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Erstmals in der Geschichte besitzt der Mensch die Fähigkeit, die eigenen Gene zu verändern. Die Möglichkeiten, die daraus erwachsen, sind verlockend: Krebs ließe sich heilen, die Alterung aufhalten, Erbkrankheiten wären zu verhindern. Unüberschaubar aber sind zugleich die biologischen Folgen und moralischen Konsequenzen. Das wird, davon ist der amerikanische Technologie-Experte Jamie Metzl überzeugt, die Menschheit nicht aufhalten: Bisher hat sie noch jede einmal entwickelte Technologie auch angewendet. Und würden wir nicht alles tun, um unseren Kindern und uns selbst Leid und Krankheit zu ersparen? Jamie Metzl bringt uns mit konkreten Szenarien die Gentechnik ganz nah: Wollen wir unsere Kinder zukünftig genoptimieren, die Zeugung in die Petrischale verlagern und unsere Lebenszeit verlängern? Über Gentechnik reden, heißt nicht nur über Wünsche und Erwartungen, sondern auch über Regeln und Grenzen zu reden. Jamie Metzl liefert eine gut verständliche, unaufgeregte und zugleich unterhaltsame Grundlage für eine längst fällige Debatte.
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Seitenzahl: 531
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Jamie Metzl
Der designte Mensch
Wie die Gentechnik Darwin überlistet
Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Sonja Schuhmacher und Claus Varrelmann
»All unser Sein ist Frucht unseres Denkens.«
GAUTAMA BUDDHA
Inhalt
Eintritt in das Zeitalter der Genetik
1Wie Darwin auf Mendel trifft
2Auf der Komplexitätsleiter
3Decodierung der Identität
4Das Aus für den Sex
5Göttlicher Funke und Feenstaub
6Alles Lebende: von Grund auf umgestalten
7Der Raub der Unsterblichkeit von den Göttern
8Die Ethik gentechnischer Eingriffe an uns selbst
9Wir sind vielfältig
10Das Wettrüsten der menschlichen Spezies
11Die Zukunft der Menschheit
Zur weiteren Lektüre
Dank
Anmerkungen
Über den Autor
Einleitung
Eintritt in das Zeitalter der Genetik
»Warum sind Sie zu uns gekommen?«, fragte die junge Frau am Empfang.
Es war mein erster Besuch bei der New Yorker Samenbank, und mir war etwas unbehaglich zumute.
»Ich glaube, es wäre gut, wenn fast alle hierherkämen«, sagte ich achselzuckend. »Ich halte weltweit Vorträge über die Zukunft der menschlichen Fortpflanzung und erkläre allen, die es hören wollen, dass sie, wenn sie beabsichtigen, irgendwann Kinder zu bekommen, zwischen zwanzig und dreißig ihre Eizellen beziehungsweise ihr Sperma einfrieren lassen sollten. Ich bin lediglich ein bisschen spät dran.«
Sie hob eine Augenbraue. Circa zwanzig Jahre zu spät? »Ich verstehe nicht ganz. Sind Sie Samenspender?«
»Nein.«
»Müssen Sie sich demnächst einer Chemotherapie oder einer anderen medizinischen Behandlung unterziehen, die Ihr Sperma schädigen könnte?«
»Nein.«
»Sind Sie Militärangehöriger und werden in Kürze in ein Kriegsgebiet abkommandiert?«
»Nein.«
»Die einzige weitere Kategorie auf meinem Formular lautet Andere Gründe«, erklärte sie nach einem kurzen verlegenen Schweigen. »Soll ich das ankreuzen?«
Da ich leicht verunsichert war, wollte ich die Optionen lieber nicht nennen, die mir durch den Kopf gingen. Womöglich will ich eines Tages Kinder haben, weshalb es gut wäre, mein relativ junges Sperma jetzt einzulagern. Womöglich werde ich anbieten, mein Sperma auf eine Reise ins All zu schicken, wenn die Menschheit beginnt, weitere Teile des Sonnensystems zu bevölkern. Womöglich bewahrheitet sich meine Ansicht, und unsere Spezies strebt einer Zukunft entgegen, in der es genetische Veränderungen geben wird und in der wir unsere Nachkommen im Labor statt im Bett oder auf der Rückbank eines Autos zeugen.
»Also?«, fragte sie.
Ich lächelte nervös, während ich mir des erstaunlichen Augenblicks in der menschlichen Evolutionsgeschichte gewahr wurde, in dem revolutionäre neue Technologien und meine individuelle Biologie in einem aseptischen Büro mitten in Manhattan aufeinandertrafen.
Wissenschaftler und Theologen können diskutieren, ob der erste Funken Leben auf unserem Planeten hydrothermalen Quellen am Meeresboden oder dem göttlichen Willen (oder beidem) entstammt, aber fast alle, die an die Wissenschaft glauben, stimmen darin überein, dass vor etwa 3,8Milliarden Jahren die ersten einzelligen Organismen entstanden. Diese Mikroorganismen wären nach einer Generation wieder ausgestorben, wenn sie nicht einen Weg gefunden hätten, sich zu reproduzieren. Das Leben fand diesen Weg, und die Mikroben, die sich teilten, bescherten ihren mikrobiellen Familien dadurch eine Zukunft. Wenn jede dieser frühen Zellteilungen eine exakte Kopie der vorhergegangenen gewesen wäre, wäre unser Planet noch immer ausschließlich von jenen einzelligen Wesen bevölkert, und Sie würden dieses Buch nicht lesen. Aber es kam anders.
Die Geschichte unserer Spezies ist von kleinen Fehlern und anderen Veränderungen geprägt, die sich beim Vorgang der Reproduktion immer wieder einschlichen.
Nachdem im Laufe einer Milliarde Jahre solch minimale Abweichungen eine enorme Anzahl geringfügig unterschiedlicher Exemplare erschaffen hatten, verwandelten sich eines oder mehrere davon in simple multizelluläre Organismen. Aus heutiger Sicht machten sie zwar nicht viel her, waren aber in der Lage, bei der Reproduktion noch mehr Unterschiede zu kreieren. Einige dieser Varianten verschafften mancher Art von Organismus einen kleinen Vorteil bei der Nahrungsbeschaffung oder der Abwehr von Feinden und dadurch die Möglichkeit, weiterzuleben und stärker zu mutieren. Nachdem das zweieinhalb Milliarden Jahre lang so gegangen war, machten das Mutieren und der Konkurrenzkampf, die das Leben voranbrachten, einen weiteren wundersamen Sprung nach vorn: Die geschlechtliche Fortpflanzung begann.
Die geschlechtliche Fortpflanzung führte zu einer komplett neuen Form von Diversität, da sich die genetischen Informationen von Müttern und Vätern auf neuartige Weise miteinander verbanden.1 Dieser unglaubliche Vorgang brachte einige dieser simplen Organismen so heftig in Wallung, dass sie, speziell vor etwa 540 Millionen Jahren, wie wild zu einer bisher unvorstellbaren Vielfalt an Lebensformen mutierten, darunter zu Fischen. Vor circa 200Millionen Jahren krochen einige Fische an Land und wurden zu Säugetieren. Vor etwa 300000Jahren verwandelten sich dann einige dieser Säugetiere in den Homo sapiens: in uns.
Das ist im Grunde unsere Evolutionsgeschichte. Jeder von uns geht auf einen einzelligen Organismus zurück, der sich während knapp vier Milliarden Jahren mittels zufälliger, unbändiger Mutation verändert hat, wobei sich unsere Vorfahren in einer endlosen Folge gnadenloser Überlebenskämpfe gegen ihre Konkurrenten durchsetzen mussten. Wenn Ihre Vorfahren überlebt und sich fortgepflanzt haben, gehören Sie heute zu uns. Wenn nicht, dann nicht. Die kurz gefasste Bezeichnung dafür lautet Darwin’sche Evolution. Sie hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir uns befinden. Aber jetzt mutieren auch die Regeln der Darwin’schen Evolution.
Künftig wird sich ein Großteil unserer Mutation nicht zufällig ereignen. Sie wird von uns selbst gestaltet werden.
Künftig wird nicht mehr von natürlicher Selektion die Rede sein können. Sie wird von uns selbst gelenkt werden.
Künftig wird unsere Spezies selbst die Kontrolle über unseren evolutionären Prozess ausüben, denn wir werden unsere künftigen Nachkommen genetisch so verändern, dass sie sich von dem, was wir heute sind, unterscheiden. Mit anderen Worten: Wir stehen am Beginn eines Prozesses, bei dem wir Darwin hacken werden. Wir werden ihn »überlisten«.
Es handelt sich um ein ungeheuer ambitioniertes Vorhaben mit gigantischen Implikationen.
Die aktuelle Version der Spezies Homo sapiens war zu keinem Augenblick der evolutionäre Schlusspunkt, sondern stets nur ein Zwischenstopp auf unserer unaufhörlichen Evolutionsreise. Zukünftig werden wir diesen Prozess in nie gekanntem Maße mittels unserer Technologien steuern, hoffentlich geleitet von ehrenhaften Prinzipien.
Wenn wir tausend Jahre in die Vergangenheit reisen, ein Baby kidnappen und es in unsere Gegenwart verpflanzen würden, so würde dieses Kind zu einem Erwachsenen werden, der sich von seinen Mitmenschen nicht unterscheidet. Aber wenn wir noch einmal in die Zeitmaschine klettern und diesmal tausend Jahre in die Zukunft reisen würden, wäre das Baby, das wir mit uns zurückbrächten, nach unseren heutigen Maßstäben ein genetischer Supermensch. Sie oder er wäre stärker und schlauer als die anderen Kinder, resistent gegen viele Krankheiten, langlebiger und besäße genetische Merkmale, die wir heutzutage zum Beispiel mit Genies assoziieren oder mit Tieren, die über ausgeprägte sensorische Wahrnehmungsfähigkeiten verfügen. Sie oder er könnte sogar Merkmale besitzen, die in der Welt der Menschen und Tiere noch unbekannt sind, aber eben jenen Bausteinen entstammen, die die enorme Diversität allen Lebens haben entstehen lassen.
