Der Dichter und der Banker. Friedrich Hölderlin, Susette und Jacob Gontard - Peter Michalzik - E-Book

Der Dichter und der Banker. Friedrich Hölderlin, Susette und Jacob Gontard E-Book

Peter Michalzik

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Beschreibung

1796, Frankfurt am Main: Friedrich Hölderlin wird für einige Jahre Hauslehrer bei dem Bankier Jacob Gontard und erlebt die glücklichste Zeit seines Lebens. Das liegt nicht nur an Susette, der Frau Gontards, sondern auch an der freundlichen Familie und dem anregenden Umfeld. Geld und Poesie, Kalkül und Leidenschaft, Leben und Dichten stehen hier nicht in Konkurrenz, sondern berühren sich. Für einen langen Moment scheinen sie sich anfreunden zu können.Welches Verhältnis hatten Hölderlin und Gontard, der Dichter und der Banker? Niemals wurde bisher davon erzählt. War Hölderlins Liebesverhältnis zu Susette Gontard wirklich so entscheidend für sein Leben? Peter Michalzik gelingt eine packende biografische Annäherung an einen der größten Dichter der deutschen Literatur, die zugleich eine inspirierende Erzählung über das Verhältnis von Kunst und Ökonomie ist.

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Seitenzahl: 233

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Peter Michalzik

Der Dichter und der Banker

Friedrich Hölderlin, Susette und Jacob GontardEine biografische Erzählung

Reclam

Für Jockel

 

 

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © Hein Nouwens / Shutterstock.com (Münze); © mari.nl / Shutterstock.com (Tulpe); © Nikelser Kate / Shutterstock.com (Ornament); © PjrStamps / Alamy Stock Foto (Friedrich Hölderlin, Briefmarke nach einem Pastell von Franz Karl Hiemer); Staatliche Graphische Sammlung, München (Jacob Gontard, Lithographie von P. C. Stern); Holzstich nach Zeichnung Norbert Schrödl, um 1870 (Susette Gontard)

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961673-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011261-8

www.reclam.de

Inhalt

VorwortKapitel 1 – Ende 1795 bis Anfang 1796Kapitel 2 – Anfang 1796 bis Mai 1796Kapitel 3 – Mai bis Oktober 1796Kapitel 4 – Oktober bis Ende 1796Kapitel 5 – Anfang 1797 bis April 1797Kapitel 6 – Februar bis Sommer 1797Kapitel 7 – Sommer bis November 1797Kapitel 8 – Ende 1797 bis Oktober 1798NachwortKommentierte AuswahlbibliografieAnmerkungen

Vorwort

Hölderlin in Frankfurt – das ist die Geschichte einer tragischen Liebe. Es ist, so wird gesagt, die Geschichte der innigen Beziehung zwischen Susette Gontard und Friedrich Hölderlin. Es ist die bekannteste Erzählung aus seinem Leben: Hölderlin war Hauslehrer von Susette Gontards Sohn, fast drei Jahre hat er ihn unterrichtet, bevor er, durch den eifersüchtigen Hausherrn und Ehemann beleidigt, die Familie verließ. Jakob Friedrich Gontard war ein ausgesprochen wohlhabender und einflussreicher Bankier, ein Mensch der Frankfurter Gesellschaft, deren merkantile Ausrichtung, so folgert man weiter, Hölderlin missfallen musste.

Es scheint sich in dieser Erzählung alles so zu fügen, wie es sein muss: Der etwas unsensible Bankier Gontard entdeckt die geheime Liebschaft und jagt den dichtenden Liebhaber zum Teufel. Die Liebenden schreiben sich geheime Briefe. Die Ehefrau bzw. die Geliebte stirbt vier Jahre später an geheimem Gram. Der Liebhaber und Dichter hält länger durch, das traumatische Erlebnis der Trennung aber lässt ihn einige Jahre später der geistigen Nacht anheimfallen. Die Briefe von ihr, die über ein Jahrhundert später gefunden werden, werden gelesen wie Offenbarungen einer unvergleichlichen Seele. Man sah und sieht in ihr nun das Vorbild für Diotima, die Frau in Hölderlins Roman Hyperion. Mehr noch, Susette wurde Diotima, zwischen Susette Gontard und Diotima schien kein Unterschied zu bestehen. Als wäre der Hyperion ein Buch über Hölderlin.

