der die Fremde kennt - Cornelius Hirsch - E-Book

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Cornelius Hirsch

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Beschreibung

Wein, Weib und … Claudius Mohl. Ein von einem Mäzen beauftragter Künstler begibt sich gezielt auf eine Reise ins Blaue, um in der Konfrontation mit fremden Orten und Menschen und mit dem Fremden in ihm selbst seine künstlerische Bestimmung zu finden. Mal heiter chaotisch, mal strukturiert methodisch, durch Grabungen in den tiefsten Schichten seines Denkens und Fühlens, versucht er sich seinem Werk entgegenzubilden, das ihm jedoch ebenso fremd zu bleiben scheint wie die vier Musen, deren Küsse ihn erst zum wahren Wirken befähigen.

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Seitenzahl: 144

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Cornelius Hirsch

der die Fremde kennt

Roman

2. Auflage 2021

Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2. Auflage 2021

© 2013 beim Autor

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: Maximilian Henninger, München

Autorenfoto: Joachim Kühmstedt

Schriftart: Minion pro 11°

Herstellung: efc/BoD

ISBN 978-3-8301-9474-3 EPUB

Inhalt

Vorwort

der die Fremde kennt

Nachwort

Literaturverzeichnis und Anmerkungen

Die sprachliche Ausformung der Abhandlung richtet sich des Öfteren nach den im Zusammenhang mit den zu beschreibenden Gegebenheiten jeweils vermuteten akuten soziogeographischen, psychischen und/oder physiologischen Zuständen der Protagonisten, erachtet der Autor doch gerade von der gängigen Schriftsprache abweichende oder auch bloß rudimentär gegebene Verbalisationen als besonders adäquaten, weil unmittelbaren und inneren privaten Denkvorgängen ähnelnden Ausdruck hierfür.

Auch die Freude am Enträtseln so mancher sich ergebender Fragestellung – wie unter anderem der nach dem virtuellen Folgeroman, welcher in der großen Weltliteratur zu suchen ist, und dessen Autor sich in seiner Sprache und in der Namensfindung einer der Hauptfiguren dieses Romans gleicher Logik als Nachfolger des Verfassers der vorliegenden Schrift bezeichnet hat – will er für den Genießer durch mehr oder minder labyrinthhafte Architektonik steigern.

Vorwort

Mit vielen Orten fühlte sich Claudius Mohl freundschaftlich verbunden. Das ging so weit, daß er ihnen ganz neue oder zumindest Vornamen gab. Für manche Orte fand Mohl keine entsprechende Anrede, für Paris z. B. Aber Erwin Kiel und Peter Nürnberg waren ihm von jeher als diese geläufig.

Mit Aglaia Valladolid konnte er sich eine Brieffreundschaft vorstellen, aber er fürchtete, sie könnte ihm eines Tages offenbaren, daß sie gar keine Stadt sein wollte. Das hätte ihn mehr deprimiert als die uneingestandenen Unzulänglichkeiten eines Egon Süderbrarup, einer Konstanze Konstanz, von Bebra Bruchsal oder Baden Baden.

Im vorliegenden Ausschnitt eines Portraits des Künstlers Claudius Mohl werden die Ortsnamen in der von Mohl selbst gebrauchten Umschreibung angeführt, um den Leser nicht zu verleiten, spezielle Gefühle, Ansichten und Urteile, die er mit den Orten verknüpft, in das Verhältnis Mohls zu diesen hineinzudenken, was nicht heißen soll, daß der Leser sich enthalten könne, ihm eigene Wesentlichkeiten mitzubedenken, will er das Besondere künstlerischer Entwicklung im Allgemeinen, den Wert solchen Werdens und Schaffens erkennen.

Ist der Fremde, wie Karl Valentin behauptet, nur in der Fremde fremd?