»Sind Sie mit Andere Gründe einverstanden?«, fragte die Frau am Empfang und unterbrach den Strom meiner Gedanken.
Ich holte tief Luft. »Das ist wahrscheinlich die beste Alternative.«
»Hmm«, murmelte sie, offenbar leicht verärgert, dass ich abgelenkt wirkte. »Und welche Dauer schwebt Ihnen für die Lagerung vor?«
»Wie wär’s erst einmal mit hundert Jahren? Dann sehen wir weiter.«
Sie beäugte mich misstrauisch. »Tut mir leid, aber wir bieten nur ein, drei und fünf Jahre an.«
Meine Miene verriet meine Besorgnis. »Das ist mir eigentlich zu kurz.«
»Sie können immer wieder verlängern.«
»Das muss ich dann aber oft machen«, wandte ich ein. »Woher weiß ich, dass es diese Einrichtung noch längere Zeit geben wird?«
»Keine Sorge. Das wird es. Wir haben gerade unsere Räume renoviert.«
Ich schluckte. Wir hatten eindeutig unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft der Reproduktion.
»Bitte nehmen Sie Platz und füllen Sie diese Formulare aus«, sagte sie. »Ich rufe Sie dann auf.«
Kurz danach saß ich angespannt auf einem der harten roten Plastikstühle des weißen, schmucklosen Wartezimmers, füllte, beschallt von zuckrigem Hintergrundgedudel, die Formulare aus und dachte darüber nach, wie ich an diesen Punkt in meinem Leben gelangt war. Ich rief mir die sonderbare Kette von Ereignissen ins Gedächtnis, die mich zur obsessiven Beschäftigung mit der Gentechnik gebracht hatte. Eine Gentechnik, die die evolutionäre Laufbahn jedes Mitglieds unserer Spezies verändern wird, einschließlich meiner Wenigkeit.
Es begann, als ich während der zweiten Amtszeit von Präsident Clinton im Weißen Haus für den Nationalen Sicherheitsrat arbeitete. Mein damaliger Chef und heutiger guter Freund Richard Clarke erklärte jedem, der zuzuhören bereit war, dass der Terrorismus eine große Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes war und dass die USA sehr viel entschiedener gegen einen obskuren Terroristen namens Osama bin Laden vorgehen sollten. Als am 11.September 2001 die Flugzeuge in die Twin Towers flogen, befand sich Richard Clarkes prophetisches und inzwischen berühmt gewordenes Memorandum zu Al-Qaida unbeachtet in Präsident Bushs Posteingang.
Clarke pflegte zu sagen, dass immer, wenn sich alle in Washington auf eine bestimmte Sache konzentrieren, garantiert etwas anderes, wesentlich Wichtigeres übersehen wird. Das merkte ich mir. Nachdem ich das Weiße Haus verlassen hatte, fragte ich mich, welches diese besonders wichtigen, aber stiefmütterlich behandelten Angelegenheiten gewesen waren. Im Geiste kehrte ich immer wieder zu der damals anbrechenden Revolution in der Genetik und der Biotechnologie zurück. Leidenschaftlich vertiefte ich mich in die Lektüre von allem, dessen ich habhaft werden konnte, und beschäftigte mich mit einigen der schlausten Wissenschaftler und Denker, um von ihnen zu lernen. Als ich glaubte, genug zu wissen, um eine eigene Meinung zu vertreten, begann ich, für außenpolitische Zeitschriften Artikel über die Auswirkungen der Genetikrevolution auf die nationale Sicherheit zu schreiben.
Anfang 2008 rief mich eines Tages unerwartet der ebenso intelligente wie exzentrische kalifornische Kongressabgeordnete Brad Sherman an. Sherman, damals im Repräsentantenhaus Vorsitzender des zum Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten gehörenden Unterausschusses für Terrorismus, Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Handel, sagte zu mir, er habe viel über die nächste Generation terroristischer Bedrohungen nachgedacht. Er habe einen meiner Artikel gelesen, und er habe ihm so sehr gefallen, dass er im Kongress auf Grundlage meiner Texte eine Anhörung veranstalten wolle. Ich fühlte mich geehrt und erklärte mich bereit, ihn zu unterstützen, indem ich weitere Teilnehmer aussuchen und als wichtiger Sachverständiger bei dieser vorausschauenden Anhörung im Juni 2008 auftreten würde. Die Veranstaltung sollte den Titel tragen: »Genetik und andere Technologien zur Modifikation des Menschen«.
»Wenn unsere Nachfahren in 200Jahren auf das gegenwärtige Zeitalter zurückblicken und sich fragen, was seinerzeit die größte außenpolitische Herausforderung war«, erklärte ich bei der Anhörung, »dann wird meiner Ansicht nach der Terrorismus, so groß seine Bedeutung auch sein mag, nicht an erster Stelle stehen. Ich spreche heute zu Ihnen, weil ich glaube, dass es um die Art und Weise gehen wird, mit der wir Amerikaner und die internationale Gemeinschaft unsere neu entwickelten Fähigkeiten gehandhabt haben werden, auf unsere eigene genetische Beschaffenheit manipulativ einzuwirken.«2
Die Aufmerksamkeit, die der Kongressanhörung zuteilwurde, brachte mich zu der Überzeugung, dass ich ein wichtiges Thema vor mir hatte und ich mich noch intensiver mit diesem unglaublich faszinierenden und sich rasch wandelnden Forschungsbereich auseinandersetzen musste. Offenbar waren auch meine Ansichten es wert, gehört zu werden.
Ich veröffentlichte immer häufiger in Politikzeitschriften Artikel und fing an, im In- und Ausland Vorträge über die Zukunft der Genmanipulation beim Menschen zu halten. Je größer mein Wissen und mein Engagement wurden, desto stärker wuchsen sowohl meine Überzeugung, dass wir als Gesellschaft nicht annähernd genug taten, um uns auf die bevorstehende genetische Revolution vorzubereiten, als auch meine Befürchtung, dass ich zu wenig Menschen erreichte.
Nach und nach wurde mir bewusst, dass ich meine Art der Vermittlung ändern musste, um meiner Botschaft Gehör zu verschaffen. Wenn meine Vorträge über Genpolitik die Menschen nicht erreichten, musste ich zu Mitteln greifen, die ich schon in der Vergangenheit benutzt hatte.
Nach der Veröffentlichung meines ersten Buches, einer umfassenden, aber kaum gelesenen Abhandlung voller Fußnoten über den Völkermord in Kambodscha, hatte ich begriffen, dass die geeignete Form für dieses Thema nicht ein trockener historischer Wälzer, sondern eine gut erzählte Geschichte gewesen wäre. Wir waren schon immer Geschichtenerzähler. Aus den Geschichten, die in Höhlen und an Lagerfeuern erzählt wurden, haben sich unsere Romane, Filme und Fernsehserien entwickelt. Mein zweites Buch und zugleich erster Roman, »The Depths of the Sea«, behandelte erneut die tragischen Ereignisse in Kambodscha, aber dieses Mal in Form einer Reihe miteinander verknüpfter Geschichten über Menschen, die es nach dem Vietnamkrieg an die Grenze zwischen Thailand und Kambodscha verschlagen hatte. Das erste Buch war zweifellos die akkuratere Schilderung der kambodschanischen Katastrophe, aber der Roman war deutlich lesbarer.
Als ich mir Jahre später die Frage stellte, wie ich für die extrem wichtigen Aspekte der genetischen Revolution Leute interessieren könnte, die ich mit meinen Aufsätzen und Vorträgen nicht erreichte, wandte ich dieselbe Strategie an. In meinen Science-Fiction-Romanen – »Genesis Code«, der die Auswirkungen der genetischen Revolution zum Thema hatte, und »Eternal Sonata«, in dem ich darüber spekulierte, wohin die Verlängerung des Lebensalters womöglich führen wird – versuchte ich mir vorzustellen, welche konkreten Folgen die revolutionären Gentechnologien für die Menschheit haben werden. Ich versuchte, den Lesern das Thema unserer genetischen Zukunft auf verständliche Weise nahezubringen.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes auf meinen Lesereisen. Das Publikum war zwar hinlänglich begeistert von den apokalyptischen Kämpfen, den Intrigen der Meisterspione, den Liebesgeschichten und den gewaltigen Explosionen, die ich erdacht hatte, um meiner Science-Fiction-Welt Leben einzuhauchen, aber besonders gebannt lauschten sie, wenn ich ihnen die wissenschaftlichen Hintergründe der genetischen Revolution und deren vermutliche Auswirkungen auf uns Menschen erläuterte. Wenn ich wissenschaftliche Zusammenhänge mit der Sprache und der Erzählweise eines Schriftstellers erklärte, schienen die Zuhörer plötzlich zu begreifen, wie die wissenschaftlichen Informationshappen, die ihnen in ihrem täglichen Leben untergekommen waren, sich in die Geschichte unserer Zukunft einfügten. Ich stellte fest, dass ich immer weniger über meine fiktiven Erzählungen, dafür zunehmend über die realen Technologien sprach, die das Zeug hatten, die Menschheit grundlegend zu verändern.
Die lebhaften Gespräche bei Lesungen und anderen Veranstaltungen trieben mich dazu, noch mehr erfahren zu wollen und mit einem noch größeren Nachdruck Fragen über die Zukunft der gentechnischen Eingriffe am Menschen und über meine persönliche Einstellung dazu zu stellen.
Mit Mitte vierzig hatte ich noch nicht die Kinder, von denen ich immer angenommen hatte, dass ich sie irgendwann haben würde, was zum Teil an meinem ausdauernden und nicht ganz rationalen Glauben an die Wissenschaft, eine gesunde Lebensweise und eine positive Grundhaltung als Gegengewicht zu der vernichtenden Kraft der Zeit und der Grausamkeit der Biologie lag. Ich bin ein eingefleischter Technikoptimist, aber wenn ich vor Publikum Bilder unserer künftigen Welt heraufbeschwor, fragte ich mich, ob ich wirklich in dem Maße an die magische Kraft der Technik glaubte, wie ich es behauptete.
