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Sie steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Ruhm oder Liebe?
London, Anfang 20. Jahrhundert: Eiskunstlauf ist Madges große Leidenschaft. Doch aufgrund eines fatalen Fehlers in der Vergangenheit ist es ihr lediglich erlaubt, ihre jüngeren Geschwister zu trainieren. Als sie die gleichaltrige Julianna kennenlernt, ist Madge völlig fasziniert von dem neuen Wiener Fahrstil, den diese ihr zeigt: eine Art Ballett auf dem Eis, so anmutig und fließend, dass es ihr den Atem raubt. Solch eine Kür wäre ihre Chance, doch noch an der anstehenden Weltmeisterschaft teilzunehmen. Und gleichzeitig endlich das Herz von Benedict – dem Star des Londoner Skating Clubs – zu erobern. Gemeinsam schmieden Madge und Julianna einen mutigen, aber riskanten Plan. Einen Plan, der nicht nur ihre Zukunft, sondern auch den Ruf ihrer gesamten Familie zerstören könnte …
Eine zauberhaft-winterliche und auf wahren Begebenheiten basierende historische Saga, die durch wechselnde Perspektiven in der Ich-Form eine besondere Nähe zu den Hauptfiguren schafft.
Die Trilogie erscheint in hochwertig veredelter, liebevoller Ausstattung – funkelnd wie ein Eiskristall. Die drei Bände der Saga erscheinen im Jahrestakt, jeweils im Winter.
Lesen Sie gleich weiter und entdecken Sie auch Rena Rosenthals duftende Familiensaga »Die Hofgärtnerin«:
Buch 1: »Die Hofgärtnerin – Frühlingsträume« (Neuerscheinung 2021)
Buch 2: »Die Hofgärtnerin – Sommerleuchten« (Neuerscheinung 2022)
Buch 3: »Die Hofgärtnerin – Blütenzauber« (Neuerscheinung 2023)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 564
Veröffentlichungsjahr: 2024
RENA ROSENTHAL, aufgewachsen in einem kleinen Örtchen in der Nähe von Oldenburg, hat mit ihrer Trilogie Die Hofgärtnerin die Bestsellerliste erklommen. Zu ihrer neuen Saga wurde sie durch eine Eislaufszene in der Hofgärtnerin inspiriert, durch die sie zufällig über die faszinierende Geschichte der ersten eiskunstlaufenden Frauen gestolpert ist. Als sie etwas über die Eiskunstläuferin Madge gelesen hat, wusste sie, dass die junge Frau ihre eigene Geschichte verdient hat. Die Kür ihres Lebens ist der zweite Band innerhalb der Eispalast-Reihe.
Rena Rosenthals Bücher in der Presse:
»Wärmt das Herz!« tv Hören und Sehen über Der Eispalast Band 1
»Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen.« meine-news.de über Der Eispalast Band 1
»Ihr Roman stellt eine emanzipierte Frau in den Mittelpunkt – und ist vor allem ein sehr sinnliches Lesevergnügen.« freundin über Die Hofgärtnerin. Frühlingsträume
Außerdem von Rena Rosenthal lieferbar:
Die Hofgärtnerin. Frühlingsträume
Die Hofgärtnerin. Sommerleuchten
Die Hofgärtnerin. Blütenzauber
www.penguin-verlag.de
Rena Rosenthal
DEREISPALAST
Die Kür ihres Lebens
Roman
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Copyright © 2024 der Originalausgabe by Rena Rosenthal
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Verena Zankl
Umschlaggestaltung: © Favoritbüro
Umschlagmotive: © Shutterstock/alb2018, Kichigin, Claudio Divizia, Mr Twister, ArtEvent ET, LedyX, Arvind Balaraman, Zsolt Biczo, Rushikanth, tasha0102; © Getty Images/shomos uddin; © mauritius images/FL Historical K/Alamy/Alamy Stock Photos, TopFoto; © Trevillion Images/Ildiko Neer; © Richard Jenkins (Frauenkopf)
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-31624-2V001
www.penguin-verlag.de
Kapitel 1
Madge
London, frühes 20. Jahrhundert
Das Verliebtsein, diese absolute Gewissheit, dass er der Richtige ist, kam nicht mit einem Paukenschlag. Ich habe ihn nicht an einem Ballabend gesehen, seine weich fallenden Locken und sein so sanft aufblühendes Lächeln wahrgenommen und von einem Moment auf den anderen tausend Geigen spielen hören. Nein. Da war auch kein plötzliches Feuerwerk in meinem Herzen, wie es gerne in Romanen und Schmonzetten beschrieben wird.
Bei mir kam das Verlieben ganz allmählich.
Zuerst war da nur ein Sandkorn, als ich Benedict Aspley zum ersten Mal im Prince’s Skating Rink begegnet bin. Benedict. Allein wenn ich diesen Namen in Gedanken ausspreche, bekommt meine Stimme einen verträumten, geradezu sehnsuchtsvollen Klang.
Dabei bemerkt er mich nicht einmal.
Unser erstes Kennenlernen ist nun zwei Jahre her. Damals ist er zum Vormittagstraining der Männer neu hinzugekommen. Ich selbst übe schon von klein auf das Eislaufen und helfe momentan meinen Geschwistern Henry und Helen beim Training für das Paarlaufen bei der nächsten Weltmeisterschaft in Sankt Petersburg. Wir teilen uns an den Vormittagen die Halle mit den Männern, die ebenfalls für die großen Wettbewerbe trainieren. Als Benedict damals zum ersten Mal dabei war, fiel mir gewiss sein gutes Aussehen auf, das – wie wir im Ballett sagen würden – sozusagen en pointe ist, da er solch ebenmäßige Züge hat. Er trägt seine leicht gewellten Haare zudem halblang und seine Augen haben ein undurchdringliches Taubengrau. Aber ich bin kein naives Mädchen, das den feinen Herren aufgrund der vornehmen Gesichtszüge sofort zu Boden liegt. Es waren eher seine noble Art und seine klugen Kommentare, die dafür gesorgt haben, dass das Sandkorn Woche für Woche, Monat für Monat von einer hauchdünnen Schicht Perlmutt umhüllt wurde, sodass mittlerweile eine prächtige kostbare Perle daraus geworden ist.
Und die ist mein bestgehütetes Geheimnis.
»Warum lächelst du ihn nicht einmal an, Madge?« Helen, meine Schwester, ist schwungvoll neben mir zum Stehen gekommen, ihre Kufen haben die oberste Eisschicht abgeschabt und meine Schuhe mit weißen Schneesprenkeln überzogen. Mit ihren kohlgeschwärzten Augen plinkert sie mich an.
Nun gut.
Ganz so gut ist mein Geheimnis offenbar doch nicht verborgen. Oder hat Helen heimlich in meinem Tagebuch gelesen? Allerdings nehme ich es überallhin mit, sodass es nie unbeaufsichtigt ist. Hat sie dennoch eine Gelegenheit gefunden? Skeptisch mustere ich sie, doch sie atmet betont ein und dreht die Augen zur hohen Decke des Skating Rinks.
»Seit Ewigkeiten schmachtest du ihn aus der Ferne an.« Theatralisch legt sie eine Hand auf ihr Herz und ich will sie am liebsten sofort wegreißen. Nicht, dass jemand merkt, wovon wir sprechen. Helen ist nie sparsam, was die Gesten betrifft. Und auch sonst eigentlich nicht, fast alles an ihr ist ein über.
»Seit wir beim letzten Ball gesehen haben, dass er sich bei diesem Hungerhaken Ada Thompson auf der Tanzkarte eingetragen hat, isst du nur noch wie ein Spatz und hast tagelang deine Haare mit Kamillentinktur gewaschen, um sie aufzuhellen. Außerdem bin ich deine Schwester«, erklärt sie und stellt sich neben mich an die Bande. Gemeinsam betrachten wir die Gruppe der Männer am anderen Ende der Eishalle aus der Ferne. Am Vormittag sind zum Glück nur die Menschen hier, die ernsthaft trainieren, natürlich streng bewacht von Mister Babington, dem Aufseher. Er ist die rechte Hand des Eishallenbesitzers und damit ungemein wichtig – zumindest in seinen Augen. Mit einer blauen Kappe auf dem Kopf sitzt er über einen Haufen Papiere gebeugt auf seinem Podest im abgegrenzten Bereich neben der Eisfläche. Wenn er das nicht macht, poliert er die Kufen, die man an der Theke hinter dem eleganten Sitzbereich der Halle ausleihen kann, oder kontrolliert die vier Thermometer an der Eisfläche und die beiden in der Halle und auf dem Außengelände. Er lebt in ständiger Sorge um das kostbare Kunsteis. Noch größer ist allerdings seine Sorge, dass wir uns nicht an die zahlreichen Regeln halten und dass auf der Eisfläche etwas Unziemliches geschieht. Er beobachtet uns mit Argusaugen, obwohl wir alle nur trainieren wollen und Helen und ich die einzigen Frauen sind. Wir kennen die Regeln zudem besser als die Bibelsprüche. Trotzdem sieht er in regelmäßigen Abständen von seinen Notizen hoch, so skeptisch, als wären wir im Begriff, einen Diebstahl zu begehen.
