Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3 - Bastian Sick - E-Book

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3 E-Book

Bastian Sick

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Beschreibung

Wie kommt man richtig nach Aldi? Und wie zu gutem Deutsch Beachtet man ein paar wenige Dinge und schaut auch mal zweimal hin, so ist es gar nicht so schwierig, richtiges und gutes Deutsch zu sprechen und zu schreiben. Leider hat es uns die Rechtschreibreform nicht leichter gemacht, und wenn ab August 2006 die neuen, reformierten Regeln für alle Schüler und Behörden gelten, wird man ihn noch dringender benötigen: den neuen Sick. Das wesentliche Problem der Reform – und somit erheblicher Nachbesserungsbedarf – zeigte sich auf dem Gebiet der Zusammen- und Getrenntschreibung. Da waren nämlich Wörter auseinander gerissen worden, die in zusammengeschriebener Form nie ernsthafte Probleme bereitet hatten. Der diensthabende Offizier war zum Dienst habenden Offizier degradiert worden. Dem Gesetzgeber tut es längst leid, dass er die Rechtschreibung überhaupt je zur Reformsache gemacht hat. Zwischendurch tat es ihm Leid (mit großem L), und nun doch wieder leid. Die Lehrer und Schüler, die von »leid tun« auf »Leid tun« umdenken mussten und sich nun an »leidtun« gewöhnen sollen, können einem nur leid ... Leid ... also, die kann man nur bedauern. Bastian Sick hat auch in der dritten Folge seiner Sprachführer Unglaubliches und Amüsantes, Seltsames und Ungeheuerliches zusammengetragen. Auf seine unnachahmliche Art zeigt er uns den Weg aus den Wirrnissen, gibt kluge Hinweise und lässt auch mal den Dialekt zu seinem Recht kommen. Nach den ersten beiden Bänden, die sich weit über 2 Millionen Mal verkauft haben, schließt diese Folge die Reise durch den Irrgarten der deutschen Sprache ab. Mit neuem »Zwiebelfisch«-ABC! Aktuelle Zwiebelfisch-Kolumnen finden Sie unter www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch

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Bastian Sick

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod

Folge 3Noch mehr Neues aus dem Irrgarten der deutschen Sprache

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Bastian Sick

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Vorwort

Wem sein Brot ich ess, dem sein Lied ich sing

Die reformierte Reform

Zweifach doppelt gemoppelt

Ich glaub, es hakt!

Was man nicht in den Beinen hat …

Von Modezaren und anderen Majestonymen

Ich geh nach Aldi

Unsinn mit Ansage

Nein, zweimal nein

Es macht immer Tuut-Tuut!

Der antastbare Name

Hallo, Fräulein!

An was erkennt man schlechten Stil?

Ich habe Vertrag

Deutsch strikes back!

Sind Sie die Kasse?

Mal hat’s Sonne, mal hat’s Schnee

Qualität hat ihren Preis

Kein Bock auf nen Date?

Was ist Zeit?

Bitte verbringen Sie mich zum Flughafen!

Alles Malle, oder was?

Haarige Zeiten

Verwirrender Vonitiv

That’s shocking!

Das Schönste, wo gibt

Gebrochener Marmorstein

Ein Hoch dem Erdapfel

Als ich noch der Klasse Sprecher war

Voll und ganz verkehrt

Der Butter, die Huhn, das Teller

Entschuldigen Sie mich – sonst tu ich es selbst!

Wir sind die Bevölkerung!

Von Knäppchen, Knäuschen und Knörzchen

In der Breite Straße

Über das Intrigieren fremder Wörter

Wie gut ist Ihr Deutsch?

Lösungen

Zwiebelfisch-Abc

Register

Inhaltsverzeichnis

(Überschrift aus dem »Göttinger Tagblatt«)

(Johann Wolfgang von Goethe)

(Verzweifelter Windows-Nutzer in einem Internet-Forum)

(Wutz in »Urmel aus dem Eis« von Max Kruse)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Beim Aufräumen fiel mir vor einiger Zeit mein erstes Grammatikheft in die Hände. Es musste noch aus der Grundschulzeit stammen. Auf dem Umschlag stand mein Name, und darüber in krakeliger Schrift »Gramatick«. Das mag orthografisch nicht ganz einwandfrei gewesen sein, ergab aber zumindest einen Reim. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals geglaubt habe, Grammatik habe etwas mit »Tick« zu tun und sei etwas für Spinner. Immerhin bin ich sehr bald zu der Erkenntnis gelangt, dass Grammatik nichts mit »Gram« zu tun hat – im Gegenteil. Um künstlerisch oder spielerisch mit der Sprache umgehen zu können, muss man ihren Aufbau kennen und ihre Regeln verstehen.

Trotz des immer häufiger beklagten Verfalls unserer Sprachkultur stehe ich mit dieser Überzeugung nicht allein da. Das Interesse an meiner »Zwiebelfisch«-Kolumne und meinen ersten beiden Büchern hat es bewiesen. Und so habe ich weitergeschrieben – mit dem Ergebnis, dass nun der dritte Band über das Schicksal von Dativ und Genitiv vorliegt, jene fröhlichen und zugleich tragischen Helden der deutschen Grammatik.

»Damit ist dem Sick seine Triologie komplett«, erklärte meine Nachbarin Frau Jackmann mit einem Augenzwinkern, mit dem sie zu erkennen geben wollte, dass ihr die Sache mit dem falschen »dem sein« schon klar sei. Die andere Sache, die mit der zu lang geratenen Trilogie, war ihr hingegen nicht klar, sonst hätte sie mit beiden Augen gleichzeitig zwinkern müssen. Aber Frau Jackmann kommt aus dem Rheinland, und dort ist manches anders als im Norden. Im Norden ist wiederum manches anders als in Bayern, und in Bayern ist selbstverständlich fast alles anders als in Berlin, wo man dem Akkusativ gern mit den Dativ verwechselt.

