Kirschblütenfrühling - Kerstin Hohlfeld - E-Book

Kirschblütenfrühling E-Book

Kerstin Hohlfeld

4,9

Beschreibung

Gar nicht so leicht für Rosa, die Schneiderei zu managen, während ihre Chefin Margret zur Kur fährt. Noch dazu, wenn gleichzeitig eine Punkerin namens Koma mit ihrer Truppe die Gegend unsicher macht. Rosa nähert sich der Frau an, die bei genauerem Hinsehen eher unglücklich als gefährlich wirkt, und verschafft ihr einen Job in ihrem Stammlokal. Wenig später wird dort Geld gestohlen. Hat Koma ihr Vertrauen ausgenutzt? Rosa glaubt nicht daran und macht sich auf die Suche nach dem wahren Täter.

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Kerstin Hohlfeld

Kirschblütenfrühling

Roman

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören Frau Anna Mechler Manfred-von-Richthofen-Str. 156 Berlin

Ausgewählt von Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Cattari Pons / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4564-4

Widmung

Für meine Familie

Prolog

»Es riecht nach Frühling«, bemerkt Jola. »Kommt bald die gute Wetter.«

Wenn meine polnische Kollegin das sagt, dann stimmt es. Seit ich sie kenne, brauche ich keinen Wetterbericht im Radio zu hören. Jola kann Schnee schnuppern, Regen in ihren Knien spüren und von nahenden Stürmen bekommt sie Kopfschmerzen.

»Das wäre so schön«, erwidere ich und werfe einen sehnsüchtigen Blick zum dunklen und wolkenverhangenen Berliner Himmel, der kein bisschen nach Frühling aussieht. Eher nach einem heftigen Wolkenbruch.

Jola und ich sind vorm Schraders angekommen. In unserem Stammlokal holen wir uns jeden Morgen drei Becher Kaffee fürs gemeinsame Frühstück. Meine Kollegin läuft schon vor zur Schneiderei direkt gegenüber. Ich warte darauf, dass unser Lebenselixier aus der Maschine in die Becher läuft, und tausche derweil Neuigkeiten mit den Wirten aus.

»Wie geht’s Margret?«, fragt Jens, während er Milch aufschäumt. »Sie sieht ziemlich blass aus im Moment.«

»Eigentlich gut«, erwidere ich. Allerdings frage ich mich, ob das wirklich der Wahrheit entspricht. Margret, unsere Chefin und Besitzerin der Schneiderwerkstatt, in der ich arbeite, gehört zu den Menschen, die keinerlei Aufheben um sich machen.

Ich weiß, dass sie manchmal Rückenschmerzen hat, aber wenn ich sie nach ihrem Befinden frage, reagiert sie meistens unwirsch. »Lass mal« oder »Geht schon.« Mehr kriege ich nicht aus ihr heraus.

»Gestern hat sie mir gesagt, ihr wird es langsam, aber sicher zu viel, jeden Tag zehn Stunden in der Schneiderei zu verbringen«, erzählt Jens und stellt die Kaffeebecher auf ein Tablett.

»Das hat sie gesagt?« Ich bin sprachlos.

Jens nickt.

»Ich muss gleich mit ihr reden«, beschließe ich. »Weißt du, wie oft Jola und ich ihr schon angeboten haben, etwas kürzer zu treten?«

»Weiß ich«, antwortet er. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie es jetzt will.«

»Das glaube ich erst, wenn sie es mir ins Gesicht sagt«, erwidere ich. »Aber danke für den Tipp!«

Als ich das Schraders verlasse und über die Straße gehe, stürzt Jola mit schreckgeweiteten Augen aus der Tür unserer Werkstatt auf mich zu. »Kommst du«, schreit sie und fuchtelt mit den Armen. »Schnell!«

»Was ist denn los?« Ich stelle das Tablett auf der nächstbesten Blumenrabatte ab und rase in die Werkstatt.

Ein großes Chaos empfängt mich. Unser Frühstückstisch ist umgestürzt, ein Stuhl liegt daneben und auf dem Fußboden liegt Margret und stöhnt leise.

»Was ist passiert?« Ich knie mich hin und sehe meiner Meisterin ins Gesicht. In ihren Augen schimmern Tränen.

»Ist sie verrückt«, sagt Jola und schiebt ihr ein Kissen unter den Kopf. »Wollte sie abmachen die Knoblauchzopf von die Decke.«

»Margret?«

Meine Meisterin nickt und wischt sich über das Gesicht.

»Bevor wir weiterreden«, sage ich. »Habt ihr einen Arzt gerufen?«

»Habe ich gleich«, antwortet Jola.

»Das solltest du doch nicht«, schimpft Margret. Bei dem Versuch sich aufzurichten, verzieht sie ihr Gesicht vor Schmerzen und lässt sich wieder nach hinten fallen. »Ich bin gleich wieder in Ordnung.«

»Du hast also einen Stuhl auf unseren wackligen Tisch gestellt und bist darauf geklettert, um den Knoblauchzopf von der Decke abzunehmen? Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Wieso nicht?«, fragt Margret trotzig.

»Na deshalb!« Ich bin kurz davor zu schreien. »Was, wenn du dir etwas gebrochen hast?«

Von draußen ertönt lautes Tatütata und ein Krankenwagen bremst vor der Werkstatt. Fünf Minuten später liegt Margret auf einer Trage und wird ins nächstgelegene Krankenhaus transportiert. Mein Angebot, sie zu begleiten, lehnt sie ab.

»Nicht so viel Wirbel«, befiehlt sie. »In ein paar Stunden bin ich wie neu und ihr kümmert euch bitte, bis ich zurück bin, um die Kunden.«

Jola und ich beseitigen das Chaos in der Schneiderei, nachdem der Krankentransport abgefahren ist.