So klingt eine wunderbar traurige, in sich stimmige, folgerichtige Geschichte. Sie ist nie ernsthaft bezweifelt worden – nicht von Adolf Beck, auf den der größte Anteil des biografischen Wissens über Hölderlin zurückgeht, nicht von den großen Germanisten des vergangenen Jahrhunderts, fast alle passionierte Hölderlinausleger, auch nicht in Peter Härtlings schönem Hölderlin-Roman.

Aber ist es wirklich so gewesen? Lange geheime Liebe, Vorbild für den Roman, dann großes einsames Leid? Wir wissen es nicht. Aber Skepsis, starke Skepsis ist angebracht. Die Geschichte ist zu romantisch, zu schicksalsschwer, die Rollen sind zu eindeutig verteilt, die Liebe zu groß und zu rein. Der spekulative Anteil ist jedenfalls groß.

Wir legen hier eine andere Spur. Sie dreht sich nicht um die Liebe, eine wesentlich private Angelegenheit, sondern um die damals wie heute gesellschaftsrelevante Frage des Geldes. Denn im Hause Gontard standen sich zwei Systeme gegenüber: Poesie und Ökonomie. Hölderlin bei den Gontards, das war eine Begegnung zweier exponierter Positionen, das war eine Schlüsselbegegnung für das Verhältnis von Geist und Geld. Das ist nicht weniger interessant, spannend und ergreifend als die Liebesgeschichte. Und es ist relevant.

Diese Geschichte vom Dichter und dem Banker muss einmal erzählt werden. Es stellt sich in ihr die immer wieder (vor allem bei Erschütterungen des Finanzsystems, damals wie heute) auftauchende Frage nach dem Geld selbst. Was ist wahr? Ist das Geld das, was es scheint? Ist es seinen Preis wert? Ist das, was an Geld kursiert, gedeckt? Das verhandelt sich fast notwendig zwischen den beiden Protagonisten, Hölderlin und Gontard. Wie wir selbst lebten sie in einer Zeit, in der das Geld in seiner alten Form zur Disposition stand. Nicht nur heute, auch damals war das Geld selbst fragwürdig.

Damit steht, in eigenartiger Parallelität, zur Verhandlung: Was von dem, was hier erzählt wird, ist gedeckt? Was ist wahr? Auch in der Erzählung gibt es, wie beim Geld, das Problem der Deckung. Nur, dass es hier nicht der Goldschatz ist, der das Geld deckt, das Münzgeld, das das Papiergeld deckt, das Volksvermögen, das die Staatsschuld deckt; die Deckung ist und bleibt die Wahrheit der Aussage. Auch wenn man akzeptiert, dass es unterschiedliche Fassungen einer Geschichte gibt, bleibt doch die Frage: Ist es so gewesen?

Wir erlauben uns, hier eine alternative Fassung einer allzu bekannten Geschichte zu entwerfen. Die Alternative beansprucht nicht die endgültige Wahrheit, so wie es die traditionelle Fassung oft noch tut. Aber sie hält sich doch für eine notwendige Alternative. An manchen Stellen hat sie sogar den Vorteil, wahrscheinlicher zu sein.

Die Frage nach der biografischen Methodik ist im vorliegenden Fall besonders wichtig. Wie schreibt man über ein Verhältnis, das besondere zeitgeschichtliche Bedeutung hat, zu dem es aber kaum überlieferte Zeugnisse gibt? Wer alles ausschließlich und streng auf belegte Fakten herunterbrechen möchte, handelt legitim, ist aber nicht der Leser, der sich von diesem Buch größten Gewinn versprechen sollte. Denn es gibt auch die Stärken des Auslotens und des spielerischen Erkundens von Möglichkeiten und Wahrheiten, die nur das Erzählen und der Dialog bereithalten. Dazu finden sich im Nachwort und in den Anmerkungen weiterführende Hinweise.

Wir wissen, dass Hölderlin in Frankfurt die meiste Zeit glücklich war. Er sagte es selbst in seinen Briefen. Dieser Umstand wurde aber bisher nie ernst genommen, das Glück wurde nie erkundet, ergründet und ausgemalt. Hölderlin, der große Unglückliche, konnte glücklich sein! Auch davon muss einmal die Rede sein.