Glaubte ich tatsächlich, dass das Wissen, das in 150Jahren genetischer Wissenschaft angesammelt worden war, ausreichte, um das Resultat von Milliarden Jahren evolutionärer Biologie zu verändern? Würde ich tatsächlich darauf wetten, dass genetische Veränderungen, die helfen würden, mein künftiges Kind gesünder, klüger und stärker zu machen, es auch glücklicher machen würden? Hatte ich nicht als Geschichtsstudent darauf gewettet, dass genveränderte Menschen ihre neu gewonnenen Fähigkeiten dazu nutzen würden, andere zu unterdrücken, so wie das Kolonialmächte stets getan hatten? Und war ich als Sohn eines Flüchtlings aus Nazideutschland tatsächlich bereit, die Vorstellung zu akzeptieren, dass Eltern beginnen könnten oder sogar sollten, ihre künftigen Kinder auf Basis unvollständiger genetischer Theorien auszuwählen und zu formen?
Wie auch immer meine Antworten lauteten, eines war klar: Nachdem beinahe vier Milliarden Jahre lang die Evolution gemäß bestimmter Regeln vonstattengegangen ist, schickt sich unsere Spezies nun an, sich gemäß anderer Regeln weiterzuentwickeln.
In seinem prophetischen, 1865 erschienenen Roman »Von der Erde zum Mond« beschreibt der Schriftsteller Jules Verne eine Drei-Mann-Crew, die in einem Geschoss zum Mond fliegt und dann per Fallschirm zurückkehrt. 1865 war das ein Werk purer Science-Fiction. Kaum eine der Technologien, die ein Jahrhundert später die Menschen zum Mond bringen würden, war bereits entwickelt. Sich 1865 eine Mondlandung vorzustellen, war so, als würde man sich heute vorstellen, wie Menschen in ein anderes Sonnensystem reisen – vielleicht ist es eines Tages möglich, aber wir haben bisher kaum eine Ahnung, wie es zu bewerkstelligen wäre. Der wissenschaftliche Fortschritt ist noch nicht so weit.
Ein knappes Jahrhundert später, im Jahr 1962, erklomm der amerikanische Präsident John F. Kennedy ein Podium in Houston, um die berühmte Rede zu halten, in der er verkündete, dass die USA bis zum Ende des Jahrzehnts einen Mann auf den Mond bringen würden. Präsident Kennedy hatte keine Bedenken, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die Glaubwürdigkeit der USA zu riskieren, denn alle Technologien, die eine erfolgreiche Mondlandung ermöglichen würden – Raketen, Hitzeschilde, Systeme für das Überleben im All, Computer, die komplexe mathematische Berechnungen anstellen konnten –, waren 1962 bereits vorhanden. Er beschwor weder – wie Jules Verne – eine weit entfernte Zukunft herauf, noch dachte er sich Science-Fiction aus. Er zog eindeutige Schlüsse aus der Existenz von Technologien, die nur noch ein paar Ergänzungen brauchten. Fast alle Voraussetzungen waren geschaffen, und es war keine Frage, ob der Plan umgesetzt werden würde, sondern nur, wann. Sieben Jahre später stieg Neil Armstrong die Leiter der Apollo 11 hinab, an deren Ende ihn »ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit« erwartete.
Was die genetische Revolution angeht, ist die Gegenwart kein Äquivalent zu 1865, sondern zu 1962. Wenn wir von der Umgestaltung unserer Spezies sprechen, dann handelt es sich nicht um spekulative Science-Fiction, sondern um die logische, baldige Weiterentwicklung von bereits existierenden Technologien, bei denen in hohem Tempo Fortschritte erzielt werden. Wir verfügen inzwischen über das nötige Handwerkszeug, um die genetische Beschaffenheit unserer Spezies zu verändern. Die Wissenschaft ist bereit, und die Umsetzung wird unausweichlich kommen. Unklar ist nur, ob dieser Prozess ein paar Jahrzehnte früher oder später voll in Gang kommt und welche Werte bei der Steuerung dieses technologischen Fortschritts Anwendung finden werden.
Nicht jedem ist das Moore’sche Gesetz bekannt, das besagt, dass sich die Rechnerleistung von Computern etwa alle zwei Jahre mehr oder weniger verdoppelt, aber wir alle haben seine Implikationen verinnerlicht. Darum erwarten wir von jeder neuen Version unseres iPhones oder Laptops, dass sie leichter und leistungsfähiger ist. Und es wird immer deutlicher, dass es ein Äquivalent zum Moore’schen Gesetz für das Verstehen und Verändern aller biologischen Systeme gibt, einschließlich des unsrigen.
Wir begreifen mehr und mehr, dass unsere Biologie eine weitere Form von Informationstechnologie ist. Unsere Erbmasse hat nichts Magisches, wie wir inzwischen wissen, sondern ist ein Code, der in immer größerem Maße begriffen, gelesen, geschrieben und gehackt werden kann. Aus diesem Grund werden wir bald viele der Erwartungen an uns selbst haben, die wir auch an andere Informationstechnologien stellen. Wir werden uns zunehmend auf vielfältige Weise alsIT betrachten.
Diese Vorstellung ängstigt viele Menschen, und das sollte sie auch. Sie sollte uns aufgrund ihres unglaublichen lebensbejahenden Potenzials aber auch begeistern. Egal, wie wir darüber denken, die genetische Zukunft wird wesentlich früher anbrechen, als viele erwarten, denn sie fußt auf bereits existierenden Technologien.
Zuerst werden wir die vorhandenen Technologien der In-vitro-Fertilisation (IVF) und der fundierten Embryo-Auswahl nicht nur, wie es heute der Fall ist, verwenden, um simple Erbkrankheiten auszuschließen und das Geschlecht auszuwählen; wir werden auf diesem Wege auch ganz allgemein die Erbanlagen unserer künftigen Kinder auswählen und dann verändern.
Eine zweite, überlappende Phase der humangenetischen Revolution wird einen Schritt weiter gehen, denn man wird die Zahl der Eizellen, die für die IVF verfügbar sind, schlagartig erhöhen, indem man aus einer großen Anzahl adulter Zellen, beispielsweise Blut- oder Hautzellen, Stammzellen erzeugt, aus diesen Stammzellen Eizellen macht und diese Eizellen dann zu echten Eiern reifen lässt.
Falls und sobald dieser Vorgang gefahrlos bei Menschen angewandt werden kann, wird es Frauen, die sich für eine IVF entscheiden, möglich sein, nicht nur zehn oder 15Eizellen befruchten zu lassen, sondern Hunderte. Statt nur die relativ kleine Zahl eigener Embryonen zu screenen, wären die potenziellen Eltern in der Lage, die Screenings von 100 oder mehr Embryonen zu bewerten und so Big-Data-Analyse in den Prozess der Embryo-Auswahl einzubinden.
Viele Eltern werden zudem die Möglichkeit in Betracht ziehen, ihre künftigen Kinder nicht nur auszuwählen, sondern auch genetisch zu verändern. Methoden zur Gen-Editierung gibt es seit Jahren, aber in jüngster Zeit wurden neue Verfahren wie CRISPR/Cas9 entwickelt, die es möglich machen, Eingriffe an Genen aller Spezies – einschließlich den unsrigen – präziser, schneller, flexibler und erschwinglicher vorzunehmen als je zuvor. Mit CRISPR und ähnlichen Verfahren wird es am Ende wissenschaftlich machbar sein, Embryonen neue Merkmale und Fähigkeiten zu verleihen, indem man DNA injiziert, die von anderen Menschen oder Tieren stammt und eines Tages sogar synthetisch hergestellt werden wird.
Haben Eltern erst einmal begriffen, dass sie mittels IVF und Embryo-Auswahl das Risiko zahlreicher Erbkrankheiten ausschließen und zugleich als positiv geltende Merkmale wie einen hohen IQ, eine starke Extrovertiertheit und ausgeprägte Empathie auswählen können, wird eine größere Zahl an Eltern wollen, dass ihre Kinder außerhalb des Körpers der Mutter gezeugt werden. Viele werden die Empfängnis durch Geschlechtsverkehr als großes und unnötiges Risiko betrachten. Regierungen und Versicherungsunternehmen werden künftige Eltern zu IVF und Embryo-Auswahl drängen, um zu vermeiden, dass sie große Summen für die lebenslange Behandlung und Betreuung von Kindern mit Erbkrankheiten ausgeben müssen.
Ich kann mir, egal, wer die Propagandisten und Profiteure sein werden, kaum vorstellen, dass unsere Spezies darauf verzichten wird, Fortschritte bei Technologien anzustreben, die das Potenzial besitzen, schreckliche Krankheiten auszurotten, unsere Gesundheit zu verbessern und unsere Lebensspanne zu vergrößern. Wir haben uns jede neue Technologie – vom Sprengstoff über die Kernenergie bis hin zur plastischen Chirurgie – zunutze gemacht, die versprach, unser Leben, trotz ihrer potenziellen Gefahren, zu verbessern. Auch in diesem Fall wird es nicht anders sein. Allein schon die Vorstellung, unser Erbgut zu verändern, verlangt nach einer gehörigen Dosis Demut – aber wir wären eine andere Spezies, hätten wir uns stets von Demut und nicht von größenwahnsinnigem Streben leiten lassen.
Mit diesen neuen Verfahren wird der Wunsch verknüpft sein, kurzfristig Erbkrankheiten auszurotten, mittelfristig Fähigkeiten zu verändern und zu verbessern und langfristig uns vielleicht in die Lage zu versetzen, auf einer heißeren Erde, im All oder auf anderen Planeten zu leben. Im Laufe der Zeit werden wir zu der Ansicht gelangen, dass der erfolgreiche Einsatz von Verfahren zur Manipulation unseres Genmaterials womöglich der größte technische Fortschritt in der Geschichte unserer Spezies ist, der Schlüssel für die Erschließung eines fast unvorstellbaren Potenzials und in vieler Hinsicht einer völlig neuen Zukunft.
Aber das macht das Ganze natürlich nicht weniger beunruhigend.
Wenn diese Revolution erst richtig begonnen hat, wird es Menschen geben, die der genetischen Verbesserung aufgrund ihrer Weltanschauung, ihres Glaubens oder gefühlter oder begründeter Sicherheitsbedenken mit Unbehagen begegnen. Das Leben besteht nicht nur aus Wissenschaft und Codes. Es beinhaltet auch Mysterien, Wagnisse und, für manche, Spiritualität.