»Die ganze Zeit alles ist gut«, murmelt Jola vor sich hin, als sie den ramponierten Knoblauchzopf in den Mülleimer stopft. »Und jetzt …«

Meine Kollegin ist ziemlich abergläubisch und hat uns den Zopf vor Monaten als Glücksbringer in die Werkstatt gehängt. Ich finde es selbst ein bisschen gruselig, dass Margret bei dem Versuch, den leicht müffelnden Zopf zu entfernen, prompt ein Unglück widerfahren ist. Aber mein Verstand klopft zaghaft an und nach kurzem Nachdenken gebe ich ihm recht. Ein Glücksbringer, der sich als rachsüchtig erweist, weil man ihn entfernen will, verdient seinen Namen nicht. Vielmehr hätte Margret nicht diesem wackligen Konstrukt aus Tisch und Stuhl vertrauen sollen. Ich hoffe, dass sie sich nicht ernsthaft verletzt hat.

»Wo ist denn Margret?«, fragt meine Schwester Lila, die zur Mittagszeit die Schneiderei betritt.

Zum wiederholten Male erzählen Jola und ich im Wechsel, was heute Morgen passiert ist. Denn der Krankenwagen vor unserer Tür ist den Nachbarn natürlich nicht verborgen geblieben. Beinahe ununterbrochen klingelte unsere Türglocke und jeder wollte wissen, ob Margret etwas Schlimmes passiert ist.

Meine Meisterin ist eine Institution hier im Kiez. Ich bin ganz gerührt von der regen Anteilnahme der Kunden.

»Sie hat vorhin angerufen«, erzähle ich meiner kopfschüttelnden Schwester. »Zwei Rippen angebrochen, diverse Prellungen und einen verstauchten Knöchel. Sie bleibt erst einmal zur Beobachtung in der Klinik und bekommt Schmerzmittel.«

»Wieso klettert sie denn auf irgendwelchen Tischen herum?«, fragt Lila kopfschüttelnd.

»Du kennst doch unsere Margret«, antworte ich. »Wenn sie was will, dann will sie es gleich, und jemanden um Hilfe zu bitten, kommt gar nicht infrage.«

»Kann ich verstehen«, sagt Lila. »Sie hat die Schneiderei lange allein geführt. Und jetzt fällt es ihr schwer, ein bisschen kürzer zu treten, obwohl sie über 60 ist und es längst könnte. Ihr habt doch hier alles im Griff.«

»Hat sie Pause jetzt«, meint Jola.

»Zwangspause«, ergänze ich. »Und sie wird es hassen.«

Trotz der Sorge um Margret widmen wir uns unserem Tagesgeschäft. Ich weiß, wie wichtig unserer Chefin ihre Werkstatt ist, und sie soll nicht das Gefühl haben, dass es ohne sie nicht läuft.

Während Jola sich der zahlreichen Änderungsarbeiten annimmt, habe ich meine Schwester zur Anprobe ihres Brautkleides hergebeten. Lila wird Mitte Juni ihren Freund und Lebensgefährten Rob heiraten. Die beiden sind so glücklich miteinander, dass es eine wahre Freude ist.

Ich habe ihr Brautkleid entworfen und nun darf ich es nähen, was für mich eine Ehre und zugleich natürlich eine gewaltige Herausforderung darstellt. Tagelang habe ich an den Entwürfen getüftelt. Nachdem Lila sich ihr Traumkleid ausgesucht hat, haben wir Stoffe, Spitze, Garn und Tüll in Mengen eingekauft. Ich war richtig aufgeregt, als ich schließlich mit der Arbeit begonnen habe. Und jetzt, als Lila in das fast fertige Unterkleid schlüpft, bin ich es wieder.

»Sag mal, ziehst du den Bauch ein?«, frage ich, als Lila schließlich vor mir steht. »Du wirkst so angespannt.«

»Nein. Wieso?«, fragt Lila gepresst.

Ich sehe Jola grinsen.

»Lila?«

»Okay«, gibt sie zu und atmet aus. »Ich hab zwei Kilo zugenommen.«

»Das macht doch nichts«, erwidere ich. »Ich lasse die Naht ein bisschen aus.«

Die Braut muss sich wohlfühlen, das ist das Allerwichtigste. Das Hochzeitskleid darf also auf keinen Fall irgendwo kneifen.

»Das macht nichts?«, faucht Lila und sieht mich verzweifelt an. »Und ob das was macht! Seit ich die Hochzeitseinladungen verschickt habe, bin ich laufend bei einem unserer Gäste eingeladen. Alle backen und brutzeln für mich, als wollten sie, dass ich fett werde und vorm Traualtar wie ein Walfisch aussehe.«

Ich kann nicht anders. Ich muss laut lachen. Jola fällt ein und nach kurzem Zögern auch Lila.

»Ist doch fies, oder?«, prustet sie.

»Nein«, sage ich. »Alle freuen sich mit euch. Das ist herrlich. Außerdem machen die zwei Kilo mehr bei dir rein optisch gar nichts aus.« Meine Schwester ist gertenschlank.

»Sicher?« Sie guckt noch immer skeptisch.

»Also keine Sorge. Ich passe das an und alles ist gut.«

»Ich werde aufpassen, dass nicht noch mehr auf die Hüften kommt. Versprochen!«

»Ich ruf dich an, wenn ich den Rock fertig habe«, sage ich, als ich Lila an der Tür mit Küsschen rechts und links verabschiede.

»Danke!«, sagt Lila, nun wieder ganz fröhlich. »Und grüß Margret, wenn du sie siehst.«

Die Patientin wirkt übellaunig, als wir sie am Krankenbett besuchen. Jola hat Blumen und Kekse gekauft, ich habe etwas Obst beigesteuert.

»Ich will hier raus!«, begrüßt uns Margret. »Und nun zieht nicht solche Gesichter. Ich bin ja noch nicht tot.«

Derartig mies gelaunt habe ich meine Meisterin lange nicht erlebt.