Kapitel 1

Ende 1795 bis Anfang 1796

Frankfurt

Als die Straßen eng und der Mensch Fußgänger war, als es nachts dunkel war, als Gedanken sich frei anfühlten, als dauernd irgendwo Krieg war, die Winter lang und kalt, als das Ufer der Stadt voller Schiffe und Boote lag, als der Dom die Stadt weit überragte, als das Geld noch wenig war und die Welt groß und verheißungsvoll …

Da war die Stadt klein, aber voller Menschen, da war fast alles dreckig und stank, da gab es eine feste Stadtmauer, die sie beschützte, es gab ein Ghetto für die Juden und es gab wenige freie Plätze – am Römerberg, an der Liebfrauenkirche, am Comödienplatz und am Rossmarkt. Es gab die Zeil, eine breite Straße, und Tore mit schweren Türmen, Stadttore, durch die allein man in die Stadt hinein und wieder aus ihr hinaus konnte. Da steckte die Stadt, ihrem Ansehen nach, tief im Mittelalter, auch damals einer fernen Zeit, die aber im Gemäuer doch ganz Gegenwart war. Alles war noch schmierig, so grau und braun, so staubig und dunkel.

Ja, Frankfurt war anders als andere Städte: Freie Reichsstadt. Es gehörte dem Kaiser, aber mehr noch seinen Bürgern. Man konnte sich frei fühlen, und es war doch eine enge Gesellschaft, ein starres Gemeinwesen, eine Patrizierwelt. Geld spielte eine andere Rolle als anderswo, wie wenn man hier irgendwann beschlossen hätte, sich das Geld, dieses merkwürdige Werkzeug, zu eigen zu machen.

Seit dieser zugleich offenen und engen Zeit liebt es diese Stadt, sie liebt es seit damals und bis heute, sich immer wieder neu zu erfinden und die Vergangenheit dem Vergessen zu überlassen. Sie mag es gar nicht, sich in die Breite auszudehnen, sie wächst lieber in die Höhe. Und sie wächst, etwas Seltsames und Seltenes, in ihrem Inneren. Diese Stadt wächst, indem sie sich in ihrem Kern dauernd und immer wieder umbaut, ändert und neu erfindet, so dass schon nach kurzer Zeit niemand mehr weiß, wie sie vorher ausgesehen hat. Sogar alte Karten sind spärlich. So als hätte sich alles so schnell geändert, dass nicht einmal die Kartografen und Grafiker Zeit genug hatten, mit ihren Nachbildungen fertig zu werden, bevor schon wieder alles anders war.

Fast niemand in der Stadt weiß heute, wie sie damals ausgesehen hat, wie die Straßen verliefen, wie sich die Häuser für die Menschen anfühlten.

Als das Geld wenig und die Welt groß war, kam ein junger Mann, 26 Jahre alt, aus Stuttgart und Nürtingen nach Frankfurt am Main. Wir wissen nicht, was dem jungen Mann dort als Erstes auffiel. Sicher dagegen ist: Er kam von Sachsenhausen her, dem anderen Main-Ufer, denn er kam von Süden, erst durch das Affentor, dann über die Alte Brücke, von wo aus er den Dom und die Türme der Stadttore sah, dahinter den Bergrücken des Taunus, von wo aus er auch das Gewimmel der Boote und Menschen am Hafen gesehen haben muss. Dann ging es auf das Fischertor zu.

Betreten der Stadt

Wir stellen uns vor, dass es etwa vier Uhr nachmittags war und gerade dämmerte, schließlich war es Ende Dezember, als der junge Mann die Stadt betrat. Es lag etwas Schnee, das Licht war so grau, wie es hier im Winter oft ist. Es war kein strenger Winter, nicht wie im Jahr zuvor, als der Main lange zugefroren war, es war ein ungemütlicher Wintertag von Kälte, Feuchtigkeit und Düsternis. In der Stadt, die der junge Mann nun betrat, wurden gerade erste Laternen angezündet. War man adlig oder Patrizier, waren es drei Kerzen, die man sich anzünden durfte, war man freier Bürger, zwei Kerzen, war man Bediensteter oder Jude, hatte man nur auf eine Kerze ein Anrecht. Am Fischertor mussten die Ankömmlinge aus der Kutsche aussteigen, sie waren zu zweit, der junge Mann war zusammen mit einem Begleiter gekommen. Sie packten ihre Habe und warfen sie sich über die Schulter, um dann das letzte, kleine Stück ihrer Reise, in der Stadt, zu Fuß zu gehen.

Am Fahrtor fiel dem jungen Mann vielleicht eine prominente Darstellung auf, die Darstellung eines Schweines, auf dem Menschen ritten, an dessen Zitzen die Menschen tranken und dessen Kot sie aßen. Das Schwein war die Judensau, das Bild war vom Rat der Stadt aufgehängt worden. Klar, die Herren mit den typischen Spitzhüten, das waren die Juden, die hier in Frankfurt so zahlreich lebten.

