Der Duft von Muskat und weißem Jasmin - oder: Morgen ist ein neues Leben - Kerstin Hohlfeld - E-Book
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Der Duft von Muskat und weißem Jasmin - oder: Morgen ist ein neues Leben E-Book

Kerstin Hohlfeld

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Beschreibung

Eine mutige Frau auf den Spuren ihrer Herkunft: Der Inselroman »Der Duft von Muskat und weißem Jasmin« von Kerstin Hohlfeld als eBook bei dotbooks. Ein altes Foto ist die einzige Erinnerung, die Tanja Wellenstein an ihre Mutter hat: Nach ihrem tragischen Tod vor zwanzig Jahren wuchs Tanja bei den strengen Großeltern auf, deren hohen Ansprüchen sie nie genügen konnte. Wie ein Sturm bricht nun die Nachricht über ihr Leben herein, dass ihre Mutter gar nicht gestorben ist, sondern auf einer Insel in Malaysia lebt. Wieso hat Valentina sie damals im Stich gelassen? Fest entschlossen, endlich Antworten zu bekommen, reist Tanja nach Langkawi – nur, um zu erfahren, dass ihre Mutter nach einem Unfall im Koma liegt. Doch wer ist der rätselhafte Mann, der Tag für Tag an ihrem Krankenbett ausharrt? Gemeinsam mit dem charmanten Weltenbummler Chris versucht Tanja, die Geheimnisse dieser Insel und ihrer Familie zu ergründen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Familiengeheimnisroman »Der Duft von Muskat und weißem Jasmin« von Kerstin Hohlfeld wird Fans von Tabea Bachs »Kamelieninsel« und Lucinda Riley begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 393

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Über dieses Buch:

Ein altes Foto ist die einzige Erinnerung, die Tanja Wellenstein an ihre Mutter hat: Nach ihrem tragischen Tod vor zwanzig Jahren wuchs Tanja bei den strengen Großeltern auf, deren hohen Ansprüchen sie nie genügen konnte. Wie ein Sturm bricht nun die Nachricht über ihr Leben herein, dass ihre Mutter gar nicht gestorben ist, sondern auf einer Insel in Malaysia lebt. Wieso hat Valentina sie damals im Stich gelassen? Fest entschlossen, endlich Antworten zu bekommen, reist Tanja nach Langkawi – nur, um zu erfahren, dass ihre Mutter nach einem Unfall im Koma liegt. Doch wer ist der rätselhafte Mann, der Tag für Tag an ihrem Krankenbett ausharrt? Gemeinsam mit dem charmanten Weltenbummler Chris versucht Tanja, die Geheimnisse dieser Insel und ihrer Familie zu ergründen …

Über die Autorin:

Kerstin Hohlfeld wurde in Magdeburg geboren, studierte Theologie in Naumburg und Berlin und verließ die Hauptstadt kurz vor dem Mauerfall, um später zurückzukehren und in verschiedenen Berufen, u.a. als Autorin, zu arbeiten. Sie radelt, wandert und reist leidenschaftlich gern und verbringt mit Vergnügen einen Teil ihrer Freizeit hinter dem Herd und im Garten. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern.

Bei dotbooks veröffentliche Kerstin Hohlfeld auch ihre Romane »Tage der Kirschblüte« und »Die Apfelkuchen-Freundinnen«.

***

eBook-Neuausgabe April 2023

Dieses Buch erschien bereits 2015 unter dem Titel »Morgen ist ein neues Leben« bei Ullstein.

Copyright © der Originalausgabe 2015 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-511-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Kerstin Hohlfeld

Der Duft von Muskat und weißem Jasmin

Roman

dotbooks.

Für Thomas

Kapitel 1

»Frau Doktor, Sie wissen doch noch? Aus der Garage kommen Sie heute nicht mehr raus!«

Hermann, seines Zeichens Hausmeister und eben bei seinem Feierabendrundgang durch die Gänge der Klinik, baute sich zwischen Helena und der Fahrstuhltür auf. Gerade als sie, müde und erschöpft, in die Tiefgarage zu ihrem Auto fahren wollte.

»Wieso das denn?« Am liebsten hätte sie den bulligen Mann im blauen Overall zur Seite geschoben. Aber ihr war klar, dass er sie nicht ohne Grund aufhalten würde. Also bemühte sie sich um ein freundliches Lächeln und sah ihn fragend an.

»Na, die Dreharbeiten«, erwiderte er ruhig, schüttelte allerdings verständnislos den Kopf, als Helena ihn überrascht ansah. »Ich hab’s Ihnen aber mindestens drei Mal gesagt, Frau Doktor. Das Auto am Freitag nicht in die Tiefgarage bringen. Hab ich gesagt. Da müssen wir absperren wegen der Dreharbeiten.«

Er sprach mit ihr wie mit einem Kleinkind. Helena mochte den Hausmeister, der in dem mehrstöckigen Wilmersdorfer Klinikgebäude für Ordnung sorgte, aber jetzt ärgerte sie sich über ihn.

Oder? War sie in Wahrheit nicht sauer auf sich selbst? Sie vergaß viel in letzter Zeit. Sogar ihr stets verständnisvoller Ehemann Martin reagierte neuerdings irritiert und behauptete, sie wäre unaufmerksam und würde ihm nicht zuhören. Dabei fühlte sie sich nur unendlich erschöpft.

»Und jetzt?«, fragte sie. »Gibt es denn gar keine Möglichkeit, noch an mein Auto zu kommen?«

»Am Montag, wenn der Spuk vorbei ist, kriegen Sie Ihren kleinen Flitzer zurück, Frau Doktor«, tröstete Hermann. »Jetzt müssen Sie wohl die U-Bahn nehmen.«

Die Aussicht, bei der draußen herrschenden Hitze in einem nicht klimatisierten Waggon zwischen schwitzenden Menschen eingeklemmt zu sein, ließ Helenas Laune endgültig auf den Nullpunkt sinken.

Der Schwindel überkam sie plötzlich. Sie schwankte, lehnte sich kurz mit dem Rücken an die Wand.

»Alles in Ordnung?«, fragte Hermann besorgt und musterte sie.

»Es geht schon«, beruhigte sie ihn. »Allerdings nehme ich wohl besser ein Taxi.«

Sie wünschte, der Hausmeister würde sie jetzt allein lassen, damit sie sich für einen Moment auf die Treppenstufen setzen und ausruhen könnte. Da er jedoch nicht von ihrer Seite wich, verabschiedete sie sich, unterdrückte das unangenehme Gefühl, nicht Herrin über sich selbst zu sein, und stieg vorsichtig die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und ignorierte beherzt das Flimmern vor ihren Augen. Es gelang. Unten angekommen, fühlte sie sich besser. Sie wollte nur noch eins: schnellstmöglich nach Hause fahren und sich eine Stunde hinlegen. Die Woche war mehr als hart gewesen.

»Sie können hier nicht durch!« Ein unsympathischer Kerl mit Dreitagebart, der am Ausgang des fünfstöckigen Klinikgebäudes die automatische Tür bewachte, herrschte Helena ärgerlich an. »Wir drehen gerade.«

Normalerweise würde sie angesichts dieser groben Unhöflichkeit auf ihr Recht als Hausherrin pochen und den Mann in seine Schranken verweisen. Die Filmcrew war zu Gast in ihrer Klinik, nicht umgekehrt. Doch sie hatte soeben einen Schwindelanfall erlitten, sie fühlte sich unendlich müde, und zu allem Überfluss krochen vom Nacken her ziehende Schmerzen in ihren Kopf. Und ausgerechnet jetzt war ihr Weg mit Männern gepflastert, die nichts Besseres zu tun hatten, als sie in irgendeiner Weise zu behindern.

