Der dritte Mann - Bert Rebhandl - E-Book

Der dritte Mann E-Book

Bert Rebhandl

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Beschreibung

"The Third Man" von Carol Reed erweist sich neben seiner ungebrochenen folkloristischen Strahlkraft als Film mit starken Gegenwartsbezügen in puncto Flucht, Migration und Identität. Diese erste umfassende und anschauliche Aufarbeitung des Filmklassikers ist Pflichtlektüre für Filmliebhaber und ein überraschend aktueller Essay über das 20. und 21. Jahrhundert. 1948/49 entstand in den Ruinen des befreiten, aber noch besetzten Österreich der Film "The Third Man": ein Thriller zwischen Riesenrad und Kanalsystem, mit Orson Welles in einer Paraderolle. Und mit einem Zitherthema, das einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Bert Rebhandl liest diesen Klassiker zum 70. Geburtstag neu und entdeckt zahlreiche, zum Teil verblüffende Facetten. "The Third Man" ist nicht nur ein Vergnügen für Touristen und Nostalgiker, sondern ein unvermutet aktueller Film über das Europa und die Welt von heute.

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Seitenzahl: 160

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Bert Rebhandl

Der dritte Mann

Die Neuentdeckung eines Filmklassikers

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7 Wissenschafts- und Forschungsförderung

Rebhandl, Bert: Der dritte Mann / Bert Rebhandl

Wien: Czernin Verlag 2019

ISBN: 978-3-7076-0677-5

© 2019 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Marilies Jagsch

Autorenfoto: Matthias Lüdecke

Covergestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Druck: Finidr

ISBN Print: 978-3-7076-0677-5

ISBN E-Book: 978-3-7076-0678-2

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Zum Geleit

The Third Man – Eine Nacherzählung

0Vorspann

Ein Spaziergang durch Wien, vom Westbahnhof zum Riesenrad. Die Stiftgasse 15, Harry Limes Wohnadresse, findet sich im siebten und im ersten Bezirk. Wir folgen einer Karte der kulturellen Geographie.

1Der unsichtbare Dritte

Im Labyrinth der Anfänge: The Third Man entstand aus vielen ersten Sätzen. Am Ende haben alle auf ihre Weise recht.

2Eine andere Welt

Der Produzent Alexander Korda ging von Österreich-Ungarn nach Hollywood und kehrte schließlich nach Europa zurück. In London hatte er die Idee für einen Film in Wien mit dem Thema »Unsichtbare Grenzen«.

3Dadadadada dada

Anton Karas’ Zitherklänge verfolgen The Third Man bis in die Unterwelt. Der Soundtrack ist ein Ohrwurm, der die Musikstadt Wien von manchem Klischee erlöste – und ein neues schuf.

4Rote Linie

Während Österreich schon auf einen Staatsvertrag drängte, putschten in der Tschechoslowakei die Kommunisten: Die politische Situation im Jahr 1948.

5Versteckte Botschaft

Der Schriftsteller Graham Greene und der Regisseur Carol Reed waren die Schöpfer von The Third Man. Sie wollten vor allem unterhalten, die Politik wanderte in den Subtext. Mit welcher Ware wird hier wirklich gehandelt?

6Schlechte Staatsbürger

Österreicher sind in The Third Man nur Randfiguren. Die heimischen Stars müssen Hausmeister spielen. Hedwig Bleibtreu und Paul Hörbiger haben ihren eigenen Blick auf die Geschichte.

7Ein literarischer Striptease

Der Westernschreiber Holly Martins soll etwas über James Joyce sagen. Bei einer Kulturveranstaltung verwandelt sich The Third Man in einen Thriller – und wird im selben Moment hochmodern.

8Die Erfindung der Kuckucksuhr

Orson Welles wurde mit seiner Rolle als Harry Lime unsterblich. Er verlieh der Schurkenfigur später noch mehrere Leben und nahm den historischen Typus des transnationalen Oligarchen vorweg.

9Falsche Papiere

In der Zeit, in der The Third Man spielt, herrscht in Wien eine Flüchtlingskrise. In einem Staat, der (noch) keiner sein darf, treffen Menschen aufeinander, die einen Staat, der sie sein lässt, gut brauchen könnten.