Der junge Mann ging mit seinem Begleiter die Fahrgasse hinauf, eine breitere Straße, auf der die Waren vom und zum Fahrtor gebracht wurden, es ging weiter die Zeil hinunter, die Frankfurter Hauptstraße, bis zum Rossmarkt. Nun wussten sie nicht mehr, wo sie lang sollten, der junge Mann fragte nach dem Weg und war überrascht, dass er dabei größere Verständigungsschwierigkeiten wegen seines schwäbischen Dialekts hatte. Es waren nur noch ein paar Schritte, dann sollte das Hotel kommen, Stadt Mainz hieß es, dort würden sie übernachten. Nun war es ganz dunkel. Trotzdem fanden sie das Haus, die beiden Reisenden bekamen ein reichhaltiges Essen, sprachen dabei nicht viel.

– Gute Nacht, Vetter.

Jeder ging in sein Zimmer, sie waren auf ihrer gemeinsamen Reise meist früh zu Bett gegangen. So auch jetzt.

– Ja, gute Nacht!

Wir wissen nicht, was Friedrich Hölderlin dachte, als er Ende 1795 seine schwäbische Heimat verlassen hatte und in Frankfurt am Main ankam. Wir wissen aber, es war nicht das erste Mal, dass er weg war von zu Hause, er war länger in Walterhausen und Jena gewesen, wir wissen, schon zu Hause war er unbehaust gewesen, wir wissen, dass er Angst hatte, in seiner Heimat zum Pfarrer gemacht zu werden, dass er sich noch nicht traute, sich Dichter zu nennen. Und dass er wegen einer Hofmeisterstelle nach Frankfurt gekommen war.

Geist der Nacht

Wir wissen es selbstverständlich nicht, aber vielleicht ging Hölderlin an diesem düsteren Abend noch einmal hinaus in die fremde Welt der dunklen, kalten Stadt. Vielleicht war er neugierig, vielleicht wollte er nicht mit sich allein sein. Wir stellen uns vor, er ging, mehr zufällig als absichtsvoll, Richtung Römerberg und Dom. Auch jetzt, in der Dunkelheit, war im Schimmer der wenigen Laternen deutlich, dass manche Häuser sehr stattlich waren. Genau aber konnte man es nicht erkennen. Enge, dunkle Gassen wirkten im spärlichen Licht noch enger und undurchdringlicher. Man konnte das Gefühl haben, verschluckt zu werden. Man konnte Lachen, Reden, Stöhnen, Schreien aus den Häusern hören, alles durcheinander. Lichter bewegten sich, Schatten huschten, meist aber war es so dunkel, dass man gar nichts sehen konnte.

Nachdem Hölderlin so eine Weile durch die Gassen gegangen war, nachdem er sich vorwärts getastet hatte, nachdem er der dunklen Stadt gelauscht hatte, wusste er nicht mehr, woher er gekommen war. Es war nicht Angst, was ihn befiel. Er würde den Weg zurück schon wiederfinden. Und er konnte ja auch fragen. Man würde ihn schon verstehen. Vor der Angst spürt man Unbehaustheit, eine Verlorenheit, die die Wahrnehmung schärft. Hölderlin hatte das Gefühl, alles, was um ihn herum war, wahrnehmen zu können. Auch das, was er nicht sah oder hörte, alle Häuser, alle Menschen, die Luft und die Dunkelheit, und er spürte, wie diese Unbehaustheit hätte groß und größer werden können, wie sie zu einem dröhnenden Ton anschwellen konnte, der aus allem und jedem herausdrang.

Wie fremd ihm das hier alles vorkam! War er nicht furchtbar fehl am Platz? Gehörte er nicht anderswohin? Vielleicht fragte er sich tatsächlich so. Gehörte er nicht anderswohin, dort, wo es Licht und Wärme und Weite gab?

Geist des Geldes

Hölderlins Vetter, das immerhin wissen wir genau, blieb eine Nacht in Frankfurt und reiste am nächsten Morgen weiter. Das Wetter war jetzt herrlich. Der Himmel war blau, die Sonne strahlte, die Luft war kalt.

– Dank dir, Vetter! Gute Reise, Vetter.

Sie waren gemeinsam im Postwagen nach Frankfurt gereist, es war beschwerlich und langwierig gewesen, sie waren sich ein wenig nähergekommen, aber auch nur ein wenig. Nun fuhr der Vetter allein, wieder in einem Postwagen – denn so reiste man, wenn man kein Geld für eine eigene Kutsche hatte –, weiter nach Jena.