»Selbstverständlich kann ich hier durch«, fauchte Helena. Sie gab sich keinerlei Mühe, höflich zu sein, und funkelte ihr Gegenüber wütend an.

»Wir drehen gerade.«

»Sie wiederholen sich«, erwiderte sie ruppig und verbrauchte ihre letzte Kraft dafür, ihre Stimme arrogant und hochnäsig klingen zu lassen. Ehe der Filmtyp sich weiter wichtig nehmen konnte, drängte sie sich an ihm vorbei und schlüpfte durch die Kliniktür.

Doch damit war es noch nicht überstanden, denn draußen knallte Helena im vollen Lauf gegen ein sich leidenschaftlich küssendes Paar.

»Verdammt, das gibt’s doch nicht!«, brüllte sie ein grauhaariger Mann an, der trotz Hitze eine dicke Daunenweste über dem T-Shirt trug, und sprang von einem Klappstuhl auf.

Helena erschrak, als sie begriff, dass sie soeben eine Filmaufnahme ruiniert hatte. »Das tut mir …«, begann sie, wurde jedoch unterbrochen.

»Verdammt!« Der Ungepflegte war hinter ihr hergelaufen und packte ihren Arm. »Sie wollte partout nicht warten, bis ihr die Szene im Kasten habt.«

»Alles auf Anfang! Wir machen das Ganze noch mal«, befahl der Regisseur seiner Crew, bevor er sich an Helena wandte. »Und du verschwindest aus dem Bild, sonst werde ich richtig sauer.«

»Hören Sie mal«, entfuhr es Helena angesichts der Arroganz des Grauhaarigen. »Ich habe nicht nötig, mich von Ihnen duzen und anbrüllen zu lassen. Das ist meine Klinik! Ich kann die Drehgenehmigung gern zurückziehen!«

»Schafft sie weg«, blaffte der Regisseur und wandte sich ab. Helena wäre angesichts dieser finalen Respektlosigkeit der Kragen geplatzt, hätte da nicht jemand einen Arm um ihre Schultern gelegt und leise »Na? Immer noch so temperamentvoll wie früher?« in ihr Ohr geflüstert.

Überrascht sah sie auf und erkannte das attraktive Gesicht, in dem die blauen Augen noch genauso schelmisch blitzten wie vor 20 Jahren, auf Anhieb.

Sie schluckte. »Michael!«

»Lena.« Er hatte sie immer Lena genannt. In ihrem Nacken begann es zu prickeln, während Michael den Filmleuten ein Zeichen gab und sie sanft von der Kliniktür wegführte. »Welch ein furioses Wiedersehen!«

Sie lachte, plötzlich erleichtert. »Ich stand kurz davor, mit eurem Oberindianer in ein Handgemenge zu geraten.«

»Das war dir anzusehen.« Um seine Augen spielten Lachfältchen. Die hatte er früher nicht gehabt. Natürlich nicht. Sie waren jung gewesen. Beim letzten Mal.

»Was machst du hier?«, fragte Helena, die noch immer überrumpelt war. Doch seit ihre Jugendliebe Michael die Szenerie betreten hatte, tat das Gefühl erstaunlicherweise gut, und deshalb ließ sie es zu.

»Ich bin Kameramann.«

»Dein Traumberuf. Du hast es also geschafft.«

»Du erinnerst dich?«

Natürlich, wollte Helena sagen, doch sie schluckte die Erwiderung herunter. Er musste nicht wissen, dass sie sich an alles erinnerte, was sie ein paar Monate lang verbunden hatte.

Michael bemerkte ihr Zögern nicht, redete einfach weiter: »Das wollte ich tatsächlich schon immer werden.«

Einige Meter von der Kliniktür entfernt blieben sie stehen. Erst jetzt nahm er seinen Arm von ihrer Schulter.

»Lena, Lena!«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich fasse es nicht.«

Sein Lächeln, das genau wie damals ein wenig frech und herausfordernd wirkte, die geraden weißen Zähne zwischen den vollen Lippen ‒ waren wirklich fast 20 Jahre vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten?

»In einer Stunde sollten wir hier fertig sein. Was hältst du davon, uns auf einen Drink zusammenzusetzen?«

Helena riss sich vom vertrauten Anblick seiner Züge los, schüttelte den Kopf. »Ich muss heim. Ein anderes Mal vielleicht. Ich würd dich gern treffen, aber heute wäre ich keine besonders anregende Gesellschaft.« Sie öffnete ihre Handtasche und gab ihm ihre Karte.

»Dr. med. Helena Sander, Fachärztin für Plastische und Ästhetische Chirurgie«, las er vor. »Wow!«

»Ruf mich an!«, sagte sie leise. Dann setzte sie, endlich ungehindert, ihren Weg nach Hause fort.

»Überraschung!!!«

Helena zuckte zusammen, als sie in Gedanken an das eben Erlebte versunken die Wohnzimmertür öffnete und nichtsahnend von einem vielstimmigen Chor begrüßt wurde. Dabei hätte sie bereits draußen etwas merken müssen, wie ihr jetzt bewusst wurde. Vor ihrem Haus parkten verdächtig viele Autos, und auf der Terrasse war der Tisch für das Abendessen nicht vorbereitet.

Martin deckte immer den Tisch, kurz bevor sie nach Hause kam ‒ mit Kerzen, Kristallgläsern, Porzellan und dem schönen alten Silberbesteck. Wenn sie durch den Garten zum Haus lief, sah sie ihn in der Küche arbeiten. Jeden Abend.

Eine Hoffnung war in ihr aufgekeimt. Vielleicht war er bei der Arbeit aufgehalten worden? Sie hatte sich beim Anblick der verschlossenen Terrassentür und der leeren Küche auf Ruhe gefreut! Einfach einen Augenblick im Garten sitzen und nichts tun. Nicht von der Arbeit berichten, nicht das Essen loben, nicht den Wein dazu aussuchen …

Helena seufzte unhörbar. Manche Wünsche, wie banal sie auch waren, gingen einfach nicht in Erfüllung.

Martin war nicht aufgehalten worden, er hatte eine Überraschungsparty organisiert. So geschickt, dass sie tatsächlich keine Ahnung gehabt hatte und sich nun zum wiederholten Mal überrumpelt fühlte. Was für ein seltsamer Tag!

Mindestens 30 Leute warteten gespannt darauf, ihr mit Küsschen und Umarmungen alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. Helena rief sich blitzschnell zur Ordnung. Nur wer sie sehr gut kannte, hatte vielleicht einen Moment lang die Enttäuschung in ihren Augen gesehen.

Jetzt lächelte sie. Sie hatte schließlich Geburtstag, und ein glücklich überraschtes Strahlen war das Mindeste, was ihre Gäste von ihr erwarten konnten.

»Ihr seid unglaublich!«, sagte sie lachend und ließ sich nacheinander von Freunden, Kollegen und Familienmitgliedern in die Arme nehmen.

Martin hatte ein wunderbares Büfett hergerichtet. Er musste den ganzen Tag in der Küche gestanden haben. Keine ihrer Lieblingsspeisen hatte er vergessen: weder die gemischten Antipasti noch die Quiche Lorraine oder die mit frischem Rosmarin und Knoblauch gebackenen Ofenkartoffeln. Er wusste genau, was sie gern aß.

Zur Begrüßung reichte er ihr einen Aperol Spritz ‒ nichts Außergewöhnliches, aber einer ihrer Lieblingsdrinks. Das Glas war beschlagen vor Kälte, und die Eiswürfel klirrten.

