Der Dieb - Fuminori Nakamura - E-Book

Der Dieb E-Book

Fuminori Nakamura

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Beschreibung

Er betreibt sein Metier in den belebten Straßen Tokios und den überfüllten Wagen der U-Bahn. Er stiehlt mit kunstvollen, fließenden Bewegungen. Der Diebstahl ist der Kick in seinem Leben, das Gefühl, seinem Schicksal zu entrinnen – für den Moment. Doch seine dunkle Vergangenheit holt ihn wieder ein. Ein grandioser Thriller und eine dunkle, abgründige Geschichte über Schicksal und Einsamkeit.

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Seitenzahl: 189

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Fuminori Nakamura

Der Dieb

Roman

Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg

Titel der 2009 bei Kawade Shobo Shinsa Ltd., Tokio,

erschienenen Originalausgabe: ›Suri‹

Copyright ©2009 by Fuminori Nakamura

All rights reserved

Die deutsche Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Die deutschen Übersetzungsrechte unter der Vermittlung von Kodansha Ltd. Tokio

Covermotiv: Farbholzschnitt von Utagawa Hiroshige,

›Minowa, Kanasugi und Mikawashima‹, 1857 (Ausschnitt)

Copyright ©akg-images

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24376 5 (1.Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]1

Als ich noch klein war, hab ich es oft vermasselt.

In belebten Läden oder bei Leuten zu Hause glitten mir die heimlich geschnappten Dinge gern aus den Fingern. Sie fühlten sich an wie Fremdkörper, die nicht in meine Hand passen wollten. Die Fremdkörper zitterten leicht, machten sich selbständig, und sowie ich das spürte, fielen sie auch schon zu Boden. Jede einzelne Stelle, die nicht berührt werden sollte, schien mich abzustoßen. In der Ferne war dann stets der Turm. Nur eine Silhouette, im Nebel schwebend, als wär’s ein Tagtraum aus alter Zeit. Aber jetzt passieren mir solche Fehler nicht mehr. Und natürlich sehe ich auch den Turm nicht mehr.

Vor mir ging ein Mann mittleren Alters, mit schwarzem Mantel und silberfarbenem Aktenkoffer in der rechten Hand, Richtung Bahnsteig. Unter den Passanten in meiner Nähe fiel er sofort auf. Der Mantel war von Brunello Cucinelli, ebenso der Anzug. [6]Die wahrscheinlich maßgefertigten Berluti-Schuhe aus feinem Leder zeigten nicht den kleinsten Kratzer. Ungeniert stellte dieser Mann seinen Wohlstand zur Schau. Die silberne, am linken Handgelenk unter der Manschette hervorblitzende Uhr war eine Rolex Datejust. Nicht gewohnt, allein mit dem Shinkansen zu reisen, bereitete ihm der Kauf einer Fahrkarte sichtlich Mühe. Der Mann beugte sich vor, seine Finger krabbelten wie ein fetter, feister Käfer suchend über den Automaten. Da bemerkte ich sie in seiner linken Manteltasche.

In sicherem Abstand zu ihm fuhr ich die Rolltreppe hoch, ging gemächlich zu der Reihe, in der er wartete, und stellte mich mit einer Zeitung hinter ihn. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich wusste genau, wo die Überwachungskameras installiert waren. Da ich nur eine Karte für den Bahnsteig gelöst hatte, musste es vollbracht sein, bevor er in den Zug stieg. Mit meinem Rücken die Sicht von rechts verdeckend, faltete ich die Zeitung, nahm sie in die linke Hand, senkte sie langsam, um das Geschehen abzuschirmen, und ließ Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand in seine Manteltasche gleiten. Flüchtig nahm ich den Reflex von Neonlicht auf dem schimmernden Manschettenknopf seines Ärmels wahr. Ich holte langsam Luft, hielt den Atem an. Klemmte den Rand der [7]Brieftasche zwischen die Finger, zog. Ein Schauer durchfuhr mich von den Fingerspitzen bis zur Schulter, angenehme Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Obwohl viele Menschen um mich herumstanden, war im Wirrwarr der sich kreuzenden Blicke kein Auge auf mich gerichtet; ich schien wie Luft für sie zu sein. Die Spannung in den Fingern durfte jetzt nicht nachlassen. Ich barg die Brieftasche in der Falte der Zeitung, nahm diese in die rechte Hand und steckte sie in die Innentasche meines Mantels. Langsam atmete ich aus. Während ich spürte, wie meine Körpertemperatur weiter anstieg, beobachtete ich aus den Augenwinkeln die Umgebung. Das elektrisierende Gefühl beim Berühren des verbotenen Objekts, die Benommenheit nach dem Eindringen in die Privatsphäre einer fremden Person waren noch immer da. Kleine Schweißperlen rannen mir den Nacken hinunter. Ich holte das Handy aus der Tasche und tat beim Weggehen so, als würde ich Mails checken.