Zu dieser winterlichen Jahreszeit pflegte ein frischer Wind die Touristen am Strand des Südmeeres in warme Pullover und lange Sommerhosen gekleidet sein zu lassen. Das Schneetreiben zu Hause und die Überzeugungskraft rühriger Reisevermittler hatte sie in das für deren Zwecke neu erschlossene Land getrieben, welches sich nach wechselnder und langjähriger Okkupation durch größere Mächte Hatsabl (vermutlich gebildet aus »Hot sable« oder »Hat Säbel«) nannte. Hier konnte jedenfalls das ganze Jahr hindurch Saison und ein hunderte Kilometer langer Sandstrand samt Sonne versprochen werden. Es waren meist Familien, Sonnenhungrige mit schmalerem Geldbeutel oder ältere Herrschaften, die die Sommerhitze hierzulande nicht ertragen hätten und nun im Februar die Füße ins kalte Wasser streckten, sich hinter Sandwällen oder aufgespannten Tüchern vor dem Wind schützten, zu den Eisbuden promenierten oder erfolglos die Händler mit ihren Bauchläden abzuwimmeln suchten. Vor zudringlichen Einheimischen geschützt gab es auch ein paar provokante Oben-ohne-Girls, Sekretärinnen oder Kartographinnen aus Mediokrien, an den Warmwasserpools der Hotels, die den Strand von Hatsabl entlang, eine Kette fremdländischen Besitzes bildend, die eigentliche Nordgrenze des Landes um circa 500 Meter vom Meer weg nach Süden in Richtung Wüste zurückverlegt hatten.

Und Busen waren das Einzige, was Mohl an seinem Aufenthalt in Saftbar (hergeleitet aus »flüssigkeitslos«, nicht etwa aus »Getränkeausschank«), der zweitgrößten Stadt von Hatsabl, kurzfristig hatte reizen können. Das erschien ihm ein recht zufriedenstellender Zustand.

Ins Flugzeug, Transfer zum Hotel, Reisetasche ins Zimmer, zum Strand laufen, erfrischend vorwärtstreibende Gitarrenmusik im Ohr, atmen, aufatmen, seufzen.

Im Film hätte man es kompliziert synchronisieren müssen; das Ergebnis wäre mäßig ausgefallen, dachte Mohl, sogleich verärgert, sogar hier und jetzt an seinen Beruf gedacht zu haben. Nun, es war – doch nicht so schlimm – sein, ja, Beruf, seine Tätigkeit. Sie wird sich vergessen lassen in den folgenden zwei Wochen Nichtstun, die Mohl sich verordnet hat.

Jedes Geräusch, das er, Mohl, in allen Studios Mediokriens hochgehandelter Geräuschemacher, hier im Urlaub zu machen gedenkt, wird live und unabsichtlich, unreflektiert und aus erster Hand entstehen – besser: geschehen. Mohl wird den Erwartungen, vorgegebenen akustischen Modellen zu entsprechen, nicht Rechnung tragen. Er wird neue Geräusche erfinden, ohne sie gesucht zu haben, selbst die trivialsten genießen, sein Handwerk nicht beherrschen, etwas nicht vollkommen Mitteilbares, sondern bloß original Wahrnehmbares, die Gefühlsstimulanz selbst entstehen lassen …

Aber nur nicht daran denken, keine Pflicht, kein Trieb, bitte! Bitte Ruhe.

Zunächst: Laufen. Weg mit dem bewußten Claudius, Luxushirn. Nein, nicht nackt hier, denn bekanntlich ist der Körper sogar ohne Kleidung deutbar wie eine Uniform und gibt Aufschluß über die Art von geleisteter Arbeit, von Freizeitverhalten und Sozialisierung des ihn nutzenden Individuums.1

Mohl denkt immer noch, trotz Atmen, Laufen, Wegsein von Mediokrien mit allem, was dazugehört, Wegsein von dem, der er dort war. Es scheint nicht zu funktionieren. Noch denkt Mohl mit. Er wird viel Übung nötig haben.

Mohl geht jetzt, schlendert. Entspannungstraining: Sei ruhig! Nonsens. Am besten auch auf diese Anforderung nicht reagieren. Übung Nr.1: nicht üben.

Unter anderem Essenszeit versäumen lernen, nicht bei Tisch erscheinen, weiter am Strand entlang.