Beinahe gierig trank Helena einen großen Schluck.

»Alles Gute, meine Liebe! Lass dich heute richtig feiern!«

»Danke, Martin«, erwiderte sie und gab ihm einen Kuss. Ihr Mann trug ein hellblaues Hemd über einem makellos weißen T-Shirt. Seine braungebrannte Haut und seine schlanke, beinahe hagere Läuferfigur ließen ihn jung und gesund wirken, trotz seiner grauen Haare und der vielen kleinen Fältchen um Mund und Augen. Martin war ein attraktiver Mann, zweifellos.

»Ich weiß, du hättest deinen 40. gerne unter den Tisch fallen lassen.« Er zwinkerte ihr zu. Seine etwas selbstgefällig klingende Bemerkung reizte Helena.

Sie gab ihrem Bedürfnis nach, wenigstens einen kleinen Pfeil in seine Richtung abzuschießen. »Und du hättest das ruhig berücksichtigen können«, zischte sie.

»Dir etwas recht zu machen, ist schwer.« Martin konnte den Anflug von Arger und Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen. »Wenn nicht unmöglich«, setzte er nach.

Helena unterdrückte ein wütendes Schnauben und trank das Glas in einem Zug aus. Natürlich, er hatte es gut gemeint. Es wäre schlechter Stil, ihm jetzt die Freude zu verderben.

»Danke für die Mühe«, sagte sie matt.

Von hinten tippte ihr jemand auf die Schulter.

»Hey, Lisa, schön dich zu sehen!«, rief Helena, ließ ihren Mann stehen und fiel einer langbeinigen, brünetten Schönheit mit ausladenden Hüften und Oberschenkeln um den Hals. »Hättest du mich nicht warnen können?«, flüsterte sie ihr zu.

Lisa war Helenas Mitarbeiterin und beste Freundin noch dazu.

»Dann wärs wohl keine Überraschung mehr gewesen, oder?«

Helena seufzte erneut. Sie war doch kein Kind mehr. Warum sollte sich eine erwachsene Frau, die acht bis zehn Stunden Arbeit hinter sich hatte, müde und verschwitzt nach Hause kam und die Beine hochlegen wollte, freuen, wenn ihr ganzes Haus mit Gästen bevölkert war, die quatschten, aßen, tranken und womöglich noch tanzten?

Helena hatte mehrere Stunden im OP gestanden, zwei Brustvergrößerungen, eine Fettabsaugung und eine Oberlidstraffung durchgeführt. Schönheit im Akkord. Danach sechs Beratungsgespräche, Visite bei den Frischoperierten und Geschäfte mit zwei Pharmavertretern. Das war mehr als genug für einen Tag.

Martin wusste, was sie leistete und dass sie abends oft müde war und sich nichts weiter wünschte, als eine Stunde auf der Couch zu sitzen und ein Buch zu lesen.

Sie hätten ihren Geburtstag einen Tag später feiern können. Am Samstag. Mit einer langen Fahrradtour zu zweit, danach bei einem Essen in einem lauschigen Restaurant irgendwo an der Havel.

Das hätte ihr gefallen.

»Happy birthday, Helena!« Das war Jochen, seit zwei Jahren geschieden und Martins bester Freund. Sie bedankte sich artig, gab ihm zur Begrüßung ein Küsschen auf die Wange. »Sag mal, könnte ich mein Sweetheart mal bei dir vorbeischicken?«, fragte er übergangslos und grinste selbstgefällig.

Ärzte waren immer im Dienst. Das hatte Helena schon vor Jahren begriffen. Alle Welt schien davon auszugehen, dass Mediziner sich selbst nach Feierabend, auf Partys und bei einem entspannten Restaurantbesuch nichts Schöneres vorstellen können, als Diagnosen zu stellen und Beratungsgespräche zu führen.

»Natürlich kann sie kommen«, antwortete sie. »Gleich nächste Woche?«

Sie hoffte, Jochen würde sich verkneifen, schon hier und jetzt ins Detail zu gehen. Sweetheart war seit ein paar Monaten seine Freundin, mindestens 15 Jahre jünger als er, auffällig hübsch, aber recht still.

Helena entdeckte sie an der Terrassentür, wo sie sich unsicher lächelnd an einem Glas Wein festhielt. Sie nickte freundlich zu ihr hinüber. Kein Wunder, dass Jochens Freundin sich unwohl fühlte. Sie war mit Abstand die Jüngste auf der Feier und sollte eigentlich sorglos auf irgendeiner Studentenparty tanzen, statt hier zwischen ergrauenden Herren in der Midlifecrisis Gesprächen über Börsenkurse und Golfrunden zu lauschen. Sweetheart! Ob Jochen überhaupt ihren richtigen Namen wusste?

Er sah nun ebenfalls zu ihr hin. »Sie ist süß, findest du nicht? Nur obenrum … Du weißt schon … Da könnte es ruhig ein bisschen mehr sein. Eine Handvoll ist absolut das Mindeste.«

Helena schluckte. Das war ihr Job. Sie hatte ihn sich ausgesucht. Alternde Männer, denen die Oberweite ihrer blutjungen Frauen zu klein war, gehörten zum Geschäft.

»Sie soll anrufen«, sprang Lisa ein, die Helenas Mienenspiel richtig deutete. »Ich mache euch einen Termin zum Vorgespräch.«

»Gebongt«, sagte Jochen, zog ab, stellte sich dicht neben seine Freundin und legte ihr eine Hand auf den Hintern.

»Was für ein Blödmann«, flüsterte Lisa.

Helena lachte, froh, ihn los zu sein. »Hoffentlich will er kein Brandzeichen auf ihrer Haut«, lästerte sie. »Eigentum von Jochen Melzer oder so.«

»Wie kommt Martin zu so einem … sagen wir mal ›unpassenden‹ Freund?«

»Sie kennen sich seit der Grundschulzeit«, antwortete Helena. »Du weißt doch, wie Martin ist. Er ist treu wie Gold und hat anscheinend gar nicht gemerkt, dass sein Sandkastenkumpel im Lauf der Jahre ein Idiot geworden ist.«

»Treu wie Gold? So wie du das sagst, klingt es wie eine Beleidigung«, entgegnete Lisa und musterte Helena. »Ich kann dir aus dem Stand 30 Frauen aufzählen, die das nur zu gern von ihrem Ehemann behaupten würden.«

Auf Martin ließ keine ihrer Freundinnen etwas kommen. Das wusste Helena. Was er auch tat, sie würden nicht den Hauch einer Kritik an ihm gelten lassen.

Martin sah gut aus. Martin war ein topverdienender Steuerberater. Martin war gebildet, die Ruhe selbst und stets gut gelaunt. Martin konnte kochen, er verwöhnte seine Frau nach Kräften und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Er liebte Kinder, Tiere und klassische Musik. Kurz: Er war ein Gott. »Helena, ist dir eigentlich klar, was für ein verdammtes Glück du hast?« Wie oft ihr diese Frage gestellt worden war, konnte sie nicht mehr zählen.

Sie hielt im Gewimmel nach ihrem Mann Ausschau.

Gerade brachte er seiner gehbehinderten Mutter einen liebevoll angerichteten Teller vom Büfett. Helena mixte sich ein weiteres Glas Aperol Spritz und stürzte es hinunter.

Nachdem die Gäste das Büfett geplündert hatten, klatschte Martin laut in die Hände. Alle Anwesenden versammelten sich im Wohnzimmer, als hätten sie auf dieses Signal gewartet. Lisa verteilte eifrig Champagnergläser, und Martin kam mit einem riesigen silbernen Umschlag auf seine Frau zu.