In der Fußgängerzone nicht weit von meinem Arbeitsplatz entfernt hat vor einiger Zeit ein Coffeeshop eröffnet, eines jener Schnellcafés nach amerikanischem Vorbild, wie man sie inzwischen in fast jeder Stadt findet. Bei schönem Wetter bestelle ich mir dort gelegentlich einen Milchkaffee im Pappbecher, setze mich hinaus in die Sonne und genieße den Augenblick. Die Pappbecher gibt es in drei Größen: klein, mittel und groß. So heißen sie aber nicht. In dem Coffeeshop heißen die Größen »regular«, »tall« (mit langem, offenem »o« gesprochen) und »grande«, also »normal«, »groß« und »supergroß«. Ich bestelle mir immer einen großen Milchkaffee (der in Wahrheit also nur mittelgroß ist), und weil ich ihn draußen in der Sonne trinken will, bestelle ich ihn »zum Mitnehmen«. Der junge Mann an der Kasse ruft dann seiner Kollegin am Kaffeeautomaten zu: »Eine tolle Latte to go!« Darüber amüsiere ich mich jedes Mal. »Eine tolle Latte to go« – das ist kein Deutsch. Das ist aber auch kein Englisch. Ein amerikanischer Tourist könnte mit einer solchen Bestellung vermutlich nichts anfangen. Es ist auch kein Türkisch, auch wenn der junge Mann laut Namensschild »Cem« heißt. »Eine tolle Latte to go« ist moderner Verkaufsjargon, ein buntes Gemisch aus Deutsch, Englisch und Italienisch, wie es an keiner Schule gelehrt wird und wie es doch mitten unter uns wächst und gedeiht. »Eine tolle Latte to go« ist eines von vielen sprachlichen Phänomenen, die dafür sorgen, dass mir der Stoff so schnell nicht ausgeht.

Ein anderer, munter sprudelnder (und hoffentlich nie versiegender) Quell der Inspiration sind die unterschiedlichen Regionalsprachen und Dialekte. Nicht überall bekommt man Kaffee oder Brötchen »to go« – manchmal heißt das nämlich so: »Wat wollen Se de Brötchen für? Wollen Se die für zum Hieressen oder für zum Mitnehmen?« Ich weiß nicht, ob das Wort »Hieressen« im Duden steht, und ich bezweifle, dass sich das Aufeinandertreffen der Präpositionen »für« und »zum« mit dem Sprachstandard vereinbaren lässt, aber in einigen Gegenden Deutschlands »da jehört dat so«. Die Besonderheiten der deutschen Dialekte gehören zweifellos zu den schönsten Entdeckungen, die ich bei meiner Arbeit gemacht habe. Und täglich lerne ich Neues hinzu.

 

Dieses Buch enthält die Kolumnen, die im Laufe des vergangenen Jahres auf SPIEGEL ONLINE erschienen sind. Grammatikfreunde und Goldwaagenwörterwieger werden dabei ebenso auf ihre Kosten kommen wie Stilblütensammler, Dialektbestauner und Anekdotenliebhaber; denn es geht sowohl um spannende Themen wie Kongruenz und Adverbien, Syntax und Präpositionen als auch um ganz Alltägliches wie die Kartoffel, den Brotrest, den Urlaub auf Mallorca und den Friseur von nebenan. 2006 war für Deutschland das Jahr des Fußballs – daher darf ein Kapitel zum Thema Fußballerdeutsch nicht fehlen. 2006 war außerdem das Jahr, in dem die Rechtschreibreform in ihrer endgültigen Form in Kraft trat. Das zweite Kapitel dieses Buches kommentiert jenes bis heute umstrittene Werk und den mühsamen Prozess seiner Entstehung. Im Anschluss gibt es einen neuen Deutschtest – für alle, die ihr altes und neues Wissen gleich in der Praxis überprüfen wollen. Und zu guter Letzt wird das Abc aus dem ersten Band fortgesetzt, von »Albtraum« bis »zurückgehen«.

Ich danke den Menschen, die mir bei der Arbeit an diesem Buch geholfen haben, namentlich Birgit Schmitz, Dörte Trabert, Anne Jacobsen und Pamela Schäfer. Vor allem aber danke ich meinen Lesern, ohne deren Anregungen, Fragen und Ideen dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Regeln kann man nachschlagen, Fakten kann man recherchieren – aber die schönsten Quellen für meine Geschichten sind die Fundstücke, die meine aufmerksamen Leser mir schicken, und die lustigen Begebenheiten, die man mir schreibt oder erzählt: »Wissen Sie, wie man hier bei uns sagt?«

Viel Spaß auch diesmal! Aller guten Dinge sind drei – oder, wie meine Freundin Sibylle sagen würde: Gut Ding will Dreie haben!

 

Bastian Sick

Hamburg, im August 2006

Inhaltsverzeichnis

Wem sein Brot ich ess, dem sein Lied ich sing

Annes Armband ist unauffindbar? Konrads Kamera ist verschwunden? Ein Fall für Inspektor Dativ! Der nuckelt an seinem Pfeifchen und stellt fest: Alles eine Frage des Falles! Wenn man die Leute nach der Anne ihr Armband fragt und nach dem Konrad seine Kamera, dann tauchen all diese Dinge wie von selbst wieder auf.

Als ich mich vor drei Jahren zum ersten Mal in einer Geschichte mit dem Todeskampf des Genitivs befasste, war ich mir der Tragweite des Problems gar nicht bewusst. Ich hatte ein paar harmlose Bemerkungen über den Rückgang des Genitivs hinter bestimmten Wörtern wie »wegen« oder »laut« zu Papier gebracht und ahnte nicht im Geringsten, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war.