Ich ging zur Fahrkartensperre zurück, stieg die grauen Stufen zur Marunouchi-Linie hinunter. Plötzlich sah ich mit einem Auge nicht mehr klar; die vorübereilenden Passanten verschwammen, ihre Konturen schienen sich aufzulösen. Als ich zum Bahnsteig kam, tauchte am Rand meines Blickfeldes ein Mann in schwarzem Anzug auf. Eine leichte [8]Wölbung verriet mir, dass das Portemonnaie in der rechten Gesäßtasche seiner Hose steckte. Erscheinung und Auftreten deuteten auf jemanden hin, der sich in Host-Clubs durchaus erfolgreich um das Wohl einsamer Damen kümmerte. Verwundert blickte er auf das Handy, während seine dünnen Finger sich hektisch über die Tasten bewegten. Ich stieg mit ihm ein, achtete auf den Fluss der Menge und positionierte mich direkt hinter ihm. Die Luft in der U-Bahn war stickig. Wenn das menschliche Nervensystem große und kleine Reize zugleich wahrnimmt, vernachlässigt es die kleineren. Auf diesem Streckenabschnitt gab es zwei lange Kurven, in denen die Waggons heftig ins Schwanken gerieten. Der Büroangestellte hinter mir las eine kleingefaltete Abendzeitung, die etwas älteren Frauen auf meiner rechten Seite tratschten. Beim Lachen konnte man ihr Zahnfleisch sehen. Ich war der Einzige, der etwas anderes im Sinn hatte, als von A nach B zu fahren. Den Handrücken nach innen gerichtet, schob ich meinen Arm vor und fasste mit zwei Fingern das Portemonnaie des Gigolos. Die stehenden Fahrgäste schirmten mich rundherum ab. An einer Seite der Hosentasche hatten sich zwei lose Fäden zu einer schlangenförmigen Spirale verwickelt. Als der Waggon auf einmal schwankte, stieß ich meine Brust in den [9]Rücken des Mannes und zog das Portemonnaie senkrecht heraus. Mit einem Schlag wich die Anspannung von mir. Ich atmete aus und spürte die vertraute Wärme durch meinen Körper strömen. Meine Sinne waren hellwach, lauerten auf beunruhigende Signale, aber nichts geschah. In einfachen Fällen wie diesem konnte man so gut wie keine Fehler machen. An der nächsten Station stieg ich aus und mischte mich in den trägen Menschenstrom, den Kopf eingezogen wie jemand, dem die Kälte im Nacken sitzt.

Ich ging durch die Fahrkartensperre. Im Eingangsbereich des Bahnhofs standen etwa ein Dutzend Leute herum. Ich taxierte die durchschnittlich aussehenden Männer und Frauen und schätzte, dass sie insgesamt vielleicht zweihunderttausend Yen bei sich trugen. Langsam entfernte ich mich und zündete mir eine Zigarette an. Links hinter einem Strommast sah ich einen Mann mit einer weißen Daunenjacke, der ungeniert den Inhalt eines Portemonnaies überprüfte und es dann in seine rechte Jackentasche steckte. Die Ärmel waren vorne schwarz vor Schmutz und die Sneakers ausgelatscht; nur der Stoff seiner Jeans schien gut erhalten zu sein. Ich beachtete ihn nicht weiter und steuerte auf das Kaufhaus Mitsukoshi zu. In der Herrenabteilung, wo sich die Shops vieler bekannter [10]Modemarken aneinanderreihten, stand eine Schaufensterpuppe, die wie ein anspruchsvoller Herr um die dreißig gekleidet war. Die Puppe und ich trugen das Gleiche. Mode interessierte mich nicht, aber jemand mit einer Beschäftigung wie der meinen durfte nicht auffallen. Um keinen Verdacht zu erregen, muss man sich geschmackvoll kleiden, sich in eine Lüge hüllen und diese Lüge mit der Umgebung eins werden lassen. Der einzige Unterschied zur Puppe waren die Schuhe. Für den Fall, dass ich vielleicht einmal würde fliehen müssen, trug ich Sneakers.