Helena wurde plötzlich nervös, denn erst jetzt fiel ihr auf, dass keiner der anwesenden Gäste ihr ein Geschenk in die Hand gedrückt hatte. Es gab zwar einige Blumensträuße, aber keinen Gabentisch ‒ nur Martin und einen ziemlich albernen Briefumschlag in XXL.

»Helena«, sagte er, und seine blauen Augen strahlten, als er sie ansah. »Wir haben ziemlich lange überlegt …«

»Er ist verknallt in dich wie am ersten Tag«, raunte Lisa ihr fast unhörbar zu.

»Nun ja …« Helena lächelte versonnen. Ihre Freundin wusste viel über sie und Martin, aber nicht alles.

Als sie sich kennengelernt hatten, war Helena in ihn verknallt gewesen, nicht er in sie. Bei der Erinnerung daran wurde ihr warm ums Herz.

***

Sie begegnete Martin bei der Geburtstagsfeier einer Freundin zum ersten Mal.

Er stieß recht spät am Abend dazu. Ein wenig unsicher wirkend stand er im Raum und sah sich um. Helena fand ihn auf Anhieb attraktiv und freute sich, dass in der völlig überfüllten Studentenbude ausgerechnet neben ihr noch ein Platz frei war, auf den er sich setzte. Sie unterhielten sich den ganzen Abend.

Martin verarbeitete zu dieser Zeit das Ende seiner Jugendliebe. Seine Freundin Andrea hatte ihn kurz zuvor verlassen. Helena wich die ganze Party über nicht von seiner Seite. Geduldig hörte sie ihm zu, wie er ruhig, aber mit hin und wieder brechender Stimme über seinen Trennungsschmerz sprach. Er verhielt sich so anders als all die anderen, mit denen sie bisher ausgegangen war. Martin ließ Gefühle zu und sprach sogar darüber. Seine Offenheit faszinierte Helena.

Obwohl sie wusste, dass sein Herz nicht frei war, bat sie ihn um seine Telefonnummer, als er ging. Er gefiel ihr. Sie wollte ihn. Und sie hatte keine Eile.

Eine Woche später trafen sie sich zu einer Radtour, wenig später verabredeten sie sich zum Kino und zu Konzerten, verbrachten regelmäßig und immer selbstverständlicher ihre Freizeit miteinander. Acht Wochen, nachdem sie sich kennengelernt hatten, küssten sie sich zum ersten Mal. Helena war tief berührt von seiner vorsichtigen Zärtlichkeit.

Nach und nach verflochten sie ihre Leben miteinander. Helena begehrte Martin nicht nur, sie öffnete ihm die Tür zu ihrem Herzen, die sie lange Zeit streng verschlossen gehalten hatte.

Neben seiner Sanftheit zeigte Martin ebenso Stärke und vor allem Zähigkeit. Er wurde ihr »Fels in der Brandung« und erwies sich als treuer Partner, der mit ihr die harte Zeit des Examens durchstand ‒ mit ihr nächtelang paukte, obwohl ihnen beiden fast die Augen zufielen, sie morgens mit starkem Kaffee weckte und abends mit selbstgemachten Nudeln begrüßte, wenn sie hungrig und nervös aus der Uni kam. Alles neben seiner eigenen Diplomarbeit.

»Wo hast du dieses Prachtexemplar aufgegabelt?«

Helena genoss es, wenn ihre Freundinnen das fragten. Martin tat ihr gut. Dass er nach drei Monaten noch immer nicht mit ihr geschlafen hatte, störte sie nicht. Sex ohne Liebe hatte sie mehr als genug gehabt in den letzten Jahren. Sie konnte warten.

***

»… schenken wir dir etwas, von dem du zu wenig hast.«

Helena kehrte rechtzeitig aus der Vergangenheit zurück, um das Ende von Martins kleiner Ansprache mitzukriegen.

Ihre Neugier erwachte.

Das Einzige, wovon sie zu wenig besaß, war Zeit. Zeit zum Nachdenken, Zeit für ein gutes Buch, Zeit, mal nichts zu tun. Die konnte ihr keiner schenken, nicht mal Martin, der ihr wahrscheinlich einen Stern vom Himmel holen würde, wenn sie das wollte.

Seit sie vor acht Jahren in Berlin ihre eigene Klinik für Plastische Chirurgie eröffnet hatte, verging kaum ein Tag ohne ihre Arbeit. Ihr Leben fand zwischen Operationssaal und Station statt. Helena war erfolgreich, wurde in Internetforen als eine der besten ihres Faches gehandelt, und ihre Patientenzahl hatte sich schlagartig verdoppelt, seit sie für ein Fernseh-Reality-Format ihre Arbeit vor der Kamera präsentierte. »Aschenputtel wird Prinzessin« erfreute sich guter Quoten, und seit einiger Zeit erkannte man sie im Supermarkt.

Schönheitschirurgie war längst nicht mehr ein paar wenigen Reichen Vorbehalten. Zu Helenas Kunden zählten Damen und Herren der High Society genauso wie junge Frauen, die sich die Kosten für eine Brustvergrößerung mühsam vom Lohn als Verkäuferin absparten.

»Meine liebe Helena, in den nächsten vier Wochen bekommst du etwas, was du schon lange nicht gehabt hast …«

Sie lächelte. »Jetzt bin ich aber gespannt.«

»Zeit!«

Helena lachte laut auf. Sie hatte sich Zeit gewünscht, und er schenkte ihr welche. Das war typisch für Martin. Wahrscheinlich hatte er das Unmögliche möglich und eine Bank ausfindig gemacht, auf der man Stunden abheben konnte wie Geld.

Ihre Freundin Lisa schaltete unterdessen einen Beamer ein. Auf der Wand hinter der breiten Ledercouch erschienen Bilder von palmengesäumten Traumstränden, von einem nobel aussehenden Hotel direkt am Meer mit Poollandschaft, vom Dschungel, von einer Seilbahn, von Affen, exotischen Vögeln, tropischen Früchten … kurz: Bilder vom Paradies.

Die Fotos zu betrachten, erweckte durchaus ihre Sehnsucht nach Entspannung. Trotzdem begriff Helena nicht. Martin und ihre Freunde schenkten ihr einen Urlaub? Das war eine verlockende, aber lächerliche Idee. Seit Jahren unternahmen sie und ihr Mann keine Reisen mehr, weil Helena aus der Klinik nicht wegkonnte. Alle hier im Raum sollten wissen, dass ihr nett gemeintes Geschenk für die Katz war.

»Sonntag in einer Woche geht es los«, sagte Martin.

Die Gäste applaudierten, während Helena wie betäubt auf die betörenden Bilder starrte.

»Willst du gar nicht wissen, was das Ziel der Reise ist?«, fragte jemand aus der Runde.

»Doch … doch … will ich«, antwortete Helena und kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder.

»Es ist Malaysia«, sagte Martin, dem das Glitzern in ihren Augen nicht verborgen geblieben war, und drückte ihre Hand.

Jetzt gab sie den Kampf auf und ließ die Tränen laufen. Erneut erntete sie Applaus. Kaum einer hatte sie je weinen sehen.

»Sie weint vor Rührung«, sagte jemand hinter ihr. »Süß …«

»Danke«, presste Helena hervor und lächelte mühsam, weil sie wusste, dass das von ihr erwartet wurde.

Niemand ahnte, was in diesem Moment wirklich in ihr vorging.

»Warum hast du das gemacht?« Helena stand im Bad und bürstete ihr langes Haar. Die Gäste waren weit nach Mitternacht endlich gegangen.