Aufgrund der vielen Zuschriften, die ich nach Erscheinen meines ersten Buches erhielt, und der starken Resonanz, die der Titel »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« überall in Deutschland hervorrief, dämmerte mir schließlich, dass ich, indem ich an der Spitze des Eisbergs gekratzt hatte, auf etwas viel Härteres gestoßen war, nämlich dem Eisberg seine Spitze.

 

Wer wie ich in einer genitivfreundlichen Biosphäre aufgewachsen ist, macht sich nicht immer klar, dass Michaels Mutter und Lauras Freunde für viele, wenn nicht gar für die meisten Deutschen »dem Michael seine Mutter« und »der Laura ihre Freunde« sind. Im gesprochenen Deutsch wird der Genitiv gern umgangen, deshalb heißt es wohl auch Umgangssprache. In den meisten Dialekten kommt er überhaupt nicht mehr vor, dort ist er dem Dativ seine fette Beute geworden.

 

Wenn man im Rheinland den Besitzer einer Tasche ermitteln will, stellt man die Frage so: »Wem sing Täsch is dat?« Mit »Wessen Tasche ist das?« brauche man es gar nicht erst zu versuchen, klärte mich der großartige Sprachkabarettist Konrad Beikircher unlängst auf, »das verstehen die Rheinländer nicht, da gucken die weg«. Der »Wem-sing«-Fall, also der besitzanzeigende Dativ, regelt klar und verständlich, was Sache ist, und vor allem: wem seine Sache es ist.

Eine Lehrerin aus Baden-Württemberg sagte mir, dass der Genitiv in ihrer Region komplett ausgestorben sei, sie sehe daher keinen Sinn mehr darin, ihn heute noch zu unterrichten. »Ich bin Lehrerin für lebende Sprache, nicht für tote Fälle«, schloss sie lächelnd.

Selbst Linguisten sehen keinen Grund, dem Genitiv nachzuweinen. Andere Sprachen kämen ja auch ohne Wes-Fall aus. Das stimmt natürlich. Doch müssen wir uns andere Sprachen zum Vorbild nehmen? Dann könnten wir das unbequeme Deutsche doch gleich ganz abschaffen und Englisch als Landessprache einführen.

Aber so weit würden wir wohl doch nicht gehen wollen. Denn wenn wir ehrlich sind, dann lieben wir die deutsche Sprache, auch wenn sie kompliziert ist und ihre Macken hat. Vielleicht ja sogar gerade deswegen.

 

Und so unpopulär, wie es den Anschein hat, ist der Genitiv gar nicht. Ein hartnäckiger Rest hält sich selbst in jenen Dialekten, die mit hochdeutscher Grammatik angeblich nichts zu tun haben. Im Schwäbischen zum Beispiel taucht der Genitiv noch vor männlichen Personen auf: Wer die Katze des Nachbarn meint, der kann außer am Nachber sei Katz oder d’ Katz vom Nachber auch noch ’s Nachber Katz sagen, und dieses ’s ist ein Überbleibsel des Artikels »des« und somit ein Beweis für die Existenz eines schwäbischen Wes-Falles.*

Die Sprache steckt nicht nur voller Missverständnisse, sondern auch voller Ironie und bisweilen unfreiwilliger Komik. Dass der Genitiv mit dem »s« am Ende ausgerechnet als »sächsischer Genitiv« bezeichnet wird, erscheint geradezu absurd. Denn mit dem Genitiv hat das Sächsische heute nicht mehr viel zu tun.

Das Bairische erst recht nicht. Im Lande des exzentrischen Märchenkönigs Ludwig II. ist der Genitiv schon vor Jahrhunderten in irgendeinem riesigen Maßkrug ertrunken. Des Königs Cousine ist »am Kini sei Basn«, wobei »am« hier nicht als Präposition zu verstehen ist, sondern – genau wie im Schwäbischen – als unbetonter männlicher Artikel: dem König seine Base also. Anders ausgedrückt: die Sisi[1].

 

Das beste Hochdeutsch wird ja angeblich in der Region Hannover gesprochen. Das wird jedenfalls immer wieder behauptet, besonders von Hannoveranern. Und ausgerechnet dort findet man einen Dativ in Stein gehauen, der es in sich hat: Vor dem Bahnhof in Hannover steht ein Reiterdenkmal, das Ernst August von Hannover zeigt. Nicht den mit dem Regenschirm und dem befeuchteten türkischen Pavillon, sondern den einstigen König. Und dessen Pferd natürlich. In den Sockel sind die Worte eingemeißelt:

DEM LANDESVATER SEIN TREUES VOLK

Das ist zugegebenermaßen etwas missverständlich. Hätte der Graveur hinter den »Landesvater« einen Gedankenstrich gesetzt, wäre die Sache klar, dann läse sich die Inschrift so, wie sie aller Wahrscheinlichkeit nach gedacht war: »Dem Landesvater (gewidmet) – (gezeichnet:) sein treues Volk«.

Ohne Gedankenstrich aber liest man die Inschrift in einem Rutsch durch und wundert sich: Sollte dies am Ende gar kein Denkmal für den König sein? Hatte es vielmehr der König selbst in Auftrag gegeben, um sein Volk zu ehren? Wenn das zutrifft, dann hatte Ernst August offenbar eine Genitiv-Schwäche; denn in korrektem Hochdeutsch hätte es »Des Landesvaters treuem Volk« heißen müssen. Oder aber der Graveur war ein heimlicher Marxist und hat die Widmung für den König extra so gesetzt, dass man sie auch als Widmung für das Volk deuten konnte. Doch das sind Spekulationen. Wahrscheinlicher ist, dass dem Graveur sein subversives Handeln gar nicht bewusst war und dass er in Wahrheit ein unbescholtener Mann war – denn im Königreich Hannover galt wie überall: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Heute würde man wohl sagen: Wem sein Brot ich ess, dem sein Lied ich sing.

