er wusste, dass sein Körper, seine Kraft, seine Männlichkeit gegen seinen Willen für Zwecke benutzt wurden, die er nicht verstand. Dennoch strömte seine eigene Lust, um der ihren zu begegnen.

Des Tags lag er nur da, unfähig, sich zu rühren, und sah zu, wie Shisoku die Maske Schicht um Schicht mit Lacken und den roten und weißen Flüssigkeiten der beiden Liebenden bemalte. Jede Schicht ließ der Hexer trocknen, indem er die Maske durch die Schwaden des Räucherwerks schwenkte und dazu jedes Mal einen anderen Zauber sang. Lippen und eine Zunge aus Leder, bemalt mit Zinnober, gestaltete der Hexer. Er höhlte Kuhlen für die Augen aus und versah sie mit schwarzen Wimpern aus Frauenhaar. Das Geweih polierte er, bis es schimmerte wie Obsidianstein. Der Mond nahm zu, wurde voll und nahm wieder ab, bis er verschwand. Beim nächsten Halbmond war die Maske vollendet.

Shisoku setzte die Maske auf Kazumarus Gesicht, und sie fügte sich an wie ein Handschuh an eine Hand. Kazumaru fühlte, wie ihn die Kraft des Hirschs und die uralte Weisheit der Wälder durchdrangen. Die Frau kam ein letztes Mal zu ihm, und seine Schreie klangen wie das Röhren des Hirschs im Herbst. Zärtlich hielt sie ihn umschlungen und flüsterte: »Nun lautet dein Name Shikanoko – Kind des Hirschs.« Eine entfernte Erinnerung durchwehte ihn – ein Hirschkalb, die Stimme seines Vaters –, und er wusste, dass er niemals einen anderen Namen annehmen würde. Dann sank er in einen tiefen Schlaf. Als er erwachte, war er wieder bekleidet, die Frau blieb verschwunden, und die Hirschmaske lag in einer Brokattasche aus sieben Schichten, die auf dem Altar stand. Es schien kaum glaubhaft, dass die Maske in eine solche Tasche passte. Doch auch das hatte Shisoku mit einem der vielen Zauber bewirkt.

* * *

Shisoku wandte seine Zauberkünste recht lässig und planlos an. Wenn er eine vage Geste Richtung Feuer machte, loderte es siebenmal von zehnmal auf, schwelte aber die anderen drei Male trotzig vor sich hin. Die echten Füchse und Wölfe traten ab und an in Erscheinung, wenn der Hexer sie zu sich befahl. Meist aber lebten sie in ihrer Wildnis, als weile Shisoku gar nicht unter ihnen. Die künstlichen Tierwesen erledigten manchmal, was von ihnen verlangt wurde. Aber zerbrochene Krüge am Bachufer ließen darauf schließen, wie oft die Wesen gescheitert waren. Das Holz fürs Feuer sammelte Shikanoko, und als der Winter andauerte, ging er auf die Jagd, damit sie etwas zu essen hatten. Er schnitzte neue Pfeile und befiederte sie mit Adlerfedern. Doch obwohl er viele Hirsche entdeckte und ihnen auf der Spur blieb, tötete er niemals einen von ihnen.

Shisoku aß wenig und brachte seine Tage damit zu, Tiere zu rupfen und ihnen die Haut abzuziehen, Federbalge und Häute mit Kampfer und Wilder Raute zu behandeln, Knochen und Schädel auszukochen, damit die letzten Fleischreste getilgt wurden. Dann erschuf er die toten Tiere nach und nach aufs Neue, als wäre er eine Art Schöpfergeist. Er stopfte die Häute mit Lehm und Stroh aus, fertigte aus Bambus und Schnüren Gerüste an, um die Skelette zu stützen. Seine Kreationen standen nebeneinander unter dem Dachrand, während der Schnee an ihnen vorüberwehte. Viele Wochen lang wurden sie durch die Kälte konserviert, doch mit dem Frühling kehrten auch die Insekten zurück. Aus Larven schlüpften Raupen, und die meisten der künstlichen Wesen waren so voller Getier, dass sie verbrannt werden mussten. Nur zwei überstanden alles, durch Glück, Geschick oder Magie, und wurden in Shisokus Sammlung eingereiht.

Dann schmolz der Schnee auf den Gipfeln der Berge, und der Bach schwoll so stark an, dass er beinahe die Hütte erreichte. Als das Hochwasser nachließ, war die Lichtung von Gräsern und Wildblumen bedeckt. Jeden Abend setzte der Hexer Shikanoko die Maske auf und lehrte ihn den Tanz der Hirsche.

»Dieser Tanz offenbart die Geheimnisse der Wälder und setzt ihren Segen frei. Es ist ein kraftvolles Bindeglied zwischen den drei Welten: der Welt der Tiere, der Welt der Menschen, der Welt der Geister. Wenn du den Tanz beherrschst, wird dir durch die Maske Wissen zufließen. Du wirst um alle Ereignisse der Welt wissen, wirst die Zukunft in Träumen sehen, und all deine Wünsche werden in Erfüllung gehen.«

Die Bewegungen des Tanzes erweckten etwas in Shikanoko, das er fürchtete und zugleich begehrte. Doch er dachte sich, dieses Gefühl sei wohl ebenso wenig verlässlich wie Shisokus Zauberei, und glaubte nicht recht daran.