Sie hatte zwei Aspirin genommen und lange geduscht, während Martin die Küche aufgeräumt und die Reste des Essens in den Kühlschrank gestellt hatte. Niemals hätte er einwandfreie Nahrungsmittel weggeworfen. Auch wenn er fünf Tage Spaghetti essen müsste. Jetzt stand er in der Badezimmertür und sah ihr zu.

»Du freust dich nicht?«

»Du hast mich nicht gefragt!« Helena zog die Bürste so heftig durch ihr Haar, dass ihre Kopfhaut schmerzte. »Du hast mich einfach nicht gefragt«, wiederholte sie.

»Du hättest niemals ja gesagt«, verteidigte sich Martin. Er trat hinter sie an den Spiegel und legte ihr sanft die Hände auf die Hüften. Helena dreht sich ruckartig zu ihm um.

»Und du kennst die Gründe«, erwiderte sie. »Du hättest sie respektieren müssen.«

Er trat noch einen Schritt näher, legte seine Arme um ihren Körper, zog sie fest an sich.

Sie schloss die Augen … und wünschte sich weg.

»Gib es zu«, sagte sie matt und wand sich aus seiner Umarmung. »Du stellst dir vor, dass wir an einem dieser Traumstrände endlich ein Baby machen.«

Martin zuckte zurück, als hätte ein Stromschlag seinen Körper getroffen. Sie hatte ihn kalt erwischt.

Seit sie vor zehn Jahren geheiratet hatten, wünschte Martin sich Kinder mit ihr. Zum Glück hatte die endlos lange Ausbildung Helena mehr als genug Ausreden geliefert, das Thema weiter und weiter von sich wegzuschieben. Es gab ihn einfach nicht, den richtigen Zeitpunkt für ein Baby, wenn man den steinigen, aber steil nach oben führenden Weg einer Medizinkarriere gehen wollte. Dass der Gedanke an ein gemeinsames Kind nichts in ihr zum Klingen brachte, musste Martin nicht erfahren. Wahrscheinlich konnte er es sich sowieso denken.

Sie ließ sich alle drei Monate eine Hormonspritze geben und vertröstete ihren Mann auf später. In letzter Zeit hatte er das leidige Thema kaum noch angesprochen. Sie war jetzt 40. Sie hatte gehofft, er hätte eingesehen, dass es langsam, aber sicher zu spät für die Familienplanung wurde.

Nach einer Schrecksekunde hatte Martin sich wieder im Griff. »Da täuschst du dich«, sagte er ruhig.

Helena wusste jetzt, warum sie ihn provoziert hatte. Sie wünschte sich, er würde einmal die Fassung verlieren, ihr einmal ins Gesicht brüllen, was er in Wahrheit wohl über sie dachte. Dass sie eine miese, egoistische Person war, die ihm seinen sehnlichen Wunsch, den Wunsch nach einer großen Familie, verwehrte.

Wenn Martin nur ein einziges Mal nicht so verdammt perfekt wäre!

»Wir können kein Baby unter Palmen machen«, fuhr er fort und lehnte sich lässig an den Türrahmen. »Auch wenn ich das deiner Meinung nach gern wollte.

Du wirst nämlich alleine nach Malaysia reisen, meine Liebe.«

»Ich werde … was?« Helena glaubte, sich verhört zu haben. Sie lachte. Hörte selbst, wie hysterisch ihre Stimme klang. »Wie kommst du darauf, ich könnte Lust verspüren, alleine um den ganzen Erdball zu reisen?«, fragte sie überfordert. »Das Ganze wird ja immer verrückter.«

»Die Antwort hegt in deiner Frage«, antwortete Martin, während er sie prüfend anschaute. »Genau darum geht es. Allein sein. Du willst, nein, du musst endlich eine Zeitlang alleine sein. Dein Körper schreit danach. Deine Seele. Einfach alles an dir.«

»Woher willst du … ?«

Um Martins Gelassenheit war es nun ebenfalls geschehen. Er ließ sie nicht ausreden. Sie hörte Verzweiflung in seiner Stimme, als er fortfuhr: »Wenn du dich mit einem Glas Wein in die hinterste Ecke des Gartens verziehst … Wenn du Kopfhörer aufsetzt und Musik hörst, während ich mit dir reden will… Wenn du nachts auf der Couch einschläfst, anstatt zu mir ins Bett zu kommen … Willst du noch mehr Beispiele?«

Sie schüttelte den Kopf. Entsetzt darüber, wie er mit jedem Wort den Nagel auf den Kopf traf.

»Du, meine liebe Dr. Helena Sander, du willst nichts mehr auf der Welt als alleine sein. Gott weiß, warum!« Sein Lachen klang bitter.

Plötzlich tat er ihr leid. Sie brauchte nicht nach Malaysia zu fliegen, um sich meilenweit von Martin entfernt zu fühlen. Und sie wusste, dass er es wusste.

»Und deshalb schickst du mich weg?«

Er nickte. »Ganz genau!«

»Verstehe. Dir fehlt meine Nähe, und darum muss ich allein wegfliegen.« Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Ja«, gab er ungerührt zurück. »Im Übrigen finde ich das viel weniger paradox, als es dir jetzt Vorkommen mag.«

»Ich werde diese Reise nicht antreten«, sagte sie leise.

»Das wirst du«, beharrte Martin entgegen seiner Gewohnheit und warf die Tür zum Badezimmer hinter sich zu.

Helena zuckte zusammen. Doch dann lächelte sie, während sie ihr Haar zu einem Zopf flocht. Es war also doch möglich, ihren Mann aus der Fassung zu bringen.

»Kannst du das ernsthaft verantworten, meine Liebe?« Helena tippte mit dem Zeigefinger auf ihren leeren Terminkalender, den Lisa eben aufgeschlagen hatte. »Vier Wochen keine Termine für mich?«

»Du bist nicht da«, erwiderte Lisa trotzig. »Schon vergessen? Wir haben dir einen Traumurlaub geschenkt. Vielleicht fängst du langsam damit an, nicht ausschließlich an deine Arbeit zu denken.«

»Wovon leben wir denn, wenn nicht von meiner Arbeit?«, fragte Helena sauer. »Haben wir hier irgendwo einen Goldesel, von dem ich nichts weiß?«

Lisa blies die Backen auf. »Entschuldige, ich vergaß, dass du in Armut haust und vier Wochen Urlaub in acht Jahren nicht drin sind.«

Helena schwieg. Natürlich war der Urlaub möglich. Weder Geld noch die Patienten waren das Problem. Lisa hatte alles hervorragend organisiert. Für die Nachbetreuung der frisch Operierten hatte sie einen kompetenten Kollegen gefunden. Sobald Helena zurück wäre, würde sie wieder jede Menge Termine in ihrem Plan vorfinden.

Das eigentliche Problem bestand nach wie vor darin, dass sie sich entmündigt vorkam, weil sie ihr die Reise aufgezwungen hatten. Die anderen, allen voran Martin, behandelten sie wie ein Kind.

Helena sah, dass Lisa sie musterte und auf eine Erwiderung wartete. »Warum habt ihr mich nicht gefragt, ob ich überhaupt verreisen möchte?«

»Du hättest niemals ja gesagt.«

Das waren exakt Martins Worte gewesen.

»Natürlich nicht!« Ihr Ton wurde wieder schärfer. »Mag sein, dass 99 Prozent der Menschen von einem Urlaub unter Palmen träumen. Ich gehöre nicht dazu.«

»Meinst du nicht, dass eine Pause dir guttun wird, nach all den Jahren harter Arbeit?«

»Sicher wird sie das. Aber warum wollt ihr mich dazu unbedingt ans andere Ende der Welt schicken? Ich hätte genauso gut im Allgäu pausieren können.«

»Malaysia war Martins Idee«, gab Lisa zu. »Wir haben uns lange unterhalten. Ich wusste ja nicht, wie …«, sie zögerte kurz, »wie es bei euch zu Hause läuft.«

»Er hat sich bei dir ausgeweint?«, fragte Helena fassungslos.