Inhaltsverzeichnis

Die reformierte Reform

Am 1. August 2006 trat die Rechtschreibreform endgültig in Kraft. Zuvor war sie noch einmal gründlich zurechtgestutzt worden. Übrig blieb ein Kompromiss, der niemandem mehr weh tut – oder wehtut. Denn im Zweifelsfall gilt sowohl die alte als auch die neue Schreibung. Das gleiche Theater gab es übrigens vor hundert Jahren schon einmal.

Ein volles Jahrzehnt tobte der Reformationskrieg in Deutschland. Als im Juli 1996 die Vertreter der deutschsprachigen Länder in Wien eine Erklärung über die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung unterzeichneten, sollte damit ein Schlusspunkt unter die Reform gesetzt werden. Tatsächlich kam die Debatte danach erst richtig in Gang, und unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde die Reform erneut reformiert – wieder und wieder.

Wenn man bedenkt, dass die Väter der Reform sehr viel radikalere Ideen hatten, dass ursprünglichen Plänen zufolge sogar die Großschreibung von Hauptwörtern abgeschafft werden sollte, dann ist das neue Regelwerk kaum mehr als eine harmlose kosmetische Korrektur der alten Orthografie. Ein Känguru hier, ein Delfin da – damit lässt sich leben. Wer empört ausruft, die Abschaffung des »ph« sei ein Sakrileg, der sei nur darauf hingewiesen, dass Wörter wie Fotografie und Telefon schon seit vielen Jahrzehnten ohne »ph« geschrieben werden. Also werden wir uns auch an den Delfin gewöhnen.

 

Dass man Mayonnaise jetzt auch Majonäse schreiben kann und Ketchup auch mit »sch« (Ketschup), hat mich nie gestört. Auch platzieren mit »tz« und nummerieren mit »mm« hielt ich für akzeptabel. Fremdwörter sind schließlich schon immer eingedeutscht worden. Wer würde heute die Zigarette noch mit »C« oder das Büro wie im Französischen »bureau« schreiben wollen? Vor einiger Zeit stöhnte mir jemand vor, er könne die Schreibweise »platzieren« mit »tz« nicht ertragen. Das sei doch ein Fremdwort und müsse daher mit »z« geschrieben werden. Ihm würde es in den Augen brennen, wenn er das sähe! Ich hatte wenig Mitleid mit ihm. Wenn er gegen die Eindeutschung von Fremdwörtern sei, entgegnete ich, warum beharre er dann auf der Schreibweise mit »z«? Früher schrieb man das Wort mit »c«: placieren, denn es kommt vom französischen »placer«. Die Form »plazieren« war bereits eine halbe Eindeutschung. Ob ihm halbe Sachen lieber seien als ganze, habe ich ihn gefragt. Darauf wusste er nichts zu erwidern.

 

Wenn es Gründe gab, sich über die Reform zu ereifern, dann lagen die nicht in neuen Schreibweisen wie Biografie und Portmonee. Einige Änderungen wurden ja sogar begeistert aufgenommen. Zum Beispiel die Abschaffung der Regel »Trenne nie s-t, denn es tut ihm weh«, für die es keine überzeugende Begründung mehr gab, seit Ligaturen aus der Mode geraten sind. Zahlreiche Befürworter fand auch die neue ss/ß-Regel, die ein Eszett (das sogenannte scharfe »S«) nur noch hinter langen Vokalen und Diphthongen (ei, au, äu, eu) zulässt. Hinter kurzen Vokalen steht indes Doppel-s, auch am Wortende: der Fluss (kurzes u), das Floß (langes o); der Schlosshund (kurzes o), der Schoßhund (langes o), der Strass (kurzes a), die Straße (langes a). Schließlich wurde auch der Beschluss, substantivierte Adjektive in Fügungen wie »im Stillen«, »im Dunkeln«, »im Allgemeinen« großzuschreiben, willkommen geheißen.

 

Das wesentliche Problem – und somit erheblicher Nachbesserungsbedarf – zeigte sich auf dem Gebiet der Zusammen- und Getrenntschreibung. Da waren nämlich Wörter »auseinander gerissen« worden, die in zusammengeschriebener Form nie ernsthafte Probleme bereitet hatten. Der diensthabende Offizier war zum »Dienst habenden« Offizier degradiert worden, der gutaussehende Schauspieler musste sich mit der Rolle des »gut aussehenden« Schauspielers abfinden, und die milchproduzierende Wirtschaft war stillgelegt worden und durfte als »Milch produzierende« Wirtschaft neu anfangen. Die autofahrende Bevölkerung war zur »Auto fahrenden« Bevölkerung geworden, und die selbstgemachte Konfitüre war plötzlich nur noch als »selbst gemachte« Konfitüre zu haben.

Die blindwütige Trennung natürlich zusammengewachsener Wörter war es, die schließlich auch die Intellektuellen der Republik gegen die Reform aufbrachte. Weitreichende Maßnahmen sollten nur noch »weit reichend« sein, grundlegende Veränderungen hingegen »grundlegend« bleiben – weil »weit« ein steigerungsfähiges Adjektiv ist, »grund« hingegen ein »verblasstes Hauptwort«.

Die Reform wollte die Orthografie vereinfachen, stattdessen wurde die Sache immer komplizierter; denn bevor man wissen konnte, ob man zwei Wörter, die zusammen einen neuen Begriff ergaben, getrennt- oder zusammenschreiben darf, musste man sich Klarheit über die Wortart verschaffen: Ist der erste Teil ein Adjektiv, wenn ja, lässt es sich womöglich erweitern oder gar steigern? Ist der zweite Teil ein Partizip? Und was ist überhaupt ein Partizip? Die Sache war bald nicht mehr zu durchschauen.