Wenn wir eine ideologisch homogene Spezies wären, wäre diese Transformation eine Herausforderung. In einer Welt, in der die Meinungs- und Glaubensunterschiede so riesig sind und das Entwicklungsniveau so weit auseinanderklafft, besitzt sie, jedenfalls, wenn wir nicht aufpassen, das Potenzial für eine Katastrophe.
Wir müssen uns einige grundlegende Fragen stellen und sie beantworten. Wird der Einsatz dieser wirkungsvollen Technologien unsere Menschlichkeit befördern oder einschränken? Werden von den Vorzügen dieses wissenschaftlichen Fortschritts nur wenige Privilegierte profitieren, oder werden wir ihn nutzen, um Leid zu vermindern, Diversität zu respektieren und weltweit Verbesserungen bei Gesundheit und Wohlbefinden zu erreichen? Wer hat das Recht, individuelle oder kollektive Entscheidungen zu treffen, die im Endeffekt Auswirkungen auf den gesamten menschlichen Genpool haben? Und was für ein Verfahren ist, wenn überhaupt, vonnöten, um die bestmögliche kollektive Entscheidung über unsere zukünftige evolutionäre Entwicklung als eine oder womöglich mehrere Spezies zu treffen?
Es gibt auf diese Fragen keine einfachen Antworten, doch jeder einzelne Mensch muss bei der Suche nach ihnen beteiligt sein. Wir sollten uns alle an Präsident Kennedys Ankündigung in Houston orientieren und jeder eine eigene Rede über die Zukunft unserer Spezies angesichts der gen- und biotechnischen Revolution halten. Unsere kollektiven Antworten, beeinflusst von unseren Diskussionen, Organisationen, Bürgerbewegungen, politischen Strukturen und internationalen Organisationen, werden in vielfältiger Weise darüber entscheiden, wer wir sind, welche Werte wir haben und in welcher Weise wir voranschreiten wollen. Um Teil der Entwicklung zu sein, müssen wir jedoch unbedingt unser Wissen über diese Themen erweitern.
»Kommen Sie bitte, Mr.Metzl«, rief die Frau am Empfang. Ich schüttelte kurz den Kopf, schaute hoch, immer noch von leichter Nervosität erfüllt. Als sich die Tür zum hinteren Teil des Flures öffnete, stand ich langsam auf, verharrte einen Augenblick und machte dann entschlossen den ersten Schritt.
Ich habe dieses Buch geschrieben, um darzulegen, dass die humangenetische Revolution zwar unausweichlich ist und schon bald anbrechen wird, der Ausgang dieser Revolution aber keinesfalls vorherbestimmt ist, sondern zu wichtigen Teilen von uns selbst abhängt. Um die klügsten kollektiven Entscheidungen über unseren Weg in die Zukunft zu treffen, müssen wir begreifen, was vor sich geht und was auf dem Spiel steht. Und wir sollten möglichst viele von uns an der Meinungsfindung beteiligen. Mit diesem Buch möchte ich meinen bescheidenen Beitrag zum Erreichen dieses Ziels leisten.
Die Tür steht für uns alle offen. Wir marschieren nolens volens auf sie zu. Unsere Zukunft erwartet uns.
Kapitel 1
Wie Darwin auf Mendel trifft
»Wer vorhat, in über zehn Jahren ein Kind zu bekommen, hebe bitte die Hand«, bat ich die große Gruppe von Millennials, die in einem schicken Konferenzsaal in Washington, D.C., vor mir saß. Etwa die Hälfte des Publikums meldete sich.
Ich hatte mich eine Dreiviertelstunde lang wortreich darüber ausgelassen, wie die bevorstehende genetische Revolution die Art und Weise verändern wird, wie wir Babys machen, und damit eines Tages auch das Wesen der von uns gemachten Babys. Ich hatte erläutert, warum ich glaubte, dass unsere Spezies sich unausweichlich unserer genetisch verbesserten Zukunft anpassen und sie gutheißen wird, warum dies zugleich ungeheuer spannend und zutiefst verstörend ist und was wir meiner Ansicht nach jetzt tun sollten, um den Nutzen der revolutionären Gentechnik möglichst zu optimieren und deren Schaden zu minimieren.
»Wenn Sie die Hand gehoben haben und eine Frau sind, sollten Sie wahrscheinlich Ihre Eizellen einfrieren lassen. Wenn Sie die Hand gehoben haben und ein Mann sind, rate ich Ihnen, Ihr Sperma möglichst bald einfrieren zu lassen.«
Das Publikum sah mich misstrauisch an.
»Es besteht die nicht unbedeutende Wahrscheinlichkeit«, fuhr ich fort, »egal, wie jung und fruchtbar Sie sind, dass die Zeugung Ihres Kindes in einem Labor erfolgen wird, und daher spricht nichts dagegen, Ihre Eizellen oder Ihr Sperma jetzt, da Sie sich auf dem biologischen Höhepunkt Ihres Lebens befinden, einfrieren zu lassen.«
Auf den Gesichtern dieser intelligenten jungen Akademiker war förmlich zu sehen, wie sie verstanden, worum es ging. Ich spürte fast den Konflikt, der in ihnen gärte. Ich hatte jahrzehntelang mit derselben Frage gerungen, die sie zu beunruhigen schien: Wie balancieren wir die Herrlichkeit und Brutalität unserer biologischen Existenz aus?
Wir werden alle durch einen Vorgang geboren, der geradezu wundersam anmutet, und beginnen dann sofort mit dem niemals endenden Kampf gegen die Zeit, gegen Krankheiten und gegen die Elemente, den wir am Ende verlieren werden. Wir fühlen uns stark zu allem hingezogen, das wir als natürlich erachten, doch unsere Spezies ist durch das unablässige Bemühen gekennzeichnet, die Natur zu zähmen. Wir wollen, dass unsere Kinder von Natur aus gesund zur Welt kommen, doch wenn es darum geht, ihre Kinder vor Krankheiten zu schützen, trotzen Eltern mit aller Macht der Natur.
Eine junge Frau in einem blauen Hosenanzug hob die Hand. »Sie haben gerade ausgeführt, wohin die genetische Revolution Ihrer Meinung nach führt und wie wir uns darauf vorbereiten sollen. Aber was ist mit Ihnen selbst? Würden Sie Ihre Kinder genetisch manipulieren?«
Ich erstarrte, was mir selten passiert. Seit vielen Jahren hatte ich mich in Texten und Vorträgen mit der Zukunft der menschlichen Reproduktion beschäftigt, aber aus irgendeinem Grund war mir diese Frage noch nie so direkt gestellt worden. Mir fiel nicht sofort eine Antwort ein, darum blickte ich einen Moment nach oben und dachte nach.
Die Humangenetik hat sich so schnell entwickelt, dass wir alle Schwierigkeiten haben, mitzuhalten. Als James Watson, Francis Crick, Rosalind Franklin und Maurice Wilkins 1953 die Doppelhelix-Struktur der DNA entdeckten, wurde klar, dass das Handbuch des Lebens die Form einer verdrehten Strickleiter hat. Dank der DNA-Sequenzierung, die nur ein Vierteljahrhundert später erstmals gelang, wurde es möglich, das Handbuch zu lesen und zu verstehen. Die Entwicklung von Verfahren zur präzisen Genom-Editierung versetzte Wissenschaftler wenige Jahrzehnte später in die Lage, den Code des Lebens zu schreiben und umzuschreiben. Etwas, was man lesen, schreiben und hacken kann: Der wissenschaftliche Fortschritt der vergangenen 50Jahre hat aus der Biologie eine Form von Informationstechnologie gemacht und Menschen von nicht entzifferbaren Wesen in Wetware* verwandelt, die ihrer eigenen, aus genetischem Code bestehenden Software folgt.
*Wetware ist ein Begriff, der aus der computerbezogenen Idee von Hard- oder Software stammt, aber auf biologische Lebensformen angewendet wird. Ursprünglich bezeichnet Wetware die »Software eines Lebewesens«, also Gehirn und Zellverbindungen.
Gentechnik als IT zu begreifen, hat uns immer mehr dazu gebracht, die genetischen Abweichungen und Mutationen, die Ursache schrecklicher Krankheiten und großen Leidens sind, sowohl als den unausweichlichen Preis evolutionärer Diversität anzusehen als auch als die lästigen, aber unvermeidbaren Bugs eines Computerprogramms. Sollten wir daher nicht, um im Bild zu bleiben, nach allen verfügbaren Software-Updates verlangen, um zu erreichen, dass unser System bestmöglich funktioniert?
Meine Antwort auf die Frage nahm allmählich Form an, und ich blickte wieder nach vorn. »Wenn es gefahrlos wäre und ich meinem Kind schweres Leiden ersparen könnte«, sagte ich und schritt dabei über das Podium, »dann würde ich es tun. Wenn ich überzeugt wäre, dass ich meinem Kind dazu verhelfen könnte, ein längeres, gesünderes, glücklicheres Leben zu führen, dann würde ich es tun. Und wenn ich mein Kind mit besonderen Fähigkeiten ausstatten müsste, damit es in einer von Konkurrenzkämpfen bestimmten Welt bestehen kann, in der fast alle Menschen erweiterte Fähigkeiten besitzen, dann würde ich zumindest ernsthaft in Betracht ziehen, es zu tun. Und was ist mit Ihnen?«
Die Frau wurde unruhig. »Schwierige Frage«, sagte sie. »Ich kann Ihre Haltung nachvollziehen. Aber mir kommt das Ganze irgendwie unnatürlich vor.«
»Lassen Sie mich kurz nachhaken«, antwortete ich. »Was verstehen Sie unter natürlich?«
»Wahrscheinlich den Zustand der Dinge, ehe die Menschen ihn verändert haben.«
»Ist Landwirtschaft demnach natürlich?«, fragte ich. »Wir betreiben sie erst seit etwa 12000Jahren.«
»Ja und nein«, sagte sie vorsichtig, da ihr offenbar bewusst wurde, dass die Natur nur ein schwaches Argument abgab.