»Er hat sich nicht ausgeweint«, widersprach Lisa. »Er sucht eine Lösung.«

»Und mich wegzuschicken ist die Lösung. Was Besseres ist euch nicht eingefallen?«

»Manchmal kapiert man erst, was man hat, wenn man es mit Abstand betrachtet.«

Helena entging der bittere Zug um den Mund ihrer Freundin nicht.

Sie kannten sich schon seit mehr als 20 Jahren, hatten zusammen Abitur gemacht. Elisabeth, die ihren altmodischen Namen nicht mochte und deshalb Lisa genannt werden wollte, lebte seit zehn Jahren alleine. Nicht, dass es an Möglichkeiten gefehlt hätte. Helena begriff selbst nicht, warum niemand ihrer attraktiven Freundin gut genug war. Sie ließ, abgesehen von ein paar bedeutungslosen Bettgeschichten, keinen Mann an sich heran.

»Helena, hör mal«, sagte Lisa in versöhnlichem Tonfall. Der harte Zug in ihrem Gesicht verschwand. »Jetzt freu dich doch einfach! Pack deine Sachen! Es ist alles organisiert. Du musst dich nur zurücklehnen und losfliegen. Ich verspreche dir, dass ich auf deine Klinik aufpasse wie ein Schießhund.«

Helena war noch immer nicht überzeugt und brummte etwas Unverständliches.

»Alles wird gut, okay?«, beschwor Lisa sie erneut.

Wortlos nickte Helena und ging in ihr Sprechzimmer. In ein paar Minuten würden die ersten Patienten kommen.

Sie warf sich ihren Kittel über, nahm ihr Handy aus der Handtasche und suchte, bis sie Michaels letzte SMS gefunden hatte.

Du bist verdammt schwer zu erreichen, Lena. Bin noch bis Dienstag in der Stadt. Micha

Er hatte sie am Wochenende mehrmals anzurufen versucht. Aber Helena hatte weder Zeit noch Ruhe gehabt, sich zurückzumelden. Am Samstag, dem Tag nach der Party, war sie ein paar Stunden arbeiten gegangen. Ihre restliche Zeit hatte Martin mit einem Umlandausflug und einem Theaterbesuch gefüllt.

Sollte sie ihn jetzt anrufen? Sich spontan verabreden?

Heute nach ihrem Feierabend könnte sie, statt nach Hause zu fahren und sich an den reich gedeckten Tisch zu ihrem Mann zu setzen, mit ihrer Jugendliebe durch Kreuzberg streifen. Sie könnten Tequila trinken, bis ihr die Knie weich wurden und sie sich an ihm festhalten musste, um nicht zu fallen. So, wie sie das früher manchmal getan hatten.

Helena lächelte bei der Erinnerung, doch dann legte sich ein bitterer Zug um ihren Mund.

Hatte sie in den letzten Jahren irgendetwas getan, was sinnlos und verrückt, dafür aber irrsinnig lustig gewesen war? Natürlich nicht.

Es klopfte leise an der Tür ihres Sprechzimmers. Resigniert schob Helena ihr Handy zurück in die Tasche. Und die Gedanken an Michael beiseite.

»Guten Morgen, Frau Doktor!« Eine ihrer Patientinnen mit Brustvergrößerung kam zur Verbandabnahme.

»Bitte herein«, sagte Helena freundlich. »Heute wollen wir das Ergebnis bewundern, nicht wahr?«

Während die Frau hinter einem Vorhang ihre Bluse auszog, schweiften Helenas Gedanken erneut ab.

Temperamentvoll wie eh und je hatte Michael sie genannt, doch er irrte sich gründlich. Zwar hatte ihr Äußeres sich seit damals kaum verändert ‒ ihre Figur wirkte so mädchenhaft wie früher, und die brünetten Haare trug sie noch immer hüftlang, wenn auch nicht mehr offen, sondern meist zu einem Zopf gebändigt. Doch sie machte sich nichts vor: Ihr alter Freund würde schon nach fünf Minuten merken, wie entsetzlich langweilig sie und ihr Leben geworden waren.

Kapitel 2

»Sag mal, was ist eigentlich in dich gefahren? Das ist … eine absolute Schnapsidee!«

Tanja nahm einen tiefen Zug von ihrem Kaffee-Milchshake, schwieg und hörte mit wachsender Enttäuschung ihrer Freundin Melanie zu. Vor ein paar Minuten hatte Tanja ihr eröffnet, dass sie darüber nachdachte, eine weitere Berufsausbildung zu absolvieren. Wie immer nahm Melanie kein Blatt vor den Mund, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Tanja ließ die heftige Kritik trotz ihrer Irritation geduldig über sich ergehen. Sie war nicht gut darin, sich zu wehren.

»Du bist fast 30«, sagte Melanie. »Da kannst du nicht so einfach deinen Beruf wechseln.«

»Du klingst, als ob ich kurz vor der Rente stehe«, wagte Tanja leisen Widerspruch.

»Was willst du überhaupt machen?«, fragte Melanie und begann, an ihrem schwarz lackierten Daumennagel zu knabbern.

Jetzt begriff Tanja, weshalb ihre Freundin so schroff reagierte. »Wir können uns doch trotzdem treffen.«

»Das sagst du jetzt«, erwiderte Melanie sauer. »Raus mit der Sprache! Was willst du lernen?«

»Weiß noch nicht genau, vielleicht was mit Tieren oder Kosmetik.«

»Was mit Tieren? Kosmetik? Geht’s noch ein bisschen ungenauer?«

»Ich habe bisher nichts geplant. Nur mit dem Gedanken gespielt, mich … mich ein bisschen zu verändern.«

Melanie ließ von ihrem Finger ab und fuhr sich mit der Zunge über die Piercings an ihrer Unterlippe. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte.

Tanja atmete erleichtert auf, während ihre Freundin schwieg und ihr nicht länger alle Argumente um die Ohren schlug, mit denen sie sich selbst bereits lange genug auseinandergesetzt hatte. Während sie mit einem langen Löffel Sahnereste aus dem Glas kratzte, bedauerte sie, dass der herrlich cremige Moccacino ausgetrunken war. Noch einen würde sie nicht bestellen. Die Barista hatte schon anzüglich gegrinst, als sie ihr die erste Portion über den Tresen gereicht hatte. »Einmal iced Moccacino XXL mit doppelt Sahne.« Für die fette Kuh.

Das hatte sie zwar nicht gesagt. Aber gedacht. Tanja hasste es, wie die Leute sie anglotzten, wenn sie etwas aß oder trank, und dabei diesen »Kein Wunder, dass sie so fett ist«-Blick aufsetzten.

»Du meinst wahrscheinlich Tierarzthelferin oder so?«, fragte Melanie ruhig, die sich offenbar ein wenig gefasst hatte.

Tanja nickte und ließ von ihrem leeren Glas ab. Ein leichter Schmerz breitete sich hinter ihrer Stirn aus. Wie immer hatte sie das eiskalte Getränk viel zu hastig heruntergestürzt. Sie legte zwei Finger an ihre Schläfen und massierte sie leicht.

»Oder noch besser: Kosmetikerin«, antwortete sie. »Meine Nachbarin ist 35 und hat gerade ihre Ausbildung angefangen. Das würde mir auch gefallen.«

»Da nehmen die dich nicht«, behauptete Melanie.