In Jena war der Geist zu Hause, dort war Fichte, dort war Schiller und dort war auch Hölderlin gewesen. Und hier? Was war hier? Hier in Frankfurt? Hölderlin wusste es nicht.

Er winkte noch einmal und ging der abfahrenden Kutsche langsam hinterher. Dann stand er allein vor dem Tor. Jetzt war er da, Hölderlin stand auf der Straße, er schaute noch, als die Kutsche längst hinter der Brücke verschwunden war. Dann drehte er sich um, sah wieder die Judensau und ging zurück in die Stadt.

Was sollte er nun tun?

Ob die Gontards schon wussten, dass er angekommen war? Sicher, das Hotel hatte bestimmt Mitteilung gemacht. Das Zimmer war ja auch für ihn bereitet gewesen, als sie ankamen. Sie schienen im Hotel genau Bescheid zu wissen. Er aber wusste, dass er bei den Gontards noch nicht gebraucht wurde. Ob er sich trotzdem vorstellen sollte? Oder war das aufdringlich?

Hölderlin durchstreifte weiter die Stadt, die er nun im hellen Licht zum ersten Mal wirklich sah. Eigentlich war es überhaupt die erste richtige Stadt, die er sah. Einige Häuser sahen nicht nur prächtig, sondern auch freundlich aus. Das Treiben in den Straßen wirkte geschäftig, beherzt und zupackend. Die Rufe waren nicht böse, sondern frisch, die Leute gingen schnell, aber sie gaben aufeinander Acht. Es lag etwas Frohes, etwas Freies, etwas Offenes in der Luft. Ja, die Stadt war eng und mittelalterlich, sie war eine Stadt alter Familien, die schon immer hier gewesen waren, eine Stadt der Pfründen, sie war düster und sie stank – und doch war es ein freier, lebendiger Geist, der hier durch die kalten Straßen zog und den Hölderlin zu spüren meinte. Komm! ins Offene …

Es war, auf diese Idee kam Hölderlin vermutlich nicht, der Geist des Geldes, der sich zeigte, ein dynamischer Geist, ein aufbruchsfroher Geist, ein verheißungsvoller Geist. Wer Geld macht, sagte dieser Geist, kann selbständig werden, ein freier Mann (von Frauen war damals nicht die Rede). Und Geld machen, das konnte man in Frankfurt schon damals besser als anderswo. Die Stadt war nicht nur Handelsstadt, sie war nicht nur Messestadt, sie war auch die Stadt dieser neuen Bankiers, die mit Geld umzugehen wussten, die für die vielen Klein- und Großfürsten der Umgebung immer einen Kredit hatten, die sogar Europas Höfe mit Geld versorgten, die alles finanzierten, was finanziert werden wollte, die vorstreckten und zuschossen und die es dabei so gut verstanden, selbst einen Profit zu machen.

Der junge Hölderlin durchstreifte diese Stadt, die ihm vermutlich groß vorkam, obwohl sie doch winzig war, einen knappen Kilometer maß sie von einem Tor zum anderen, er war fasziniert vom strahlenden, geschäftigen Treiben.

Henry

Als er nach seiner langen Stadterkundung am Nachmittag zurück in das Zimmer seines Hotels kam, saß dort ein Junge. Er sprang vom Stuhl auf, als Hölderlin den Raum betrat. Vielleicht hatte er schon länger hier gesessen und gewartet. Er verbeugte sich und nannte seinen Namen. Es war sein neuer Zögling, Henry Gontard, der sich vorstellte und höflich nach Hölderlins Befinden fragte.

– Wie war ihre Reise, Herr Hölderlin?

– Oh, es war beschwerlich, das tut mir leid. Ich hoffe, hier fühlen Sie sich nun wohl.

– Und wie lange dauerte ihre Reise?

– Drei Tage! Ja, im Winter ist das Reisen nicht so einfach.

– Sind Ihnen unterwegs französische Soldaten begegnet?

Henry fragte und redete nicht nur, er richtete auch Willkommensgrüße von den Eltern aus und lud Hölderlin zu einem Besuch in zwei Tagen ein. Die Eltern würden ihn im Haus am Hirschgraben erwarten. Er war ein ausgesprochen artiger Junge, gesprächig, nicht so verstockt wie sein letzter Schüler. Hölderlin war hocherfreut. Er fragte klug und offen, ohne vorlaut zu sein.