10Der vierte Mann

Ab wie vielen Mitgliedern wird aus einer Bande eine kriminelle Organisation? Beim Thema Korruption zeigt sich The Third Man geradezu prophetisch.

11Verbotene Jagd

Der Westernschreiber Holly Martins bekommt eine Pistole in die Hand und spielt höhere Gerechtigkeit. Triviale Logik und hohe Kunst treffen sich an einem Kreuzeinstieg in die Kanalisation.

12Nicht versöhnt

Liebe ist ein Gefühl, das gegen die Weltgeschichte keine Chance hat. Dass Anna Schmidt von Holly Martins am Ende immer noch nichts wissen will, liegt nicht nur an ihr.

Ausgewählte Literatur

Anmerkungen

Zum Geleit

Carol Reeds Filmklassiker The Third Man ist seit seiner Veröffentlichung vor siebzig Jahren so etwas wie ein Denkmal geworden. Man ist mit ihm vertraut wie mit einer Statue im öffentlichen Raum oder wie mit einem Gedicht, das man irgendwann einmal auswendig konnte. Man rechnet eigentlich nicht damit, dass einen der Film noch überraschen kann. Als ich mir The Third Man vor einem Jahr wieder einmal anschaute, war ich jedoch erstaunt, wie viele bisher unbedachte Gegenwartsbezüge mir auffielen, wie viele Fragen sich mir stellten. Nachkriegsthemen wie Flucht und Vertreibung, Schwarzmarkt und Korruption, Staatlichkeit und internationale Institutionen sind für The Third Man zentral, und sie sind es dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch wieder. Ich begann, vertieft über die Figuren nachzudenken: Holly Martins und Harry Lime, Baron Kurtz und Anna Schmidt, Paine und Popescu. Über eine Filmfigur wissen wir immer nur so viel, wie der Film verrät – der Rest ist »backstory«, wie Drehbuchautoren es nennen. Im Fall von The Third Man steckt in diesen »denkbaren Biographien« potenziell das ganze 20. Jahrhundert.

So entstand die Idee, anlässlich des 70. Geburtstags des Films ein Buch zu schreiben, das zugleich eine filmhistorische Einführung und eine neue Sichtweise bieten soll. Ich folge dabei vielen Spuren und habe immer den Dreiklang folgender Jahreszahlen im Kopf: 1949 – 1989 – 2019. Denn der Fall des Eisernen Vorhangs ist für meine Generation das wichtigste Ereignis überhaupt, und er ist es auch für meine Sichtweise auf den Film. Ich versuche, das Wesentliche zu erzählen, was man zu The Third Man wissen sollte, und komme dabei an manchen Stellen auch ein wenig vom Hundertsten ins Tausendste. Der Reichtum eines Kunstwerks zeigt sich für mich nicht zuletzt in den Assoziationen, die es inspiriert.

Beim Schreiben habe ich, neben dem ständigen Gespräch mit Freunden wie Alexander Horwath, von einigen Menschen konkrete Hilfe erfahren: Ich bedanke mich bei Larissa Bainschab (Filmarchiv Austria), Joachim Schätz, Georg Spitaler und Sissi Tax. Vor allem aber hat sich Ingo Zechner Verdienste um dieses kleine Buch erworben. Er hat sich sehr dafür engagiert, dass das Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft, dessen Leiter er ist, die Entstehung mit einem Stipendium unterstützt hat.

Widmen möchte ich das Buch meiner Mutter: Emilie Rebhandl, geborene Gösweiner, vom Singerskogelhof zu Füßen des Pyhrgas in Oberösterreich. Sie hat in ihrer Jugend Zither gespielt, später kam das Instrument kaum mehr aus dem Schrank, denn sie war mit einer schließlich sechsköpfigen Familie vollauf beschäftigt. Zither müsse man regelmäßig spielen, sonst würden die Finger bluten, erklärte sie mir. Sie ist für mich eine der Heldinnen des historischen Zeitraums, den ich mit diesem Buch in den Blick nehme.