* * *

Gleich nach dem Vollmond der Tagundnachtgleiche kam eine Schar von zehn Reitern auf die Lichtung.

»Das ist der König des Berges, Akuzenji«, sagte Shisoku, den das nicht weiter zu beunruhigen schien.

Shikanoko griff dennoch nach seinem Bogen. Die Frau, die mit diesen Männern ritt, war eindeutig dieselbe Frau, die Shikanoko bei seiner Mannwerdung und der Entstehung der Maske begleitet hatte, ließ es sich aber nicht anmerken. Shikanoko verlangte danach, mehr über die Frau zu erfahren, doch er fühlte sich auch scheu. Obwohl er ihr hundert Fragen hätte stellen wollen, fand er nicht einmal die Worte für eine einzige.

Akuzenji stieg vom Pferd, gab einen Strahl Harn in den Eimer am Eingang der Hütte und sagte: »Mein Beitrag zu Eurer Arbeit. Gewiss hat mein Harn zauberische Kräfte.« Der König des Berges war ein breitschultriger, vierschrötiger Mann mit wirrem Haar und Bart. Akuzenji trug eine abgewetzte Rüstung aus Lederplatten, die mit ausgebleichten grünen Schnüren verbunden waren, und hatte ein gewaltiges Schwert an der Seite. Beides sah aus, als habe er es einem Krieger geraubt. Zu Shisoku sagte der König des Berges: »Ich wollte mich nur davon überzeugen, dass Ihr den Schatz wohlbehütet, den ich Euch anvertraut habe.«

»Ich schütze ihn mit einem Bann«, antwortete Shisoku. »Soll ich ihn auflösen?«

»Noch nicht. Die Geschäfte sind gut, ich brauche ihn jetzt noch nicht. Aber ich möchte ihn gerne sehen.«

Shisoku nickte lässig, ließ den König in die Hütte ein und folgte ihm, während die anderen Männer vom Pferd stiegen, auch in den Eimer urinierten und sich dann ans Feuer hockten. Nach einer Weile kam Akuzenji aus der Hütte, ein zufriedenes Grinsen auf dem Gesicht, und schlenderte auf Shikanoko zu.

»Und wer magst du wohl sein?«

»Früher war ich Kumayama no Kazumaru. Aber jetzt heiße ich Shikanoko.«

»Der Junge, der letztes Jahr vom Berg gestürzt ist? Man wähnte dich tot.«

»Ich kam hierher, und der Hexer hat sich meiner angenommen.«

»Ach ja?« Akuzenjis listige schwarze Augen erfassten den Bogen und die gefiederten Pfeile. »Ob dein Onkel wohl ein Lösegeld für dich herausrücken würde?«

»Er würde wohl eher für die Nachricht von meinem Tod bezahlen«, erwiderte Shikanoko und überlegte dann, ob er den König des Berges damit gerade eingeladen hatte, ihn umzubringen.

»Und wie sieht es mit Fürst Kiyoyori aus? Er ist doch dein Lehnsherr, nicht wahr? Würde er etwas für dich bezahlen?«

»Das glaube ich nicht«, sagte Shikanoko. »Von welchem Nutzen soll ich für ihn sein?«

»Ein Pfand kann vielerlei Nutzen haben, solange es am Leben ist«, sprach die Frau.

Sie war es – Shikanoko erkannte ihre Stimme. Er spürte sowohl Zorn und Furcht in sich, weil sie und Shisoku ihn benutzt hatten, empfand jedoch auch Verlangen nach dieser innigen Nähe, als ihre Körper sich vereinigt hatten und ein Ding von großer Schönheit und Magie entstanden war.

Akuzenji runzelte die Stirn, kratzte sich am Kopf und musterte Shikanoko prüfend. »Wie alt bist du?«, fragte er.

»Im neuen Jahr wurde ich sechzehn.«

»Kannst du mit diesem Bogen umgehen?«

»Ja, das kann ich, aber ich werde damit keine Hirsche töten.«

»Aber Männer?«

»Ich habe nichts dagegen, Männer zu töten«, antwortete Shikanoko.

»Dann werde ich dein Haar hochbinden, und du kannst mir Treue schwören und mit uns ziehen.«

Sollte er gehen oder bleiben? Shikanoko suchte den Blick des Hexers, doch der sah ihn nicht an.

So hatte sich Shikanoko seinen Treueschwur als Krieger nicht vorgestellt. Er hatte immer geglaubt, er werde vor Kiyoyori, dem Fürsten von Kuromori, knien, im Beisein des Onkels und der anderen Krieger. Stattdessen stand Shikanoko nun auf einer Waldlichtung, Rauch biss ihm in die Augen, und er gelobte einem räuberischen Bergkönig den Eid, umgeben von lebenden und künstlichen Tieren. Als das Ritual vollzogen war, steckte Shikanoku einige Pfeile in seinen Köcher, band den Rest seiner Habseligkeiten in ein Bündel und nahm seinen Bogen. Der Hexer verschwand in der Hütte, kehrte mit der Brokattasche, in der die Maske ruhte, zurück und reichte die Tasche Shikanoko.