»Kommst du bald raus«, erwidert Jola. »Aber zuerst hörst du auf, die ganze Zeit so viel Mecker zu machen.«

Wo Jola recht hat, hat sie recht.

Margrets angespannte Züge verändern sich schlagartig. »Entschuldigung«, sagt sie. »Ihr könnt ja nichts dafür, dass diese Quacksalber mich hier festhalten wollen.«

»Die Quacksalber, wie du sie nennst, wissen schon, was sie tun«, widerspreche ich. »Hab doch ein bisschen Geduld, dann wirst du sehen, dass alles gut wird.«

»Pah!«, stößt Margret aus. »Die wollen mich nach dem Krankenhaus gleich zur Kur schicken.«

Jola und ich wechseln einen raschen Blick. »Also das geht natürlich nicht«, sage ich, so ernst es mir möglich ist.

»Nein, nicht«, bekräftigt Jola.

»Ihr verkohlt mich.« Margret kennt uns natürlich und schaut stirnrunzelnd zwischen uns hin und her.

»Du willst doch sowieso nicht fahren«, behaupte ich.

»Genau.« Margret verschränkt die Hände über der Brust, verzieht bei der heftigen Bewegung jedoch schmerzlich das Gesicht. »Ihr seid also der gleichen Meinung wie ich.«

Ich bin gespannt, wie lange wir unser kleines Theaterstück noch durchhalten. Zur Kur? Das wäre einfach großartig. Ich kann quasi vor mir sehen, wie gut sich meine Meisterin dort erholen würde. »Nun ja«, setze ich an, um meine wahre Meinung zu sagen. »Jola und ich könnten …«

»Ich war ewig lange nicht verreist«, unterbricht Margret mich und sieht dabei richtig verträumt aus.

Leider betritt in diesem Moment eine Krankenschwester den Raum, die das Abendessen bringt, und Margret setzt sogleich wieder ihre verschlossene Miene auf. Jola und ich verabschieden uns. Ich bin sicher, der Samen ist in die Erde gelegt. Margret weiß genau, dass sie eine Pause braucht. Sie muss es sich nur noch zugestehen.

Kapitel 1

An: [email protected]

Angekommen

Liebe Rosa!

So, jetzt will ich mal mein Glück mit diesem neumodischen Smartdings versuchen und dir eine Mail schreiben. Neben mir im Zug saß ein junges Mädel, das mit den Fingern so schnell über die Buchstaben sauste, dass ich kaum hinsehen konnte. Und wieso steht da plötzlich »liegen«, wenn ich »liebe« schreiben will? Ich muss jedes Wort kontrollieren, sonst steht nur Blödsinn in meiner Nachricht. Seltsame Technik!

Aber gut, ich will gern zugeben, dass mir dieses kleine Spielzeug durchaus Spaß bereitet. Und ich werde schon noch dahinterkommen, wie man das Ding richtig bedient.

Jetzt erst einmal: Herzliche Grüße aus Bad Aibling, meine liebe Rosa!

Die Zugfahrt von Berlin hierher dauerte ziemlich lange. Das Umsteigen in München und Rosenheim hat zum Glück gut geklappt.

Nach acht Stunden endlich am Ziel wurde ich abgeholt und in meine Klinik gebracht. Ich bewohne nun ein hübsches Zimmer mit Balkon und Blick auf die Berge.

Die Frühlingssonne strahlt vom hellblauen Himmel und beim ersten Spaziergang lief ich durch ein Meer blühender Buschwindröschen! Postkartenidylle, wohin ich blicke.

Trotzdem: Ich vermisse Berlin, ich vermisse meine Werkstatt! Dich und Jola vermisse ich auch!

Liebe Grüße

deine Margret

PS Habt ihr den Auftrag von Frau Rosen noch rechtzeitig geschafft?

*

An: [email protected]

Re: Angekommen

Liebe Margret,

Glückwunsch! Das klappt doch schon prima mit dir und dem Smartphone.

Du sollst uns nicht vermissen, sondern dich entspannen und gut erholen! Jola und ich haben alles im Griff und natürlich haben wir den Auftrag rechtzeitig fertiggestellt. Mach dir keine Gedanken, ruh dich schön aus und genieße deine Kur!

Liebe Grüße

deine Rosa

*

Lieber Himmel, es war nicht einfach, meine Meisterin zu einer Auszeit zu überreden, aber mit vereinten Kräften haben Jola und ich sie nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus davon überzeugt, dass eine Kur sowohl nötig als auch möglich wäre. Sie hat es eine Woche lang versucht, doch dann musste sie einsehen, dass sie vor Schmerzen kaum an ihrer Nähmaschine sitzen konnte, und schließlich hat sie uns unter Tränen gestanden, dass ihr die Arbeit in der Schneiderei, so sehr sie ihren Beruf liebt, manchmal einfach zu viel wird.

Ein paar Tage später packte sie endlich ihre Koffer, um zur wohlverdienten mehrwöchigen Pause aufzubrechen.

Meine Kollegin Jola und ich hängen an Margrets kleiner Weddinger Schneiderwerkstatt genauso wie sie selbst. Unsere Chefin kann sich hundertprozentig auf uns verlassen.

Während Jola und Margret hauptsächlich Änderungsarbeiten ausführen, habe ich mich auf das Entwerfen und Anfertigen von Mode spezialisiert.

Gestatten, Rosa Redlich ist mein Name. Ich bin Schneiderin mit Leib und Seele. Ich lebe seit ein paar Jahren in Berlin und ich liebe diese Stadt von ganzem Herzen.

Ach, Sie kennen mich? Na, umso besser!