Tanja wusste, worauf ihre Freundin anspielte. Selbst sie. Mit Kleidergröße 46 sah man nicht schick genug für die Kosmetikbranche aus. Dabei achtete Tanja akribisch darauf, stets top gepflegt und gut gekleidet zu sein. Ihr Spiegelschrank im Bad quoll über vor Töpfchen und Tiegelchen. Sie liebte Make-up-Tutorials auf YouTube und probierte, wenn sie Zeit hatte, die dort vorgestellten Schminktipps aus. Tanja besaß ein hübsches Gesicht. Aber das allein nützte ihr nichts. In der Disco blieb sie trotzdem immer allein und tanzte mit Melanie. Daher vermied sie es, wegzugehen, und verbrachte ihre freien Wochenenden lieber lesend im Bett. Ihren letzten Freund hatte sie vor mehr als fünf Jahren gehabt.

»Du kannst doch gar nicht wissen, was für Leute die einstellen«, verteidigte sie sich matt.

»Nein, weiß ich nicht. Aber was ich weiß, ist, dass dir unser Job anscheinend nicht mehr gut genug ist.« Melanie sah beleidigt aus.

»Willst du das für immer machen?«, fragte Tanja und hoffte, ihre Freundin würde nicht länger eingeschnappt sein. »Ich meine, Kassiererin im Supermarkt zu sein, das ist okay für eine Weile. Aber es ist …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Meine Oma hat früher immer gesagt, wenn ich schlechte Zeugnisse aus der Schule nach Hause brachte: Wenn du sonst nichts aus dir machen willst … meinetwegen, dann kannst du Kassiererin werden. Es klang so verächtlich. Kennst du diese Werbung? Da sitzt einer an der Kasse, hält sich ein Toastbrot vor den Kopf und macht biep … biep. Das wirkt vollkommen stumpfsinnig. Man macht sich lustig über uns. Kassiererin wird nach der allgemeinen Meinung nur jemand, der sonst nichts kann.«

»Du spinnst«, sagte Melanie, und überraschenderweise lachte sie, »und du übertreibst gewaltig. Die meisten Kunden sind total nett. Eigentlich hast du das Problem, und daran sind deine krassen Großeltern schuld. Denen bist du nicht gut genug!«

»Das wäre ich auch als Kosmetikerin nicht«, antwortete Tanja leise. »Das bin ich nie.« Sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. »Willst du auch noch was haben?«, fragte sie hektisch. »Ich hole mir einen Brownie.« Die klapperdürre Barista konnte sie mal. Sie brauchte jetzt dringend etwas Süßes.

Melanie schüttelte den Kopf. »Lass den Kuchen. Wir gehen lieber«, sagte sie versöhnlich. »Die Pause ist gleich vorbei. Weißt du, ich finde deine Idee gar nicht schlecht. Es ist nur … dann bist du weg. Und an mich hast du bei deinen Plänen wohl gar nicht gedacht?«

Tanja und Melanie hatten sich in der Ausbildung kennengelernt. Rein äußerlich verband sie nichts. Im Gegenteil: Melanie war mager wie eine Straßenkatze. Von den anderen Mädchen hatte niemand mit einer von ihnen befreundet sein wollen. Melanies ruppige Art stieß die meisten ab, während Tanja sich so still verhielt, dass sie ihren Mitschülerinnen langweilig und uninteressant erschien. Doch die beiden Außenseiter waren einander sofort gegenseitig sympathisch gewesen und verstanden sich bestens. Mehr noch. Sie waren ehrlich zueinander, auch wenn sie sich manchmal dabei verletzten. So wie eben.

Tanja litt, wenn Melanie auf ihre Figur anspielte. Sie wusste selbst, dass sie viel zu dick war. Aber sie konnte nichts dagegen unternehmen. Sie litt permanent unter Hunger! Was sie auch versuchte, um dieses fiese, nagende Gefühl zu besiegen, es gelang ihr nicht. Ihr Magen ließ sich nicht überlisten. Auf pappige Diätdrinks, eklige Tabletten mit Quellstoffen und fettarme Gerichte reagierte er mit wütendem Knurren, so lange, bis sie nachgab und ihn mit Currywurst und Fritten ruhigstellte. Das war schon immer so gewesen, seit sie denken konnte.

Fast immer, korrigierte sie sich. Es gab da ein paar Fotos … Sie und ihre Mutter lachend am Ostseestrand. Damals war sie schlank gewesen, dünn sogar. Ein kleines Mädchen mit weizenblondem Haar und langen Beinen. Unterdessen erinnerte nichts mehr an das Kind von damals, nur eine unbestimmte Sehnsucht, ein leiser Schmerz tief in der Brust und die sanft schimmernde Farbe ihrer Haare. Irgendwo auf dem langen Weg zum Erwachsenwerden war das schlanke, unbeschwerte Mädchen einfach verlorengegangen.

Tanja seufzte leise, während sie die Kaffeebar verließen.

»Vielleicht nimmst du eine Weile Urlaub«, schlug Melanie plötzlich vor, nachdem sie fünf Minuten schweigend nebeneinander hergegangen waren. »Das ist überhaupt die beste Idee. Wie lange bist du nicht mehr verreist?«

»Ich will gar nicht verreisen!«

So ein Vorschlag war typisch für Melanie. Tanja nannte sie ihre Trostpflaster-Freundin. Melanie wusste immer, wie Probleme zu lösen waren. Gegen Liebeskummer half Schokolade. Gegen Stress auf der Arbeit ein Cocktail. In diesem Fall sollte das Problem also mit einem Urlaub gelöst werden. Wenn es so einfach wäre!

Tanja betrachtete die blassen Narben auf Melanies dünnen Armen. Ihre Freundin sollte eigentlich wissen, dass es manchmal mit einem Pflaster nicht getan war.

Trotzdem setzte sich Tanja abends mit einer Schale Nudeln vom Asia-Imbiss vor ihren Laptop und durchsuchte, während sie aß, mehrere Reiseportale nach günstigen Hotels. Sie hatte eine ganze Menge gespart und konnte sich einen Urlaub durchaus leisten. Für ihre kleine Wohnung im Souterrain des Hauses ihrer Großeltern brauchte sie keine Miete zu zahlen.

»Tanja, kommst du zum Abendessen?«

Sie hörte ihre Großmutter die Treppen heruntersteigen. Hastig stopfte sie die Pappschale in ihre Schreibtischschublade und schob sie zu.

»Was machst du da?«

»Bin am Überlegen, ob ich ein paar Tage verreise«, antwortete Tanja, den Blick fest auf den Bildschirm geheftet, und hoffte inständig, dass ihre Großmutter die gebratenen Nudeln nicht riechen konnte.

»Mallorca?« Die Großmutter beugte sich vor. Tanja sah aus dem Augenwinkel, dass sie einen misstrauischen Blick auf die geöffnete Seite warf und die Stirn runzelte.

»Warum nicht?«

»Viel zu heiß und zu voll im Sommer. Willst du alleine fahren?«

»Vielleicht mit Melanie.«

»Dass ich nicht lache! Wir wissen beide, dass deine sogenannte beste Freundin keinen Cent für eine Reise hat. Du wirst doch nicht so dumm sein, sie einzuladen?«

Tanja betrachtete Uta Wellenstein von der Seite und stellte einmal mehr fest, dass sie überhaupt nichts Großmütterliches an sich hatte, jedenfalls nichts von dem, was man sich bei einer Oma im besten Sinne vorstellte ‒ mild blickende Augen, runde Hüften, Lachfältchen um die Mundwinkel und immer einen Vorrat Karamellbonbons im Küchenschrank.