Die Frau nahm Säcke voll Getreide, Reis, Hirse und Bohnenpaste von einem der Pferde und trug sie in die Hütte. Die Männer suchten sich brauchbare Häute und Federn aus. Akuzenji beäugte die Brokattasche.

»Was ist das?«

Shisoku antwortete nicht.

»Zeig her«, verlangte Akuzenji, und nach kurzem Zögern nahm Shikanoko die Maske aus der Tasche und hielt sie hoch.

Akuzenji wich unwillkürlich einen Schritt zurück, stumm und zornig. Als er die Sprache wiederfand, sagte er zu Shisoku: »Ein solches Ding wollte ich seit jeher von Euch haben. Wann werde ich es endlich bekommen? Seit Jahren schon bitte ich Euch darum. Ich will einen Zauberschädel, der mir alles kündet. Und Ihr kennt das geheime Handwerk und die Rituale. Wieso versagt Ihr mir das?«

»Ich bin es nicht, der Euch etwas versagt«, murmelte der Hexer, aber Akuzenji war in Rage.

»Ich habe Euch zahllose Schädel gebracht, gewiss mehr als jeder andere. Was hat dieser Junge Euch übergeben? Wieso habt Ihr ihn bevorzugt?«

»Er kam zur rechten Zeit«, antwortete Shisoku. »Tut mir leid.«

»Und wann ist die rechte Zeit?«

»Die rechte Zeit ist dann, wenn die Zeit recht ist. Die Schädel, die Ihr mir bringt, sind wertlos – sie stammen von dummen Bauern oder zügellosen Verbrechern oder Kriegsherren, die in Blut waten. Bringt mir den Schädel eines Weisen oder eines klugen Geistlichen, den Schädel eines Asketen oder eines mächtigen Königs.«

»So etwas hat dieser Junge Euch gebracht?« Akuzenji war fassungslos. »Wie denn nur?«

»Er ist Shikanoko, das Kind des Hirsches. Was der Junge mir gebracht hat, war nur für ihn bestimmt.«

Akuzenji schob die Unterlippe vor und kniff die Augen zusammen. »Und was wäre, wenn ich Euch den Schädel von Kiyoyori brächte?«

»Kiyoyori ist zweifellos ein großer Mann«, antwortete Shisoku. »Doch er wird nicht zulassen, dass du seinen Schädel erbeutest.«

Die Frau erhob wieder die Stimme. »Kiyoyoris Schädel ist nicht geeignet für Euch, Akuzenji. Wenn Ihr Euch den beschaffen wollt, werdet Ihr Euren eigenen verlieren.«

Shisoku und die Frau warfen sich einen kurzen Blick zu, verknüpft mit einem flüchtigen Lächeln, und Shikanoko schauderte, als er die geheimen Welten erahnte, in denen diese beiden sich bewegten und an denen er nun auch Anteil hatte.

Er kniete zum Dank vor dem Hexer, der jedoch nur lächelte und eine wegwerfende Handbewegung machte.

Shikanoko blickte noch einmal zurück, als sie losritten. Einer der Wölfe stand vor der Hütte, und die Hand des Hexers ruhte auf seinem Kopf.

Der Reiter neben Shikanoko lachte. »Der alte Vierbeiner! Hast du ein paar nützliche Kniffe von ihm gelernt?« Der Mann ließ vier Finger vor Shikanokos Gesicht zappeln. »Hat er dich auch in einen Vierbeiner verwandelt?«

Ein Blitz zuckte auf, ein krachender Donnerschlag folgte. Eine Kiefer am Weg borst entzwei, und Rauch vernebelte die Luft. Die Pferde bäumten sich auf und scheuten so heftig, dass sie ihre Reiter beinahe abwarfen.

»Wartet lieber, bis Ihr weit entfernt seid, wenn Ihr etwas Schlechtes über den Hexer sagen wollt«, sagte die Frau leise.

Der Mann sah betroffen aus, und Shikanoko freute sich, dass Shisokus Zauberei diesmal wirksam gewesen war. Er ritt hinter der Frau und spürte dabei, dass er sie so oft in Armen gehalten hatte, dass sie gemeinsam die Maske erschaffen hatten. Doch gleichzeitig konnte er nicht verstehen, wie das möglich gewesen war. Wie hatte die Frau Nacht für Nacht einen so weiten Weg zurücklegen können? Besaß sie Zauberkräfte, oder hatte er sich mit einer Geisterfrau vereint, die Shisoku herbeigerufen hatte? War er einer Dämonin erlegen?

3Kiyoyori

Fürst Kiyoyori war mit seinen achtundzwanzig Lebensjahren in jenem Alter, in dem Männer den Höhepunkt ihrer körperlichen und geistigen Kräfte erreichen. Er entstammte dem Clan der Kakizuki, dessen Name vom khakiroten Herbstmond herrührte. Der Urvater des Clans war Sohn eines Kaisers gewesen, der sich von seiner kaiserlichen Abkunft losgesagt und einen bürgerlichen Namen angenommen hatte. Die Söhne und Enkel waren wohlhabende erfolgreiche Staatsmänner, begabte Dichter und starke Krieger geworden, während die Enkelinnen zu guten Ehefrauen und Müttern von Kaisern heranwuchsen.