Dann muss ich Ihnen nicht erzählen, dass eine ziemlich turbulente Zeit hinter mir liegt und ich manchmal eine chaotische Fettnäpfchentreterin bin, die gern sehenden Auges in ihr Unglück rennt. Allerdings bin ich bisher heil aus jedem Schlamassel herausgekommen, denn erstens bin ich umgeben von Menschen, die mich lieben (und mir im Zweifelsfall verzeihen), und zweitens habe ich im Lauf der Zeit einiges dazugelernt. Ich bin erwachsener geworden, wie man so schön sagt. Na ja, einige Monate vorm 30. Geburtstag ist das eigentlich nicht verkehrt.

Ein Jahr ist vergangen, seit ich mit meiner Kollektion an einem internationalen Modewettbewerb teilgenommen und … verloren habe. Schrecklich enttäuscht war ich, schließlich hatte ich mein Herzblut für meine märchenhaften Kleider hingegeben.

Oft kommt es im Leben anders als erwartet oder erhofft, was jedoch am Ende nicht unbedingt schlecht sein muss. Meine Märchenkollektion hat zwar nicht den Wettbewerb gewonnen, wurde allerdings in der Juniausgabe der Zeitschrift Estelle in einer großen Fotostory vorgestellt.

Vickis kleines Schloss in der Mark Brandenburg diente als Kulisse für das Shooting, und selten habe ich schönere Modeaufnahmen gesehen als diese.

Mein Handy klingelt. Wenn man vom Teufel – in diesem Fall von meiner besten Freundin – spricht … »Hey, Vicki!«, rufe ich fröhlich in den Hörer. Ich stehe von meinem Platz an der Nähmaschine auf und trete, während wir quatschen, an die Schaufensterscheibe der Werkstatt.

»Hi, Rosa.«

»Du klingst müde!«

»Und wie. Ich glaube, Lulu kriegt Zähne, sie hat die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich demzufolge auch nicht.«

»Oh weh.«

»Jetzt schläft sie.«

»Und? Willst du dich nicht kurz hinlegen?«, frage ich.

Vicki geht nicht auf meinen Vorschlag ein. »Wann kommt ihr uns besuchen?«, fragt sie stattdessen zurück. »Ich bin ein bisschen einsam hier draußen!«

Victoria Graf, geborene von Liesen, wohnt im Paradies, genauer gesagt in einem Schlösschen in Kletzin, dort, wo die Mark Brandenburg am romantischsten ist. Lichte Mischwälder, sattgrüne Felder, Seen und Dörfer wechseln sich ab. Auf den Wiesen grasen schwarzbunte Kühe, am Waldessaum äsen Rehe und in den Orten thronen Störche auf Scheunendächern.

Das Anwesen, von dessen Existenz Vicki lange nichts gewusst hatte, gehörte einst ihrer Urgroßtante. Auf ziemlich verschlungenen Wegen ist es – verfallen, aber von unvergleichlichem Charme – in Vickis Besitz übergegangen.

Ein Dreivierteljahr lang haben sie und ihr Mann jeden Cent und jede freie Minute in die Sanierung gesteckt. Seit drei Monaten leben sie und Daniel nun mit ihrem Baby Luna Luisa, kurz Lulu, dort draußen. Nicht zu vergessen, unser aller Liebling Princess, eine bildschöne Landseer-Hündin, die Daniel im vorletzten Winter vor dem sicheren Tod gerettet hat.

Unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest in Kletzin unter einem prächtig geschmückten, meterhohen Tannenbaum im riesigen Wohnzimmer des Schlosses werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Lulu war gerade ein halbes Jahr alt geworden und entzückte uns alle mit ihren vor Staunen leuchtenden Augen und ihrem glucksenden Babylachen. Unsere ganze eingeschworene Gemeinschaft versammelte sich am langen, festlich gedeckten Tisch – meine Zwillingsschwester Lila und ihr Lebensgefährte Rob, Margret und Jola, zusammen mit ihrem Mann, meine Großmutter und natürlich mein Freund Basti, seine Tochter Juli und ich. Dazu stießen unsere Freunde Jens und Oskar, die Besitzer unseres Weddinger Lieblingsrestaurants, dem Schraders.

»Das machen wir jetzt jedes Jahr so«, beschloss Vicki, als wir am nächsten Tag nach dem Frühstück wieder nach Berlin aufbrachen. Keiner von uns widersprach.

Abgesehen vom Weihnachtsfest besuche ich meine Freundin regelmäßig in Kletzin. Nach einer hektischen Arbeitswoche ist so eine Flucht in die Idylle der Mark Brandenburg genau das Richtige für mich und meine kleine Familie.

»Wir kommen wie geplant nächstes Wochenende zu euch«, muntere ich Vicki auf. »Juli freut sich auf die Pferde und auf Lulu sowieso.«

»Wunderbar!« Meine Freundin klingt gleich viel fröhlicher. »Wie geht’s Margret in der Kur?«

»Ich weiß noch nicht viel. Sie hat mir nach ihrer Ankunft eine kurze Mail geschrieben. Stell dir vor, sie hat sich extra ein Smartphone gekauft, angeblich, um uns immer und überall erreichen zu können. In Wirklichkeit will sie sichergehen, dass wir ihr jederzeit ausführlich berichten können, falls irgendetwas in der Schneiderei nicht klappt. Aber ich werde mich hüten, sie mit Kleinkram zu nerven. Sie braucht eine Weile ihre Ruhe.«

Vicki lacht. »Es grenzt an ein Wunder, dass sie überhaupt gefahren ist«, erwidert sie. »Abgesehen davon bin ich sicher, ihr habt die Schneiderei fest im Griff.«

»Klar«, bestätige ich ein wenig selbstbewusster, als mir zumute ist.

Man wächst mit seinen Aufgaben, sagt meine Oma, und damit hat sie recht.

»Ich vermisse euch voll.« Vicki klingt plötzlich wieder ein wenig unglücklich.