Die vier Mädchen, vor ihm in der gleichen Richtung unterwegs, hatte er vorhin schon bemerkt. Er überredete sich, es nicht zu vermeiden, sie über kurz oder lang eingeholt zu haben. Sie waren noch jung, elf oder dreizehn höchstens, in kurzen Röckchen und langen Pullovern darüber, barfuß, sommerhäutig. Windzerzauste Kinderhaare. So kam er näher. Gehen. Schlendern. Nur nicht überholen, und wenn, dann aber rasch. Ekelhaft das. Na gut, dann eben Geschwindigkeit beibehalten, dafür ein Stück weit weg von der Wassergrenze in den Sand hinein. Da wird man langsamer. Das Einholen war nicht mehr vermeidbar.

Schon blickte sich eines um. Ein Blick der Angst, des Hasses, des Interesses, der Warnung? Das Plappern war verstummt, denn Mohl überholte, minutenlang.

Warum nicht ab und zu rübersehen? Man hat den gleichen Weg … Hat man?

Noch so ein Blick. Ein anderes fröstelte und schritt stur, den Kopf nach vorne, durch die glatte Sandfläche, in der das Wasser eben am Versickern war und sie kurz darauf wieder mit blasenwerfender Feuchtigkeit überspülte. Mohl mußte einfach schneller gehen, sonst würde er hier nie vorbeikommen.

Jetzt hatte er die Blicke der vier im Rücken, ablehnende Vorsicht schob ihn vorwärts. Er durfte weder stehen bleiben noch zurücksehen. Er mußte weitertrotten, beachtet, verkannt, abhängig.

Jetzt reicht’s: zurückgehen! Sich umdrehen und einfach zurückgehen. Also …

Von den Mädchen keine Spur. Wie lange waren sie ihm gefolgt? Überhaupt nicht?

Der Rückweg war frei und ein ohne diplomatisches Verhalten möglicher. Einer leichten Trauer konnte sich Mohl nicht erwehren. Sklave seiner Einbildung von der Einbildung anderer. Sie waren weg. Ärgerlich. Keine Wiedergutmachung.

Beunruhigte es Mohl, daß er fast keinen Schatten warf? Fast keinen, kaum einen. Immerhin, noch hatte er Zeit und wurde nicht verfolgt. Das Verfolgen wird er auch aufzugeben lernen, sagte er sich, irrte sich gewaltig und wartete, bis es Zeit wird für ein Abendessen.

Mohl liest nicht, aber er hört ab und an Musik aus seinen Kopfhörern, welche zudem jegliche Konversationsgefahr bannen. Dem Hotelpersonal kommt Mohls Wunschlosigkeit zustatten; die Bettdecke ist in liebevoller Akkuratesse gefaltet. (Man hat berechnet, daß zur Bereitstellung eines Hotelbettes etwa 0,8 Arbeiter veranschlagt werden müssen.2) Trotzdem telephoniert Mohl mit seiner Bank und bucht eine Verlängerungswoche.

Mohl erhält Nachrichten. Von seiner Freundin (Wie hieß die noch?), von einem Arbeitskollegen. Was los sei, wird gefragt. Nichts, will Mohl zurücksenden. Mohl weicht (Übung Nr.2) jeder als Aktion getarnten Folgehandlung auf Beeindruckendes aus. Mohl hat kein schlechtes Gewissen.

Probleme mit Mohls seinen Interessen leicht unangepaßter Geschlechtlichkeit ärgern ihn mehr, als daß sie ihn zu kommunikativen Umständlichkeiten hingerissen hätten.

Wer von Mohl Reaktionen erwartet, erwartet nichts von Mohl, sondern von einer Mohl fremden Vorstellung von Mohl, stellt sich Mohl vor. Diesen Unmohlseins will Mohl sich erwehren und bucht eine weitere Verlängerungswoche.

Post vom Funk, Telefonate von Freunden, die ein übereifriges Personal auf Mohl aufmerksam machen, das nun an seinen Geburtstag denkt, Nachrichten der Freundin mit freudigem Unterton zu vermitteln wissen, das Ausbleiben des Trinkgeldes übersehen. Es ist das ganze Jahr hindurch Saison, und Mohl bucht seine nächste Verlängerungswoche in einem anderen Hotel.