The Third Man

Eine Nacherzählung

Im Prolog wird Wien im Winter 1948/49 vorgestellt: eine ausgebombte Stadt, in der zwielichtige Gestalten das Geschehen bestimmen. Der Schwarzmarkt ist auch gefährlich, wie das Bild eines toten Amateurs zeigt. Seine Leiche schwimmt in der grauen Donau.

Der amerikanische Trivialschriftsteller Holly Martins (Joseph Cotten) kommt am Westbahnhof an. Er wurde von seinem Freund Harry Lime eingeladen, nach Wien zu kommen, und hatte auch erwartet, dass Lime ihn abholen würde. Da dieser nirgends zu sehen ist, begibt Martins sich zur Stiftgasse 15, der Adresse von Lime. Der Hausmeister Karl (Paul Hörbiger) lässt ihn wissen, dass er zehn Minuten zu spät gekommen ist. Lime starb bei einem Verkehrsunfall und wird gerade am Zentralfriedhof begraben. Martins kommt noch rechtzeitig, um die Gäste auf der Beerdigung zu sehen: zwei Österreicher und eine Frau. Mit dem britischen Major Calloway (Trevor Howard) fährt er in die Stadt zurück. Martins erzählt von der Freundschaft, die ihn mit Lime verband. 1939 hatten sie einander zuletzt gesehen. Calloway kennt einen anderen Lime. Er soll in Wien einer der übelsten Banden angehört haben. Der betrunkene Martins wird von dem Polizisten Paine (Bernard Lee) ins Hotel Sacher gebracht. Am nächsten Tag soll er Wien wieder verlassen. Der britische Kulturgesandte Crabbin (Wilfrid Hyde-White) lädt Martins zu einer Veranstaltung ein und gibt ihm damit einen Grund, länger in Wien zu bleiben.

Am nächsten Tag meldet sich Baron Kurtz (Ernst Deutsch) bei Martins. Er war einer der Gäste bei der Beerdigung. Es stellt sich heraus, dass Kurtz dabei war, als Lime überfahren wurde. Martins möchte die Wahrheit über Lime herausfinden und stößt bei einem Lokalaugenschein mit Kurtz auf erste Ungereimtheiten. Er sucht die Schauspielerin Anna Schmidt (Alida Valli) in der Josefstadt auf. Sie war Limes Geliebte. Gemeinsam gehen sie in die Stiftgasse 15, wo der Hausmeister weitere Details über den Unfall andeutet. Als Lime starb, war anscheinend noch ein dritter Mann dabei – oder auch ein vierter, je nachdem, wie man zählt. Die britische Polizei besucht Anna Schmidt, um Beweismittel gegen Harry Lime sicherzustellen. Dabei fällt auch ihr Pass auf – eine Fälschung. Martins meint nun, sein Freund sei ermordet worden, und macht Calloway auf Widersprüche in den Erzählungen aufmerksam – er hat inzwischen mit Doktor Winkel (Erich Ponto) und einem Herrn Popescu (Siegfried Breuer) weitere Bekannte von Lime getroffen. Er muss noch einmal mit dem Hausmeister sprechen, doch als er in die Stiftgasse kommt, wird dieser gerade abtransportiert. Er wurde ermordet. »Odraht ham’s eam«, ruft der kleine Hansl, und richtet den Verdacht auf Martins: »Er war’s.« Martins muss sich mit Anna vor einer österreichischen Menschenmenge in Sicherheit bringen.

Er kehrt ins Sacher zurück, wo ein Fahrer auf ihn wartet, der ihn in halsbrecherischem Tempo zu der Kulturveranstaltung bringt. Martins hält einen kurzen Vortrag, währenddessen setzt Popescu zwei Handlanger auf ihn an. Nun sind die Fronten klar: Martins will der Wahrheit auf den Grund gehen. Er will einen Tatsachenroman mit dem Titel The Third Man schreiben. Die Bande will Martins loswerden. Calloway hat ihn bisher nicht ernst genommen. Nun weiht er ihn ein und konfrontiert Martins mit dem Beweismaterial gegen Lime: Sein »racket« vertreibt verdünntes Penicillin und ist für Tod und schwere geistige Behinderung von Kindern verantwortlich. Martins sucht erneut Anna Schmidt auf, er bringt Blumen mit, muss aber feststellen, dass sie Harry Lime immer noch liebt. Als er wieder auf die Straße tritt, erblickt er in einem Hauseingang einen Mann. Eine Nachbarin wird wegen des Lärms aufmerksam, schaltet in der Wohnung das Licht ein, es fällt auf ein Gesicht: Harry Lime lebt. Er verschwindet aber auf rätselhafte Weise. Gemeinsam mit Calloway und Paine rekonstruiert Martins den Fluchtweg: durch eine unsichtbare Tür in einer Litfaßsäule in die Kanalisation.