»Ist biologisch angebauter Mais natürlich? Wenn wir 9000Jahre zurückgehen, werden wir nichts finden, was unserem heutigen Mais ähnelt. Es gab ein wild wachsendes Gras namens Teosinte, an dem ein paar mickrige Körner hingen. Erst durch menschliche Manipulation entstand im Laufe von Jahrtausenden der wunderschöne gelbe Kolben, der unsere Picknicktische ziert. Sehr viele der anderen Obst- und Gemüsesorten, auch jene, die wir im Bioladen kaufen, sind in vielerlei Hinsicht menschliche Schöpfungen, sie sind das Produkte jahrtausendelanger bewusster, selektiver Züchtung. Sind die natürlich?«
»Das ist eine Grauzone«, gab sie zu, klammerte sich aber offenbar weiterhin an ihre ursprüngliche Vorstellung von Natur.
»Wäre es natürlicher, wenn wir wie die Jäger und Sammler vor langer Zeit leben würden?«
»Wahrscheinlich.«
Ich wollte sie nicht weiter bedrängen, aber ein Punkt war mir noch wichtig.
»Würden Sie in so einer Gesellschaft leben wollen?«
Ein keckes Lächeln trat auf ihr Gesicht. »Gibt es dort Zimmerservice?«
»Sie sind also im Hotel Vierjahreszeiten und bekommen eine grässliche bakterielle Infektion. Würden Sie, wie unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren, mit Beschwörungsformeln und Beeren behandelt werden wollen, oder würden Sie Antibiotika bekommen wollen, die Ihr Leben retten könnten?«
»Ich entscheide mich für die Antibiotika«, sagte sie.
»Sind die natürlich?«
»Ich verstehe, was Sie meinen.«
Ich blickte mich im Saal um. »Wir haben alle tief sitzende Vorstellungen davon, was natürlich ist, aber vieles davon ist gar nicht natürlich. Es mag uns als solches überliefert sein, aber wir Menschen haben unsere Welt seit Jahrtausenden hartnäckig verändert. Wenn es nun schon immer unsere Angewohnheit ist, die biologischen und anderen Systeme um uns herum zu verändern, sollten wir dann den biologischen Zustand, den wir von unseren Eltern geerbt haben, als unser Schicksal begreifen? Haben wir das Recht oder sogar die Pflicht, die Software-Bugs in der Hardware unserer Körper und der Körper unserer Kinder zu eliminieren?«
Das Publikum zappelte nervös.
»Angenommen, Ihr künftiges Kind hat eine tödliche Krankheit. Heben Sie die Hand, wenn Sie bereit wären, Ihr Kind einer Operation zu unterziehen, um es zu retten.«
Alle Hände gingen nach oben.
»Und wenn Sie dafür sorgen könnten, dass Ihr Kind die Krankheit gar nicht erst bekommt, würden Sie das tun?«
Die Hände blieben oben.
»Lassen Sie die Hände oben, wenn Sie IVF und Embryo-Screening anwenden würden, um auszuschließen, dass Ihr künftiges Kind gefährdet ist.«
Die Hände blieben oben.
»Was wäre, wenn Sie das durch einen gefahrlosen kleinen Eingriff an den Genen Ihres Kindes erreichen könnten, der vor der Implantation des Embryos vorgenommen wird?«
Ein paar Hände sanken hinab.
Ich wandte mich an einen jungen Mann, der die Hand hatte sinken lassen, einen Mittzwanziger, der aussah, als entstamme er einer wohlhabenden Ostküstenfamilie. »Können Sie mir sagen, warum Sie das nicht tun würden?«
»Ich finde, wir haben kein Recht, auf diese Weise an unseren Kindern herumzudoktern«, sagte er. »Wir begeben uns damit auf gefährliches Terrain. Wenn wir erst einmal mit so etwas anfangen, an welchem Punkt hören wir dann auf? Wir könnten am Ende lauter Frankenstein’sche Ungeheuer erschaffen. Das bereitet mir Unbehagen.«
»Ich kann Sie sehr gut verstehen«, sagte ich. »Es sollte Ihnen Unbehagen bereiten. Es sollte uns allen Unbehagen bereiten. Wenn Sie nicht eine Mischung aus Faszination und Furcht empfinden, begreifen Sie nicht wirklich, worum es geht. Die Gentechnik wird uns ermöglichen, wunderbare Dinge zu tun, durch die Krankheiten vermieden und bisher noch unvorstellbare Potenziale erschlossen werden. Die neuen Versionen des Menschen, der Homo sapiens 2.0 und Folgende, werden diese Fähigkeiten nutzen, um neue Technologien zu entwickeln, neue Welten zu erkunden, grandiose Kunstwerke zu erschaffen und ein sich ständig erweiterndes Spektrum an Gefühlen zu erleben. Aber wenn wir nicht aufpassen, könnten dieselben Technologien Gesellschaften spalten, zur autoritären Herrschaft der verbesserten Menschen über die nicht verbesserten führen, sie könnten die Diversität verringern, uns dazu verleiten, menschliches Leben zu entwerten und zu verdinglichen, und sogar zu schweren nationalen und internationalen Konflikten führen.«
»Und wer bestimmt, wohin das alles führt?«, fragte eine andere Frau.
»Das wird die unausweichliche und wichtigste Frage sein, die wir uns einzeln und kollektiv in den kommenden Jahren stellen müssen«, sagte ich mit Nachdruck. »Von der Antwort hängt ab, wer und was wir sind, wo wir leben können und was uns als Menschheit und als Spezies möglich sein wird.«
Die Zuhörer setzten sich aufrechter hin. Ich spürte, wie der Pegel der Beklommenheit im Saal stieg.
»Wir sind diejenigen, die herausfinden müssen, wohin all das führen soll. Darum spreche ich heute hier vor Ihnen. Unsere Spezies als Ganzes wird in den nächsten Jahren folgenschwere Entscheidungen über unsere genetische Zukunft treffen. Einige dieser Entscheidungen, wie beispielsweise die Verabschiedung von Gesetzen, werden auf staatlicher Ebene getroffen werden. Aber viele wichtige Fragen werden von jedem Einzelnen beantwortet werden müssen, denn wir alle müssen klären, wie wir Kinder bekommen wollen. Der einzelne Mensch und das einzelne Paar werden nicht das Gefühl haben, über die Zukunft unserer Spezies zu entscheiden, aber alle zusammen werden wir genau das tun.«
Die vertraute Mischung aus Entsetzen, Staunen und Verwirrung, die ich von so vielen meiner Vorträge her kannte, breitete sich im Saal aus.
Dann schossen wie üblich die Hände in die Höhe. Genau wie die Siebtklässler, zu denen ich in New Jersey gesprochen hatte, die Schlaumeier auf Ideen-Festivals wie Tech Open Air oder South by Southwest, die Experten bei Exponential Medicine oder der New York Academy of Science, die Jurastudenten in Stanford oder Harvard und die Wissenschaftler, Gelehrten und Topmanager auf Konferenzen überall in der Welt, begann das Publikum die ungeheure Verantwortung zu begreifen und zu verinnerlichen, die dieser historische Moment jedem von uns aufbürdet.
Es ist eine Verantwortung, die uns an einer wichtigen Weggabelung in unserer Geschichte als Spezies zuteilwird, zu einem Zeitpunkt, da sich Biologie und Technologie in einem nie gekannten Maße überschneiden, wodurch einige unserer heiligsten Bräuche und Traditionen ins Wanken gebracht werden. So wie allen anderen dämmerte auch den Millennials in Washington, dass es bei der Zukunft humangenetischer Verbesserungen nicht nur um ein paar Änderungen an unseren Genen und denen unserer Kinder ging, sondern um die Schaffung einer vollkommen neuen Zukunft für uns als Menschheit.
Doch um zu verstehen, wohin wir aufbrechen, müssen wir erst einmal einen Schritt zurück gehen und erfahren, woher wir kommen.
Während der ersten 2,5Milliarden Jahre des Lebens auf der Erde haben sich unsere einzelligen Vorfahren klonal vermehrt.* Ein Bakterium teilte sich beispielsweise in zwei Bakterien mit denselben genetischen Merkmalen, und dann fing der Vorgang wieder von vorne an. Das war eine perfekte Methode, denn man brauchte keine Zeit und Energie für die Partnerwahl aufzuwenden. Man musste nur Nahrung suchen und sich teilen, damit das eigene Geschlecht weiter existierte. Der Nachteil war, dass die klonale Fortpflanzung für ein großes Maß an Gleichförmigkeit unter den einzelligen Organismen einer bestimmten Gemeinschaft sorgte und, verglichen mit der späteren Situation, die Möglichkeiten zur natürlichen Selektion begrenzte.
*Vor 3,5Milliarden Jahren teilten sich die ersten einzelligen Mikroben in zwei Äste: Bakterien und Archaeen. Einige Biologen sind überzeugt, dass es noch einen dritten Ast gab, die Eukaryoten.
Diese Gleichförmigkeit war jedoch nicht zu 100Prozent gegeben. Bakterien entwickelten eine Methode, sich mithilfe mikroskopisch kleiner Harpunen, genannt Pili, Gene aus anderen Bakterien regelrecht zu schnappen.1 Während die klonale Fortpflanzung den Bakterien zwar half, vorteilhafte Mutationen weiterzugeben, waren zugleich ganze Kolonien bedroht, wenn Gefahren wie eine Vireninfektion der Bakterien auftauchten, weil die geklonten Bakterien zu viele derselben Schwächen in ihren Verteidigungsmechanismen besaßen. Geschlechtliche Fortpflanzung änderte das im großen Stil.
Exakte Kopien sind in der Biologie selten absolut perfekt. Auch wenn es unmöglich ist, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, legen Fossilienfunde doch nahe, dass vor etwa 1,2Milliarden Jahren einer dieser simplen Organismen eine sonderbare Mutation erfuhr. Statt sich nur selbst zu kopieren oder sich ein paar Gene aus anderen Mikroorganismen zu schnappen, paarte er sich irgendwie mit einer anderen Mikrobe, um Nachkommen mit einer Kombination der DNA beider Eltern zu erzeugen – und voilà, plötzlich war Sex im Spiel und veränderte die evolutionären Möglichkeiten dramatisch.