Der Vater von Henry, einer dieser neuen, äußerst umtriebigen Frankfurter Geschäftsleute, war der ebenfalls noch junge Jakob Friedrich Gontard. Jakob Friedrich war 31 Jahre alt. Die Gontards lebten noch nicht sehr lange in Frankfurt, es war keine der alteingesessenen Frankfurter Familien. Erst vor zwei Generationen waren sie aus der Dauphiné, aus Grenoble, eingewandert, eine der vielen Hugenottenfamilien, die aus Frankreich geflohen waren. Und doch waren die Gontards bereits eine weitverzweigte Familie in Frankfurt und waren hier zu beachtlichem Wohlstand gekommen. Ein paar Jahre später würde die berühmte Madame de Staël sagen, dass man in Frankfurt im Allgemeinen Französisch spreche und Gontard heiße. Diese Frankfurter Gontards hatten, wie andere Zugewanderte auch, eine Weltläufigkeit und Erfahrung, die ihnen die Handels- und Bankgeschäfte erleichterte.

Nun hatte Jakob Friedrich Gontard schon seit längerem nach einem Erzieher für seinen Sohn Heinrich gesucht, acht Jahre war der alt, und es war Zeit, dass er eine ordentliche Geistes- und Herzensbildung bekam. Von Johann Ebel, dem Familienarzt, hatten sie von Hölderlin gehört. Die beiden hatten sich in Heidelberg kennengelernt, Hölderlin hatte sich anscheinend intensiv mit Erziehung beschäftigt. Ebel schilderte ihn als einen gebildeten, empfindsamen Schwaben. Das war gut.

Trotzdem hatten die Gontards, Jakob Friedrich und seine Frau Susette, bei der Verpflichtung des Lehrers noch eine Zeitlang gezögert. Sie waren unsicher, sie sorgten sich sehr um die Erziehung ihres Ältesten. Die revolutionären Franzosen bedrohten trotz des Basler Friedens die Stadt Frankfurt. Mainz, die Festung, hatten sie genommen. Vielleicht würde man fliehen müssen. Man nahm diese Sache ernst, mit Flucht kannte man sich aus. Außerdem war die Mutter der Hausherrin vor zwei Jahren gestorben, und der neue Lehrer würde ihr Zimmer beziehen. Auch da musste man behutsam sein und sich Zeit lassen.

Ungeduld

Hölderlin dagegen war ausgesprochen ungeduldig. Er hielt das Warten kaum aus. Die württembergischen Pfarreien, von denen er nach dem festen Willen seiner verehrungswürdigen Mutter eine übernehmen sollte, saßen ihm im Nacken, und er war ohnehin ein nervöser, unruhiger Charakter.

Das war Jakob Friedrich Gontard, in seiner Familie Cobus genannt, eigentlich auch. Aber das wusste Hölderlin selbstverständlich nicht. Sie hatten einen verwandten Zug, der Mann der Dichtung und Erziehung und der Mann des Handels und des Geldes.

Am nächsten Tag nahm Hölderlin all seine Kraft zusammen, um nicht die ganze Zeit das Haus der Gontards zu beobachten. Er war neugierig. Also entschied er sich für einen kleinen Besuch bei Ebel, der ihm die Stelle vermittelt hatte. Offenbar schätzte Ebel die Gontards ganz ausgesprochen – er sprach in warmen Worten von ihrer Unaufgeregtheit, ihrer Menschenfreundlichkeit, ihrer Verlässlichkeit.

– Und doch ist für mich jeder Besuch in diesem Hause auch schmerzlich. Sie wissen es nicht, Hölderlin, aber ich habe besondere Beziehungen in dieses Haus. Gontards jüngere Schwester ist ein wunderbares Wesen, Margarete, sie ist fröhlich, freundlich, unaufgeregt. Sie ist bescheiden. Sie werden sehen. Man denkt nicht an Schönheit, wenn man sie sieht, bestimmt nicht! Die Blattern haben sie entstellt. Das macht es für sie im Hause der Gontard, wo auf gutes Aussehen so viel Wert gelegt wird, alles andere als leicht. Man liebt die Schönheit bei den Gontards. Aber wenn Sie sie kennenlernen, werden Sie sehen, Hölderlin, was für ein schönes Geschöpf Margarete ist. Wir sind uns nah. Man erlaubt mir, sie zu sehen. Aber mehr erlaubt man mir nicht, man erlaubt mir nicht, sie zu heiraten. Ich kann das verstehen! Ich bin ein armer Schlucker. Was habe ich ihr zu bieten? Die Gontards sind anderes gewohnt. Arme Margarete! Ich kann damit leben. Wenn auch schwer! Aber Margarete?

Ebel schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, die Sache beschäftigte ihn sehr. Aber schon nach kurzer Zeit überraschte Ebel Hölderlin noch mehr.