Eine Botschaft erleichtert Mohl: Die Rundfunkanstalt verzichtet darauf, Mohls Dienste weiterhin in Anspruch zu nehmen. Ein anderes zwingt Mohl: Die Ankündigung des Besuchs einer sich ihm freundschaftlich gesonnen wähnenden Kommission der Anteil zu nehmen sich erfrechenden, märtyrerisch und erhobenen Hauptes Sorge transportierenden sogenannten besten Freunde, geführt und motiviert durch die Freundin. Mohl meidet diese aversiven Umweltfaktoren und bucht keine Verlängerungswoche mehr, sondern eine Busreise ins Landesinnere. In übermütiger Laune wird der Musikspender weggespendet.

Mohl hat sich informiert: Jeder mündige Bürger ist berechtigt, sich ohne weiteres irgendwohin davon zu machen, ohne davon jemand in Kenntnis zu setzen. Nur wenn die Vermutung besteht, daß mit dem plötzlichen Abtauchen eine Gefahr für Leib und Leben dieser Person einhergeht, darf der Verschwundene polizeilich gesucht werden.3 Mohl ist zufrieden mit der Polizei.

Mohls Urlaub: Alles scheint anders als daheim zu sein. Bis auf die Erwartungen. Wenigstens ist man ein Fremder. Man fällt auf. Mohls Gehen ist anders als zu Hause. Mohl fällt sich dabei selbst mehr auf als daheim, da er von Fremdem umgeben ist, aus dem er, der er ein ihm Bekannter zu sein meint, herauszuragen scheint. Das ist der Reiz der Fremde für Mohl. Mohls Verhalten bleibt im Urlaub das gleiche wie daheim, fällt unabgelenkter, neurotischer Selbstbeobachtung nun aber als inhaltsloses Muster auf und ist Grund gelegentlichen Unmuts.

Alles ist erlaubt. Bis auf Erwartungen. Mohl will keine Zukunftsfragen stellen (Übung Nr.3) und steigert dadurch seine Glücksfähigkeit in der Gegenwart. (Das hat er sich schon daheim so ausgedacht!) Er öffnet sich einem Land, welches nur Palmen, Oliven, Höhlen, Wüsten und dem Erdboden gleichgemachte Geschichte bietet. Mohl geht in das Café mit der lautesten oder leisesten Musik, ersteht nichts außer gewissen Lebensmitteln, besichtigt nichts, gibt keine Almosen oder Auskunft über sich, lächelt nicht, denkt sich nicht seinen Teil. Gute Reisende seien herzlos, hat ein Mitreisender einmal gemeint.4

Reist man – wie Mohl – im Bus, der der nächst beste gewesen war, ohne Begleitung oder Musikkonserve im Ohr der Wüste Wuerg entgegen, muß man damit rechnen, daß man den Gesprächen der sich in Begleitung befindlichen Mitreisenden, derer ohne Selbstbeschallung zumindest, zuzuhören gezwungen wird. Mohl hatte einen Touristenbus erwischt, in dem sich hauptsächlich Touropäer und speziell mediokrische Landsleute Mohls in die entlegeneren Gebiete Hatsabls befördern ließen. Vor und auch neben Mohl saßen Wissende. Wenn es nicht Meteorologen, Klimatologen, Geo- oder gar Kartographinnen waren, so hatten sie sich durchaus auf ihren Urlaub vorbereitet.

Der Bus fuhr, wie Mohl nun im Schweiße seines Angesichtes erfuhr, nicht nur nach Süden, sondern hatte schon längst die 400 mm Isohyete (Raum potentieller unbewässerter Ackerbaukulturen), die hier mit der Isohygromene5 (Linie, die Räume gleicher Anzahl humider bzw. arider Monate trennt, wobei ein Monat dann als humid gilt, wenn die nach J. Papadakis 1966 berechnete potentielle Evaporation5 von den gefallenen Regenmengen übertroffen wird, wobei hier auch alle semihumiden Monate einbezogen werden, bei denen im Sinne von Lautenbach/Meyer das Wasserdefizit unter 25 mm bleibt.6) zusammenfiel, überschritten, und man sah tapfer der zunehmenden Aridität des Klimas entgegen.