Die Wärme im Ladeninnern nutzte ich, um meine Finger in den Taschen zu bewegen, sie spreizend und dehnend geschmeidig zu halten. Das nasse Taschentuch, mit dem ich jeweils die Finger anfeuchtete, war immer noch kalt. Zeige- und Mittelfinger hatten fast die gleiche Länge. Ob das angeboren oder erst mit der Zeit so geworden war, weiß ich nicht. Leute, bei denen der Ringfinger länger ist als der Zeigefinger, benutzen Mittel- und Ringfinger. Einige beugen den Mittelfinger leicht nach innen und greifen mit drei Fingern zu. Wie bei allem, was sich bewegt, gibt es auch für das Herausfischen eines Portemonnaies eine ideale, harmonisch fließende Bewegung. Nicht nur der Winkel, auch die Geschwindigkeit ist entscheidend. Ishikawa liebte [11]es, über solche Dinge zu reden. Besonders wenn er trank, plapperte er wie ein Kind drauflos. Ich hatte keine Ahnung, was er jetzt machte. Gut möglich, dass er bereits tot war.

Ich schloss mich in einer der nur schwach beleuchteten Toiletten ein, zog mir dünne Handschuhe über und inspizierte meine Beute. Bahnhofstoiletten benutzte ich vorsichtshalber nie. In der Brieftasche des Mantelträgers waren sechsundneunzigtausend Yen, drei Hundertdollarnoten, eine Visa Gold-Kreditkarte, eine American Express Gold-Kreditkarte, ein Führerschein, ein Fitnessklub-Mitgliederausweis sowie die Rechnung eines japanischen Nobelrestaurants über zweiundsiebzigtausend Yen. Als es mich schon zu langweilen begann, entdeckte ich plötzlich eine Plastikkarte von undefinierbarer Farbe. Sie war nicht bedruckt. Solche Karten hatte ich schon öfter gesehen – Membercards für Bordelle. Im Portemonnaie des Gigolos befanden sich zweiundfünfzigtausend Yen, ein Führerschein, eine Mitsui Sumitomo Kreditkarte, Karten für den Tsutaya-Videoverleih und ein Comic-Café, mehrere Visitenkarten von Prostituierten, ferner diverse Quittungen sowie Pillen in fröhlichen Farben, mit Herzchen und Sternchen drauf. Ich nahm nur die Geldscheine heraus und steckte den Rest wieder zurück. Jede Brieftasche, jedes Portemonnaie [12]offenbart Charakter und Lebensstil seines Besitzers. Ebenso wie Handys bergen sie persönliche Geheimnisse und nehmen unter all den Dingen, die ein Mensch mit sich herumträgt, eine zentrale Rolle ein. Die Kreditkarten verkaufte ich nie, das war mir zu umständlich. Ich hielt mich an die Methode, die Ishikawa mich gelehrt hatte: Wirft man ein Portemonnaie in einen Briefkasten, gelangt es von der Post zur Polizei, die es dann an die Adresse auf dem Führerschein schickt. Ich wischte die Fingerabdrücke ab und schob alles in meine Tasche. Der Gigolo würde wegen der Pillen vielleicht verhaftet werden, aber das war nicht mein Problem.