Und so wurde der Protest immer lauter. Intellektuelle wie Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki entrüsteten sich, Zeitungsverlage kündeten die Rückkehr zur alten Schreibweise an, und immer mehr Menschen in Deutschland erklärten sich zu Totalverweigerern der Reform.

 

Seit 2004 bemühte sich ein 39-köpfiger »Rat für deutsche Rechtschreibung« unter der Ägide des CSU-Politikers Hans Zehetmair, das drohende Scheitern der Reform abzuwenden. Man versuchte zu retten, was zu retten war, indem man den größten Unfug möglichst diskret wieder rückgängig machte. Der ehemals frischgebackene Ehemann, der seit 1998 ein »frisch gebackener« Ehemann war, durfte 2004 wieder als »frischgebackener« Ehemann auftreten. Überhaupt war jetzt sehr viel von »kann«-Bestimmungen und von »sowohl als auch« die Rede. Das machte es für die Deutschlehrer nicht gerade leichter, half aber, das laute Gezeter der Reformgegner zu dämpfen – ein Kompromiss eben.

Den ersten Modifizierungen folgten weitere. Am Ende war die Reform kaum mehr als ein Reförmchen; unterm Strich ist das meiste beim Alten geblieben. Und so stellte die »Berliner Zeitung« treffend fest: »Zehn Jahre hat es gebraucht, um wieder dort anzukommen, wo man aufgebrochen ist.«

Die umstrittenen neuen Schreibweisen wurden teils zurückgenommen, teils durch Wiederzulassung der alten Schreibweisen relativiert. Mit Erleichterung habe ich zur Kenntnis genommen, dass man das Wort »lahmlegen« jetzt wieder (wie früher) in einem Wort schreiben darf. So wie »stilllegen«, das man ebenfalls in einem Wort schreibt. Mir wollte nie einleuchten, warum man das eine plötzlich getrennt schreiben sollte und das andere nicht.

Mit dem Inkrafttreten der Reform ging eine der längsten Arien der Operngeschichte zu Ende. Und zum Glück keine A-rie der O-perngeschichte, denn die ästhetisch äußerst fragwürdige Entscheidung, einzelne Vokale abtrennen zu dürfen (Bi-omüll, Zwecke-he), ist ebenfalls wieder rückgängig gemacht worden.

 

Infratest hat eine Umfrage durchgeführt, die zu folgendem Ergebnis kam: Mehr als zwei Drittel der Deutschen (nämlich 68 Prozent) schreiben weiterhin nach den klassischen Rechtschreibungsregeln. Nur 19 Prozent richten sich komplett nach der neuen Regelung, und 12 Prozent verwenden dagegen eine Mischung aus alter und neuer Rechtschreibung.

Diese Angaben setzen freilich voraus, dass die Befragten genau wussten, was alte und was neue Rechtschreibung ist. Daran habe ich so meine Zweifel.

Mehrmals habe ich erlebt, dass Menschen, die sich über die Reform beklagten, als Beispiel das Wort »Albtraum« anführten, das sie immer schon mit »b« geschrieben hätten, weil es doch nichts mit den Alpen zu tun habe, sondern mit Alben (= Elfen). Da wurde mir klar, dass diese Menschen nicht gründlich informiert waren, denn die Schreibweise »Albtraum« ist die neue.[2] Nach klassischer Rechtschreibung war allein die Schreibweise »Alptraum« zulässig; bis 1998 galt die Schreibweise mit »b« als falsch.

Ebenso irren viele Deutsche, die der Überzeugung sind, das Eszett sei durch die Reform komplett abgeschafft. »Freundliche Grüsse« sind nur in der Schweiz korrekt, und das wiederum schon seit 70 Jahren. In Deutschland schreibt man nach wie vor »Freundliche Grüße«.

Dass die Deutschen die Rechtschreibreform mehrheitlich ablehnen, ist nicht allein mit den Ungereimtheiten zu begründen, die nach der ersten Phase zutage traten. Die ablehnende Haltung der Bevölkerung ist auch auf das Totalversagen der Politik zurückzuführen. Statt offensive Aufklärungsarbeit zu leisten, haben Kommission und Rat hinter verschlossenen Türen getagt. Nur spärlich gelangten Informationen über die Neuordnung an die Öffentlichkeit, und das meistens in kritischen Artikeln der Feuilletons – nichts, was von der Mehrheit gelesen würde. Aber für die hat man sich ohnehin nicht interessiert. Im Fernsehen wurden immer nur Bilder von Schultafeln gezeigt, auf denen links die Wörter »Spaghetti«, »eislaufen« und »Delphin« standen und rechts »Spagetti«, »Eis laufen« und »Delfin«. Das war’s, mehr Volksaufklärung gab es nicht.

Ich hätte es begrüßt, wenn man die neuen Regeln auf handliche Faltblätter gedruckt und als Hauswurfsendung an alle Bürger verteilt hätte – oder wenn man sie an Bushaltestellen plakatiert hätte. Das wäre immerhin praktisch gewesen. Das hundertseitige PDF, das man auf der Internetseite des Rechtschreibrates herunterladen kann, ist es jedenfalls nicht. Die Kulturpolitiker meinten, dem Volk die Entscheidung über die Gestaltung seiner Schriftsprache aus der Hand reißen zu können, und haben es nicht für nötig erachtet, das Volk in angemessener Weise auf dem Laufenden zu halten. Die Rechtschreibreform war für vieles beispielhaft: für einen leidenschaftlich geführten Kulturkampf, für Missmanagement, für absurdes Theater und Demagogie. Sie war kein Lehrstück in Sachen Demokratie.