– Die Gontards sind wohlhabend und einflussreich, aber sie sind, ganz ohne Zweifel, auch gute Menschen. Sie haben Glück, Hölderlin. Sie werden sich dort wohlfühlen. Aber das ist doch auch wieder nur alles Zufall, normalerweise sind die Mächtigen anders. Schauen Sie sich den Landgrafen von Hessen-Kassel an, ein wahres Monstrum, das seine armen Untertanen unter- und niederdrückt, wie es ihm gefällt. Er presst sie aus. Wir brauchen eine neue Ordnung, Hölderlin. Die Zeit ist reif für die Revolution.

Hölderlin fühlte sich der Revolution verbunden. Aber so deutlich hätte er sich wohl nicht geäußert. Er wollte vorsichtig sein. So reagierte er nicht auf Ebels offene Worte.

– Sie brauchen keine Angst haben. Die Gontards sind durch und durch konservativ. Sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Warum auch sollte sich für sie etwas ändern? Gontard ist klug. Er hält sich politisch zurück. Les affaires avant tout, meint er immer, Geschäft geht vor, und will damit sagen, er stehe auf keiner politischen Seite. Und das stimmt auch.

– Das heißt, er akzeptiert die republikanische Sicht der Dinge?

– Das vielleicht nicht gerade, aber er ist sicher auch kein Royalist. Gontard meint vor allem, man kann immer Geschäfte machen, egal unter welcher Herrschaft. Les affaires avant tout.

Beim Abschied sagte Ebel:

– Die Franzosen werden kommen, Hölderlin, so oder so. Sie werden sehen.

Antrittsbesuch

Hölderlin war ungeduldig, voll gespannter Erwartung. Er kannte das Gebäude im Großen Hirschgraben bereits, er war mehrfach davor vorbeigegangen, hatte das schöne Haus schon mehrfach angesehen, er kannte den Weg vom Hotel dorthin, es waren nur ein paar Schritte. Er ging zu früh los, viel zu früh, er zwang sich zu einem Umweg.

Hölderlin klopfte, als die Uhr den vierten Schlag machte.

Ein Diener, selbstverständlich in Livree, öffnete, geleitete ihn in den hinteren Teil des ausgesprochen geschmackvollen Hauses, repräsentativ und wohnlich zugleich, aber das fiel dem jungen, hochgespannten Mann in diesem Moment nicht auf. Er war zu aufgeregt.

Der Diener öffnete eine große Flügeltür: Monsieur Ollderline!

Spricht man hier im Hause nur Französisch?

Ein Hüne, dachte Jakob Gontard, als Hölderlin den Raum betrat. Und: wie vornehm er aussieht. Ebel hat nicht übertrieben.

Gontard stand an einem der großen Fenster, die auf den Garten hinausgingen. Er machte einige Schritte auf seinen Gast zu.

– Monsieur Ollderline, er sprach das Hölderlin sehr französisch aus, vielen Dank für Ihre Bereitschaft, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen. Ich bin hoch erfreut, dass wir uns nun kennenlernen.

Gontard machte eine kleine Pause, aber Hölderlin sagte nichts.

– Wir sind alle sehr froh, dass Sie jetzt kommen, glauben Sie mir. Es wird noch etwas dauern, bis wir für den Unterricht bereit sind, aber es soll Ihnen bis dahin an nichts fehlen.

– Ehrerbietigsten Dank, Monsieur. Alles ist schon jetzt zu meiner Zufriedenheit. Man hatte mich im Hotel bereits erwartet.

Hölderlin hatte sich diesen Satz zurechtgelegt. Er wollte unter gar keinen Umständen hölzern erscheinen.

– Meine Frau freut sich besonders, dass Sie nun da sind.

Von der Frau war nichts zu sehen, obwohl es doch geheißen hatte, dass die Familie ihn erwarte.

– Und meinen Sohn Henry haben Sie ja bereits kennengelernt. Er hat uns von ihrem Treffen Bericht gegeben.

– Ja, ein guter und aufgeschlossener Junge, scheint mir.

– Er sagte gestern, nach dem Besuch, dass er sich freue, endlich wieder richtigen Unterricht zu bekommen. Und einen Lehrer ganz für sich zu haben.

– Wir werden versuchen, auf seine Erwartungen einzugehen, und ihm doch auch eine feste Richtung zu geben.