Als ich die Toilette verlassen wollte, irritierte mich etwas in der Gegend einer der verborgenen Innentaschen meines Mantels. Wie elektrisiert schloss ich mich wieder ein. Es war eine Bulgari-Brieftasche aus hartem Leder. Sie enthielt zweihunderttausend Yen, alles neue Banknoten. Neben Gold-Kreditkarten von Visa und anderen Gesellschaften fand sich auch die Visitenkarte des Vorsitzenden eines Wertpapierhauses. Die Brieftasche wie auch den Namen auf der Visitenkarte sah ich zum ersten Mal.

Schon wieder!, dachte ich. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich nach ihr gegriffen hatte. Von [13]

[14]2

Mit diffusem Kopfschmerz überließ ich mich dem Schaukeln des Zuges.

Ich war auf dem Weg zum Flughafen Haneda, der Zug rappelvoll. Die Heizlüftung und Körperwärme der anderen Passagiere brachten mich zum Schwitzen. Während ich in die Landschaft hinausstarrte, bewegten sich in den Taschen meine Finger. Ärmliche Häusergruppen glitten in regelmäßigen Abständen vorüber. Ich dachte an die Bulgari-Brieftasche vom Vortag und blinzelte. Da erschien vor meinen Augen, mit dröhnendem Lärm, ein riesiger Stahlturm. Es war nur ein flüchtiger Moment, aber mein in der Menge eingezwängter Körper versteifte sich instinktiv. Der Turm war sehr hoch; es fühlte sich an, als hätte er mir beiläufig ein Zeichen gegeben.

Ich schaute mich im Wagen um und bemerkte einen Mann, der etwas im Sinn zu haben schien. Er wirkte weniger angespannt oder konzentriert als vielmehr entrückt, die Augen verengt wie in Trance. [15]Er begrapschte den Körper einer Frau. Männer wie er lassen sich in zwei Gruppen einteilen: die gewöhnlichen, die lediglich eine Neigung zu sexueller Perversion verspüren, und die anderen, die von ihren Perversionen verschlungen werden und, gefangen in ihrer Welt, die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr erkennen können. Ich vermutete, dass der Typ zur zweiten Gruppe gehörte. Die sexuell Belästigte war, wie man auf einen Blick sehen konnte, eine Mittelschülerin. Ich wand mich durch die Lücken in der Menge und näherte mich den beiden. Außer mir, ihm und dem Mädchen bemerkte niemand etwas.

Von hinten packte ich das linke Handgelenk des Mannes. Alarmiert zuckte jeder Muskel seines Körpers zusammen. Die Kraft wich aus ihm, wie nach einem Schock. Während ich sein Handgelenk umklammerte, fixierte ich mit dem Zeigefinger seine Uhr, öffnete mit dem Daumen das Armband und ließ die Uhr in meinen Ärmel gleiten. Dann fasste ich das Portemonnaie in der rechten Innentasche seines Anzugs mit zwei Fingern meiner rechten Hand. Weil die Gefahr bestand, seinen Körper zu berühren, änderte ich mein Vorhaben, ließ das Portemonnaie im Zwischenraum von Hemd und Jackett fallen und fing es mit der Linken auf. Er war Ende dreißig, sah aus wie ein [16]Firmenangestellter, und aus dem Ring an seinem Finger schloss ich, dass er verheiratet war. Ich packte ihn erneut am Arm, diesmal mit meiner rechten Hand. Sein Gesicht war bleich geworden, das sah ich, als er im hin und her schwankenden Zug versuchte, über seine Schulter zu schauen. Die Mittelschülerin merkte, dass hinter ihr etwas geschah, und bewegte den Kopf, unschlüssig, ob sie sich umdrehen sollte oder nicht. Im Wagen herrschte Stille. Der Mann öffnete den Mund, als wollte er sich mir oder der Welt gegenüber rechtfertigen, als fühlte er, dass etwas Böswilliges ihn in schlechtem Licht erscheinen ließ. Seine Kehle bebte. Schweiß rann ihm von Stirn und Wangen, seine Augen waren weit geöffnet, aber wie ins Leere gerichtet. Würde man mich verhaften, sähe ich vielleicht auch so aus. Ich lockerte meinen Griff und bedeutete ihm mit einer stummen Geste: »Hau ab!« Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich nicht. Er hatte Mühe zu begreifen. Ich wies mit dem Kopf zur Tür. Sein Arm zitterte schwach. Er drehte sich wieder um, als hätte er gespürt, dass ich ihn nicht aus den Augen ließ. Da öffnete sich die Tür, und der Mann rannte los. Er warf sich ins Gewühl, stieß panisch die Leute zur Seite, um so schnell wie möglich wegzukommen.