Obwohl Kiyoyoris Familie aus jüngeren Söhnen von jüngeren Söhnen bestand und damit in Rang und Ansehen nicht so hochstehend war, hatte Kiyomasa, der Vater des Fürsten Kiyoyori, immer höchste Achtung vor seinem Namen gehabt und sich stets bemüht, ihm Würde angedeihen zu lassen. Kiyomasa hatte großen Wert darauf gelegt, seine Söhne zu exzellenten Kriegern auszubilden, die den Umgang mit Pferd, Bogen und Schwert beherrschten und ihrem Vater bedingungslos gehorchten.

Kiyomasa hielt sich häufig in der Hauptstadt Miyako auf und war immer auf dem Laufenden über Ereignisse und Intrigen bei Hofe. Der Kakizuki-Clan hatte viele bedeutungsvolle Posten inne. Doch das galt auch für die Widersacher der Familie, den Clan der Miboshi, die ebenfalls kaiserlicher Abkunft waren. Kiyoyoris Großmutter war eine Miboshi gewesen, denn in friedlicheren Zeiten hatten die beiden bedeutenden Familien untereinander geheiratet. Doch in jüngster Zeit war die Beziehung zwischen den beiden Clans weitaus weniger freundlich.

Seit vielen Jahren schlugen die Miboshi die Schlachten des Kaisers der acht Inseln, sowohl im Osten als auch im Norden des Landes. Sie errangen die Herrschaft über andere Clans und unterwarfen barbarische Stämme. Fürst Aritomo, das Oberhaupt des Miboshi-Clans, residierte in Minatogura im Osten, doch viele seiner Krieger ließen sich in Miyako nieder und verlangten für ihre Dienste Belohnung in Form von Staatsämtern, höheren Rängen und Land.

Doch von alldem war nicht genügend vorhanden.

Kriegerfamilien, die über Intrigen am Kaiserhof und der Regierung im Bilde waren, wetteiferten miteinander um Macht und Einfluss. Kiyomasa versuchte, seine Söhne taktisch klug zu verheiraten, und Kiyoyori ehelichte mit siebzehn eine Frau aus Maruyama im Westen, deren Vater eine Beraterstellung in der Kakizuki-Regierung innehatte. Die Ehe war glücklich, ein Kind wurde geboren und dann ein zweites, doch dieses Kind raubte der Mutter das Leben und folgte ihr über den Fluss des Todes. Kiyoyori war außer sich vor Trauer, denn er hatte seine Frau sehr geliebt und konnte sich nicht vorstellen, ihren Verlust jemals zu verkraften. Sein einziger Trost war das erste Kind, eine Tochter, deren Kosename Hina lautete.

Kiyoyoris jüngerer Bruder Masachika war ebenfalls eine vorteilhafte Ehe eingegangen mit der Tochter eines Nachbarn. Dieser nannte ein ganzes Tal sein Eigen, Matsutani, das Tal der Kiefern. Fürst Matsutanis Sohn sollte den Grundbesitz dereinst erben, doch am Tag nach der Hochzeit seiner Schwester versuchte der junge Mann, auf dem Heimweg mit seinem Pferd den reißenden Fluss zu durchqueren, wurde mitgerissen und ertrank. Andere Erben gab es nicht, und es sah aus, als würde das gesamte Vermögen an Masachikas neue Frau fallen. Masachika vermutete nun, dass sein Schwiegervater ihn adoptieren werde, so dass er um vieles reicher und vermögender sein würde als sein älterer Bruder.

Doch sein eigener Vater hatte andere Pläne, die er einige Monate nach dem Tod von Kiyoyoris Frau kundtat. Kiyoyori war zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig, Masachika neunzehn. Die Brüder wurden zu einem Gespräch in einem Geheimzimmer im Haus in Kuromori einbestellt, dem aus Holz erbauten festungsartigen Anwesen. Es befand sich in uneinnehmbarer Position auf einem Berg, umgeben vom Schwarzen Wald, der dem Anwesen seinen Namen gegeben hatte. Es gab diverse geheime Räume im Haus; das Treffen fand im wärmsten von ihnen statt, der nach Süden ausgerichtet war. Aus diesem Grunde vielleicht wohnte dort ein Mann unbestimmbaren Alters mit unscheinbarem Äußeren, der als großer Gelehrter galt. Er brachte viel Zeit mit dem Studieren zu, und der Raum war angefüllt mit Schriftrollen und Handschriften in vielerlei Sprachen, die der Gelehrte aus allen acht Himmelsrichtungen zusammengetragen hatte. Der Mann trug einen mönchischen Namen, Sesshin, und manchmal hörte man ihn Gesänge intonieren. Niemand achtete weiter auf ihn, und Kiyoyori empfand seine Anwesenheit als angenehm beruhigend, wie die Nähe eines alten Hundes.

Es war ein regnerischer Herbsttag, Sturmböen fegten durchs Tal. Die Fensterläden waren geschlossen, und obwohl es noch früh am Nachmittag war, gab es kaum Licht im Raum. Der Gedanke an den nahenden Winter erfüllte Kiyoyori mit Schwermut. Die Traurigkeit, die er seit dem Tod seiner Frau empfand, konnte er nicht mehr abschütteln.