Mich behält er stets ganz besonders gut im Auge. Vater hat dafür gesorgt. Deswegen setze ich mich nun langsam wieder in Bewegung. Wenn man zu lange stillsteht, wird einem ohnehin kalt.
Kurze Zeit später holt Mister Babington seine goldene Jägeruhr heraus, klappt sie mit einem knappen Nicken wieder zu und erhebt sich. Er wird nun in den angrenzenden Salon verschwinden, wohin er sich alle zwei Stunden zurückzieht, um seine Pfeife zu stopfen und ganz genüsslich für sich zu rauchen.
Kaum ist er weg, streift ein kalter Windzug meine Ohren und ich sehe Edgar in voller Geschwindigkeit auf die Männergruppe zusausen. Er umrundet sie mehrmals, bevor er Benedict den Hut vom Kopf klaut und rasend schnell davonläuft. Natürlich nimmt Benedict umgehend die Verfolgung auf, wirkt dabei jedoch leicht verärgert. Ich kann das verstehen. Edgar ist immerhin der Trainer der Männer und einige Jahre älter als wir und dennoch so kindisch! Anfang dreißig ist er, und trotz seines braunroten Van-Dyck-Barts kann man sich bestens vorstellen, was für ein Satansbraten er als Kind gewesen sein muss. Sein Grinsen wirkt noch immer so verschmitzt wie das eines Jungen, der etwas ausgefressen hat. Wir sind alle zum Üben für die Weltmeisterschaft hier und nicht zum Herumflachsen, das sollte doch gerade er als Trainer wissen.
Nun rast er direkt auf mich zu, stelle ich entsetzt fest. Bevor ich etwas dagegen unternehmen kann, setzt er mir Benedicts Hut auf und nimmt keinerlei Rücksicht auf meine Pompadour-Frisur, für die ich immer extra früh aufstehe. Er zieht mich weiter in die Mitte und wirbelt mich an seinen Händen in die Runde. Mit dem schwarzen Hut auf meinem mit Sicherheit leuchtend roten Kopf muss ich wie ein Roulettespiel wirken, bei dem durch das schnelle Drehen die Farben ineinanderfließen. Urplötzlich ist er wieder weg, und ich versuche beduselt, das Gleichgewicht zu halten.
Ich hasse dieses erwachsene Enfant terrible.
Benedict hingegen ist all das, was Edgar nicht ist. Er ist ernsthaft, während Edgar nichts ernst nehmen kann. Er ist kultiviert, wo Edgar derbe Witze reißt. Er ist aufrichtig, während Edgar hinterlistig ist. Wegen eines dummen Fauxpas darf ich mir nichts, aber rein gar nichts mehr zuschulden kommen lassen, deswegen nehme ich mich jeden Tag zusammen und kämpfe jeglichen Übermut, der mich früher gelenkt hat, zurück. Edgar weiß das genau und trotzdem macht er so etwas mit mir! Noch bevor ich meinen Gleichgewichtssinn wiedererlangt habe, steht Benedict vor mir, und nun, wo er mir so nah gegenübersteht, bin ich doch gefesselt von seiner Stattlichkeit. Warum muss er mich ausgerechnet jetzt, wo ich mit meinem hochroten Kopf und der zerstörten Frisur vermutlich so elegant wie ein Truthahn auf Kufen wirke, so deutlich mustern?
Erwähnte ich, dass ich Edgar hasse?
Mit einem sanften Lächeln streckt Benedict die Hand aus. »Darf ich?«
Noch immer ganz durch den Wind, weiß ich zunächst nicht, was er will. Für einen winzig kleinen absurden Moment frage ich mich, ob er mit mir tanzen will. Aber wie soll das hier auf dem Eis gehen?
»Ähm …«, stammle ich und bemerke dann, wie sein Blick zu meinem Haaransatz wandert. Ach ja, der Hut.
Natürlich!
Meine Begriffsstutzigkeit ist mir so peinlich, dass ich mich nicht wundern würde, wenn das Eis um mich herum schlagartig wegschmelzen würde. Ich reiße den Hut so ruckartig von meinem Kopf, als würde ich mich ekeln, und deswegen gleitet er mir im nächsten Moment aus der Hand. Du liebe Güte, was muss Benedict nur von mir denken! Sollte ich schnell etwas Berichtigendes sagen? ›Ihr Hut war sehr wohlriechend?‹ oder ›Das hatte nichts mit Ihrem Hut zu tun!‹? Allesamt törichte Antworten, erkenne ich und beschließe zu schweigen. Und zu lächeln. Hoffentlich nicht ganz so einfältig, wie ich mich fühle. Ich muss einfach hoffen, dass er aus meinem Verhalten keine falschen Schlüsse zieht. Wenn man jemanden näher kennenlernen möchte, ist man schließlich auf subtile Hinweise angewiesen, nichts in diese Richtung kann offen kommuniziert werden. Selbst wenn man einen Brief schreiben würde, bräuchte man hierzu zunächst einen guten Grund und könnte dann allemal zwischen den Zeilen etwas andeuten.
Mein momentanes Verhalten ist leider keineswegs zwischen den Zeilen im Subtext verborgen. Ich starre. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber ich kann nicht anders. Er bückt sich, um den Hut aufzuheben, was mir als Dame sogar in diesem eher informellen Rahmen des Eislauftrainings nicht gestattet ist, und klopft das Eis vom schwarzen Stoff, bevor er ihn wieder aufsetzt. Er sieht aus, als würde er noch etwas sagen wollen, aber bevor er den Mund aufmacht, werden wir unterbrochen.
»He, Benny«, ruft Wallace in seinem breiten amerikanischen Akzent zu uns herüber. Einige der großen Eisläufer aus den anderen Ländern trainieren hier bei uns. Wallace tritt für Amerika an, dann ist da noch Mick aus Holland und Vikram aus Indien. »Wenn du die Weltmeisterschaft gewinnen willst, bevor du auf deine Grand Tour gehst, sollten wir jetzt dringend weiter üben.«
»Benedict«, korrigiert er seinen Kameraden gediegen, während meine Gedanken wie Risse im Eis auseinanderstreben. Habe ich das richtig verstanden? Benedict deutet eine Verbeugung an, und ich kann mich gelähmt vor Schock gerade noch davon abhalten zu knicksen, was hier in der Halle übertrieben wäre. Er fährt mit kräftigen Bewegungen davon, während Mister Babington wieder in die Halle kommt und sich misstrauisch umsieht. Ich tausche einen alarmierten Blick mit Helen, die zumindest die Geistesgegenwart besitzt, nicht beide Hände an die Wangen zu legen und den Mund weit zu öffnen. Sogar mein Bruder Henry, Helens Zwilling, mit dem sie das Paarlaufen trainiert, sieht mich mitleidig an.
Benedict wird eine Grand Tour machen, eine Bildungsreise durch ganz Europa.
Ich schlucke.
Das bedeutet, er wird im besten Fall Monate, in der Regel aber sogar Jahre unterwegs sein, um Kunst, Kultur und Geschichte bedeutender Länder wie Frankreich, Deutschland und Italien kennenzulernen, sich fortbilden und seine Sprachkünste verfestigen. Langsam gleite ich wieder auf die Bande zu, ich brauche jetzt stabilen Halt, auch wenn ich eine geübte Eisläuferin bin.
»Wollen wir dann auch weitermachen?«, frage ich meine Geschwister nach einer Weile. Ich habe mich keineswegs gefangen, kann kaum klar denken, aber Mister Babington würde misstrauisch werden, wenn wir weiterhin untätig herumstehen. Ich bin sehr bemüht, so zu tun, als sei nichts gewesen, höre aber selbst das Beben in meiner Stimme. Zweimal die Woche haben meine Zwillingsgeschwister Stunden bei einem Trainer für die Weltmeisterschaft. Da meine Familie zwar wohlhabend, aber nicht reich ist, habe ich an den anderen Tagen diese Position übernommen. Als ältere Schwester habe ich schließlich zwei Jahre mehr Erfahrung. Deswegen muss ich mich zusammenreißen, wir müssen üben, denn ein Sieg wäre ein wichtiger Schritt für unseren gesellschaftlichen Aufstieg. Dennoch muss ich immer wieder zu Benedict hinübersehen, während Henry und Helen ihre Figuren fahren. Ich sehe ihn vor mir, wie er Woche um Woche am gesellschaftlichen Leben der schönsten Städte Europas teilnehmen wird. Bälle, Empfänge, Theaterbesuche und Konzerte. Schließlich geht es darum, das kulturelle Leben dort kennenzulernen.