Die Mittelschülerin im Zug starrte mich an. Ich drehte ihr den Rücken zu und versuchte, meinen [17]Missmut zu unterdrücken. Ich hatte eine Uhr und ein Portemonnaie, die mich nicht interessierten, und sowohl von dem Mann als auch von dem Mädchen musste ich mir vorwurfsvolle, fragende Blicke gefallen lassen. Wenigstens war ausgeschlossen, dass der Kerl den Vorfall melden würde.

Lustlos stieg ich beim nächsten Halt aus. Ich nahm die Rolltreppe, wo mein Blick auf einen gelangweilt wirkenden, wohlhabenden Herrn mittleren Alters fiel, verließ dennoch das Bahnhofsgebäude und lehnte mich draußen an die schmutzig-graue Wand. Langsam entspannte ich mich. Die Hände in den warmen Taschen, überlegte ich mir, ein Taxi zu nehmen.

Ich spürte jemanden in meiner Nähe. Als ich zur Seite blickte, stand unmittelbar neben mir ein schmaler Typ. Zu einem schwarzen Anzug trug er schwarze Lederschuhe, beides unbekannter Marke. Tachibana!, blitzte es mir durch den Kopf. Mein Puls fing an zu rasen, aber ich versuchte mit aller Kraft, die Erregung zu unterdrücken. Das einst blonde Haar war jetzt braun gefärbt. Er verzog seine dicken Lippen und fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. Es hätte auch ein Lächeln sein können, aber sicher war ich mir nicht.

»Ich dachte, du hast es nur auf Reiche abgesehen?«, sagte er und wandte sich mir ganz zu.

[18]Tachibana mochte nicht sein wirklicher Name sein, meinen hingegen kannte er wohl. Zwar hatte ich damit gerechnet, ihm eines Tages wiederzubegegnen, aber ich dachte, dass ich derjenige sein würde, der ihn aufstöbert. Alle Erinnerungen kamen wieder hoch. Ich holte tief Luft.

»Hab ich immer noch.«

Ich wollte etwas anderes entgegnen, brachte aber nur diese nichtssagende Antwort über die Lippen.

»Ach ja, großartig. Und überhaupt, glaubst du wirklich, dass Reiche Zug fahren? Du bist ein Ganove. Benimm dich auch wie einer, der den Namen verdient!«

»Ich tu mein Bestes. Du lebst also noch…«

»Hätten wir uns sonst getroffen? Na gut, ich habe dich verfolgt.«

»Seit wann?«

»Schon ’ne Weile. Seit du dem Lüstling die Sachen abgenommen hast. Es wundert mich, dass ich dir unbemerkt folgen konnte.«

Ich lief los, er nebenher. Unter einer Bahnüberführung blieb ich stehen.

»Seit wann bist du hier?«, fragte Tachibana und sah mich dabei mit merkwürdig ernster Miene an.

»Noch nicht lange. In Tokio ist’s halt einfacher… dieses und jenes.«

[19]»Aber so allein, ist das nicht anstrengend? Ich habe Zeit, lass uns zusammen was machen.«

»Nein danke, ich traue dir nicht. Weder deinem Können noch deinem Sinn für Gerechtigkeit.«

Er lachte laut heraus und machte Anstalten weiterzugehen. Sein Gelächter klang unangenehm. Obwohl er das spüren musste, hörte er nicht damit auf. Als wir aus der Unterführung herauskamen, erschienen mir die riesigen Gebäude, die Wolkenkratzer und Kaufhäuser, bedrohlich. Mich schauderte, und da erst bemerkte ich, dass ich unentwegt auf die mageren Gräser starrte, die sich durch den Beton zwängten. Tachibana blieb stehen, lehnte sich an einen Drahtzaun und zündete sich eine Zigarette an.