»Vicki, du lebst nicht auf dem Mond«, tröste ich. »Wenn es so schlimm um dich steht und du es nicht länger aushältst, pack Lulu ins Auto und komm mich besuchen!«

»Du musst doch arbeiten.«

»Es ist Freitag um eins«, antworte ich aufmunternd. »Jola ist eben weg. Sie fährt nach Polen, ihr Sohn hat Geburtstag. Also los! Schwing dich her!«

»Na ja …« Vicki möchte noch ein bisschen überzeugt werden.

»Wenn du ankommst, schließe ich die Werkstatt«, locke ich meine Freundin. »Jens und Oskar haben heute zum ersten Mal Tische und Stühle nach draußen gestellt.«

Während ich mit Vicki spreche, lasse ich meinen Blick über die Malplaquetstraße schweifen. Jola hatte recht. Der Frühling ist da und hat endlich den Grauschleier von der Straße genommen. VormSchradersstehen bunte Tische und Stühle. Die Blumenrabatten sind mit leuchtenden Primeln bepflanzt und an jedem zweiten Fenster des fünfstöckigen Mietshauses gegenüber steht einer der Bewohner mit Lappen und Glasreiniger bewaffnet, um die Scheiben blank zu wienern.

Lebenslust liegt in der Luft.

Ich habe meine Aufträge für diese Woche gut abgearbeitet. Warum also nicht den ersten Milchkaffee im Freien genießen?

Ein paar Leute schlendern vorüber und winken mir zu. Schüler sausen auf ihren Rädern vorbei, und auf der Blumenrabatte gegenüber hocken ein paar junge Leute, trinken Bier und rauchen. Nachdem ich über ein Jahr hier arbeite, kenne ich fast alle Bewohner vom Kiez. Die drei – zwei junge Männer und eine Frau – fallen mir heute allerdings zum ersten Mal auf. Ihre Kleidung sieht, na ja, ein wenig gewöhnungsbedürftig aus. Als Schneiderin jucken mir da gleich die Finger. Ich mag lässigen urbanen Look, doch was die drei tragen, erinnert definitiv mehr an Altkleidertonne als an ein modisches Statement.

Vicki seufzt vernehmlich. »Hach, mit dir einen Drink im Schraders …«, schwärmt sie. »Wie in alten Zeiten.«

Gleich hab ich sie. Ich bin sicher, ein Treffen wird uns beiden guttun, denn manchmal vermisse ich meine Freundin ziemlich heftig. Und sie mich.

Seit Vicki Mutter ist, wird sie schnell sentimental. Ein wenig verstehe ich sie, denn ihr Leben hat sich ziemlich verändert. Innerhalb eines Jahres ist sie, die gefeierte Autorin von Erotik-Romanen, gleichzeitig Schlossbesitzerin, Ehefrau und Mutter geworden. Obwohl sie ihre Lulu über alles liebt, fehlt ihr manchmal das »lockere Leben«, wie sie es nennt.

»Kommst du nun?«, frage ich.

Die drei Biertrinker erheben sich gerade und schlurfen davon. Die Flaschen und ein paar qualmende Kippen lassen sie zurück.

»Bin schon auf dem Weg!« Vicki klingt plötzlich munter. »Lulu kann im Auto weiterschlafen.«

Ich bin gerade ein wenig abgelenkt. Hey ihr da, würde ich den Jugendlichen am liebsten hinterherrufen, nehmt gefälligst euren Müll mit! Ich bin nicht spießig, echt nicht, doch zwischen den frischgepflanzten Blumen haben die Überbleibsel eines Umtrunks einfach nichts zu suchen.

Ich sage Vicki, wie sehr ich mich auf sie und Lulu freue, dann beende ich das Gespräch, öffne die Tür der Werkstatt und schaue nach den Missetätern. Doch die sind längst verschwunden.

Kopfschüttelnd klaube ich sechs Bierflaschen aus den Blumenrabatten und stelle sie unter den nächstliegenden Mülleimer. Es gibt genug Leute in Berlin, die sich beim Flaschensammeln ein paar Cent verdienen.

Eine Stunde später ist Vicki da und die Flaschen sind weg, wie ich beim Abschließen der Werkstatt mit einem Seitenblick feststelle.

Die kleine Lulu rekelt sich in ihrer Sitzschale und fängt sofort an zu strahlen, als ich mich über sie beuge. »Hallo, meine Süße«, begrüße ich sie und fasse ihr winziges Händchen. »Bist du groß geworden. Und du kriegst ein neues Zähnchen?«

Wie auf Kommando fängt Lulu an zu greinen. Ich schnalle sie los und hebe sie hoch. Das gefällt ihr und schon strahlt die kleine Maus wieder.

Vicki und ich umarmen uns und gehen über die Straße ins Schraders. Sie schleppt Lulus Babyschale und eine gigantisch große Wickeltasche.

»Ich will nicht bei dir einziehen, oder so«, sagt sie lachend und klopft auf das prall gefüllte Teil, »nur für alle Eventualitäten gerüstet sein.«

Ihre rotbraunen Haare glänzen im Sonnenlicht. Sie trägt Jeans und eine weiße Bluse. Von Gewichtszunahme keine Spur mehr. Meine Freundin ist eine wirklich schöne Frau.

Ich hüpfe mit Lulu auf und ab. Von ihrem fröhlichen Glucksen kann ich gar nicht genug bekommen.

»Hey! Wer kommt denn da?«, fragt Jens, als er uns sieht. Schon schnappt er sich Lulu und hebt sie einmal hoch über seinen Kopf. Die Kleine jauchzt vergnügt. Ein Speichelfaden rinnt ihr aus dem Mund.

»Vorsicht, sie sabbert«, warnt Vicki. »Ich glaub, sie kriegt an die 300 Zähne auf einmal.«

»Das macht doch nichts«, sagt Jens und drückt Lulu an sich.

»Sag mal«, meint Vicki, als er mit ihrem Baby davongeht, um Lulu die Osterdekoration im Fenster zu zeigen. »Hat der mich gerade überhaupt begrüßt?«

»Ich glaube nicht!«, antworte ich. Wir prusten los.