Allein das Wissen, dass er in wenigen Monaten fort sein wird, verknotet mir den Magen. Und das ist noch nicht alles. Leider kenne ich eines der häufigsten Nebenprodukte einer solchen Reise. Er würde in jeder Woche, vielleicht sogar an jedem Tag interessante, vielleicht schillernde Persönlichkeiten und ganz sicher zahlreiche Schönheiten ähnlicher sozialer Schichten kennenlernen. Ganz gleich, was sein Herz begehrt, die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass er es auf dieser Reise finden wird.
Eine Angetraute aus dem Ausland bietet für gehobene Familien schließlich die Möglichkeit, Allianzen zu bilden und Ländereien sowie Vermögen zu sichern. All das, was wir nicht haben. Wir haben zwar ein Stadthaus und ein Dienstmädchen, ich bin allerdings keine höhere Tochter mit adeligen Wurzeln.
Wie um die Gedanken fortzuschlagen, klatsche ich in die Hände. »Machen wir mit den Pflichtfiguren weiter, die kann man nie genug üben.«
Henry und Helen werden zwar auch gemeinsam eine Kür laufen, am meisten Wert würden die Preisrichter aber auf die Pflichtfiguren legen, bei denen präzise geometrische Muster auf dem Eis mit den Kufen sozusagen nachgezeichnet werden müssen. Im Anschluss würden die Spuren ihrer Kufen genau überprüft werden, um die technische Präzision auf dem Eis zu bewerten, hat Nolan, unser Trainer, gesagt. Und das alles müssen sie auch noch synchron machen. Der Einfache Dreier und die Serpentine gelingen bereits recht gut, nur der Doppeldreier ist noch immer Helens Schwachpunkt.
»Zeig du noch mal«, jammert sie, nachdem sie ihre Spuren begutachtet hat. Ich wünschte, ich könnte es besser erklären, doch ich bin keine gelernte Trainerin und kann manchmal nicht in Worte fassen, wie ich es mache. Vielleicht geschieht es einfach aus dem Gefühl heraus? Ich versuche, ganz genau in meinen Körper zu horchen, und fahre den Doppeldreier so langsam wie möglich. »Und dann so«, ende ich, drehe mich um und bin schon ein wenig stolz auf die makellose Linie. Es ist gelungen, obwohl durch meinen Kopf weiterhin nur Benedict schlittert. Mal vor dem Eiffelturm, dann vor Schloss Neuschwanstein und schließlich vor dem Kolosseum, während begehrenswerte Frauen, eine schöner als die andere, ihn anlächeln und »Bonjour«, »Guten Tag« oder »Buongiorno« säuseln.
Helen seufzt und legt mit einer ihrer großen Gesten den Handrücken auf die Stirn. »Du solltest mit Henry antreten.«
Ich lache auf. Wie oft wollen wir noch darüber sprechen? Außerdem mögen mir zwar die Pflichtfiguren ganz gut gelingen, die Synchronität, die sie mit Henry schafft, würde ich jedoch nie erreichen. Die beiden wirken stets wie durch ein unsichtbares Band verbunden und genau so sollte es sein. »Du weißt, dass das nicht geht.«
»Wollen wir es gut sein lassen für heute?«, fragt Henry hoffnungsvoll. Er ist ein solider Läufer, führt präzise das aus, was von ihm verlangt wird, aber seine eigentliche Leidenschaft gilt der Mathematik. Er geht darin auf, stundenlang am Schreibtisch zu sitzen und irgendwelche Gleichungen zu lösen. Dennoch ist es Vaters ausdrücklicher Wunsch, dass die beiden an der Weltmeisterschaft teilnehmen. Da es mit mir, wie der ursprüngliche Plan war, nicht mehr geht, liegt es nun an den beiden, diese prestigeträchtige Auszeichnung für unsere Familie einzuholen. Und damit einen weiteren Schritt in Richtung Oberschicht zu tun.
Nicht nur deswegen widerspreche ich mit einem vehementen »Nein!«. So langsam geht mir auf, dass ich die kostbare Zeit, die mir mit Benedict bleibt, genießen muss. Die Weltmeisterschaft ist im Februar und wir haben bereits November. Das bedeutet, mir bleiben nur noch vier Monate, in denen ich mit ihm unter einem Dach sein kann.
Eine leise Stimme in mir widerspricht. ›Das reicht nicht!‹, flüstert sie. ›Du musst ihn auf dich aufmerksam machen.‹ Aber was soll ich tun? Ich kann schlecht zu ihm hinübergehen und fragen, ob wir auf dem nächsten Ball zusammen tanzen wollen.
»Wir üben noch einmal die dritte und die siebte Figur, die haben besonders schwierige Wendungen, und wenn ihr dort überzeugt, seid ihr dem Sieg ein großes Stück näher«, sage ich stattdessen.
Sie nicken und begeben sich auf ihre Positionen. Ich lasse mich zurückgleiten, um es mit Abstand begutachten zu können. Dabei kommt Benedict wieder in mein Sichtfeld, ich gleite direkt auf ihn zu. Unwillkürlich wandern auch meine Gedanken zu ihm. Wenn ich will, dass er mich auf seiner Grand Tour nicht vergisst, muss ich etwas finden, das mich aus der Masse herausstechen lässt. Bestenfalls müsste ich dafür sorgen, dass er sich noch vor seiner Reise in mich verliebt.
Nur wäre das viel zu riskant.
Ich kann es nicht tun.
Das wird mir sofort klar, als ich den Gedanken prüfe. Die Liste der Gegenargumente würde bis zum Boden reichen, wenn man sie notieren würde. Insbesondere mit dem, was einst war. Es ist zu heikel, zudem habe ich es Vater versprochen: Ich würde mir nichts mehr zuschulden kommen lassen, darf sein schwaches Herz nicht noch stärker belasten. Und wenn ich beim Zeigen meiner Gefühle auch nur einen Hauch zu offensiv wäre, würde dies einen Skandal nach sich ziehen. Einen Skandal erster Güte, der nicht nur mich, sondern meine gesamte Familie mitsamt meiner vierzehn Geschwister ins Unglück reißen würde, und der soziale Aufstieg wäre dann nicht mehr möglich.
Das kann ich nicht verantworten.
Kurz sehe ich zu Helen und Henry, nicke ihnen zu, da sie sehr präzise Linien auf dem Eis hinterlassen. Doch gleich danach wird mein Blick wieder wie magnetisch zu Benedict gezogen und ich beobachte verstohlen, wie er durch die Halle gleitet. Die Wangen leicht gerötet, seine Hände hat er locker hinter dem Rücken verschränkt, und er bewegt sich mit einer spielenden Leichtigkeit über das Eis, von der nur Gleichgesinnte wissen, wie viel Kraft sie erfordert. Kein Wunder, dass er weltweit als absoluter Favorit gehandelt wird. Er macht eine gekonnte Rückwärtsdrehung, und ich zucke stellvertretend zusammen, als Edgar brenzlig nah an ihn herankommt. Was für ein Trampeltier! Zum Glück fährt Benedict unbeeindruckt weiter, setzt zu einer Umrundung der gesamten Halle an, und ich muss meinen Blick fortreißen, da es viel zu auffällig wäre, wenn mein Kopf weiterhin seinen Bewegungen folgt.
Ich darf meine Gefühle nicht zeigen. Er müsste auf mich zukommen.
Eine Schwere breitet sich in mir aus, aber dennoch, einfach alles spricht dagegen, offensiver zu handeln. Selbst wenn es vielleicht helfen würde. Unter Umständen nimmt er mich nur nicht wahr, da ich ihm ebenfalls keinerlei Beachtung schenke. Weil es so sein muss. Ich kann für mein persönliches Glück nicht das Wohl von vierzehn Familien aufs Spiel setzen, denn schließlich muss ich die vorhandenen und potenziellen Familien meiner Geschwister mitzählen. Auch sie hätten darunter zu leiden, wenn man mir im besten Fall einen Mangel an Anstand und undamenhaftes Verhalten vorwerfen würde. Schlimmstenfalls würde man mir allerdings Koketterie oder frivoles Verhalten vorwerfen, und das wäre ein Skandal erster Güte. Schweren Herzens kehre ich Benedict den Rücken zu und gleite zu meinen Geschwistern, um ihnen zu helfen, ihre Haltung zu korrigieren.