Noch immer ist Martins nicht vollständig davon überzeugt, dass er mithelfen soll, Lime festzunehmen. Er willigt erst ein, nachdem er begriffen hat, dass er Anna damit die Freiheit schenken kann. Sie ist aus der Tschechoslowakei nach Österreich geflüchtet, ihr droht die »Repatriierung« durch die sowjetischen Besatzer. Calloway kann für sie einen Deal mit dem russischen Verbindungsoffizier Brodsky erwirken, der ihr eine Fahrkarte nach Paris einbringt. Martins folgt ihr zum Bahnhof. Anna begreift, dass sie ihre Freiheit zu Lasten von Lime bekommen hat, und nimmt den Zug nicht. Martins stellt sich als »Lockvogel« zur Verfügung und verabredet sich mit Lime, der ihm eine Mitarbeit in der Bande angeboten hat. Zu dem Treffen erscheint auch Anna. Lime zielt mit einer Pistole auf Martins, aber der Polizist Paine rettet ihm das Leben. Lime flüchtet in die Kanalisation. Er wird von den Briten und der österreichischen Kanalbrigade verfolgt. Lime tötet Paine. Martins tötet Lime.

Der Film endet mit Harry Limes »richtiger« Beerdigung. Danach wartet Martins auf Anna. Doch sie würdigt ihn keines Blicks und geht an ihm vorbei.

0

Vorspann

Ein Spaziergang durch Wien, vom Westbahnhofzum Riesenrad. Die Stiftgasse 15, Harry LimesWohnadresse, findet sich im siebten und im erstenBezirk. Wir folgen einer Karte der kulturellenGeographie.

Die meisten Menschen, die sich heute für den Filmklassiker The Third Man interessieren, buchen eine Kanaltour. Denn das ist eine der touristischen Hauptattraktionen Wiens: ein Spaziergang in die Unterwelt auf den Spuren eines Verbrechers namens Harry Lime. Zwar betritt man diese Welt heute nicht mehr durch eine Litfaßsäule, in der eine Tür versteckt ist, sondern trifft sich nachmittags im zentralen Resselpark zwischen dem U-Bahn-Kreuz Karlsplatz (dem Wiener Pendant zur 42nd Street in New York) und der Karlskirche (dem Wiener Pendant zum Petersdom in Rom). Die schwarzweißen, oft aus dem Gleichgewicht geratenen Nachtbilder des legendären Kameramanns Robert Krasker kann man mit ein paar geschickten Filtern auf Instagram so halbwegs nachstellen. Man kann die Kanaltour auf jeden Fall zu den Höhepunkten eines geläufigen Wien-Programms zählen: eine Abwechslung nach den Lipizzanern, eine olfaktorische Alternative nach der Sachertorte, ein musikalisches Intermezzo vor dem abendlichen Besuch in der Staatsoper. Irgendwo wird man sicher ein Zitherthema vernehmen, das man dann nicht mehr aus dem Kopf kriegt.

Ich möchte niemandem diesen Abstieg ausreden, schlage aber ergänzend einen anderen Spaziergang vor. Ausgangspunkt ist der Westbahnhof. Hier beginnt in The Third Man der Weg des amerikanischen Schriftstellers Holly Martins durch die Stadt Wien. Er ist der Held des Films, er möchte seinen Freund Harry Lime besuchen, aber er findet ihn nicht vor. Denn Lime ist tot.