 

Die Zukunft unserer Orthografie liegt nicht in den Händen von Politikern und auch nicht in der Duden-Redaktion, sondern in den elektronischen Kommunikationsmitteln. Der größte Teil dessen, was tagtäglich geschrieben wird – Artikel für Zeitungen, Geschäftsberichte, persönliche Korrespondenz –, entsteht heute am Computer. Und immer mehr Menschen verlassen sich dabei auf die automatische Rechtschreibprüfung ihres Textverarbeitungsprogramms.

Auch ich nutze sie, obwohl ich meine liebe Not mit ihr habe, denn sie unterstreicht mir ständig das Wort »standardsprachlich«, das ich relativ häufig gebrauche. Vielleicht mag sie keinen Sprachstandard. Dann müsste sie sich allerdings selbst hassen. Das wäre ein Treppenwitz der Sprachgeschichte.

Viele nutzen beim Schreiben auch die schnellen Recherchemöglichkeiten, die das Internet bietet. Wer zum Beispiel nicht sicher ist, wie man das Wort »Matratze« schreibt, kann den Publikumsjoker einsetzen und das Wort in allen Varianten googeln: Für die (korrekte) Schreibweise mit »tz« werden ihm 3.590.000 Treffer angezeigt, für die Schreibweise »Matraze« nur 239.000 Treffer: ein eindeutiges Votum der recht- und schlechtschreibenden Internetgemeinde. Der Ratsuchende erhält von Google zusätzliche Hilfe, denn über der Liste mit der geringeren Trefferzahl erscheint die automatisch erstellte Frage: »Meinten Sie ›Matratze‹?« So wird er sanft in die richtige Richtung gelenkt.

Natürlich sind die von Google gelieferten Ergebnisse nicht in jedem Fall verlässlich. Mitunter können sie genauso in die Irre führen. Wer nicht weiß, ob die Mehrzahl von »Story« im Deutschen nun »Storys« oder »Stories« geschrieben wird, dem wird Google nicht helfen, denn im Internet überwiegt selbstverständlich der englische Plural auf -ies, für die korrekte deutsche Form (Storys) findet man deutlich weniger Referenzstellen. Und die automatische Frage »Meinten Sie ›Stories‹?« lockt den Suchenden erst recht auf die falsche Fährte. Langfristig werden Internetmaschinen wie Google dazu beitragen, dass die Orthografie von Namen und Fremdwörtern immer stärker internationalisiert wird. Nationalspezifische Formen verschwinden zugunsten der internationalen Mehrheitsschreibweise. Noch zeigt Google 9,6 Millionen Treffer für »Mailand« an, aber auf bereits knapp 4 Millionen deutschsprachigen Internetseiten ist »Milano« zu finden.

 

Die restlichen Fragen klärt die Worterkennung der Mobiltelefone. Man braucht beim Schreiben einer SMS nur drei Buchstaben einzugeben, dann ergänzt das Programm das Wort eigenständig. So entstehen interessante Mitteilungen wie: »HALLO, ICH KÖNNE HEUTE ETWAS SPÄTER. WARTE NICHT MIT DEN ESSEN AUF MICH!« Einmal wollte ich das Wort »Pustekuchen« verschicken, und plötzlich stand im Display PURBERGSTRASSE. Ich kenne keine Purbergstraße und wollte das Wort löschen, doch in meiner Verwirrung habe ich stattdessen auf »versenden« gedrückt. Es hat mich ein zehnminütiges, teures Telefonat gekostet, um das Missverständnis aufzuklären.

Ich will nicht wissen, wie viele sinnlose Nachrichten auf diese Weise schon verschickt worden sind. Es müssen Zigtausende jeden Tag sein. Daneben erscheint die Frage, ob man nun »Portemonnaie« oder »Portmonee« schreibt, geradezu belanglos. Man kann sich freuen, wenn das Handy nicht PORTOMODERNE draus macht.

 

Kann sich die Geschichte wiederholen? Im Jahre 1901 hatte es schon einmal eine Reform der deutschen Rechtschreibung gegeben, die aus nichts anderem als Kompromissen zu bestehen schien. 1905 bemerkte Konrad Duden im Vorwort zur achten Auflage seines Wörterbuches: »Zwar hat man überall das von der Orthographischen Konferenz Geschaffene als zu Recht bestehend anerkannt, weder sind neue Reformvorschläge ans Licht getreten, noch hat man auf seiten der Gegner jeder Reform durch aktiven und passiven Widerstand das Werk zu hemmen versucht: es gilt unbestritten überall. Und doch würde man irren, wenn man glaubte, die ›Orthographische Frage‹ sei mit der Herausgabe der von den Regierungen aufgrund der Konferenzbeschlüsse veröffentlichten amtlichen Regelbücher glücklich zur Ruhe gelangt; sie ist vielmehr für verschiedene Kreise wieder lebhaft in Fluß gekommen. […] Das Ergebnis der Orthographischen Konferenz von 1901 war nur dadurch zustande gekommen, daß die Anhänger verschiedener Richtungen sich gegenseitig Zugeständnisse machten. Das geschah meistens durch Zulassung von Doppelschreibungen.«

 

Entweder hatte ich eben ein ganz starkes Déjà-vu, oder Konrad Duden war nicht nur Herausgeber eines Wörterbuchs, sondern nebenbei auch noch das Orakel von Delphi. Oder schreibt man das jetzt Delfi?