Es war mühsamer, einen Partner zu finden, als sich selbst zu klonen – denn beim Klonen gab es logischerweise keinen Wettbewerb mit anderen potenziellen Verehrern. Jene, die nach dem optimalen Partner Ausschau hielten, mussten immer wieder neue, verbesserte Fähigkeiten zum Anlocken der besten Individuen und zur Abwehr von Konkurrenten entwickeln. Aber sobald man sich einen Partner gesichert hatte, konnten beide bei der Fortpflanzung ihr Genmaterial umfänglicher und zufälliger mischen – ein Riesenvorteil.
Organismen, die sich geschlechtlich fortpflanzten, produzierten mehr genetische Versager als ihre die klonale Methode praktizierenden Vorfahren, aber sie hatten auch eine wesentlich größere Chance, genetische Sieger zu erzeugen. Während permanent viele verschiedene Arten von Organismen mittels geschlechtlicher Fortpflanzung erzeugt wurden, zeigte es sich, dass Spezies, die sich geschlechtlich fortpflanzten, in der Lage waren, sich rascher an veränderte Lebensbedingungen anzupassen, erfolgreicher Eindringlinge abzuwehren und Nahrung zu finden und auf diese Weise den Prozess evolutionärer Veränderung zu beschleunigen. Als eine dieser Spezies besteht unsere gesamte Evolutionsgeschichte aus einer Abfolge von oft zufälligen Genmutationen und Genvarianten, die eine Vielzahl neuer Merkmale hervorbrachten, von denen sich die besonders nützlichen über unsere gesamte Spezies ausbreiteten. Ausgestattet mit diesen Unterschieden, traten unsere Vorfahren miteinander und mit der Umwelt in einen Wettstreit, den Darwin natürliche Auslese nannte.
Später sah sich der Prozess der geschlechtlichen Vermehrung mit einem evolutionären Druck konfrontiert, auf den verschiedene Kreaturen unterschiedlich reagierten. Einige, wie der heutige Lachs, sonderten so viele Eier wie möglich ab und hofften, dass einige davon auf Sperma treffen würden. Tausende von Eiern in Löchern auf dem Grund eines Flusses zu deponieren, steigerte die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein Teil von ihnen von männlichem Sperma befruchtet wurde, aber dieses Vorgehen schloss die Möglichkeit der Elternschaft aus. Man mag von seinen Eltern halten, was man will, aber die Elternschaft als solche bringt gewaltige evolutionäre Vorteile mit sich.
Statt eine riesige Zahl von Eiern abzusondern, blieben bei anderen Organismen – darunter auch unsere Vorfahren in nicht allzu weit zurückliegender Vergangenheit – die Eier im Körper der weiblichen Individuen, bis die Befruchtung dort Embryonen heranwachsen ließ. Würde man Sex mit Roulette gleichsetzen, bedeutete das, dass Lebewesen wie der Lachs auf jede Zahl einen Chip legen, aber Lebewesen wie wir unsere Chips nur auf wenige Zahlen platzieren. Indem sie weniger Nachkommen als andere Säuger produzierten und sie näher bei sich behielten, investierten unsere Vorfahren mehr in das Großziehen von Kindern, wodurch unsere Kinder Fertigkeiten entwickeln konnten, die jene weit übersteigen, zu denen ein Lachs, der nach dem Ausschlüpfen allein ist, je in der Lage wäre.
Geschlechtliche Fortpflanzung förderte die Diversität enorm und führte so zu einem beständigen evolutionären Wettrüsten. War der Lachs erfolgreich, pflanzte er sich in großer Zahl fort, aber er konnte per definitionem beim Großziehen seiner Kinder nicht eingreifen, da sie schon lange woanders waren. Wir hingegen beschützten unsere hilflosen Babys nach der Geburt, ermöglichten es, dass ihr Gehirn wuchs, und behandelten sie fürsorglich, um sie mit neuen Fertigkeiten auszustatten. Unsere Natur schuf die evolutionäre Möglichkeit für unsere Fürsorge. Dank unseres Erfolgs erschufen wir die Zivilisation.
Der fest verwurzelte Sexualtrieb stellte sicher, dass unsere Vorfahren sich geschlechtlich vermehrten, auch wenn sie, zumindest technisch gesehen, kaum verstanden, was da passierte. Die frühen Zivilisationen schrieben das Wunder der Fortpflanzung göttlichen Kräften zu, aber dank unserer eingefleischten Wissbegier versuchten wir hartnäckig, die Welt um uns herum zu ergründen. Über Jahrtausende hinweg wurden nur sehr langsam Fortschritte beim Ergründen unserer Biologie gemacht, doch als die naturwissenschaftliche Revolution mit ihren neuen Theorien und Methoden anbrach, vergrößerte sich unser Wissen rapide.
Im Jahr 1677 sprang der Niederländer Antonie van Leeuwenhoek eines Tages frohgemut aus dem Bett. Der Erfinder eines Mikroskops, das wesentlich besser als alle bisherigen Geräte dieser Art war, hatte schon zuvor für sich allein tiefe Einblicke in die Körperflüssigkeiten Blut, Speichel und Tränen genommen. Dieses Mal hatte er allerdings die Hilfe seiner Frau in Anspruch genommen. Nach einem Geschlechtsverkehr legte er einen Teil seines Ejakulats unter sein Mikroskop und war erstaunt, etwas zu sehen, das er als »Samenwürmer« beschrieb, die herumzappelten »wie ein Aal im Wasser«.2 Aber welche Rolle, fragte er sich, spielten diese zappeligen Würmer?
Eine im damaligen Europa weitverbreitete, ursprünglich von den Griechen der Antike stammende Vorstellung bestand darin, dass der männliche Samen Homunkuli enthielt, also winzige Gestalten, die später zu Menschen heranwachsen. Der weibliche Körper war dieser Hypothese zufolge vergleichbar dem Erdboden, in dem aus einem Samenkorn eine Pflanze wird. Eine andere Meinung besagte, dass die Eizellen der Frau Miniaturausgaben eines Menschen enthielten, deren Wuchs durch den Samen des Mannes in Gang gesetzt wurde. Eine dritte Gruppe von Menschen, vermutlich überwiegend Dummköpfe, glaubte, das Leben entwickele sich spontan, so wie Fliegen, die aus faulendem Fleisch aufsteigen. Im 18.Jahrhundert erdachte der brillante katholische Priester und Universalgelehrte Lazzaro »Magnifico« Spallanzani in Italien ein geniales Experiment, um seine Hypothesen über die Fortpflanzung zu überprüfen. Er nähte winzige Froschhosen aus Taft, die es den männlichen Fröschen unmöglich machten, ihre »Flüssigkeit« auf die Weibchen zu übertragen. Heute lernt das jeder Heranwachsende im Sexualkundeunterricht, aber im 18. Jahrhundert war es eine große Neuigkeit, dass weibliche Frösche nicht schwanger werden konnten, wenn das männliche Sperma in einer Hose versickerte. Als Spallanzani die weiblichen Frösche mit Froschsperma der Männchen künstlich befruchtete, wurden sie schwanger. Sperma, das war jetzt bewiesen, war ein notwendiger Bestandteil des Samens, der gebraucht wurde, um weibliche Wesen zu schwängern.3Magnifico! Erst im folgenden Jahrhundert fanden Wissenschaftler heraus, dass sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtszellen gleichermaßen ihren Beitrag zum befruchteten Ei leisten.
Darstellung des Homunkulus, gezeichnet von dem niederländischen Physiker Nicolas Hartsoeker (1694).
Der Drang, mehr darüber zu erfahren, wie Menschen entstehen, verschmolz dann mit einem anderen Forschungsgebiet, auf dem unsere Vorfahren Vermutungen angestellt hatten, ohne echte Gewissheit zu erlangen: der Vererbungslehre.
Unsere Vorfahren müssen über Jahrtausende hinweg eine Ahnung davon gehabt haben, wie Vererbung funktioniert. Jedes Mal, wenn ein großer Mann und eine große Frau ein groß gewachsenes Kind bekamen, war das ein Hinweis. Wenn ein großer Mann und eine große Frau ein Kind hatten, das klein blieb, waren sie vielleicht ein bisschen verwirrt, und womöglich warf der Mann einen misstrauischen Blick auf den kleinen, munteren Casanova in der benachbarten Höhle. Mithilfe dieses begrenzten Wissens begannen unsere Vorfahren, die Welt um sie herum zu verändern.
Unseren nomadischen Jäger-Sammler-Vorfahren fiel beispielsweise auf, dass einige der Wölfe, die ihren Abfall durchwühlten, netter als andere waren. Vor etwa 15000Jahren fingen sie, wahrscheinlich in Zentralasien, damit an, jene netteren Wölfe miteinander zu paaren, und schufen dadurch schließlich den Hund. Unbeeinflusst von den Menschen hätte die Natur aus dem stolzen Wolf vermutlich keinen kläffenden Chihuahua gemacht. Unsere Vorfahren hingegen trieben die Entstehung einer völlig neuen Subspezies voran.
Derselbe von Menschen betriebene Prozess der Domestizierung veränderte Pflanzen. Nachdem sich vor knapp 12000Jahren die riesigen Eisplatten zurückgezogen hatten, fingen unsere Vorfahren an, besonders nützliche Pflanzen, die sie in der Wildnis gepflückt hatten, bei sich anzubauen.4 Lange bevor die Firma Monsanto Saatgut genetisch veränderte, fiel unseren Vorfahren auf, dass einige der von ihnen angebauten Pflanzen andere und nützlichere Qualitäten hatten als die übrigen. Sie fanden heraus, dass, wenn sie die Samen dieser Pflanzen einpflanzten, die nächste Generation meist dieselben guten Qualitäten haben würde. Im Laufe der nächsten Jahrtausende wurde diese selektive Züchtungsmethode verwendet, um aus Wildpflanzen im Nahen Osten Weizen, Gerste und Erbsen, in China Reis und Hirse und in Mexiko Kürbis und Mais zu machen. Während Menschen weltweit die Domestizierung von Tieren und Pflanzen entweder selbst entwickelten oder sich von anderen abschauten, dachten sie immer öfter über das Wesen der Vererbung nach.