Er war draußen bei den Ställen gewesen, als sein Vater nach ihm gesandt hatte. Kiyoyori wollte Hina das Reiten beibringen und hatte mit Hilfe der Kinder des Anwesens Ausschau nach einem geeigneten Pony gehalten. Kurzfristig hatte Kiyoyori befürchtet, sein Vater wolle ihm eine neue Ehefrau vermitteln. Dann hätte Kiyoyori heiraten und einen Erben zeugen müssen, obwohl ihm derzeit viel eher der Sinn danach stand, sich den Kopf zu scheren und Mönch zu werden. Nur Hinas Dasein hatte ihn bislang von dieser Entscheidung abgehalten. Deshalb war Kiyoyori angespannt, als er sich bei seinem Vater einfand, und diese Stimmung verstärkte sich noch, während sie gemeinsam auf Masachika warteten. Die Läden klapperten, als der Sturm an ihnen zerrte und Regen aufs Dach prasselte. Der Vater blickte seinen Sohn immer wieder ungeduldig an und seufzte tief.

Schließlich erschien Masachika und entschuldigte sich wortreich für seine Unpünktlichkeit. Dabei wirkte er so erwartungsvoll, als würden sich nun in Kürze all seine Wünsche erfüllen.

Ihr Vater begann zu sprechen. »Ich weiß, dass ihr wie ich davon überzeugt seid, dass unser wichtigstes Ziel das Überleben unserer Familie und deren Zuwachs an Macht und Einfluss sein muss. Meiner Vermutung nach stehen uns äußerst gefährliche Zeiten bevor. Es gibt böse Omen in der Hauptstadt, und Weissager prophezeien Kriege und Wirrungen. Unser Besitz ist zu klein, um uns viele Krieger zu ermöglichen, mit denen wir mehr Macht erlangen könnten. Nun gibt uns das Schicksal die Gelegenheit, uns mit den Matsutani zu verbinden.«

Masachika nickte, und ein kleines Lächeln erschien auf seinen wohlgeformten Lippen.

»Doch ich kann meinen ältesten Sohn, den ich sehr hochschätze, nicht enterben«, fuhr ihr Vater fort, »und den Besitz an den jüngeren Sohn zu geben, schafft Hader und Zwietracht. Deshalb habe ich entschieden, dass du, Masachika, auf deine Gattin verzichten und fortan bei unseren Miboshi-Verwandten in Minatogura leben wirst. Mein Cousin hat nur eine Tochter und hat eingewilligt, dich als Sohn zu adoptieren. Kiyoyori wird deine jetzige Ehefrau heiraten und beide Besitztümer erben. Ihr Vater ist damit einverstanden. Falls also Krieg zwischen den Kakizuki und den Miboshi ausbrechen sollte, wird in jedem Fall einer meiner Söhne unter den Siegern sein.«

Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen. Dann sagte Masachika, mühsam beherrscht: »Ich soll meine Ehefrau meinem Bruder überlassen? Ich soll sie und Matsutani zugleich verlieren?«

»Es besteht doch keine Notwendigkeit für solch eine drastische Entscheidung, Vater«, wandte Kiyoyori ein. »Lasst doch meinem Bruder seine Frau. Ich gebe den Anspruch auf beide Besitztümer auf. Ich möchte mich ohnehin von der Welt zurückziehen –«

»Sei doch kein Narr«, fauchte sein Vater. »Du bist mein ältester Sohn und mein Erbe. Glaubst du wahrhaftig, ich würde dir gestatten, dich selbst zu erniedrigen und Mönch zu werden? Ein Mann flieht nicht vor der Welt. Er erträgt sein Leid und erfüllt seine Pflichten. Deine Pflichten haben mir und deiner Familie zu gelten. Immerhin musst du auch an deine Tochter denken.«

Kiyoyori versuchte damals und auch später noch, seinen Vater davon abzuhalten, die beiden Brüder in solch endgültiger Weise zu Feinden zu machen. Mit vielen Beispielen aus der klassischen Literatur, bei denen Brüder sich gegenseitig und zugleich ganze Königreiche vernichtet hatten, bemühte sich Kiyoyori, den Vater umzustimmen. Doch Kiyomasa duldete keinerlei Widerspruch. Masachika musste seinen Zorn und seinen Abscheu verbergen und Kiyoyori seine Zweifel. Beiden blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.

Nachdem der jüngere Bruder nach Minatogura aufgebrochen war, sagte Kiyomasa zu Kiyoyori: »Ich bin sicher, du wirst den Besitz vermehren und verteidigen. Masachika wollte nur Nutznießer sein. Er hätte rasch alles verloren. Da der alte Matsutani das wohl weiß, hat er mir zugestimmt. Außerdem achten die Krieger dich mehr, und du weißt besser mit ihnen umzugehen.«

* * *

Es waren unruhige Zeiten voller Wirrungen und Machtkämpfe. Der Kaiser in der Hauptstadt war schwach, seine Söhne rivalisierten miteinander. Sein Schwager, der Fürstabt des Klosters Ryusonji, war der geheime Regent. Er unterstützte den jüngeren Sohn des Kaisers und intrigierte unermüdlich gegen den Kronprinzen.