 

Glücklich zur Ruhe gelangt oder wieder lebhaft in Fluss gekommen: quo vadis, deutsche Rechtschreibung? Die Kultusminister waren sich bei der Verabschiedung des Gesetzes einig, dass die Reform in ihrer jetzigen Fassung endgültig und unwiderruflich sei. Von »Ruhe« war die Rede, von einem »Rechtschreib-Frieden« sogar, doch ob es einen solchen geben wird, bleibt abzuwarten. Einige prominente Verweigerer haben bereits signalisiert, dass sie ihren Widerstand gegen die neue Orthografie aufgeben werden. Andere wollen von der Reform nach wie vor nichts wissen. Dem Gesetzgeber tut es längst leid, dass er die Rechtschreibung jemals zur Reformsache gemacht hat. Zwischenzeitlich tat es ihm Leid (mit großem »L«), und nun doch wieder leid. Die Lehrer und Schüler, die von »leid tun« erst auf »Leid tun« umdenken mussten und sich nun an »leidtun« gewöhnen sollen, können einem nur leid … Leid … also, die kann man nur bedauern.

 

Der zähe Reformprozess hat aber nicht nur Verwirrung gestiftet und Verdruss gebracht, er hatte auch sein Gutes: In regelmäßigen Abständen sorgte er dafür, dass unser wertvollstes Kulturgut – die Sprache – ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt wurde. Außerdem hat er die Intellektuellen hierzulande zehn Jahre lang geistig in Bewegung gehalten. Ohne Reformstreit würden sich viele vermutlich langweilen.

Seit Juli 2006 liegt die 24. Auflage des Dudens vor, die noch übersichtlicher und bunter ist als die 23. Auflage aus dem Jahr 2004: Die alten Schreibweisen sind schwarz gedruckt, die neuen sind rot, und gelb unterlegt sind die Duden-Empfehlungen. Nun wissen wir auch, wofür die Farben der Deutschlandfahne stehen: Schwarz für Tradition, Rot für Veränderung und Gelb für das jeweils Sinnvollste aus beidem. Doch nicht alle sind mit der Neufassung der Mannheimer Bibel zufrieden. Angeblich seien die Regelungen des Reformwerkes darin nicht immer so wiedergegeben, wie sie von der Kommission beschlossen wurden, behauptet Hans Zehetmair. Schon fragen sich die bangen Untertanen: Muss Konrad Duden jetzt ins Gefängnis? Wir sehen: Das letzte Wort in Sachen Rechtschreibung ist noch nicht gesprochen. Gott sei Dank!

Zuletzt will auch ich eine Empfehlung abgeben: Wer sich an den Delfin mit »f« partout nicht gewöhnen mag, der soll ihn ab sofort Phlipper schreiben.

Inhaltsverzeichnis

Zweifach doppelt gemoppelt

Ein alter Greis, der im dichten Gedränge verschwindet, ein schneller Raser, der auf einer Baumallee verunglückt ist – so etwas hört und liest man manchmal ab und zu. Streng genommen sind solche Wortpaare und Zusammensetzungen jedoch unsinnig – doppelt gemoppelt nämlich.

Denn Greise sind immer alt, und im Gedränge steht man immer dicht an dicht. Raser würden nicht Raser genannt, wenn sie nicht tatsächlich schnell führen, und ohne Bäume wären Alleen auch keine Alleen, sondern gewöhnliche Straßen. Solche Bedeutungsverdopplungen nennt man Pleonasmen. Das kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Überfluss«, »Übermaß« – bezogen auf den sprachlichen Stil also eine überflüssige Häufung sinngleicher oder sinnverwandter Begriffe. So erklärt es auch der Duden und führt als Beispiele den weißen Schimmel und den schwarzen Rappen an.

Pferdeliebhaber indes wissen, dass Schimmel längst nicht immer weiß sind, sondern in der Regel dunkel geboren werden und erst im Laufe der Zeit aufhellen. So gibt es Schimmel in allen möglichen Schattierungen: als Apfelschimmel, Fliegenschimmel, Fuchsschimmel, Rotschimmel und Blauschimmel (nicht zu verwechseln mit Käse), als Grauschimmel, Braunschimmel und sogar als Schwarzschimmel. Ein weißer Schimmel ist also keine Selbstverständlichkeit.

Auch hinter »kleinen Zwergen« muss nicht zwangsläufig ein Pleonasmus stecken. Denn alles ist bekanntlich relativ, und wer wollte ernstlich behaupten, dass alle Zwerge gleich groß (oder gleich klein) seien? Einige mögen größer sein als andere, und nicht umsonst heißt es im Volksmund: Auch Zwerge haben mal klein angefangen.

Eng verwandt mit Pleonasmen sind Tautologien, das sind gleichbedeutende Wörter derselben Wortart, also Wortpaare wie »angst und bange«, »ganz und gar«, »immer und ewig«, »schlicht und einfach«, »nie und nimmer«, »schließlich und endlich«, »aus und vorbei«, »still und leise«. Diese Doppelungen gelten als rhetorische Stilmittel und sind daher über jede sprachliche Kritik erhaben.

Natürlich können auch Pleonasmen als bewusst eingesetztes Stilmittel dienen. Oftmals allerdings entstehen sie aus schlichter Unwissenheit. Das betrifft vor allem die Zusammensetzungen aus Fremdwörtern und deutschen Vorsilben. Wer hätte nicht schon einmal von einem »vorprogrammierten Chaos« gesprochen – wiewohl ein »programmiertes Chaos« völlig genügen würde, denn programmiert wird immer im Voraus. Oder haben Sie schon mal von einem nachprogrammierten Ereignis gehört? Ein weiterer Dauerbrenner unter den Überflusswörtern ist das Verb »aufoktroyieren« – eine Verschmelzung aus dem französischen Lehnwort »oktroyieren« und der deutschen Übersetzung »aufzwingen«.