Es geht schlichtweg nicht. Zu viel spricht dagegen. Für ein wagemutigeres Vorgehen spricht nur eine einzige Tatsache: Ich weiß, dass wir füreinander geschaffen sind.
Kapitel 2
Julianna
Hinter einem Baum verborgen, bleibe ich stehen und versuche zu lauschen, doch mein eigener Atem ist viel zu laut. ›Ganz ruhig!‹, mahne ich mich und schlage den Kragen meines viel zu grob gewebten Mantels noch höher. Alles an mir ist schwarz, nur das helle Gesicht könnte mich verraten.
Ein Schatten, gepaart mit einem Rascheln, lässt mich zusammenzucken. Doch als der Schatten ebenfalls hinter einem Baum verschwindet, wage ich es, zu flüstern. »Dorothy?«
Der Schatten löst sich vom Baum. »Nein, hier ist Mabel.«
»Wo sind die anderen?«
»Vielleicht sind sie schon weiter vorne?«, antwortet sie und ihre Stimme klingt irgendwie anders. Belegt. So etwas Großes wie heute haben wir uns aber auch noch nie vorgenommen. Und nun läuft es direkt am Anfang, der der leichteste Teil sein sollte, bereits schief. »Der Round Pond war offenbar nicht der beste Treffpunkt.«
Ich fluche leise, aber wir arbeiten uns dennoch weiter vor. Laufen geduckt weiter durch den Park.
»Da seid ihr ja!«, trompetet es viel zu laut von Tabitha mit ihrer energischen Stimme und ihre Schwester Lavinia mahnt sie mit einem lang gezogenen »Sch!« zum Leisesein.
Ich beiße mir auf die Zunge, um die Wahl des Treffpunkts nicht zu bemängeln, denn wir haben nicht viel Zeit. Um zwei Uhr muss ich spätestens mit der Arbeit anfangen. Nachts. Und wenn ich den Weg abrechne, müssen wir unser Vorhaben in einer Stunde fertigkriegen.
»Habt ihr alles dabei?«, fragt Mabel flüsternd, und aus dem Hintergrund tritt Nelly vor und hält einen Sack in die Höhe, klopft darauf, sodass es dumpf klirrt.
»Gut. Wir sind nun vollzählig, dann können wir gehen.« Dorothy, unsere Anführerin, geht voran und winkt uns zum Mitkommen. Sie hat eine hochgewachsene Gestalt und hält sich immer kerzengerade, wie meine Freundin Nikolett aus meiner Heimatstadt Wien. Nikolett ist eine echte Comtesse und ich habe sie vor zwei Jahren beim Eislaufen in Wien kennengelernt. Gemeinsam haben wir beim großartigsten Eisläufer aller Zeiten, Jackson Haines, trainiert. Jackson hat uns für einen Wettkampf einen ganz neuen Eislaufstil beigebracht, den er selbst erfunden hat. Und weil Nikolett und ich uns darüber angefreundet haben, hat sie versucht, mir zu helfen, Leopold, meinen späteren Verlobten, wiederzufinden. Schweren Herzens habe ich ihn und meine lieben Freundinnen in Wien zurückgelassen, um hier in London meine Mutter zu suchen. Und dabei habe ich Dorothy kennengelernt, die mich ein wenig an Nikolett erinnert. Allerdings muss Dorothy sich mittlerweile so wie ich als Arbeiterin durchkämpfen. Mit dem Unterschied, dass ich es nie anders kennengelernt habe, ich bin im Waisenhaus aufgewachsen und das Arbeiten gewohnt. Dorothy hat sich von ihrem Mann scheiden lassen und lebt nun in bescheidensten Verhältnissen und ohne ihre beiden Söhne, da sie nicht nachweisen konnte, dass ihr Gatte sich anderweitig vergnügt hatte. Immerhin ist es ihr gelungen, aus der Not eine Tugend zu machen, und sie schlägt sich seither als Haarkünstlerin durch. Sie kann ihre guten Kontakte in die gehobene Gesellschaft nutzen und wird, glaube ich, recht gut bezahlt. Ihre eigenen kunstvollen Frisuren, die durch die rote Haarfarbe noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind dabei die beste Visitenkarte.
Gerecht ist es trotzdem nicht.
Wir laufen auf leisen Sohlen direkt an der Mauer entlang. Dorothy holt immer wieder eine Taschenuhr hervor, wochenlang hat sie die Zeiten der Wachen studiert. Schließlich bleibt sie an einer Stelle stehen, wo die Mauer zur Hälfte bewachsen ist.
»Sobald es halb drei ist, haben wir circa zwanzig Minuten Zeit, so lange dauert der Wachwechsel. Zumindest glaube ich das. Hier lässt sich die Mauer am besten überwinden. Danach kommt, wie gesagt, der Park und dann sind wir direkt an der hinteren Außenmauer. Jede weiß, was sie zu tun hat?«
Wir nicken, einige sagen leise: »Ja.«
Dorothy atmet tief ein. Wir haben schon viel gewagt. Sind mit Farbeimern durch die Stadt gezogen, haben unsere Botschaften direkt auf Schaufenster geschrieben oder auf die Fronten öffentlicher Gebäude. Im Sommer haben wir Pflanzen ausgerissen, um auf die Zerstörung unserer Rechte hinzuweisen. Und wir haben unsere Forderungen in Statuen und Denkmäler geritzt oder geschrieben. Das alles mit einem Ziel:
Gehört werden.
Man soll uns endlich ernst nehmen und unsere Forderungen wahrnehmen.
Doch das meiste blieb ohne Erfolg. Daher planen wir jetzt unseren größten Coup, der mit Sicherheit Aufsehen erregen wird. Dann können sie uns nicht länger ignorieren.
»Ihr seid sicher, dass wir diesen Weg gehen wollen?«, fragt Dorothy mit feierlich gesenkter Stimme, bevor wir die Mauer erklimmen.
Und wir nicken wieder – bis auf Lavinia. »Also, wenn du so fragst …« Sie hat den Kopf zur Seite geneigt und legt jetzt einen Finger an die Lippe. »… vielleicht sollten wir doch noch einen Monat warten und dann unsere Botschaft in den Schnee pinkeln.«
»Lavinia!«, schimpft Tabitha. »Nicht der richtige Moment für Scherze!«
Sie hat recht, aber ich muss dennoch grinsen und ich freue mich, dass Lavinia uns mit ihrem Humor, wie so oft, ein wenig von der Spannung nimmt.
»Es ist halb drei, es geht los«, sagt Dorothy dann aber und sofort werden alle vollkommen ernst. Wie abgesprochen erklimmt Lavinia als Erste die Mauer, da sie klettern kann wie eine Katze. Sie lässt sich von Dorothy den Beutel reichen und wir alle zucken zusammen, als er mit einem viel zu lauten Geräusch auf der anderen Seite zu Boden fällt. Einen Moment lang sind wir alle erstarrt.
Doch es bleibt still.
Wir helfen uns gegenseitig über die Mauer. Meist geht es recht schnell, nur Mabel, die Älteste von uns, die bereits fünf Kinder geboren hat, braucht etwas länger. Keuchend kommt sie neben mir zum Stehen, und wir beeilen uns, die anderen einzuholen. Als wir durch den herrschaftlichen Garten zum Palast laufen, muss ich fast ausgelassen kichern. Doch mit einem eiskalten Schaudern erinnere ich mich, dass wir diesmal in der Falle sitzen, wenn uns jemand erwischt. Das ist vereinzelt zuvor auch passiert, aber Londons Gewirr aus Straßen bietet immer eine Möglichkeit zu entkommen, wenn man flink ist.
»Oh, sieh nur, das muss die Orangerie sein!«, sagt Mabel mit Blick auf ein längliches Gebäude mit vielen Fenstern. »Königin Anne hat sie errichten lassen. Da drin soll es die exotischsten Pflanzen und so prachtvolle Schnitzereien geben, dass einem der Mund vor Staunen offen stehen bleibt.« Mabel hat einen Sinn für das Schöne und Feine. Eigentlich gefällt es ihr gar nicht, dass wir in unserem Kampf sorgsam bepflanzte Beete und prächtige Statuen verunglimpfen. Aber sie versteht, dass das Ziel dahinter die Dinge entschuldigt. Irgendwie müssen wir schließlich auf uns aufmerksam machen.