»Stimmt, ich kann es nicht so gut. Ich hab als Schüler in Läden geklaut, nur so zum Vergnügen, und aus Taschen stehlen war dann noch ein zusätzlicher Kick… So wie du und Ishikawa beherrsche ich es nicht. Du ziehst es raus und lässt es zu Ishikawa wandern, der leert das Ding, und du beförderst es wieder in die Tasche zurück… Außerdem nimmt er nur zwei Drittel. So merkt das Opfer nichts, und wenn doch, kann es nichts beweisen. Euer Teamwork, wie ihr je nach Position die Rollen tauscht, euch nur mit Blicken verständigt… Ich hab zugeschaut und war total fasziniert. Aber [20]heutzutage gibt es kaum mehr japanische Taschendiebe. Wechselst du den Job immer noch so häufig? Wie wär’s, wenn du nebenbei, so wie früher, bei einer professionellen Gang anheuern würdest? Oder dich als Dealer betätigen? Ist die Langfingerei zu deiner Hauptbeschäftigung geworden?«

Der Inhalt unseres Gesprächs zwang mich dazu, näher an ihn heranzurücken.

»Früher waren es mal Fälschungen. Was lohnt sich jetzt?«

»Als es mit den Wucherkrediten nicht mehr klappte, hab ich den Nachwuchs für mich arbeiten lassen. Keiler, die Banküberweisungen erschwindelten. Jetzt sind es Aktien. Natürlich nur als Mittelsmann.«

»Aktien?«

»Ich bin ja kein Grünschnabel mehr. Die Yakuza* [*Kriminelle Banden, die das organisierte Verbrechen kontrollieren. (Anmerkung des Übersetzers)] gibt mir Geld, und ich reiche es an gewisse Typen weiter, damit es sich schön vermehrt. Die kennen sich bestens aus, da staunst du. Kurz gesagt, es geht um Insidergeschäfte. Mittlerweile lebt alle Welt davon.«

Er schnippte die Zigarettenkippe weg.

»Ich verdiene viel mehr als du. Könnte dir Arbeit beschaffen. Du organisierst für die [21]Obdachlosen dieser Gegend billige, schäbige Wohnungen und lässt sie im Gegenzug ein paar Bankkonten eröffnen…«

»Interessiert mich nicht.«

»Ihr seid komische Kerle, auch Ishikawa… Was willst du denn?«

Ich schwieg.

»Nun, dieser Ishikawa… Warum fragst du nicht, was aus ihm geworden ist?«

Tachibana schaute mich an. Mein Herz begann schneller zu pumpen.

»Weißt du etwas?«

»Nein«, antwortete er und lachte.

Das gleißende Licht der Sonne irritierte mich.

»Aber da war doch diese Geschichte. Das war echt krass. Wenn sogar eine Aktion wie diese reibungslos über die Bühne geht… Nur glaube ich, dass damals was passiert ist. Ich geb dir einen Rat: Lass dich in Tokio besser nicht mehr blicken, besonders in dieser Gegend.«

»Warum?«

»Es scheint, als hätten sie wieder was vor.«

Unsere Augen trafen sich. Ich wusste nicht, wie ich seinen Blick erwidern sollte, und schaute zu Boden.

»Besser du verschwindest, bevor du in eine Falle läufst.«

[22]»Und du?«

»Ich mach mir keine Sorgen. Im Gegenteil. Wenn die was planen, sprudelt es Geld. Davon lebe ich. Ich kann meine Haut sowieso nicht mehr retten, zu spät.«

[23]3

Ich lag mit offenen Augen auf meinem Bett und konnte nicht schlafen.

Der Regen peitschte gegen die dünnen Fensterscheiben. Aus der Wohnung über mir dröhnten wummernde Bässe. Eine Weile hörte das Wummern auf, dann fing es wieder an, ohne Ende. Ich war hellwach, registrierte jedes Detail meiner Erdgeschossbude. Erbarmungslos schüttete der Himmel seinen Regen über dieser Gegend aus, als wollte er alles ertränken.