»Echt jetzt«, sagt Vicki. »Als Gebärmaschine findest du ja noch einigermaßen Beachtung, aber kaum hast du den kleinen Schreihals zur Welt gebracht, bist du abgemeldet.«

»Nimm es positiv«, schlage ich vor. »Wir zwei haben Zeit für einen schönen Kaffee.«

»Lieber Alkohol«, erwidert Vicki. »Ich stille seit einer Woche nicht mehr, das heißt, ich kann essen und trinken, was ich will. Und nachher holt uns Dani ab. Ich darf also!«

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und bestelle bei der Kellnerin zwei Gläser Aviation, meine Neuentdeckung in Sachen Feierabenddrink, ein wunderbarer Cocktail aus Gin, Zitronensaft und Veilchenlikör. Letzterer verleiht dem Getränk seine lila Farbe und einen unnachahmlich interessanten Geschmack.

Fünf Minuten später bringt Jens uns Lulu zurück.

»Oskar mault rum«, seufzt er mit einem Blick zu seinem Kompagnon. »Wir sind extrem unterbesetzt im Moment. Ich muss an der Bar helfen. Tut mir leid!«

»Schon okay«, beschwichtige ich Jens, nehme ihm Lulu ab und setze sie auf meinen Schoß.

Vicki kramt unterdessen aus ihrer Tasche ein Gläschen Möhren-Bananen-Brei. »Ich muss sie sowieso füttern«, sagt sie. »Lulus Laune verschlechtert sich nämlich blitzartig, wenn die kleine Madam Hunger kriegt.«

Während wir unseren Cocktail trinken, verputzt Vickis Baby zufrieden den Brei.

»Du hast da was Rotes im Gesicht«, begrüßt mich Basti, als ich wenig später nach Hause komme, und nimmt mich in die Arme. Ich recke mich und gebe ihm einen Kuss zur Begrüßung. Wenn ich meine Acht-Zentimeter-Pumps ausziehe und in meine gemütlichen Hausschlappen schlüpfe, wird der Größenunterschied zwischen uns beiden erst recht deutlich. Ich bin eine schmale blonde Frau von nicht mal eins sechzig Körpergröße. Basti ist ein Riese gegen mich. Was uns beide jedoch kein bisschen stört.

»Wahrscheinlich Möhrenbrei«, erwidere ich schmunzelnd, während ich mir im Spiegel die Bescherung ansehe und endlich verstehe, warum mich die Leute in der U-Bahn derart komisch angesehen haben. Vicki hätte ruhig einen Ton sagen können, dass mir ein orangeroter Fleck an der Schläfe klebt. Aber wahrscheinlich hat sie es gar nicht mitbekommen. Ihr Baby hält sie ziemlich auf Trab.

»Lecker!«, sagt Basti grinsend, während ich mir die Reste des Breis aus dem Gesicht wische. »Bist du neuerdings auf Schonkost?«

»Bloß nicht«, erwidere ich. »Vicki hatte den Blues und ich hab sie überredet, mich von der Arbeit abzuholen. Wir waren im Schraders und haben uns einen Drink gegönnt.«

»Richtig so.«

»Jedenfalls lernt Lulu seit ein paar Tagen eifrig, mit dem Löffel zu essen. Ich bin ziemlich sicher, die Leute vom Nachbartisch haben auch eine Portion abbekommen.«

Bei der Erinnerung, wie hartnäckig Lulu den Löffel in ihrer Hand verteidigt hat, obwohl sie viel weniger Brei in ihren Mund bekam, als sie in ihre Umwelt verteilte, muss ich lachen. Was für ein süßer, eigenwilliger Fratz!

»Rosa!« Juli, Bastis achtjährige Tochter, rennt wie ein Wirbelwind auf mich zu und hängt sich an meinen Hals. »Fahren wir bald wieder nach Kletzin?«

»Klar! Das habe ich mit Vicki vorhin besprochen«, antworte ich.

Juli liebt Pferde über alles und der Hof, auf dem sie Reiten lernt, liegt gleich neben Vickis Zuhause. Gern verbringen wir die Wochenenden, wenn Basti keinen Dienst im Krankenhaus schieben muss und Juli nicht bei ihrer Mutter ist, draußen in Kletzin.

Vicki hat uns ein eigenes Gästezimmer eingerichtet. Eine Freundin zu haben, die ein Schloss besitzt, birgt ganz klar seine Vorteile. Aber natürlich würde ich Vicki genauso mögen, wenn sie eine Einzimmerwohnung am Ende der Welt bewohnen würde.

Der April zeigt sich gewohnt launisch und begrüßt uns mit seinem sprichwörtlichen Wetter. Als ich nach einem herrlich erholsamen Wochenende in Kletzin die Werkstatt aufschließe, scheint strahlend die Sonne. Bereits eine Stunde später, als der erste Kunde gemeinsam mit meiner Kollegin Jola den Laden betritt, ist der Berliner Himmel von einer dichten Wolkendecke überzogen. Eine weitere Stunde vergeht und die Stadt versinkt in einem tropisch anmutenden Dauerregen. Bei solch ungemütlichem Wetter kommen nur wenige Kunden in unsere Schneiderei. Wer kann, bleibt lieber im Trockenen, und wir können ungestört unsere zahlreichen Aufträge abarbeiten.

Ich strecke mich kurz, nachdem ich eine Stunde an Lilas Kleid gearbeitet habe, und sehe dabei nach draußen. Gegenüber auf der Blumenrabatte hockt eine junge Frau im strömenden Regen. Sie gehört zu dem Trio, das am Freitag die Blumen zugemüllt hat. Ich erkenne sie an der auffälligen neongrünen Strähne in ihrem ansonsten schwarzen Haar. Sie sitzt da, als wäre das schönste Wetter, und raucht. Jedenfalls klemmt zwischen ihren Lippen eine Zigarette. Ob die bei diesem Wolkenbruch überhaupt brennen kann, ist mehr als fraglich. Von ihren Begleitern sehe ich keine Spur.