Welch ein Gegensatz zu der Gebirgsregion im Norden! Dort noch in den Gipfelregionen Steineichen (Quercus ilex), nach unten hin folgend Pinus halepensis, deren Bestände an der unteren Waldgrenze endeten, wo es ursprünglich Wacholder (Juniperus) gab, das heißt genau gegensätzlich zur Höhenstufung der Vegetation in mediokrischen Gebirgen, die thermisch und nicht wie hier hygrisch bedingt ist. Man seufzte über wohlig zu formulierende Erkenntnisse der Andersartigkeit.

Daß zwischen der 200 mm und der 100 mm Isohyete in der Wüstensteppe xerophile Horstgräser (Aristida obtusa) vorherrschten7, mußte Mohl zu seiner Verbitterung zur Kenntnis nehmen. Und das Gelbe da sind also Zygophyllumsträucher. Sonst war die Umgebung restlos devastiert. Überhaupt war die Veränderung der Pflanzenwelt anthropogen bedingt. Ja, auch Mohl wird sich von Bodennudation, Gullybildung, Winddeflation, Vegetationsdegradierung und Desertifikation während seiner Fahrt überzeugen können.8

Als man dann auf die Echiochillon-Kleinstrauch-Gesellschaft zu sprechen kam und Worte wie »lessivierte Podsole« gekoppelt mit der Knoblauchfahne, die Mohls Hintersasse ihm dabei in den Nacken blies, auf Mohl herabwehten, begann er daran zu zweifeln, ob der Kosmos noch irgendwie in Bezug auf sein Selbstverständnis geordnet sei. Mohl behielt sich das Recht vor, zu gehen, wenn ihm danach war. Darum ging er jetzt.

Genauer: Er gab vor – was auch der Wirklichkeit entsprach –, daß er kurz, aber unaufschiebbar dringend eines Abortes bedürfe. Der Fahrer hielt bereitwillig. Mohl stieg aus und begab sich hinter eine bei einer Durchschnittsniederschlagsmenge von 200 mm 46 mm Wasser pro Jahr transpirierende Pflanze … erraten: den Ölbaum. Doch da war der Bus schon weitergefahren. War wohl ein Mißverständnis. Mohl blieb beim Baum, einem von acht Millionen in Hatsabl, wie man wußte.

Einem Sonnenstich entkam Mohl durch die Aktion einer Gruppe abenteuerlicher- wie exklusiverweise in Jeeps reisender Touristen, die mit dem Ziel, die absolut unspektakulären (Hauptsache extrem abgelegenen), gewerblich genutzten Anpflanzungen am Rande der Wüste Wuerg (Mohl sagte immer Würg) in Augenschein zu nehmen, unterwegs waren und Mohl mitnahmen. Da nun ein Wagen mit einer Person zu viel befrachtet war, mußte Mohl, hatte er doch noch nicht einmal gebucht und erst recht nicht bezahlt, in der nächsten Ortschaft aussteigen. Freilich nicht, ohne daß ihm eine Rückreisemöglichkeit zur evergreenen Hotelfront an der Küste zugesichert worden wäre, nachdem er den von allen Reisenden in panischer Identifikation nacherlebten Bericht seiner zufälligen Klo-Rolle des Ausgesetzten zum besten gegeben hatte.

In einer Woche kommt der nächste Treck. Bis dahin Unterkunft hier in Azremat, hier am Rande einer prägnanten Schichtstufe, südlich der Einmonatsisohygromene, südlich der 21 Grad Celsius Isotherme, südlich der 200 mm Isohyete. Dessen ungeachtet bekam Mohl als Stengel der Rebe von Kindern, die um ihn gedieh, vom Vorsteher der Fremdenverkehrsstation einen jasminparfümierten Kaffee und einen Führer durch die Oase.

Unter Aichas Erklärungen in der Sprache aus der Kolonialzeit wurden ihm die Ausschnitte aus dem Oasenleben gezeigt, die man für touropäische Gäste für sehenswert hielt. Die Lebensgrundlage der Einheimischen zunächst: Phoenix dactylifera. Darunter Feigen- und Mandelbäume und zwischen entfernter stehenden Einzelbäumen sogar Weizen, das wichtigste Agrarprodukt des Landes – 2000 Jahre zuvor. Heute deckt der Anbau den Eigenbedarf.