Das Wummern verstummte, nur der Regen prasselte unvermindert weiter. Auch nach längerer Zeit blieb es jetzt ruhig; wahrscheinlich war der Typ schlafen gegangen. Ich fühlte mich auf einmal wie allein zurückgelassen in dieser Welt. Ich zündete mir eine Zigarette an und merkte erst dann, dass im Aschenbecher noch eine brannte. Außer dem Stahlrohrbett, dem Schrank und dem Bügelbrett gab es nichts Bemerkenswertes in dem Zimmer. Aus einem Riss der abgewetzten Tatamimatten ragten [24]Kunstfasern heraus wie Pfähle. Ich betrachtete meine langen Finger, dehnte und krümmte sie, wieder und wieder. Wann war mir aufgefallen, dass beide Hände fast alles gleich gut beherrschten? Ich dachte nach, konnte mich aber nicht erinnern. Möglich, dass mir diese Fähigkeit in die Wiege gelegt worden war; vielleicht hatte sie sich aber auch erst mit den Jahren entwickelt.

Der Regen hörte und hörte nicht auf, als wollte er mich daran hindern, nach draußen zu gehen. Ich dachte an die mächtigen, schweren Wolken am Himmel und an das schäbige Zimmer, in dem ich mich gerade befand. Trotzig schnappte ich mir eine Schachtel Zigaretten, zog die Schuhe an, öffnete die dünne Holztür meiner Behausung und trat nach draußen. Der Regen rann in Bächen an den verrosteten Eisenträgern des Hauses herunter, begoss die umgekippten Fahrräder am Boden, machte die kalte Luft noch kälter.

Beim schiefstehenden Verkehrsschild bog ich um die Ecke, ging eine Fabrik mit rostigen Treppen entlang und kam am Ende einer langen Häuserzeile zu einer T-Kreuzung. Dort bog ich nach links ab. Ein Auto fuhr immer schneller auf mich zu. In der Annahme, es würde mir Platz machen, provozierte ich es ein wenig, und wie erwartet wich es mit einem Schlenker aus. Jenseits der sich endlos [25]aneinanderreihenden Strom- und Telefonmasten ragte im Regen ein gigantischer Stahlturm auf. Ich wandte meinen Blick ab, wissend, dass der Turm auch da war, wenn ich nicht hinschaute.

Als ich zum Bahnhof kam, stand ein Taxi einsam im strömenden Regen, der Fahrer stierte vor sich hin. Ich stieg die Treppe hinauf und schloss den Schirm. Ein Obdachloser, der hier vor Kälte und Regen Zuflucht gesucht und sich hingelegt hatte, äugte in meine Richtung. Es schien, als wäre er mit der Umgebung eins geworden, als wäre dieser Ort um diese Zeit das perfekte Zuhause für jemanden wie ihn. Sein Blick hatte etwas von Ishikawa. Ein Gefühl der Beklommenheit überkam mich, aber Alter und Gesichtsausdruck passten nicht. Der Obdachlose schaute auch gar nicht zu mir, sondern auf etwas hinter mir, schaute wie gebannt, während ich weiterging. Ich steckte mir eine Zigarette an, um mich abzulenken, und stieg die Treppe hinunter, die zu den Gleisen auf der anderen Seite führte.

Im 24-Stunden-Shop kaufte ich mir Zigaretten und einen Dosenkaffee. Als ich an der Kasse bezahlte, nahm der Verkäufer das Geld und sagte übertrieben laut, wie jemand, der um Hilfe schreit: »Danke schööön!« Das Geld war von dem Lüstling am Tag zuvor, doch die früheren Besitzer waren mir unbekannt. Ich sinnierte darüber, dass dieses Geld durch [26]viele Hände gegangen war und einen kurzen Moment aus dem Leben seiner Vorbesitzer mitbekommen hatte. Wer weiß, vielleicht hatte es einen Mord miterlebt und war vom Mörder zu einem Verkäufer gelangt und von da in die Hände eines Menschen mit gutem Herzen.