Wir nehmen uns zwei Stunden Zeit für gute sechs Kilometer, denn wir haben ein Ziel, das auch zu den Berühmtheiten der Stadt zu zählen ist: Wir wollen zum Riesenrad im Prater. Dort findet im Film eine entscheidende Szene statt, und wenn man halbwegs gerade vom Westbahnhof durch die Innere Stadt zum Praterstern geht, kommt man nicht nur an einigen wichtigen Schauplätzen des Films vorbei. Man kriegt auch einen guten und historisch aufschlussreichen Eindruck von der Stadt Wien, wie sie heute ist – siebzig Jahre nach The Third Man, dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Der Westbahnhof ist ein Kopfbahnhof. Für eine Metropole gehört sich das so, denn in Metropolen enden Züge, sie fahren nicht bloß durch. Wien hatte einmal eine ganze Reihe solcher Bahnhöfe, an denen eine Strecke endete. Die Vierteilung der Stadt während der Besatzung zwischen 1945 und 1955 hatte zwar mit den Himmelsrichtungen nicht direkt etwas zu tun, sie spiegelte aber die Routen wider, auf denen die Armeen der Befreiermächte nach Wien gekommen waren.

In den letzten Jahren hat der Westbahnhof allerdings an Bedeutung verloren und den ehemaligen Südbahnhof gibt es gar nicht mehr. Stattdessen hat Wien nun einen Hauptbahnhof, von dem aus man inzwischen wieder direkt nach Prag, nach Warschau oder nach Budapest fahren kann – eine schnelle Fernverbindung nach Bukarest ist nach wie vor ein Desiderat, aber wir werden sehen, dass The Third Man nach Rumänien auch eine Abkürzung nahm. Die Züge nach Konstantinopel, der berühmte Orient-Express, machten seinerzeit auch am Westbahnhof Station. In der literarischen Imagination Graham Greenes, des Autors der Vorlage für The Third Man, war das noch ein einheitlicher Raum: das alte Europa, das man in einem Schlafwagen durchqueren konnte.

Auf dem Spaziergang durch die Mariahilfer Straße in Richtung Ring ist nichts mehr zu bemerken von dem Image, das die zweite Einkaufsmeile nach der Kärntner Straße in den frühen neunziger Jahren eine Weile hatte: Magyarhilfer Straße wurde sie damals genannt, wegen der zahlreichen Besucher aus dem früheren Ostblock. Ein Schwarzmarkt im strengen Sinn war es nicht, der sich damals etablierte, aber nach dem Zusammenbruch des Kommunismus entstanden in Europa zahlreiche informelle Märkte. Und Österreich entdeckte einen Osten wieder, von dem es immer ein Teil gewesen war, von dem es aber 1955 mit dem Staatsvertrag durch den Eisernen Vorhang abgetrennt wurde.

Bei der Stiftskirche in der unteren Mariahülfer (so sagen die Wiener) biegen wir nach links und gehen die Stiftgasse entlang bis zur Kreuzung zur Siebensterngasse. Hier ist das Haus Stiftgasse 15, das in The Third Man die Wohnadresse von Harry Lime abgibt, in der Geographie des Films allerdings ganz woanders hingehört. Um das zu verstehen, müssen wir hinunter zum Ring, dann durch die Hofburg zum Michaelerplatz, und von dort nach rechts, wo wir am Josefsplatz die zentrale Location erreichen: Hier ereignete sich der Unfall, bei dem Harry Lime vorgeblich ums Leben kam, bei dem er von zwei, drei oder gar vier Männern zum Denkmal von Joseph II. getragen wurde, wo er dann entweder starb oder sein schon davor eingetretener Tod bescheinigt wurde. Oder verhielt es sich doch anders? Vor dem Josef-Denkmal machen wir ein Selfie, das Palais Pálffy fotografieren wir zum Abgleich mit Robert Kraskers Bildern und zum Abgleich mit der Stiftgasse 15. Die soll nämlich hier sein, sagt der Film mit seinen freizügigen Ortskenntnissen.

Im Kino setzen sich Städte immer anders zusammen, als es der Stadtplan zeigt, und das Wien aus The Third Man lag auch zu großen Teilen in Shepperton, einem Stadtteil von London, in dem sich ein berühmtes Filmstudio befindet. Aber die wichtigsten Passagen wurden alle in Wien gedreht. Die leicht schaurige Stimmung mit den langen Schatten wird man jedoch heute nicht mehr finden, und es vermittelt nur einen notdürftigen Eindruck von dem labyrinthischen Wien aus The Third Man, wenn wir durch die engen Gassen des 1. Bezirks zum Judenplatz, durch Stoß im Himmel und von dort hinüber zur Kirche Maria am Gestade gehen, von wo die Marienstiege hinab zum Salzgries führt. Holly Martins hetzt da einmal in der Gegenrichtung entlang, als ihm ein gewisser Popescu zwei schwere Jungs hinterherschickt.