Unsere Vorfahren wussten, wie man Vererbung anwenden konnte, aber sie hatten sehr wenig Ahnung, wie sie tatsächlich funktionierte. Jahrtausendelang stellten große Denker wie Hippokrates und Aristoteles im antiken Griechenland, Charaka in Indien und Abulcasis und Judah Halevi im maurischen Spanien Hypothesen über die menschliche Vererbung an, aber keiner von ihnen traf genau ins Schwarze.
1831 ergatterte ein wissbegieriger englischer Gentleman-Forscher einen Platz auf einer fünf Jahre dauernden Erkundungsreise entlang der Küsten Afrikas, Südamerikas, Australiens und Neuseelands. Als leidenschaftlicher Freund des Beobachtens kleiner Details studierte Charles Darwin seine Umgebung sorgsam, sammelte eine riesige Anzahl Proben und machte sich gewissenhaft Notizen. Nach der Rückkehr in seine Heimat im Jahr 1836 verbrachte er die folgenden 23Jahre damit, sich wie besessen mit seinen Funden zu beschäftigen und eine stichhaltige Hypothese über die Entwicklung von Organismen zu erarbeiten. Da er sich bewusst war, dass seine Theorie fromme Christen schockieren würde, wollte sich Darwin ganz sicher sein, ehe er sie veröffentlichte. Als er erfuhr, dass ein anderer Forscher kurz davorstand, mit Ideen, die seinen eigenen gefährlich ähnelten, an die Öffentlichkeit zu gehen, publizierte er schließlich 1859 »Über die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion«.
In seinem Meisterwerk erläutert Darwin seine Theorie, dass alle Arten von Leben miteinander verwandt sind und sich die einzelnen Spezies weiterentwickeln, weil kleine Veränderungen in erblichen Merkmalen bei einem Prozess miteinander konkurrieren, den er natürliche Selektion nannte. Spezies mit Merkmalen, die ihnen in ihrer jeweiligen Umgebung bestimmte Vorteile verschaffen, gedeihen und vermehren sich langfristig besser als jene mit weniger vorteilhaften Charakteristika. Wenn sich die Umgebung verändert, sind die verschiedenen Merkmale beim ewigen Prozess der Anpassung und Evolution mit Evolutionsdruck in unterschiedlicher Ausprägung konfrontiert. Ein Merkmal, das in der einen Umgebung äußerst vorteilhaft ist, kann in einer anderen potenziell von Nachteil sein und umgekehrt. Darwin lag mit seiner Evolutionstheorie genau richtig, wusste aber nur wenig darüber, wie Vererbung auf molekularer Ebene tatsächlich funktioniert. Dieses Geheimnis wurde erst von einem anderen Genie gelüftet.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Darwins bahnbrechendem Werk nutzte ein unbekannter Priester des Augustinerordens namens Gregor Mendel seine Freizeit, seinen analytischen Verstand und seine peniblen Aufzeichnungen dafür, herauszufinden, wie Merkmale von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Mendel, hochintelligenter Sohn eines Kleinbauern, wurde 1843 in die Augustinerabtei St. Thomas in Brünn, im heutigen Tschechien, aufgenommen. Sogleich entwickelte er reges Interesse an der Arbeit anderer Mönche, die zu verstehen versucht hatten, wie bestimmte Merkmale bei Schafen weitergegeben werden. Der Abt, der das Potenzial des jungen Priesters erkannte, schickte ihn nach Wien, damit er dort Physik, Chemie und Zoologie studierte. Nach seiner Rückkehr von der Universität erreichte Mendel, dass der Abt ihm gestattete, sehr ambitionierte Experimente durchzuführen. Zwischen 1856 und 1863 kultivierte er über 10000 Erbsenpflanzen unter Verwendung 22 verschiedener Sorten, listete sorgfältig auf, wie etliche Merkmale von den jeweiligen Elternpflanzen auf die Nachkommen übertragen wurden, und leitete daraus gewissenhaft seine Vererbungslehre ab, die größtenteils noch heute Gültigkeit besitzt.
Erstens stellte Mendel fest, dass jedes ererbte Merkmal von einem Genpaar bestimmt wird, wobei jeweils ein Gen von jedem Elternteil stammt. Zweitens wird jedes Merkmal von den beiden für dieses Merkmal verantwortlichen Genen unabhängig von anderen Merkmalen bestimmt. Wenn drittens ein Genpaar zwei verschiedene Gene für ein und dasselbe Merkmal hat, ist eine Variante dieser Gene immer dominant. Mendel veröffentlichte seine revolutionären Erkenntnisse 1866 unter dem Titel »Versuche über Pflanzen-Hybriden« – und nichts passierte. Nur wenige Wissenschaftler erfuhren von der Studie, die erstmals in den wenig beachteten »Verhandlungen des naturforschenden Vereines in Brünn« erschienen waren. Mendels bedeutendes Werk blieb vorläufig unbeachtet.
Erst als andere Wissenschaftler, die sich mit der Vererbungslehre befassten, im Jahr 1900 auf ramponierte Exemplare von Mendels Aufsatz stießen, wurde der Samen des Zeitalters der Genetik erneut eingepflanzt. Zehn Jahre später bewies der amerikanische Biologe Thomas Hunt Morgan, dass die von Mendel beschriebenen Gene auf Molekülstrukturen mit der Bezeichnung Chromosomen angeordnet sind. In den darauffolgenden Jahrzehnten zeigten Wissenschaftler, wie die Gesetze der Genetik bei unzähligen verschiedenen Organismen funktionierten. Die Mendel’-schen Gesetze der Genetik wurden das Mittel zur Analyse des Fundaments allen Lebens. Zusammen mit der Evolutionstheorie Darwins bildeten sie die entscheidenden Erkenntnisse, die notwendig waren, um sämtliche Biologien, einschließlich unserer eigenen, zu entschlüsseln und dann umzugestalten.
Der gesamte genetische Code besteht aus sehr langen Strängen aus Desoxyribonukleinsäure, abgekürzt DNA (engl. deoxyribonucleic acid), die den Zellen Anweisungen zur Produktion von Proteinen gibt. Spezies wie wir, die sich geschlechtlich fortpflanzen, besitzen in den Kernen fast aller Zellen (unsere roten Blutkörperchen haben keinen Zellkern) zwei miteinander verbundene DNA-Stränge, einen von unserer Mutter und einen von unserem Vater. Wären wir ein Kuchen, würde jeder unserer Elternteile etwa die Hälfte einer jeden Zutat beisteuern.
Aber statt aus Mehl, Zucker und Backpulver besteht unsere DNA aus vier verschiedenen Typen von Molekülen, den sogenannten Nukleotiden. Diese Nukleinbasen heißen Guanin, Adenin, Thymin und Cytosin, doch sie werden meist nach ihrem Anfangsbuchstaben G, A, T und C genannt. Die Gs, As, Ts und Cs sind aufgereiht wie Eisenbahnzüge auf zwei parallel verlaufenden Gleisen und berühren sich nur leicht. Die Zugleitung, die DNA-Abschnitte, die wir Gene nennen, erlässt eine einzigartige Reihe von Anweisungen, die von Boten namens Ribonukleinsäure oder RNA (engl. ribonucleic acid) an die Zellen für die Herstellung von Proteinen übermittelt werden. Die Proteine sind gewissermaßen die Arbeiter in unseren Zellen, denn sie erledigen alle ihnen übertragenen Aufgaben – beispielsweise zu einer bestimmten Form von Zelle zu werden, unser Gewebe und unsere Organe zu formen und zu strukturieren, Sauerstoff zu transportieren, biochemische Reaktionen auszulösen oder zu wachsen.
Unsere menschlichen Gene sind normalerweise in unseren Zellen zu 23 DNA-Strang-Paaren – unseren Chromosomen – zusammengestellt, wobei jedes Chromosom über eine bestimmte Reihe von Funktionen in unserem Körper befiehlt. Menschen haben etwa 21000 Gene und 3,2Milliarden Basenpaare – Punkte auf dem Genom, dem gesamten Satz an Genen in unserem Körper –, bei denen sich Gs mit Cs und As mit Ts paaren.
Die Gene, die den größten Einfluss auf uns haben, sind jene, die Anweisungen an unsere Zellen zur Herstellung von Proteinen liefern, aber knapp 99Prozent der gesamten DNA codieren keine Proteine. Diese nicht codierenden Gene wurden früher als DNA-Schrott bezeichnet, weil die Wissenschaftler glaubten, sie hätten keine bedeutsame biologische Funktion. Heute können wir uns die nicht codierenden Gene als Footballspieler vorstellen, die vom Spielfeldrand aus ihre Mannschaftskollegen anfeuern und ihnen Ratschläge zurufen. Diese nicht codierenden Gene spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Schaffung bestimmter RNA-Moleküle zu steuern, Anweisungen unserer Gene von außerhalb des Zellkerns zu übermitteln und zu regeln, wie die Gene aktiv werden sollen, die Proteine codieren.
Jede unserer Zellen, die einen Kern hat, enthält die Blaupause unseres ganzen Körpers, aber es würde Chaos ausbrechen, wenn jede Zelle versuchte, den gesamten Körper zu erschaffen. Daher werden unsere Gene von einem Vorgang gesteuert, der Epigenese heißt und der bestimmt, welche von ihnen auf welche Weise aktiv werden. Eine Hautzelle enthält beispielsweise die Blaupause einer Leberzelle, aber die sogenannten epigenetischen Marker weisen die Hautzelle an, Haut zu produzieren. Für die Footballmannschaft hieße das also, dass jeder Spieler den gesamten Matchplan in- und auswendig kennt, aber sich darauf beschränkt, auf Anweisung eine bestimmte Aufgabe auf dem Feld zu erfüllen.5
Darum kann die einzelne Zelle, die durch die Befruchtung entsteht, zu einem so komplexen Wesen heranwachsen, wie wir es sind. Diese erste Zelle enthält die Anweisungen für die Schaffung sämtlicher Zelltypen, doch die Zellen fangen danach an, sich auf verschiedene Weise zu spezialisieren, um ihre jeweiligen Funktionen erfüllen zu können. Die spezialisierten Zellen handeln jedoch nicht unabhängig, sondern sind unterschiedliche, miteinander verbundene Teile eines zellularen Ökosystems. Und so wie die Organe in unserem körpereigenen System zusammenarbeiten, beeinflussen die Gene einander in dem dynamischen System unseres Genoms.