Uta war eine beeindruckende Erscheinung: groß, knochig, ungeschminkt, ihr graues Haar raspelkurz geschnitten. Sie trug eine weite Leinenhose in Beige, ein schmales, weißes T-Shirt und weiche, hellblaue Mokassins. Kleine Perlenohr Stecker ‒ das einzige Zugeständnis an eine verspielte, lustvolle Weiblichkeit ‒ ergänzten ihren puristischen und dennoch edel aussehenden Look perfekt.

»Das ist deine Enkelin?«

Tanja krümmte sich stets unter den erstaunten Blicken der Leute, die sie und ihre Großmutter zum ersten Mal zusammen sahen. Natürlich schnitt sie schlecht gegen ihre gertenschlanke Verwandte ab. Prof. Dr. Uta Wellenstein ‒ die erfolgreiche Chefärztin, die mit 69 noch immer in Vollzeit Dienst im Krankenhaus leistete. Tanja war, nicht nur optisch, aus der Art geschlagen, und ihre Großmutter ließ sie das spüren.

»Vielleicht fahre ich lieber alleine«, beeilte sich Tanja zu versichern. Sie mochte es nicht, wenn jemand schlecht über Melanie sprach, und wollte ablenken.

Uta zuckte die Schultern. »Ist letztlich deine Sache. Kommst du jetzt?«

Tanja erhob sich. Dabei blieb die Tasche ihres Kleides am Knauf der Schreibtischschublade hängen, die sich prompt öffnete und ihren kompromittierenden Inhalt preisgab. Tanja sah, wie ihre Großmutter beim Anblick der halb gefüllten Pappschale samt Plastikgabel den Kopf schüttelte. Mit hängenden Schultern folgte sie Uta nach oben auf die Terrasse.

»Ach, lass doch den alten Besen«, sagte Melanie später lachend am Telefon.

»Sie hat beim Essen jeden meiner Bissen gezählt«, schimpfte Tanja und hämmerte wütend auf ihre Computertastatur ein. »Weißt du, wenn sie könnte, dann würde sie sich eine andere Enkelin basteln.« Es tat weh. Tanja griff nach einer Tafel Schokolade in ihrem Regal, zerriss hastig die Verpackung und aß die Süßigkeit, während sie redeten, bis auf das letzte Stück auf.

»Niemand ist ihr gut genug«, antwortete Melanie. »Also vergiss sie einfach. Wollen wir noch was trinken oder ein bisschen spazieren gehen?«

»Nee, lass mal. Ich bin müde. Bis morgen, ja? Und danke fürs Zuhören.«

»Keine Ursache.«

Niemand ist ihr gut genug!

Melanies Satz setzte sich in Tanjas Kopf fest.

Wirklich niemand?

Sie schob ihren Stuhl vor den großen Landhauskleiderschrank und kletterte mühsam hinauf. Oben tastete sie nach einer Metalldose, die dort sicher vor neugierigen Blicken verborgen lag, und hob sie herunter. Sicherheitshalber schloss sie die Tür ab und setzte sich auf ihr Bett.

Niemand ist ihr gut genug.

Die junge Frau auf dem Foto, das Tanja aus der Dose kramte, war eine Schönheit. Blaue Augen strahlten im schmalen Gesicht, mit einer feinen Nase und vollen, fast ein wenig zu großen Lippen. Über 20 Jahre alt war die Aufnahme. Sie war bei ihrem letzten gemeinsamen Urlaub in Binz entstanden.

»Hi, Mama«, sagt Tanja leise und strich über die Fotografie. »Ich vermisse dich so.«

»Hi, Tanja, mein Kleines«, antwortete ihr eine sanfte Stimme. »Wollen wir Backe, backe Kuchen spielen?«

Der Hunger fraß sich durch ihre Eingeweide, bohrte, nagte, pochte. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie sich ihren nächsten Urlaub ausmalte und eine Weile über ihr Gespräch mit Melanie nachdachte. Schließlich griff sie nach ihren Kopfhörern. Aber egal, was Tanja auch unternahm, um das wütende Knurren in ihrem Bauch loszuwerden, es gelang nicht.

Es war 1 Uhr in der Nacht. Sie lag seit einer Stunde wach. An Schlaf war nicht zu denken. Tanja knipste ihre Nachttischlampe an, stand auf und begann, ihre Schubladen zu durchwühlen. Die kalt gewordenen Chinanudeln im Schreibtisch rochen unappetitlich. Schaudernd warf sie die Reste in den Mülleimer. Irgendwo musste noch ein Schokoriegel versteckt sein.

»Kauf nicht so viel Schoki«, hatte ihr Melanie geraten. »Was du nicht zu Hause hast, kannst du auch nicht essen.«

Tanja hatte den Rat beherzigt, doch jetzt bereute sie es.

Sie aß selten nachts, aber wenn sie von wilden Träumen geplagt aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte, half nichts außer ein paar Stücken Schokolade, einigen Keksen oder einem süßen Riegel, um den wütenden Heißhunger zu besiegen.

Doch außer Kaugummis fand sie heute nichts.

Tanja setzte sich müde auf die Bettkante und versuchte, sich zu beruhigen. Wieder einmal hatte sie im Traum geweint. Es war fast immer das gleiche Bild, das sie quälte.

Sie lief munter auf einen eingleisigen Bahnhof zu, der hübsch mit Blumenkästen geschmückt war und auf dem jede Menge fröhliche Menschen auf die Einfahrt des Zuges warteten, mitten unter ihnen ihre Mutter. Tanja beeilte sich, zu ihr zu gelangen, denn sie hatten vor, gemeinsam auf Reisen zu gehen. Doch sie schleppte einen Koffer; der mit jedem Meter schwerer wurde. So schwer, dass sie ihn kaum noch zu tragen vermochte. Sie sah den Zug kommen. Die Menschen herzten und küssten sich, bevor sie einstiegen und die Lokomotive fröhlich zu pfeifen begann. Ihre Mutter hatte sich bereits in einem Abteil niedergelassen und begann in einer Zeitung zu lesen. Anscheinend hatte sie nicht bemerkt, dass ihre Tochter gar nicht mit eingestiegen war. »Mama!«, schrie Tanja und versuchte schneller zu laufen, doch ihre Bemühungen nutzten nichts. Als sie in ihrer Not den Koffer fallen ließ, wurden ihre Beine schwer wie Blei, und obwohl sie sich nach Kräften bemühte, kam sie keinen Meter voran. Der Zug fuhr an, ihre Mutter blickte nicht einmal auf, und Tanja weinte, bis sie endlich erwachte …

Vor Verzweiflung biss sie in ihren Handrücken. Doch selbst der Schmerz half nicht, sich von ihrem Hunger abzulenken. Ohne einen Happen zu essen, würde sie in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden. Schon in wenigen Stunden würde ihr Wecker klingeln. Sie war für die Frühschicht eingeteilt und würde sich acht Stunden mit bleierner Müdigkeit quälen müssen, wenn sie nicht schnellstens wieder einschlief.

Leise schlich sie zur Treppe und lauschte hinauf zur Wohnung der Großeltern. Es war dunkel. Kein Laut war zu vernehmen. Um diese Uhrzeit lagen anscheinend sogar Lutz und Uta, ihre stets energiegeladenen Großeltern, im Bett.

Tanja hoffte, in deren Küche Waffeln oder Kekse zu finden. Ihre Großeltern naschten äußerst selten, hielten aber Vorräte für spontan eintreffende Gäste bereit. Sie würde sich ein Päckchen nehmen und am nächsten Tag Ersatz aus dem Supermarkt mitbringen.