Die Frau – oder sollte ich lieber »das Mädchen« sagen? – stützt ihre Ellenbogen auf die Knie und heftet den Blick auf den Boden. Ihr Anblick stimmt mich ziemlich traurig. Obwohl ich sie gar nicht kenne und mein erster Eindruck von ihr nicht gerade der beste war.

Nachdem ich ein Glas Apfelsaft ausgetrunken habe, setze ich mich zurück an meine Nähmaschine, von wo aus ich einen erstklassigen Blick auf die Straße genieße. Zeit, um das Mädchen auf der Straße zu beobachten, bleibt mir jedoch nicht. Wir haben viel zu viel zu tun. Nur ab und zu muss ich mich rekeln, um Schmerzen durch heftig verspannte Schultern vorzubeugen.

Als ich das nächste Mal aufblicke, sitzt die junge Frau noch immer an ihrem Platz und betrachtet die Schnürsenkel ihrer schweren Stiefel. Sie ist klatschnass, bis auf die Haut.

»Jola, guck mal«, sage ich und winke meine Kollegin zu mir. »Meinst du, das Mädel da ist betrunken oder zugedröhnt? Die sitzt bestimmt seit einer Stunde völlig teilnahmslos im strömenden Regen herum.«

»Ist sie bald krank, wenn sie nicht nach Hause geht«, gibt Jola zu bedenken.

Das ging mir selbst schon durch den Kopf und zudem die Frage, ob und was ich unternehmen soll. Ein offensichtliches Elend wie dieses mit anzusehen, kommt für mich jedenfalls nicht länger infrage. Einem spontanen Impuls folgend stehe ich auf und öffne die Tür zur Werkstatt.

»Hallo!«, rufe ich.

Sie reagiert nicht.

»Hallo, hörst du mich?«

Die junge Frau hebt langsam den Kopf und schaut mich mit verkniffenem Gesichtsausdruck an.

»Komm mal her!«, lade ich sie ein, indem ich sie heranwinke. »Du kannst dich hier unterstellen.«

Sie erhebt sich langsam und schlurft über die Straße zu mir herüber.

»Was ist?«, fragt sie. »Hast du Probleme?«

»Ich? Nein, ich habe keine Probleme«, antworte ich ein wenig verunsichert. »Ich wollte nur … Sag mal, willst du nicht reinkommen? Du bist total …«

»Was willst ’n dann von mir?«

Ach du liebes bisschen. »Ich will nichts von dir«, beteuere ich geduldig. »Jedenfalls nichts Blödes oder so. Ich dachte nur, du willst vielleicht lieber ins Trockene.«

Über ihre Lederjacke rinnen Regentropfen. Die schwarzen, an der rechten Seite des Schädels ausrasierten Haare hängen ihr nass und strähnig ins Gesicht.

Ich versuche, nicht allzu auffällig auf ihre zahlreichen Piercings im Gesicht zu starren, aber das fällt mir schwer. Der klobige silberfarbene Ring in ihrer Nasenscheidewand erinnert mich an Fotos von Zuchtstieren – leicht reizbar und zugleich traurig – und sieht einfach furchtbar in dem eigentlich hübschen Gesicht des Mädchens aus.

Vor mir steht eine junge Frau, die so ziemlich alles tut, um sich zu verunstalten, zumindest nach meinem Empfinden. Ich schätze sie auf kaum älter als 20 Jahre.

»Also, kommst du jetzt rein?«, frage ich erneut. »Ich kann dir Tee machen und ich habe …«

»Is ’n das für ’n Laden hier? Bahnhofsmission oder so?«

»Eine Schneiderei«, antworte ich geduldig, während ich meine Strickjacke fröstelnd enger um meine Schultern ziehe und mich frage, was ich hier eigentlich mache. Ich bin ja wirklich nicht die Bahnhofsmission.

Hätte ich sie einfach unbeachtet im Regen sitzen lassen sollen?

Nein! Denn erstens kann die Bahnhofsmission (wie schon der Name sagt) nicht überall sein. Und zweitens kann man ja wohl einfach so jemandem helfen. Oder? Es steht ihr frei, mein Angebot anzunehmen oder abzulehnen. Ganz einfach ist das allerdings nicht, wie sich nun herausstellt.

»Und was soll ich hier?«, fragt das Mädchen beharrlich weiter, während es die Stirn runzelt und sich ein paar Regentropfen aus Gesicht streift.

Ich widerstehe dem Impuls, die Tür der Werkstatt einfach wieder zuzuwerfen. »Weißt du was«, sage ich stattdessen beherrscht. »Ich muss zurück an meine Arbeit. Wenn du einen Tee und dich ein bisschen im Trockenen aufhalten willst, dann fühl dich eingeladen. Du musst nicht da draußen im strömenden Regen sitzen.« Ich schenke der jungen Frau ein aufmunterndes Lächeln und drehe mich um.

»Spießer«, schickt sie mir hinterher, und ich höre, wie sie durch den Regen davonschlappt.

Heb die Füße beim Gehen, würde ich ihr am liebsten zurufen, auch wenn das in der Tat ein bisschen spießig wäre und außerdem mit den kiloschweren Boots, die sie trägt, sowieso ein hoffnungsloses Unterfangen darstellt.

»Also, das ist ein Ding«, sage ich kopfschüttelnd und setze mich zurück an meinen Platz.

Jola klopft mir auf die Schulter. »Vergiss du die komische Mädchen«, muntert sie mich auf. »Siehst du sie sowieso nicht wieder.«

Ich nicke. »Da hast du wohl recht.«

Doch bereits am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass wir uns geirrt haben. Als ich von der U-Bahn im strömenden Regen zur Werkstatt haste, sehe ich die junge Frau schon von Weitem vor unserer Tür stehen, wo sie offenbar vor den klatschenden Tropfen Schutz sucht.