Das klingt alles sehr kompliziert, und das ist es auch. Darum hat es Hunderte Jahre gedauert, bis man begriffen hat, wie das System funktioniert, und es liegt noch sehr viel Arbeit vor uns. Aber ein Rezept zur Hand zu haben, die Sprache, in der es geschrieben ist, zu verstehen und die Zutaten zu kennen, sind Grundvoraussetzungen für das Backen eines Kuchens. Nachdem Wissenschaftler erkannt hatten, dass die Gene die Buchstaben der Sprache des Lebens sind, mussten sie als Nächstes die Bedeutung der Buchstaben herausfinden, damit sie den Text lesen konnten. Die Doppelhelix der DNA war das Handbuch, aber was bedeuteten die Buchstaben?
Das menschliche Genom in signifikantem Maß zu entziffern, war viel zu kompliziert, solange der Mensch auf sich allein gestellt war. Das änderte sich erst mit der Kombination aus Mensch und Maschine. Mitte der 1970er-Jahre erfanden Frederick Sanger und Alan Coulson in Cambridge eine geniale Methode, elektrischen Strom durch ein Gel zu leiten und so das Genom einer Zelle zu zerlegen; die Fragmente wurden eingefärbt, die Nukleotide nach Länge sortiert und das Gel mit einer Spezialkamera fotografiert, um das genetische Muster zu lesen. Diese erste Methode zur DNA-Sequenzierung war zeitraubend und teuer, aber sie war ein gewaltiger Schritt nach vorn.
Indem sie es schafften, diese Methode zu automatisieren und die Lichtblitze, die die DNA-»Buchstaben« durchzogen, besser zu entziffern, steigerten Forscher wie Lee Hood und Lloyd Smith sowohl die Geschwindigkeit als auch die Effizienz der DNA-Sequenzierung enorm. Sie legten damit das Fundament für einen weiteren großen Schritt nach vorn. Als die U.S. National Institutes of Health 1988 eine Großinitiative zur Beschleunigung der Entwicklung der nächsten Generation von Geräten zur DNA-Sequenzierung starteten, war die Bühne für eine noch ambitioniertere Unternehmung zur Sequenzierung des gesamten Genoms bereitet.6
Das Humangenomprojekt, ein mutiges, von den USA angeführtes Vorhaben zur vollständigen Sequenzierung und Darstellung des menschlichen Genoms, kostete 2,7Milliarden Dollar und hatte, als es 2003 erfolgreich beendet wurde, 13Jahre in Anspruch genommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ein privates Unternehmen unter Leitung des Wissenschaftlers und Unternehmers Craig Venter eine andere Methode zur Sequenzierung des menschlichen Genoms entwickelt, deren Ergebnisse zwar nicht so vollständig waren wie jene des Regierungsprojekts, aber in viel geringerer Zeit erzielt werden konnten. In der Kombination stellten diese Initiativen einen riesigen Sprung für die Menschheit dar. Die Gründung von Firmen wie Illumina in San Diego oder BGI-Shenzen in China haben aus der DNA-Sequenzierung eine von starkem Konkurrenzkampf geprägte, rasch wachsende globale Multimilliarden-Dollar-Industrie gemacht. Die Nanoporen-Sequenzierer der nächsten Generation, die DNA mittels Elektrizität durch winzige Löcher in Proteinen drücken, um ihren Inhalt wie Nachrichten auf einem Tickerband abzulesen, besitzen das Potenzial, die DNA-Sequenzierung erneut zu revolutionieren.7
Während die Technologie wirkungsvoller wurde und akkurate Resultate erbrachte, sanken die Kosten dramatisch. Das folgende Diagramm vermittelt einen Eindruck davon, wie schnell es in den letzten 15Jahren mit den Kosten der DNA-Sequenzierung bergab ging.
Heute dauert die Sequenzierung eines gesamten Genoms etwa einen Tag und kostet etwa 700Dollar. Francis deSouza, CEO von Illumina, verkündete Anfang 2017, er erwarte, dass seine Firma mittelfristig in der Lage sein wird, ein gesamtes Genom für etwa 100Dollar zu sequenzieren. Wenn die Kosten für die Sequenzierung so weit sinken, bis sie fast den Materialkosten entsprechen, und DNA-Sequenzierung zu einer normalen Dienstleistung wird, werden immer mehr Daten verfügbar sein. Weil die Genomik die ultimative Herausforderung auf dem Gebiet von Big Data ist, werden diese wachsenden Datenmengen die Basis für weitere, noch bedeutsamere Entdeckungen abgeben.
Doch selbst wenn die Sequenzierung kostenlos und überall zu haben wäre, würde das gar nichts bringen – es sei denn, Wissenschaftler wären in der Lage, die Sprache der Genome zu verstehen.
Wenn ein Marsmensch auf die Erde käme und erfahren wollte, wie Menschen Informationen aufbereiten, müsste er verstehen, dass es bei uns sogenannte Bücher gibt. Dann müsste er begreifen, dass es in den Büchern Seiten gibt, auf denen Worte stehen, die sich aus Buchstaben zusammensetzen. Das ist vergleichbar mit unserer Situation, als wir herausfanden, dass sich die in Chromosomen enthaltene DNA aus Genen zusammensetzt, die Proteine codieren, um Zellen Arbeitsanweisungen zu erteilen. Würde der Marsmensch dann wissen wollen, was tatsächlich in den Büchern steht, müsste er herausfinden, was die Worte bedeuten und wie man sie lesen kann. Ähnlich erging es den Wissenschaftlern, nachdem sie die Grundlagen der Genstruktur ermittelt hatten: Sie mussten immer noch herausfinden, was die Gene wirklich taten.
Die gute Nachricht ist, dass sie immer mehr Tricks in petto hatten. Nachdem Forscher eine größere Menge von Würmern, Fliegen, Mäusen und anderen, relativ simplen »Modellorganismen« sequenziert hatten, um einige grundlegende biologische Prozesse verstehen zu können, versuchten sie, eine Wechselbeziehung zwischen Unterschieden bei ähnlichen Typen von Organismen und Unterschieden bei ihren Genen herauszufinden. Sobald sie eine Hypothese formuliert hatten, züchteten sie Organismen mit identischen genetischen Mutationen, um zu erfahren, ob deren Nachkommen dieselben Merkmale aufwiesen. Schließlich waren die Wissenschaftler in der Lage, verschiedene Gene in Lebewesen an- und abzuschalten und die daraus resultierende Änderung bestimmter Merkmale zu beobachten. Sie setzten modernste Berechnungsverfahren ein, um die Interaktionen vieler Gene zu untersuchen, und führten breit angelegte Assoziationsstudien durch, um die immer umfangreicher werdenden genetischen Datensätze zu analysieren.
Genetische Datensätze zu verstehen, wäre schon anspruchsvoll genug, wenn die gesamte Biologie allein auf der Genexpression beruhen würde; aber die Sache ist wesentlich komplizierter. Das Genom selbst ist ein unglaublich komplexes Ökosystem, das sowohl mit anderen komplexen Systemen innerhalb eines Organismus als auch mit der veränderlichen Außenwelt interagiert. Ein kleiner Prozentsatz von Merkmalen und Krankheiten resultiert aus der Aktivität eines einzelnen Gens, aber die meisten resultieren daraus, dass eine Gruppe von Genen kooperiert und mit der Umgebung interagiert. Wie viele Gene genau an der Bestimmung komplexer Merkmale wie Intelligenz, Größe und Persönlichkeitsstil beteiligt sind, ist unbekannt, aber es gibt Schätzungen, dass es Hunderte oder sogar Tausende sind.
Diese Gene handeln nicht allein. Von der RNA, die man früher lediglich für einen Boten zwischen der DNA und dem Protein produzierenden Mechanismus der Zelle hielt, heißt es inzwischen, sie spiele eine wichtige Rolle bei der Genexpression. Die epigenetischen Marker helfen bei der Festlegung, wie die Gene exprimiert werden. Herauszufinden, wie diese sich überlappenden Prozesse komplexe genetische Merkmale beeinflussen, war in der ersten Phase der Genforschung ein viel zu schwieriges Unterfangen; machbar erschien es dagegen, dem relativ kleinen Prozentsatz an Merkmalen und Krankheiten auf den Grund zu gehen, die auf einer einzigen Genmutation basieren.
Mukoviszidose, Chorea Huntington, Muskeldystrophie, Sichelzellenkrankheit und Tay-Sachs-Syndrom sind alles Beispiele für Krankheiten, die aus der Mutation eines einzelnen Gens resultieren. Sie werden monogenetische Krankheiten genannt, und ihre Vererbung folgt den Mendel’schen Regeln. Der Erbgang bei einigen dieser Krankheiten wird als dominant bezeichnet, weil ein Kind nur eine Kopie einer Mutation von einem Elternteil erhalten muss, um zu erkranken. Bei Krankheiten mit rezessivem Erbgang wie dem Tay-Sachs-Syndrom muss das Kind die Mutation von beiden Eltern erhalten, um gefährdet zu sein. (In seltenen Fällen bekommen Menschen mit diesen Mutationen die jeweilige Krankheit nicht, weil andere Gene die Wirkung der Mutation verhindern.) Von den etwa 25000 monogenetischen Krankheiten, die bisher identifiziert wurden, weiß man bei mehr als 10000 genug, um ein spezielles Gen einer speziellen Erkrankung zuzuordnen.8Behandlungen gibt es heute nur für etwa 5Prozent davon.
Diese monogenetischen Erkrankungen treten sehr selten auf. Von 30000 Menschen in den USA wird zum Beispiel nur einer mit Mukoviszidose geboren; einer von 10