– Wir haben ihr Traktat zur Erziehung gelesen, Monsieur Ollderline, wir finden es ansprechend und einleuchtend. Auch ich schätze Rousseau. Aber lassen Sie mich trotzdem etwas dazu sagen. Ich denke, am Ende kommt es in der Erziehung doch auf den Menschen an. Reagieren sie als Mensch auf den Jungen, und es wird schon alles seine Richtigkeit haben!

Hölderlin horchte auf. Der Mann hatte offenbar tatsächlich fortschrittliche Ansichten, so wie ihm Ebel das berichtet hatte. Ein solcher Satz hätte auch von Hölderlin selbst oder von Ebel kommen können. Gontard sprach weiter, er kam noch näher und senkte die Stimme etwas. Ihm schien es damit wirklich ernst zu sein.

– Ich vertraue Ihnen meinen Sohn an, Herr Hölderlin. Das ist für mich nichts Gewöhnliches. Ich kann mich nicht um seine Erziehung kümmern, aber mir liegt seine Ausbildung sehr am Herzen. Wie übrigens auch meiner Frau, die Sie bei nächster Gelegenheit bestimmt kennenlernen werden.

Was für ein eigenartiger Mensch, dachte Hölderlin. Er war ihm nicht unsympathisch.

Erziehung

Hölderlin war erschrocken, als er Gontard gesehen hatte. Sein linkes Auge blickte schief und starr nach oben, sein Blick war verdreht, die beiden Augen schauten in unterschiedliche Richtungen. Man hatte nicht das Gefühl, dass dieser Mann einen ansehen konnte. Und doch war er ihm schon jetzt auf eine merkwürdige Weise nahegekommen.

Er war groß, trotzdem hatte er etwas Weiches, ein wenig zu korpulent, ein wenig zu vornehm. Auf Hölderlin wirkte er wirklich sehr französisch.

Und er liebte seinen Sohn.

– Wir fragen uns, ob sie nicht ein wenig viel von Henry erwarten. Ich weiß nicht, ob er bereit ist, Philosophie, und sei es auch die von Rousseau, zu hören.

– Befürchten Sie nicht, dass ich von dem Kinde Wunder erwarte! Ich weiß zu gut, wie viel Verdruss eine zu hochgespannte Erziehung erzeugen kann. Ich weiß zu gut, dass die Natur nur stufenweise sich entwickelt, und dass man jedes Kind nach seinen Kräften wachsen lassen soll.

Gontard hatte offenbar einen wunden Punkt Hölderlins berührt. Der sprach weiter:

– Ich glaube auch, dass die Ungeduld, mit welcher man seinem Zwecke zueilt, die Klippe ist, woran gerade oft die besten Menschen zerschellen. So auch und vor allem in der Erziehung. Man möchte so gerne in sechs Tagen mit seinem Schöpfungswerke zu Ende sein. Das Kind soll dann Bedürfnisse befriedigen, die es noch nicht hat! Es soll vernünftige Dinge anhören und fassen, ohne Vernunft! Das macht dann die Erzieher, weil sie auf dem rechten Wege ihre Absicht nicht erreichen, tyrannisch und ungerecht. Und das wiederum macht den Erzieher und den Zögling gleich elend.

Hölderlin stockte, endlich spürte er, dass er viel zu viel geredet hatte. Gontard, der es selbstverständlich ebenfalls bemerkt hatte, wusste souverän und wohlwollend damit umzugehen.

– Vielen Dank für ihre Offenheit, Herr Hölderlin. Ich bin gewiss, wir werden miteinander auskommen. Auch Sie scheinen mir Fragen des Taktes Gewicht beizumessen. Ein Feld, das gerade in den Geschäften, für die mein Sohn sich bilden und für die er vorbereitet werden muss, von schwer zu überschätzender Bedeutung ist.

– Ich teile ihre Einschätzung, und vielleicht darf ich noch einen kleinen Schritt weitergehen. Ich bin gewiss, dass in der Erziehung, wie überall, Gerechtigkeit das erste Gesetz ist, das man zu befolgen hat.

– Mmh, auch ich bin sehr geneigt, zu glauben, dass Gerechtigkeit ein guter Maßstab ist.

– Es ist wohl, wie überall, auch in der Erziehung eine durchgängige bis ins kleinste Detail konsequente Gerechtigkeit die beste Klugheit.

– Wenn ich es richtig sehe, neigt sie, die Gerechtigkeit, manchmal dazu, einen in diffizile Probleme zu verstricken. Aber noch mal, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit und Deutlichkeit, lieber Hölderlin. Nun aber muss ich mich wieder den Geschäften zuwenden. Gestatten Sie, dass ich Sie zur Tür geleite.