Mabel wird so langsam, dass sie beinahe stehen bleibt, und ich ziehe sie am Ärmel weiter. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, erinnere ich sie in meinem mittlerweile ganz passablen Englisch. Seit fast einem Jahr lebe ich nun hier, nachdem ich in Wien aufgewachsen bin. Der begnadete Eisläufer Jackson Haines hat mir nicht nur eine gänzlich neue Art eiszulaufen, sondern auch ein wenig Englisch beigebracht. In der Anfangszeit war es recht schwer, mich durchzuschlagen, doch mittlerweile komme ich gut zurecht. Insbesondere nachdem ich auf einem meiner Botengänge Dorothy kennengelernt und von ihrer Gruppe erfahren habe. Suffragistinnen nennen sie sich, weil sie vor allem für das Frauenwahlrecht kämpfen. Wer hätte gedacht, dass es hier in London noch viel mehr Frauen gibt, die genauso denken wie ich? Oder vielleicht gibt es sie in Wien auch, aber die Vernetzung fehlt? So oder so, hier habe ich sie gefunden und unterstütze sie nur zu gerne auf ihrem Weg. Auch wenn es gefährlich ist. Das hier heute kann uns Kopf und Kragen kosten.
Wir passieren akkurat gestutzte Teppichbeete, die in der Dunkelheit alle grau oder schwarz wirken, aber die geometrischen Muster, die aus den kleinen Büschen gestaltet wurden, lassen sich trotzdem erkennen. Der Kies knirscht mit jedem Schritt, ganz gleich, wie sehr wir uns bemühen, und ich sehe, dass auch die anderen regelmäßig in alle Richtungen blicken, um nachzuschauen, ob auch wirklich keine Wachen überraschend auftauchen. Endlich haben wir die Außenmauer erreicht. Lavinia hält den Sack offen und jede holt sich einen der breiten Pinsel und eine der Farb- oder Teerdosen heraus. Ich muss lächeln, wie geübt wir darin mittlerweile schon sind.
Wie die Reiter der Spanischen Hofreitschule schwärmen wir aus und jede beginnt ihren Teil der Mauer zu bemalen. Ich tunke meinen Pinsel tief in den Teer, der stechende, erdige Geruch steigt mir in den Kopf, und renne mit dem Pinsel an der Wand los. Es ist egal, wie es aussieht. Hauptsache sie bemerken, dass wir hier waren. Und dass wir nicht aufgeben werden, bis wir bekommen, was uns zusteht.
Ich erreiche Tabitha, die eine Schablone aus Pappe dabeihat. Geschwind wie ein Wiesel tupft sie immer wieder unsere wichtigste Botschaft: »Votes for Women«. Ihre Schwester Lavinia hat auch eine Schablone und stempelt in rasender Geschwindigkeit: »No Votes, No Taxes«. Es ist der reinste Hohn, dass wir Steuern zahlen müssen, aber überhaupt keine Stimme haben. Inzwischen habe ich Tabitha weit hinter mir gelassen, erreiche mit meiner Schmierlinie Dorothy, die vom anderen Ende der Mauer auf mich zugerannt kommt. Hektisch kontrolliert sie die Uhrzeit. »Das sollte reichen für heute«, sagt sie, während sie die Taschenuhr wieder in die Rocktasche schiebt. Ich weiß, dass sie am liebsten ebenfalls Hosen tragen würde, wie Tabitha und Lavinia, aber in ihrem Beruf als Haarkünstlerin ist sie auf ein traditionelles Aussehen angewiesen.
»Rückzug«, hisse ich Tabitha entgegen und sie gibt die Botschaft Stille-Post-artig weiter. Kurze Zeit später stehen wir wieder auf dem Kiesweg, blicken noch einmal zurück auf unser Werk. Der Kensington Palace, das Geburtshaus von Königin Victoria, übersät mit Linien, Punkten und Parolen, als hätte er Windpocken. Oder die Krätze. Für den Palast tut es mir fast leid, aber wir und andere Frauenvereine haben lang genug mit friedlichen Demonstrationen und Petitionen versucht, die Gesellschaft zu ändern. Nichts hat sich getan. Daher ist es nun an der Zeit für Taten! Taten, die sich nicht länger ignorieren lassen.
»Ich wünschte, ich könnte ein Foto für das Feminist Forum machen«, sagt Nelly seufzend. »Die würden staunen.« Im kommenden Monat würden sämtliche Frauenrechtlerinnen der Stadt auf einem großen Treffen im Crystal Palace zusammenkommen und mit den Gegnerinnen diskutieren, und wir wollen das Treffen nutzen, um zu überzeugen, dass radikalere Strategien uns schneller voranbringen.
»Wir kriegen unser Foto schon noch. So wie der aussieht, ist er morgen auf der Titelseite sämtlicher Zeitungen.« Mabel nickt grinsend zum beschmierten Palast. »Macht sich aber gut so.«
Ich stimme ihr zu. »Habe mir schon gedacht, dass der uralte Kasten mit ein bisschen Farbe wie neu wirkt.«
Die anderen schmunzeln und unser eigentlicher Gruppenclown Lavinia nimmt den Faden sofort auf. »Michelangelo würde vor Neid erblassen. Vermutlich engagieren sie uns bald, um die Deckenfresken zu bemalen.«
Wir lachen leise – bis das Aufblitzen einer Laterne uns abrupt verstummen lässt.
»Da sind Eindringlinge!«, ruft eine raue Männerstimme und eine zweite kommt prompt hinterher. »Stehen bleiben! Bleiben Sie auf der Stelle stehen!«
Natürlich pesen wir auf der Stelle los, angetrieben vom Klang der schnellen Schritte hinter uns, die immer näher zu kommen scheinen.
»Das schaffe ich nicht«, japst Mabel schon von Weitem mit Blick auf die Mauer. Sie ist etwas kräftiger gebaut und hat schon beim Hinweg mehrere Versuche benötigt. Lavinia hingegen ist bereits oben, liegt mit dem Bauch auf der breiten Mauer und streckt die Hand aus. Tabitha ergreift sie sofort und ist drüber. »Oh nein«, keucht Dorothy und presst eine Hand gegen ihre Niere.
Anstatt Mabel mit Worten Mut zuzusprechen, renne ich zur Mauer und kauere mich davor zusammen, sodass die anderen mich als Leiter benutzen können. Wir hören die Rufe der Männer, sie müssen jeden Moment hier sein, und so bleibt den anderen keine Zeit für Protest. Ich mag klein und zierlich sein, aber ich bin durch mein tägliches Eislauftraining einiges gewohnt.
Im nächsten Moment spüre ich Gewicht auf meiner Hüfte, nur eine Sekunde und Dorothy ist ebenfalls drüber, dicht gefolgt von Nelly. Jetzt kommt Mabel. Doch ihr Gewicht ist nicht nach einem Wimpernschlag verschwunden. Ich höre sie ächzen. »Ich … schaffe es nicht«, sagt sie und die Anstrengung verzerrt ihre Stimme. Verdammt, sie erreicht Lavinias Hand nicht.
»Komm, es fehlt nur ein kleines Stück!« Die deutliche Furcht in Lavinias Stimme lässt Übelkeit in mir aufsteigen. Wenn sie uns hier erwischen, ist alles vorbei, wird mir klar. Dann kann ich die Suche nach meiner Mutter vergessen. Und – der Gedanke schnürt mir die Kehle zu – ich würde Leopold nie wiedersehen. Meinen geliebten Leo, der in Wien auf mich wartet und mit dem ich jede Woche Briefe austausche. Natürlich hätte mir all das schon früher klar sein sollen, aber bisher habe ich immer problemlos entkommen können, ich bin flink, man erwischt mich nicht so leicht. Mein Herz schlägt so schnell wie nie zuvor in meiner Brust.
Nicht weit von mir höre ich den Kies rhythmisch knirschen. Ein Hund bellt ohrenbetäubend laut. Wo kommt der denn plötzlich her? Haben sie Verstärkung holen lassen? Hoffentlich nicht.
Mabel wimmert, das Gewicht wird mal schwerer und dann wieder leichter. Schließlich höre ich die barsche Stimme der Wachmänner. »Da sind sie!«
»Julianna, geh du!«, sagt Mabel und will von meinem Rücken klettern.
»Niemals«, antworte ich entschieden. Hier wird niemand zurückgelassen. Die fast greifbare Bedrohung gibt mir die Kraft für etwas Unmögliches. Ich stemme mich aus der Hockposition auf, schiebe Mabel Zentimeter um Zentimeter nach oben.