Bald darauf haben wir den Schwedenplatz erreicht, wo wir beim Denkmal für die Opfer der Gestapo ein wenig innehalten. Über die Marienbrücke betreten wir dann den 2. Bezirk, die Leopoldstadt. Die Wiener betonen Leopold auf der zweiten Silbe und erkennen einander daran. Hier liegt vor uns der Manés-Sperber-Park, der an einen Schriftsteller erinnert, der mit dem Dritten Mann nichts zu tun hatte, sieht man von dem Umstand ab, dass Sperber und Greene im Jahr 1982 einmal beide für den Frankfurter Goethe-Preis in Frage kamen. Sperber war ein osteuropäischer Jude und nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Kritiker des real existierenden Sozialismus, aus einem Geist heraus, den man als alteuropäisch-humanistisch bezeichnen könnte, oder als schtetljüdisch-kosmopolitisch. Er lebte auch in der Welt, die The Third Man inspirierte. Nach dem Park müssen wir uns rechts halten, damit wir nicht versehentlich zum Augarten kommen. Wir wollen ja zum Praterstern, am besten über die Praterstraße, in der passenderweise auch die Wohnung von Johann Strauss liegt, die heute ein Museum ist. Für den Dritten Mann ist der Komponist unsterblicher Walzer vor allem dadurch relevant, dass er darin nicht vorkommt – und das auf eine ganz bedeutsame Weise.

Wir erreichen den Praterstern, den früheren Nordbahnhof, der in der Habsburger Monarchie der wichtigste Bahnhof war, weil man von hier aus in die Kronländer fuhr – und vor allem aus ihnen in Wien ankam. In der Geographie des Films sind wir übrigens seit der Überquerung der Marienbrücke im russischen Sektor, und damit auf feindlichem, jedenfalls vergleichsweise unbekanntem Gebiet. Fast schon sind wir hinter dem Eisernen Vorhang, bevor der dann 1955 doch noch an die Grenzen zu Ungarn und der Tschechoslowakei zurückgezogen wurde. Das Riesenrad ist schon zu sehen. Wir haben dort eine Verabredung mit Harry Lime. Davor müssen wir aber noch ein paar andere Leute kennenlernen.

1

Der unsichtbare Dritte

Im Labyrinth der Anfänge: The Third Manentstand aus vielen ersten Sätzen. Am Ende habenalle auf ihre Weise recht.

»Jetzt ist schon wieder was passiert.« Mit diesem Satz beginnen über viele Jahre die Kriminalromane von Wolf Haas, in deren Mittelpunkt der österreichische Polizist Simon Brenner steht. Der siebente Band hieß schließlich Der Brenner und der liebe Gott, der Autor war wie gewohnt Wolf Haas, und der erste Satz lautete so: »Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen.« Das ist ein derber Verweis, gerichtet an einen redseligen Menschen, zugleich aber auch ein subtiler Hinweis auf die Transzendenz aller Erzählerstimmen in Romanen. Sie sprechen von einem Ort aus, der erst einmal gefunden werden muss. Und sie müssen sich erst noch zu erkennen geben.

Der erste Satz in Graham Greenes Roman Der dritte Mann lautet in der neuen deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl: »Man muss immer darauf gefasst sein, dass etwas Unvorhergesehenes passiert.« Die englische Version ist doch deutlich komplexer: »One never knows when the blow may fall.« Man kann sich vorstellen, dass Nikolaus Stingl da gleich zu Beginn seiner Arbeit ziemlich ins Brüten gekommen sein muss. Denn ein »blow« ist zweifellos etwas Unvorhergesehenes, aber in dem Wort steckt noch eine Menge mehr, was sich nicht leicht in einen lakonischen Satz fassen lässt. Rudolf Burger war mit seiner ersten Übersetzung von The Third Man