In den Provinzen dehnten die Kakizuki im Westen und die Miboshi im Osten ihre Machtbereiche aus und versuchten, mehr Einfluss in der Hauptstadt zu erlangen. Kriegsherren schlugen Schlachten, um ihren Landbesitz zu vermehren. Mehr Land war gleichbedeutend mit mehr Kriegern, mit denen man sich dann wiederum mehr Land verschaffen konnte. Gefolgsleute, die auf ewig Treue schwören sollten, erwarteten auch Gegenleistung. Wenn sie sich schlecht behandelt oder missachtet fühlten, betrachteten sie sich nicht mehr als verpflichtet und ließen sich leicht von einem anderen Kriegsherrn weglocken, der ihnen mehr Respekt zollte und mehr Vorteile versprach.

* * *

Kiyoyori war wohl bewusst, dass niemand Masachikas einstige Ehefrau Tama gefragt hatte, ob sie mit der Entscheidung der Väter einverstanden war und was sie davon hielt. Tama gehorchte ihrem Vater ebenso widerstandslos wie die beiden Brüder dem ihren. Kiyoyori geduldete sich einige Wochen, um abzuwarten, ob Tama schwanger war. Danach näherte er sich ihr und fühlte sich dabei so schüchtern und unbeholfen wie ein Jüngling. Sie gab sich ihm pflichtschuldig hin, aber ohne Leidenschaft, und obwohl Kiyoyori ihr das nicht zum Vorwurf machen konnte, war doch sein Stolz gekränkt. Er hatte das Gefühl, dass sein jüngerer Bruder immer zwischen ihnen liegen würde. Auch Kiyoyoris Freude und Dankbarkeit, als Tama ihm einen Sohn gebar, konnte nichts an der Ferne zwischen ihnen ändern. Tama stillte das Kind selbst und nutzte das als Vorwand, um ihren Mann auf Abstand zu halten. Danach schliefen sie nur noch getrennt. Kiyoyori hatte vage Schuldgefühle Tama gegenüber und behandelte sie mit äußerster Höflichkeit, um die Abwesenheit von echter Wärme und Nähe zu kaschieren. Um Tamas willen zogen sie auch nach Matsutani, denn sie liebte das Anwesen ihrer Kindheit und setzte alle Kraft daran, es noch schöner zu gestalten und den Landbesitz zu vermehren. Kiyoyori brachte seine Pferde und Hunde mit, und es ergab sich, dass auch der alte Gelehrte mitsamt all seiner Schriften bei ihm blieb. Matsutani bot mehr Annehmlichkeiten, doch der Fürst von Kuromori fühlte sich dort nie heimisch. Sein wahres Zuhause blieb der Schwarze Wald.

In den folgenden Jahren verließen die Väter beider Familien diese Welt und überquerten den Fluss mit den drei Furten, um an diesen unterirdischen Ort voller Höhlen und Quellen zu gelangen, an dem sie vor die Richter der Hölle treten würden. Kiyoyori wurde, wie sein Vater vorhergesehen hatte, ein guter Anführer und ein mutiger scharfsinniger Mann. Zwar neigte er zum Jähzorn und handelte häufig vorschnell aus einem Gefühl heraus. Doch das trog ihn meist nicht, und sein Zorn, verbunden mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit, sorgte dafür, dass er ebenso gefürchtet wie bewundert wurde. Kiyoyoris Ruhm verbreitete sich. Er siegte in einigen kleinen, aber wohlüberlegten Gefechten, die seine Nachbarn und Konkurrenten im Zaum hielten und seinen eigenen Landbesitz nicht nur verteidigten, sondern vergrößerten. Die Verbindung von Kuromori und Matsutani schien unter einem guten Stern zu stehen. Einige glaubten, gutes Karma aus vergangenen Leben sei der Grund dafür; andere behaupteten, diese Ländereien seien durch kraftvolle Magie und Zauberwerk geschützt.

Im neunten Monat, als Kiyoyori eines Tages im Morgengrauen zu seinen Pferden reiten wollte, wie er es jeden Tag in Begleitung von zwei oder drei Gefolgsleuten oder jungen Knappen tat, fiel ihm auf, dass er seine Reitgerte nicht bei sich hatte. Er musste sie wohl irgendwo auf dem Anwesen vergessen haben. Zwar hätte er einen Diener zurückschicken können, doch da Kiyoyori nicht wusste, wo genau die Gerte war, beschloss er, sie selbst zu holen.

Er trat auf die breite Veranda und schob die Bambusblende hoch. Die Holzläden waren bereits geöffnet, da es ein schöner, warmer Tag zu werden versprach. Jemand war dort im Zimmer, und zuerst glaubte Kiyoyori, es sei einer der Dienstboten. Doch die Person verbeugte sich nicht und wich auch nicht respektvoll beiseite. Sie blieb vielmehr mit verschränkten Beinen am Boden sitzen, als beabsichtige sie einen längeren Aufenthalt, und sagte: »Da seid Ihr ja! Ich habe auf Euch gewartet.«

»Das hätte sehr lange dauern können«, erwiderte Kiyoyori, ohne auf den vertraulichen Tonfall einzugehen. Verschrobenen alten Männern konnte man ein paar Freiheiten zugestehen. »An einem schönen Tag wie diesem wäre ich vielleicht bis mittags ausgeritten.«

»Ich wusste, dass Ihr wegen dem hier zurückkommen würdet.« Die Gerte lag auf der runzligen Hand des alten Gelehrten.