»Ich hab dich!«, ruft Lavinia schließlich und im nächsten Moment verschwindet das Gewicht von meinem Rücken. Ich muss warten, bis Mabel auch ihre Beine auf die Mauer geschoben hat.
Und genau in diesem Moment schälen sich die Wachmänner aus der Dunkelheit. Es sind drei. »Was habt ihr hier zu suchen?«, ruft der größte von ihnen, der mich um zwei Köpfe überragt.
›Das wird euch sicherlich noch auffallen‹, schießt es sarkastisch in meinen Kopf, doch nun ist die Mauer frei. Ich erklimme sie mit einem katzenartigen Sprung und finde im nächsten Moment Lavinias Hand, die meine packt. Ich schiebe meinen Bauch auf die Mauerkante, und eine Sekunde später könnte ich auf der anderen Seite unten sein – wenn nicht ein plötzliches Gewicht an meinem Knöchel jegliche Bewegung verhindern würde. Ich spähe über die Schulter. Einer der Wachmänner hat meinen Fuß gepackt und grinst mich an. ›Damit hast du wohl nicht gerechnet‹, sagt sein Blick.
Ich hole aus. Mit aller Macht meiner Muskeln trete ich gegen seine Brust und er taumelt nach hinten. Kaum bin ich frei, schiebe ich schwer atmend meinen restlichen Körper auf die Mauer. Der Wachmann hat sich inzwischen gefangen, sieht mich verdattert an.
›Damit hast du wohl nicht gerechnet‹, sagt mein Blick. Wie hätte er ahnen können, dass meine schmalen Beine durch tägliches Sprungtraining mehr Kraft haben, als man auf den ersten Blick vermuten würde?
»Komm!«, ruft Lavinia und zeitgleich springen wir von der Mauer.
»Gott sei Dank«, höre ich Dorothy murmeln.
Wir rennen durch den Park, bis meine Lunge brennt und ich nur noch japsend atmen kann. Hinter einer Baumgruppe bleiben wir stehen. Jede von uns hält sich den Bauch oder stützt sich auf die Oberschenkel bei dem Versuch, zu Atem zu kommen. Der Schweiß rinnt mir über den Rücken.
»Das war knapp«, sage ich, als ich wieder sprechen kann.
»Dem hast du es ordentlich gegeben«, entgegnet Lavinia feierlich und strahlt mich an.
Ich nicke – aber ein ungutes Gefühl bleibt doch in meinem Magen zurück. Bin ich zu weit gegangen? Ich habe nur dieses Jahr, um meine Mutter zu finden. Das sollte ich besser nicht im Zuchthaus verbringen.
Andererseits würde sich in der Gesellschaft nie etwas ändern, wenn alle Menschen sich von ihrer Angst lähmen lassen.
Kapitel 3
Madge
Nach dem Training pauken Helen und ich zwei Stunden lang Latein, da Vater sehr viel Wert auf eine klassische Bildung legt. Noch mögen wir nicht ganz zur gehobenen Klasse gehören, aber für höhere Töchter gehört dies dazu, um kulturelle Werte zu erfassen, und dem sollten wir um nichts nachstehen. Nur merkwürdigerweise schmunzelt Helen dezent, während sie im Wörterbuch liest. Sie blättert auch nicht darin, sondern scheint es direkt zu verschlingen. Ich stehe auf, gehe zur Wasserkaraffe auf der Kommode und sehe dabei unauffällig über meine Schulter.
»Das glaube ich ja nicht!«, rufe ich im nächsten Moment, stürme zu Helen hinüber und fische das dünne Buch aus dem dicken Wörterbuch.
»Wir sollen lernen und nicht lesen! Das haben wir Vater versprochen«, belehre ich sie, während sie quietschend versucht, es wiederzuerlangen.
»Du vielleicht. Ich finde, nach dem harten Training sollte etwas Müßiggang erlaubt sein«, protestiert Helen hochspringend.
Doch als sich die Tür öffnet, verberge ich das Büchlein sofort hinter dem Rücken.
»Was ist hier los?«, fragt Vater und sieht mich misstrauisch an.
»Nichts, wir wollten gerade aufbrechen. Zum Verein«, erkläre ich, und das ist zum Glück keine Lüge.
»Und dabei bin ich ganz fürchterlich gestolpert«, ergänzt Helen, die lügen kann, ohne rot zu werden. »Fast hätte ich mir den Fuß gebrochen.«
Am liebsten hätte ich ihr gegen den Fuß getreten. Sie konnte uns doch nicht mit der einen Ausrede in eine neue Bredouille bringen. Vaters sämtliche Hoffnungen liegen auf der Eislauf-Weltmeisterschaft und ein gebrochener Fuß wäre noch schlimmer als Müßiggang.
»Certe, pater. Studere linguam Latinam mihi non solum utilitatem sed etiam gaudium afferet«, sage ich rasch und das scheint ihn zu besänftigen.
»Was hast du ihm eigentlich gesagt?«, erkundigt Helen sich, als wir wenig später zur St.-Mary-Abbots-Kirche gehen, wo zweimal in der Woche unsere Union for Opposing Woman Suffrage, eine Verbindung der Antisuffragetten, tagt.
»Das weißt du noch immer nicht?«, frage ich zurück und sie verdreht die Augen.
»Ist ja nicht jeder solch eine Musterschülerin wie du.«
Ich schlucke. Weiß, dass sie es nicht böse meint, dennoch erinnert es mich daran, dass es nicht immer so war, daher nehme ich die Studienzeiten auch so ernst. Genauso wie unseren Skating Rink. Ich muss Vater beweisen, dass er sich nicht in mir geirrt hat und stolz auf mich sein kann. Deswegen haben wir uns für heute freiwillig gemeldet.
Heute ist nämlich kein reguläres Treffen der Antisuffragetten, aber letzten Monat haben wir beschlossen, mehr Werbung für unser Anliegen zu machen. Die Suffragetten, wie wir sie nennen, greifen mit ihren absurden Vorstellungen immer stärker um sich. Als zweite Vorsitzende bin ich natürlich ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, Handzettel zu verteilen, wo wir auf unsere Treffen aufmerksam machen. Helen kommt ebenfalls mit, genauso wie Beatrice Babington, die Tochter unseres Aufsehers im Prince’s Skating Rink, die die erste Vorsitzende ist.
Ich öffne den Karton mit den Handzetteln, die ich von den Spendengeldern habe drucken lassen, und händige jeder einen dicken Batzen aus.
»Müssen es solche Unmengen sein?«, jammert Helen und tut so, als würde sie unter der Last zusammenbrechen. »Dann stehe ich ja in drei Jahrzehnten noch da.«
»Willst du unser Anliegen nun verbreiten oder nicht?«, frage ich sie, wohl wissend, dass sie es schon möchte, aber am liebsten, ohne dafür einen Finger zu krümmen. Aber Vater würde stolz sein. Erst neulich haben die Suffragetten eine Häuserreihe, deren Bauherr er war, beschmiert, was den Verkauf erheblich erschwerte. Und das, obwohl er es ohnehin nicht leicht hat. Wegen seines schwachen Herzens ist er immer wieder über Wochen im Krankenhaus. Deswegen macht es mich glücklich, ihn glücklich zu sehen, und es macht mir nichts aus, diese Extraarbeit zu leisten, wenn es um einen guten Zweck geht.
»Schenk den Menschen einfach dein ganz spezielles Lächeln, dann werden dir die Zettel ohnehin aus der Hand gerissen«, schlägt Beatrice Helen vor.
Ich unterdrücke den Einwurf, dass wir aber nur Frauen anwerben wollen und keine Männer, bei denen Helens Lächeln vor allem wirkt, und kehre zum eigentlichen Thema zurück. »Wir arbeiten uns langsam die Kensington High Street hinunter. Wenn danach noch Zeit übrig ist, gehen wir in den Holland Park.«
Wenig später schlendern wir die geschäftige Hauptstraße unseres Viertels entlang und halten allen behandschuhten Damen mit feinen Hüten unseren Handzettel entgegen, der in seiner bunten Mischung aus unterschiedlichen Schriftarten, -größen und -stilen Reklame für unseren Verein macht. Die meisten nehmen ihn höflich an, aber ich weiß, dass er in nicht seltenen Fällen in den nächsten Abfalleimer wandern wird, selbst wenn wir politisch auf einer Linie sind. Aber Engagement ist immer mit Aufwand verbunden.