»Guten Morgen«, sage ich freundlich und fange an, mich zu fragen, was sie beinahe täglich in die Malplaquetstraße führt.

Sie macht Platz, als ich den Schlüssel aus meiner Tasche krame und mich anschicke, die Tür aufzuschließen. Ich nehme einen leichten Alkoholgeruch wahr, der von ihr ausgeht.

»Sag mal …«, setze ich an, doch sie lässt mich nicht weiterreden.

»Ich geh ja schon«, unterbricht sie mich.

Ihre abweisende Art macht mich hilflos. »Du musst nicht gehen«, erwidere ich. »Ich hab dir doch gestern schon gesagt, dass du gern reinkommen kannst, wenn du einen Tee trinken und dich unterstellen willst.«

Dieses Mal rennt sie nicht gleich weg, sondern bleibt stehen und schaut mir prüfend in die Augen. Überrascht sieht sie aus. Sie runzelt nachdenklich die Stirn und überlegt anscheinend, ob sie es riskieren kann, mein Angebot anzunehmen.

»Meinst du das ernst?«, fragt sie schließlich.

»Klar«, antworte ich.

Ich weiß nicht, warum mich ihr Anblick berührt. Vielleicht liegt es an ihrer schmalen, beinahe zerbrechlichen Gestalt, an den weichen, fast ein wenig kindlichen Zügen. Oder an ihren großen braunen Augen im blassen Gesicht? Ihrem Versuch, hart und unnahbar zu sein und dabei unglaublich verloren zu wirken?

»Hast du zufällig einen Kaffee da?«, fragt sie. »Mir ist kalt.«

»Ich hol uns einen. Drüben im Schraders. Was magst du? Milchkaffee?«

»Hab keine Kohle für so was«, sagt sie und igelt sich direkt wieder ein.

»Ist okay. Keine Sorge. Ich krieg den Kaffee geschenkt.«

Wir arbeiten eng mit den beiden Wirten von gegenüber zusammen. Der morgendliche Kaffee für uns ist inklusive, dafür sind wir, wenn die beiden ein paar neue Kissen für ihr Restaurant brauchen oder etwas auszubessern ist, direkt zur Stelle.

Ich rechne fest damit, dass die junge Frau geflüchtet ist, als ich mit einem Tablett und drei Bechern (Jola wird gleich zu uns stoßen) kurze Zeit später zurückkomme.

Erleichtert stelle ich fest, dass sie vor der Werkstatt wartet und dabei unruhig von einem Bein auf das andere tänzelt. Ich drücke ihr einen Latte macchiato in die Hand, schließe die Tür auf und bitte sie hinein. Unsicher tritt sie ein und bleibt dann mitten im Laden stehen. Um ihre Schuhe sammeln sich Schmutzpfützen, die auf dem braun gestrichenen Dielenboden zum Glück nicht sehr auffallen.

Ich schiebe ihr einen unserer Stühle ans Fenster neben meine Nähmaschine. »Ich bin Rosa«, stelle ich mich vor und halte ihr die Hand hin. Zögernd schlägt sie ein. Ihre Finger sind eiskalt. »Nimm Platz, wenn du magst!« Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und drehe unauffällig die Heizung höher. Die junge Frau setzt sich und legt die Hände fröstelnd um ihren Kaffeebecher. Neugierig schaut sie sich um und nippt dabei an dem warmen Getränk.

»Der ist lecker«, sagt sie leise. Dann heftet sie ihren Blick einmal mehr auf den Fußboden und schweigt.

»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich nach einer Weile vorsichtig und hoffe, sie nicht zu verschrecken. Ich möchte gern ein bisschen mit ihr reden. Hören, wer sie ist und was sie täglich vor die Tür der Werkstatt treibt.

»Koma«, antwortet sie. »Ich heiß Koma.«

»Das ist … ähm … originell«, stammele ich schwer verwundert. Wer bitte nennt sich freiwillig wie eine lebensbedrohliche Störung der Hirnfunktion?

Sie sagt nichts, zuckt lediglich die Schultern.

Ich kann nichts dafür, doch sie tut mir noch mehr leid, und ich beschließe, für den Fall, dass wir öfter Kontakt haben werden, ihren richtigen Namen herauszubekommen.

Koma? Also echt jetzt. Ich glaube nicht, dass ich es fertigbringe, sie so zu nennen.

Auch wenn der Name in Verbindung mit ihrem Äußeren auf traurige Weise stimmig ist. Auf mich wirkt sie, als wäre sie meilenweit von sich selbst entfernt. Gar nicht richtig bei sich – bewusstlos eben.

Jola betritt den Laden, sieht unseren Gast zusammengesunken auf dem Stuhl sitzen und reagiert großartig. »Guten Morgen«, sagt sie lächelnd. »Ist schöne kalt draußen. Hab ich uns warme Brötchen gebracht von die Bäcker.« Aus der Tüte, die sie auf unseren neuen Frühstückstisch legt (wir haben ein stabiles Exemplar gekauft, falls noch einmal jemand Lust verspürt, darauf herumzuklettern), strömt appetitlicher Duft.

Wir nehmen Platz und laden unseren Gast mit einer Handbewegung zu uns ein. Nach kurzem Zögern und einem misstrauischen Blick in Richtung Jola setzt sich Koma zu uns und beginnt, während wir unsere Aufträge durchsprechen, an einem Kürbiskernbrötchen herumzuknabbern. Ich habe das Gefühl, das Eis zwischen uns ist gebrochen. Oder wenigstens angetaut.

»Kann ich hier mal pinkeln gehen?«, fragt Koma, als wir wenig später das Frühstück abräumen.