»Seid bedankt, Meister Sesshin.« Kiyoyori trat vor, um die Gerte zu ergreifen, doch auf unerklärliche Weise landete sie plötzlich auf Sesshins anderer Handfläche. Kiyoyori war plötzlich hellwach. Er ging vor Sesshin auf die Knie und studierte dessen Gesicht. Unversehens wurde dem Fürsten bewusst, dass er den alten Burschen in all den Jahren, die sie gemeinsam unter einem Dach gelebt hatten, keines weiteren Blickes gewürdigt, sondern ihn eher gemieden hatte. Das ungepflegte Äußere und den Körpergeruch des Alten hatte Kiyoyori immer als unangenehm empfunden. Doch jetzt kam ihm der Gedanke, dass Sesshin sich vielleicht vorsätzlich getarnt hatte und es nun Kiyoyori zum ersten Mal gestattete, ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

Die Haut des Gelehrten war straff wie alte Seide über die Knochen gespannt. Die Augen blickten arglos, bargen jedoch eine unergründliche Tiefe. Sie hatten in Welten geblickt, von denen Kiyoyori nicht einmal in Träumen etwas ahnte und deren Mysterien er niemals erfassen würde.

Um sein Unbehagen zu verbergen, sagte er barsch: »Habt Ihr mir etwas zu sagen? Wenn Ihr mich sprechen wollt, wieso schickt Ihr mir dann keine Nachricht?«

Sesshin lachte; ein dürrer, knackender Laut, der an brennendes altes Holz erinnerte. »Ihr hättet mich vertröstet und wärt ausgeritten, und dann wäre es zu spät gewesen.«

»Was soll das bedeuten?«

»Es gibt einen Räuber namens Akuzenji. Er nennt sich ›König des Berges‹.«

»Ich weiß von Akuzenji und habe keinen Hader mit ihm. Solange er auf dem Berg bleibt, die Kaufleute nicht über die Maßen ausnimmt und sich seiner Gegner rasch entledigt, schadet er mir nicht. Ich verfüge nicht über genügend Männer, um die gesamte nördliche Bergstraße zu schützen. Akuzenji übernimmt für mich diese Arbeit, ohne dass ich ihn dafür bezahlen muss.«

»Jetzt wird er Euch einen hohen Preis abverlangen. Er hat es nämlich auf Euren Schädel abgesehen.«

Kiyoyori lachte. Die Vorstellung, dass ein Räuber es wagen könnte, ihn, den Fürsten von Kuromori, anzugreifen, fand er äußerst erheiternd. »Gebt mir meine Gerte, damit ich ausreiten kann.«

»Nun, wenn Ihr es vorzieht, meine Warnung zu missachten, so nehmt Euch wenigstens mehr Männer mit und seid auf der Hut. Sonst liegt Euer Kopf heute Abend in einem Kessel, damit das Fleisch verkocht, Euer Bruder wird noch vor dem nächsten Vollmond wieder über Matsutani herrschen, und Eure Kinder werden tot sein.«

»Hat mein Bruder sich mit Akuzenji verschworen? Wollt Ihr mir das mitteilen?«

»Verschwören ist vielleicht nicht das rechte Wort. Akuzenji hat nichts gegen Euch persönlich. Er ist einfach nur versessen auf den Schädel eines bedeutsamen Mannes. Der Bursche hat wenig Verstand. Er prahlt mit seinen Beutezügen, davor und danach. Zwar mag er Euch noch nie begegnet sein, aber er weiß, dass Ihr ein machtvoller Mann seid, weil Euer Ruhm sich Jahr für Jahr weiter verbreitet. Und Euer Bruder ist nur auf seinen eigenen Nutzen aus. Er betet um Euren Tod, bevor Euer Sohn erwachsen ist, damit alles wieder an Masachika zurückfällt, was Ihr ihm seiner Meinung nach geraubt habt.«

»Akuzenji will den Schädel eines berühmten Mannes? Für dunkles Zauberwerk?«

»Das vermute ich«, antwortete der Alte.

»Ich sollte ihm Euren Schädel anbieten!«

»Der wäre gewiss äußerst mächtig, wie alle Teile von mir. Doch zum Glück für mich weiß weder Akuzenji noch sonst wer von meinem Dasein. Und aus diesem Grund, Fürst Kiyoyori, ist mir sehr daran gelegen, Euch am Leben zu erhalten.«

»Woher wisst Ihr von alldem? Wer seid Ihr?«

»Wundert es Euch nicht, dass Ihr nicht schon längst auf die Idee kamt, Euch das zu fragen?«

»Ihr wart immer in meiner Nähe, von Anbeginn meiner Kindheit an«, sagte Kiyoyori langsam. »Ihr wart Teil des täglichen Lebens, wie eine Truhe oder ein Baum im Garten.« Wie ein Hund, hätte Kiyoyori auch sagen können, doch dann fiel ihm ein, dass die Hunde alle nach und nach gestorben waren, der Alte jedoch noch immer lebte.