Hoffentlich bekomme ich überhaupt was zu essen, fürchtet Mohl. Aicha lächelt; das heißt, Mohl vermutet es nur, denn Verschleierung verdeckt das Gesicht des Mädchens weitgehend.

Da weiß sich Mohl in der durch warme Quellen aus der nach Süden das Gebiet begrenzenden Gebirgskette gespeisten Anpflanzung gut aufgehoben. Für die Sekunden, die die Sonne zum Auf- oder – wie eben jetzt – zum Untergehen benötigt, wird Mohl in der folgenden Woche noch viel Zeit aufwenden. Es ist bald dunkel, und Aicha führt Mohl durch Gassen, die weniger durch die fensterlosen Lehmbauten als vielmehr durch die atemanhaltende Neugier der Bewohner gebildet sind, zu der ihm zugewiesenen Gastfamilie, deren Oberhaupt der Vater Aichas ist.

Auch ohne das ohnehin im längst vergessenen Autobus verbliebene Gepäck Mohls gesehen zu haben, weiß Vater Dlahirg, daß Mohl aus Mediokrien stammen und daher reich sein muß. Da Mohl (bis auf wissenschaftliche Gespräche) nichts Gebotenes ablehnen will (Übung Nr.4), freut er sich über das Abendessen, an dem außer der Mutter als Bedienung nur die nichts zu sich nehmende Aicha in ihren Schleiern und der Gastgeber teilnehmen. Mohl hat mitbekommen, daß einer unverhüllten und anscheinend jüngeren Schwester Aichas das Dabeisein unter Drohungen verwehrt worden war. Das Mädchen sitzt nun schluchzend in einer Nebenkammer der Behausung. Mohl tut gut daran, solches zu übersehen.

Die simpelsten Spielchen funktionieren nicht mehr. Eine von Mohls egozentrischen Sportarten war das Bescheidenheitsspiel: Wie bescheiden wirken, ohne dem Gegenüber ein schlechtes Gewissen zu bereiten oder gar bescheiden zu sein. Ungeschickte Körperhaltung, Redeweise und Kleidungsart mußten unauffällig mit ungeschlachtem Sich-in-Szene-Setzen und Betonung unmoderner Interessen gepaart werden. Erfolg ist gegeben, wenn der Gegner sich nun auch bescheiden sein zu wollen genötigt sieht oder einen für unmotiviert und daher ungefährlich einschätzt, wenn er sich also als Spielführer dünkt, der dem naiven Partner unter die Arme greift, glaubt, diese Hilfestellung jederzeit unterlassen zu können, hofft, daß er die dem Bescheidenen erwiesenen Streicheleinheiten in Form von Dankbarkeitsbezeugungen vergolten bekommt, durch Münzen einer Währung, von der erwartet wird, daß sie in Macht umgetauscht werden könne. Mächtig bleibt gleichwohl der geschicktere Simulant … Das klappt hier in der Wüste überhaupt nicht.

Daß es noch einen Bruder Aichas gibt, erfährt Mohl beim Betreten des Schlafgemachs der Männer. Mohl muß sich nicht sein Eckchen suchen. Er bekommt den angewärmten Platz des Jungen, selbstverständlich.

Aicha wich die nächsten Tage nicht von Mohls Seite. Der handelte nach seinem Warum-auch-nicht-Prinzip. Die vielen auf Touristen abgerichteten Kinder bettelten nicht. Sie kamen nur und sangen kichernd und albern ihre Spottverse. Mohl verstand bald, daß die nicht ihm, sondern seiner Begleiterin galten. Mohl wollte wissen, was los sei, und Aicha sagte: Komm.

Wieder gingen sie in die verlassene Stadt, weniger als 50 Meter oberhalb der jetzigen Siedlung gelegen. Aicha wählte heute einen langweiligeren Weg als sonst. Nicht den, der dann weiter und woanders hin führte, nein, einen sackgassenverdächtigen. Da wohnt die Hexe, sagte Aicha, keiner liebt sie. Sie ist auch zu nichts nütze und häßlich.