 

Meine Nachbarin Frau Jackmann ist eine Meisterin der Sinnverdoppelung. Als ich einzog, klärte sie mich detailliert über alle Mitbewohner des Hauses auf: »Die Lüders aus dem Erdgeschoss haben vier Jungs, richtige Rabauken, vor allem die zwei Zwillinge. Also wundern Sie sich nicht über den Krach!« Ich wunderte mich vor allem über den Hinweis, dass die Lüders zwei Zwillinge haben. Ich hätte mehr erwartet. Frau Jackmann überbot sich gleich darauf selbst, indem sie mir verriet, dass neben den Lüders ein »Zweierpärchen« wohne. Sollte es noch einen Untermieter aufnehmen, hätte man es dann mit einem »Dreierpärchen« zu tun? Im ersten Stock links wohne Herr Schaller, ein sehr netter Vertreter, von dem sie schon manches Mal ein »Gratis-Geschenk« bekommen habe.

Und in der Wohnung rechts lebe der »geschiedene Exmann« von Carolin Ölter, der Tochter von Manfred Ölter, der mit Billigmärkten im Osten reich geworden ist. Der sei heute ein »mehrfacher Multimillionär«. Einmal sei sie der Carolin Ölter ja wirklich begegnet. Die sah aber gar nicht aus wie eine Millionärstochter, denn ihr Halsschmuck war ein »künstliches Imitat«, das habe man sofort gesehen.

 

Als mein Freund Henry mich das erste Mal besuchte und sofort über den Zustand des Treppenhauses zu lamentieren begann, gab Frau Jackmann ihm recht und klagte: »Ich habe dem Hausmeister bereits schon gesagt, dass das Treppenhaus dringend neu renoviert werden muss, aber im augenblicklichen Moment scheinen die Eigentümer angeblich kein Geld dafür zu haben.« Vier Pleonasmen in einem Satz! Das muss ihr erst mal jemand nachmachen. Henry nennt sie seitdem respektvoll »Jackie Pleonassis«. Wer in seiner Gegenwart von »ABM-Maßnahmen« spricht, wird kostenlos über die Bedeutung des Buchstabens »M« in »ABM« aufgeklärt. »Spontane Reflexe« lässt Henry genauso wenig gelten wie »natürliche Instinkte«, zumal das die Existenz unspontaner Reflexe und unnatürlicher Instinkte voraussetzen würde, wie Henry sagt. Und wenn der Fernsehkoch zum Tranchiermesser greift und spricht: »So, und nun müssen wir das Ganze einmal schön in der Mitte halbieren«, dann schaltet Henry um.

 

Bei Frau Jackmann ist das »umgekehrte Gegenteil« der Fall. In pleonastischer Hinsicht ist eine Unterhaltung mit ihr immer lohnend. Frau Jackmann würde sagen: »lohnenswert«. Sie hat zu allem eine »persönliche Meinung«, und ich habe es bislang wohlweislich vermieden, sie nach ihrer unpersönlichen Meinung zu fragen. In politischen Fragen ist sie unerbittlich. Nahezu alle Probleme unserer Zeit, sagt sie, seien die Folge der »weltweiten Globalisierung«. Ja, Frau Jackmann kennt sich aus! »Als der Schröder an die Regierung kam, da haben sich doch alle falsche Illusionen gemacht.« Offenbar macht sie sich lieber richtige Illusionen. Den Ausgang der jüngsten Bundestagswahl kommentierte sie mit den Worten: »Jetzt suchen natürlich alle nach einer gemeinsamen Schnittmenge!« Als die Koalition aus CDU und SPD dann stand, sagte sie achselzuckend: »Na ja, eine andere Alternative gab es in dieser Situation wohl auch nicht!« Womöglich gibt es nie mehr als eine einzige Alternative, wenn überhaupt. Aber darüber will ich mit Frau Jackmann lieber nicht diskutieren. Henry hat da weniger Skrupel. Letzte Woche traf er Frau Jackmann auf der Treppe. »Es gibt Regen«, rief sie ihm zu. »Wie kommen Sie darauf«, fragte Henry erstaunt, »es ist doch kein Wölkchen am Himmel zu sehen!« – »Ich spür das«, sagte sie, »ich hab da so ein inneres Gefühl!« Henry erwiderte, ihr »inneres Gefühl« sei ein Pleonasmus. Seitdem hält sie ihn für einen Arzt. Da sind falsche Missverständnisse natürlich bereits schon im Vorfeld vorprogrammiert.

Pleonasmen

doppelt gemoppelt

einfacher gesagt

angeblich sollen (z.B. sie soll angeblich einen Geliebten haben)

sie soll einen Geliebten haben; sie hat angeblich einen Geliebten

Attentatsversuch

Anschlag, Attentat, Mordversuch

aufoktroyieren

aufdrängen, aufzwingen, oktroyieren

anfängliche Startschwierigkeiten

anfängliche Schwierigkeiten, Startschwierigkeiten

im augenblicklichen Moment

im Augenblick, augenblicklich, im Moment, momentan

auseinanderdividieren

auseinanderrechnen, aufteilen, dividieren

Ausgangsvoraussetzungen

Voraussetzungen, Ausgangsbedingungen

Außenfassade

Außenseite, Fassade

Baumallee

Allee, von Bäumen gesäumte Straße

bereits schon

bereits, schon

ein berühmter Star

eine Berühmtheit, ein Star

Eigeninitiative

Eigenantrieb, Initiative

Einzelindividuum

Einzelwesen, Individuum

der Einzigste

der Einzige

erste Vorboten

erste Anzeichen, Vorboten

drei Drillinge

Drillinge

Düsenjet

Düsenflugzeug, Jet

fundamentale Grundkenntnisse

fundamentale Kenntnisse, Grundwissen

für gewöhnlich etwas zu tun pflegen

für gewöhnlich etwas tun, etwas zu tun pflegen

Fußpedal

Fußhebel, Pedal

gemeinsame Schnittmenge

Gemeinsamkeit, Schnittmenge

Glasvitrine

Glasschrank, Vitrine

herausselektieren