»Kuromori wurde mein Zuhause, als Euer Großvater Fürst war. Wir waren Freunde, und er sorgte dafür, dass ich auch nach seinem Tod bleiben konnte. So blieb ich auch in der Zeit, in der Euer Vater lebte. Der Ort gefiel mir, und Matsutani sagt mir noch mehr zu, weil es bestens geeignet ist für meine Studien und meine Forschung. Im Gegenzug habe ich einige Rituale vollzogen, die für die Sicherheit und das Gedeihen Eures Besitzes gesorgt haben.«

»Und ich glaubte, meine harte Arbeit und gute Planung hätten das bewirkt!«

»Ihr hattet wohl Euren Anteil daran. Meine Bemühungen hätte ich nicht auf eine unwerte Person angewandt. Es gibt eine Grenze für die Wirkung von Magie.«

Kiyoyori blieb einige Augenblicke stumm. Draußen miaute ein Kätzchen, der Wind rauschte in den Kiefern, ein Pferd wieherte ungeduldig in den Ställen.

Sesshin sagte: »Ihr könnt es Euch nicht leisten, die nördliche Bergstraße zu schützen. Aber wenn Ihr Akuzenji und seine Räuber ausmerzen würdet, dann würden Euch die Kaufleute für ihre ungehinderten Reisen bezahlen.«

»Akuzenji ist so listig und schwer fassbar wie ein Wolf«, erwiderte Kiyoyori, »aber wenn er meinen Schädel so sehr begehrt, ließe der Mann sich vielleicht überrumpeln.«

»Tragt Rüstung unter Eurer Kleidung«, sagte Sesshin. »Und ein anderer soll als Lockvogel auf Eurem Pferd reiten. Tachiyama no Enryo zum Beispiel.«

»Enryo? Wieso denn er?«

»Er sendet Eurem Bruder in Minatogura gelegentlich Botschaften.«

»Aha?« Wieder schwieg Kiyoyori kurz. Dann sagte er: »Seine Frau ist eine enge Freundin meiner Frau. Die beiden sind schon seit ihrer Kindheit befreundet.« Stand Tama also in Verbindung mit ihrem ersten Mann, seinem Bruder? Kiyoyori spürte, wie Zorn in ihm aufstieg.

4Shikanoko

Shika, wie er von der Räuberbande genannt wurde, war weder glücklich noch unglücklich, während er in Diensten des Bergkönigs Akuzenji in dessen Feste lebte. Ab und an dachte Shika darüber nach, ob nun für den Rest seines Lebens alles so bleiben würde oder ob er nach Kumayama zurückkehren und seinen Onkel herausfordern sollte. Doch alles in allem erschien es Shika sinnvoller, dort in der alten Heimat alle im Glauben zu lassen, dass er tot sei.

Im Grunde wartete er tagtäglich darauf, was als Nächstes mit ihm geschehen werde. Akuzenji nannte sich »König des Berges«, ähnlich wie Piraten sich gerne selbst als Herren der Meere bezeichnen. Doch letztlich wurden die von den meisten Menschen nur als Seeräuber und Akuzenji nur als Räuberhauptmann betrachtet. Shika erlebte, wie die Bande Kaufleute beschützte, die mit ihren Waren nach Norden und Westen zogen, von Kitakami und anderen Häfen aus. Dort legten die Schiffe vom Festland an und brachten aus Silla und Shin Kupfermünzen, Eisen, Stoffe und Arzneien. Akuzenji schlug rivalisierende Banden in die Flucht und sorgte so auch für die Sicherheit der Holzarbeiter, die auf seinem Berg Bäume fällten und die Stämme über den Fluss zum Kasumi-See und von dort aus in die Hauptstadt beförderten. Akuzenji war seit jeher abergläubisch und achtete darauf, dass immer Schamanen und Hexer in seiner Nähe auf dem Berg und im Wald lebten, damit er sie nach Träumen und Omen befragen konnte. Und nun war er besessen von dem Wunsch, einen geeigneten Schädel für Shisokus Zauberkräfte zu erbeuten, und hatte es auf den Kopf des Fürsten von Kuromori abgesehen.

Bald bemerkte der Räuberhauptmann, dass Shika sich nicht nur so lautlos wie ein Hirsch bewegen, sondern ebenso gut hören und sehen konnte. Akuzenji schickte Shika deshalb los, um die Gegend um Matsutani auszuspähen. Es dauerte nicht lange, da wusste Shika, dass Kiyoyoris Lieblingspferd ein großer schwarzer Hengst war, und er kannte den Reitstil des Fürsten und die Knappen und Diener, die ihn begleiteten. Diesen Männern gab Shika Spitznamen: Klemmknie, Tatterich, Griesgram.

Wenn er nicht als Späher unterwegs war, übte sich Shika im Bogenschießen und schoss auf Strohscheiben oder fertigte Pfeile aus biegsamem Bambus an. Einige versah er mit pfeifenden Spitzen, die er aus Magnolienholz schnitzte, und mit Federn, die er entweder im Wald fand oder dem Balg von erlegten Adlern und Kranichen entnahm. Ferner erledigte er all die Aufgaben, die ihm als Jüngsten in der Bande zugeteilt wurden. Er fütterte und striegelte Akuzenjis Reittier, den weißen Hengst Nyorin, und alle anderen Pferde, holte Wasser von der Quelle und Feuerholz aus dem Wald, häutete und zerlegte erbeutete Tiere.