Wir passieren eine Apotheke und ich bleibe stehen, um die Reklametafel genauer zu lesen. »Aus der Pechmarie wird im Handumdrehen die Goldmarie«, steht dort geschrieben und die Bilder veranschaulichen, wie man aus schwarzen Haaren goldblonde machen kann. Für einen Moment blitzt das Bild von Benedict in mir auf, wie er auf dem letzten Ball die goldblonde Ada angelächelt hat.
»Was ist?«, fragt Beatrice. »Du willst doch nicht etwa deine wunderschönen schwarzen Haare färben?«
»Oh, da habe ich ganz grauenvolle Schauermärchen gehört«, wirft Helen umgehend in dramatischer Flüsterstimme ein. »Einer jungen Frau sollen nicht nur sämtliche Haare, sondern auch die Kopfhaut abhandengekommen sein.« Sie blickt nach links und nach rechts und sieht uns dann aus weit aufgerissenen Augen an. »Die Leute im Dorf sollen schreiend vor ihr davongelaufen sein, da sie glaubten, dem Leibhaftigen gegenüberzustehen!«
»Helen«, mahne ich, da ich ihr schon oft gesagt habe, dass sie nicht immer dermaßen übertreiben soll.
»Ja, was? Genau so hat es sich zugetragen. Einen Ehegatten konnte sie so natürlich nicht mehr ergattern.« Und das wäre in Helens Augen das Schlimmste, was einem passieren könnte. Deswegen ist sie stets auf der Suche, um das Beste vom Markt zu bekommen, was sie kriegen kann.
Fast schon mechanisch halte ich der nächsten Passantin meinen Handzettel hin. Im letzten Moment ziehe ich ihn aber wieder zurück. Noch gerade rechtzeitig habe ich erkannt, dass die Frau Hosen trägt. Sie würde unsere Sache gewiss nicht unterstützen.
Dennoch bleibt sie stehen und zieht eine Augenbraue in die Höhe. Mir fällt auf, dass sie unter dem rechten Auge ein großes Muttermal hat, das fast wie unsere Insel geformt ist.
»Wie?« Sie stemmt ihre Hände in die Hüften. »Jetzt darf ich es doch nicht sehen?«
»Ich denke, es wird bei Ihnen nicht auf Interesse stoßen«, sage ich und will weitergehen.
»Das würde ich gerne selbst entscheiden.« Blitzschnell reißt sie mir den Zettel aus der Hand und wirft im nächsten Moment ihre Spirallocken in den Nacken. »Rettet unsere Familien?«, fragt sie und ihre Augenbrauen wandern noch höher.
»Wenn die gesamte Gesellschaft sich ändert, ist nicht gesichert, wie es sich auf das soziale Gefüge auswirkt und was mit den Familien geschieht«, erkläre ich. »Die Einführung des Frauenwahlrechts könnte schlimmstenfalls sogar zu Unruhen führen.«
Bedauernd sieht sie mich an. »Hat dein Daddy dir das gesagt?«
»Ts! Ich bin zweite Vorsitzende unserer Union for Opposing Woman Suffrage und gut in der Lage, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen.« Dann trete ich einen Schritt auf sie zu, denn wenn die Zeit mit Edgar mich eines gelehrt hat, dann ist es, Kontra zu geben. »Und was ist bitte schön mit deinen Hosen? Hast du die deinem Daddy geklaut? Denkst du, es bringt euch voran, wenn ihr die Männer imitiert?«
Sie verschränkt die Arme. »Die von der Gesellschaft für angemessen erachteten Frauenkleider sind doch alle veraltet!«
»Man könnte auch sagen, sie sind bewährt.«
»Sie sind allemal darin bewährt, uns zu behindern. Eine Freundin von mir will Gärtnerin werden, kann sich aber dank des Korsetts kaum bücken und mit dem Rock bleibt sie ständig überall hängen!«
»Aber das Korsett ist unsere eigene Wahl, um gut auszusehen. Niemand zwingt uns, es zu tragen«, erinnere ich die inzwischen reichlich echauffierte Frau.
»Ach nein? Dann geh doch mal auf den nächsten Ball ohne Korsett. Wir werden ja sehen, was das auslöst.«
Allein der Gedanke lässt mich erschaudern. Natürlich wäre das ein Skandal. Ohne Korsett … das geht nun wirklich nicht. Aber sie vergisst etwas Entscheidendes. »Das gilt doch für die Männer genauso. Würde da jemand ohne Frack oder Fliege kommen, würde die Gerüchteküche ebenso brodeln.«
»Aber da sind es eben nur Gerüchte. Zudem ist eine Fliege nicht so gesundheitsschädlich wie ein Korsett«, die Frau hebt den Zeigefinger, als müsste sie mich belehren, »und die Männerkleidung behindert einen nicht in dem, was man tut.«
»Dann soll deine Freundin eben Arbeitskleidung tragen, dafür müssen wir aber noch lange nicht die gesamte Gesellschaft umkrempeln. Denn das wird ihr Chef ebenso erkennen, wenn er nicht völlig auf den Kopf gefallen ist.« Helen und Beatrice nicken heftig und ich sehe sie triumphierend an.
Die Frau streicht aber nur ihre Locken aus dem Gesicht, wendet sich ab und murmelt: »… frage mich, wer hier auf den Kopf gefallen ist …«
Schon lange liege ich in meinem Bett, doch der Schlaf will nicht kommen. Der Kommentar der dreisten Frau heute Nachmittag hat mich zwar verärgert, aber was mich nicht loslässt, ist der Gedanke an Benedict. Zeit ist wie ein Duft, sie ist da, aber nicht greifbar. Man kann sie nicht aufhalten oder auch nur lenken. Nicht einmal mehr vier Monate und Benedict ist bis auf unbekannte Zeit verschwunden.
Mit dem unguten Gefühl im Magen werfe ich mich auf die linke Seite, ziehe die Decke noch etwas höher, es ist wirklich eisig heute Nacht, und denke nach. Entwirre meine Gedanken und breite sie fein säuberlich vor mir aus.
Benedict ist nur noch kurze Zeit in der Stadt und ich möchte ihn unter keinen Umständen verlieren. Gleichzeitig darf ich als Frau meine Gefühle nicht offenbaren, zumal ich meinem Vater hoch und heilig versprechen musste, mich zu benehmen. Für ihn als sehr moralischen Menschen war mein Vergehen von damals noch einmal schlimmer, als es ohnehin gewesen wäre. Und wegen seines schwachen Herzens darf ich seine Nerven nicht strapazieren.
Es ist die reinste Zwickmühle!
Dennoch muss ich irgendwie einen Schlachtplan entwickeln. So wie beim Training. Da haben wir uns auch angeschaut, welche Übungen wir brauchen, wie viel Zeit uns noch bleibt, und die Trainingseinheiten entsprechend geplant, sodass man stetig vorankommt und sich nicht verzettelt.
Ruckartig setze ich mich auf. Das ist es!
Ich würde planen, welche Schritte ich in die Wege leiten kann, um Benedicts Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen – ohne dabei zu offensichtlich zu handeln. Wie auf Samtpfoten würde ich vorgehen und dabei gleichzeitig mein Gefieder spreizen und zeigen, was ich zu bieten habe. Wie ein Pfau. Ich wäre ein weiblicher männlicher Pfau auf Samtpfoten. Und dann würde ich gelassen warten, bis er auf mich zukommt. Ansonsten hätte ich ihn längst fünfmal hintereinander zum Tanzen aufgefordert, aber wenn überhaupt, gab es ohnehin nur bei moderneren Bällen höchstens einmal am Abend die Damenwahl, und das wäre viel zu forsch. Ich muss geschickter vorgehen. Leise schlage ich die Bettdecke zurück, um Helen und Danielle nicht zu wecken, die mit mir das Zimmer teilen, tapse zum Sekretär und greife mir ein Notizbuch mit Bleistift. Ich husche zurück ins Bett, lehne mich an das Kopfteil und überlege. »PlanB«, schreibe ich in großen Lettern auf den oberen Rand.
Wie mache ich Benedict unauffällig auf mich aufmerksam? Als Erstes kommt mir das Aussehen in den Sinn, es ist nun mal der Ausgangspunkt eines jeden Kennenlernens. Solange ihm mein Aussehen nicht zusagt, wird er sich nie in mich verlieben. Leider habe ich tatsächlich den Verdacht, dass ihm vor allem Frauen mit blonden Haaren gefallen. Wann immer er öfter als einmal mit einer Frau tanzt, ist es meist mit einer blonden Frau, und ich habe ihn zudem mit der blond gelockten Camille van Hagen einmal im Theater gesehen. Leider habe ich kohlrabenschwarze Haare, die höchstens in der prallen Sonne braun schimmern. Und die Kamillenbäder haben nichts gebracht, außer dass die Haare tagelang nach Kamille rochen, was mir Kopfschmerzen bereitet hat. Das Haarfärbemittel aus der Apotheke kommt mir wieder in den Sinn. Bisher war es auch mir etwas suspekt, aber nun, da mir die Zeit davonläuft, muss ich handeln.
»Haare«, notiere ich als ersten Punkt. Zudem muss ich meine Diät offenbar noch verstärken, denn ganz so schmal wie Ada bin ich noch lange nicht. Das Training und die Zeit auf dem Eis machen mich oft so unglaublich hungrig.
Des Weiteren muss ich so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen, überlege ich und notiere auch das. Wir sehen uns zwar täglich auf dem Eis, aber dort gibt es wegen des Aufsehers selten Gelegenheit, sich zu unterhalten. Ich muss zu jedem Ball, den er aufsucht, in jede Theatervorstellung, auf jedes Konzert und zu jedem Salon!
Kurz stutze ich.
Das klingt irgendwie … ungesund. Und wenn ein junger Mann um eine Frau wirbt, taucht er ebenfalls überall auf, wo sie ist – vielleicht wäre es also zu offensichtlich und ich sollte möglicherweise nur jeden zweiten Ball nehmen. Auf welchem Ball war er zuletzt? Ich taste nach meiner Handtasche, um in meinem Tagebuch nachzusehen – und erstarre.
Sie ist nicht an ihrem Platz.
Ich runzle die Stirn, ziehe die Schubladen meines Nachtkästchens auf, obwohl sie viel zu klein für meine Tasche sind, schaue unters Bett und falle dabei fast heraus, aber auch hier ist sie nicht. Zügig werfe ich mir meinen dicken Morgenmantel über und schleiche nach unten. Auch an der Garderobe hängt sie nicht. Oh nein. Oh nein, oh nein, oh nein. Ich habe sie im Prince’s Skating Rink liegen lassen. Mir steht es jetzt ganz klar vor Augen, ich habe mit Henry und Helen den Klub verlassen und nicht mehr an die Tasche gedacht. Ausnahmsweise. In meinem Kopf war nur Benedict und das herannahende Desaster.
Nun könnte allerdings ein ganz anderes Desaster herannahen, ich kann es mir genau vorstellen. Einer der jungen Herren, die meist etwas früher beim Training sind, entdeckt die Tasche, wirft einen Blick hinein – und natürlich, wenn man darin ein kleines Büchlein entdeckt, würde man es zumindest kurz durchblättern.
Und dann bedürfte es nicht mehr viel, um über den verräterischen Namen zu stolpern. Herrje, warum habe ich darin so viel von ihm geschwärmt? Und dabei keinen Decknamen verwendet? Dicht dabei stehen zudem Worte, die mir so peinlich sind, dass ich unwillkürlich auf den Boden sinke und das Gesicht in meinen Händen vergrabe. »Sehnsucht«, würden sie lesen. »Herzschmerz«. »Die Liebe meines Lebens«. Und andere kitschige Dinge, die nie für die Augen anderer bestimmt waren, dennoch meine Gedanken verlassen mussten, wenn ich nicht platzen wollte.
Das darf alles nicht wahr sein! Das ist der einzige Gedanke, der nun in meinem Kopf seine einsamen Bahnen zieht. Bis mir die Lösung klar vor Augen steht: Ich muss meine Handtasche wiederhaben.
Eigentlich darf ich das Haus alleine nicht verlassen, nachts schon gar nicht, aber wenn ich die Wahl habe zwischen einem Donnerwetter meines Vaters – das im besten Fall sogar ausbleibt, weil er es nicht bemerkt – und dem Spott und Hohn der anderen, inklusive Benedict, dann entscheide ich mich für Ersteres.
Kurze Zeit später habe ich mich angezogen und bin draußen, der Novemberwind ist nun so eisig, dass er mir ins Gesicht zu beißen scheint. Ich war noch nie nachts alleine auf der Straße, wird mir klar. Generell war ich noch nie alleine unterwegs, mindestens eine meiner Schwestern ist immer dabei. Davon unbeirrt schreite ich mit schnellen Schritten voran. Normalerweise fahren wir zehn Minuten mit der Kutsche, ich weiß nicht, wie lange ich zu Fuß benötige, gehe aber von etwa einer halben Stunde aus. Ich habe keine Ahnung, wie ich in das Gebäude kommen soll. Die Türen würden sie sicherlich abschließen. Ob es eine Art Hausmeister gibt? Vielleicht kann ich ein Fenster aufdrücken oder die Tür mit einer Haarnadel öffnen, wie sie es in Büchern stets tun?
Während des gesamten Weges zerbreche ich mir den Kopf, wie es gelingen könnte. Ich hätte mit allem gerechnet – nur nicht mit dem Bild, das sich mir dann bot. Als ich Prince’s erreiche, liegt der Skating Rink erleuchtet vor mir.
Ich trete ans Fenster – und mir bleibt der Atem weg.
Kapitel 4
Julianna
Wie immer verfehlt das Tanzen auf dem Eis seine Wirkung auf mich nicht. Eigentlich werde ich dafür bezahlt, im Prince’s Skating Rink das Eis zu glätten, aber natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, vorher ein paar Runden eiszulaufen. Es darf nur keiner bemerken. Doch wer ist um diese Uhrzeit schon noch wach? Und nach dem riskanten Unterfangen heute brauche ich das Training umso mehr. Zuerst bin ich noch ganz zittrig, spüre immer wieder den festen Griff des Wachmanns um meinen Knöchel. Doch mit jedem Gleitschritt über das Eis kehrt die Ruhe in mich zurück.
Ich werde wieder ich.
Vielleicht auch, weil mich das Eislaufen unumstößlich an Leo erinnert. Schließlich haben wir uns in Wien beim Eislaufen kennengelernt. Wie es ihm wohl gerade geht? Sein Großvater war nicht begeistert, dass wir uns verlobt haben. Schließlich bin ich nur eine Arbeiterin und Leo wird die Fabrik der Familie erben – auch wenn er das gar nicht will.
Im letzten Winter hat er auf dem Fabrikgelände eine Natureisfläche errichtet und momentan versucht er sich an einer eigenen Eishalle mit Kunsteis, so wie sie bei Prince’s ist. Die Kunsteisfläche hier in einer überdachten Halle ist eine Sensation und Leo wollte in seinem Brief alles ganz genau wissen. Welches Kühlsystem verwendet wird, welche Inhaltsstoffe dem Wasser zugesetzt wurden, wie hoch der Energieverbrauch ist … Leider konnte ich die meisten seiner Fragen nicht beantworten. Nur was die Wartung betrifft, kenne ich mich ein wenig aus, das ist immerhin Teil meiner Aufgabe. Ich prüfe die Dicke des Eises, kontrolliere die Temperatur, und vor allem sorge ich dafür, dass es wieder spiegelglatt wird. Aber natürlich erst, nachdem ich gefahren bin.
Ich laufe einen Dreier und gleich danach eine Schleife. Eigentlich läuft man jede Figur gesondert, ich vereine sie aber gerne zu einer ganzen Kür, da ich die Geschwindigkeit so mag. Nur dann fühle ich mich richtig lebendig. Ich bin gerade mitten im Rocker – als heftiges Pochen gegen das Fenster mich zusammenzucken lässt. Dadurch komme ich schräg auf der Kufe auf, gerate ins Straucheln und mache mehrere Stolperschritte, kann mich aber noch abfangen.
Was war das? Ein Vogel, der gegen die Scheibe gedonnert ist? Um diese Uhrzeit müsste es allerdings eher eine Fledermaus sein, überlege ich, als es erneut klopft. Mit gezielten Schritten laufe ich auf das Fenster zu, betrete mit meinen Schlittschuhen den Boden, obwohl das nicht gut für die Kufen ist, um näher heranzugehen. Zu meiner Überraschung entdecke ich in der Dunkelheit eine junge Frau. Ihr helles Gesicht lächelt mir unter einer immensen Tolle aus schwarzem Haar entgegen, und sie bedeutet mir, das Fenster zu öffnen.
Mist! Wenn sie dem Besitzer der Halle erzählt, dass ich hier nachts eislaufe, bevor ich die Eisfläche wieder glatt ziehe, wird er mich gewiss rauswerfen. Aber ich darf nach all der harten Arbeit mein Training nicht vernachlässigen. Was soll ich nur tun? Da ich ihr schlecht den Rücken zuwenden und meiner Arbeit nachgehen kann, löse ich zögerlich den Haken und öffne das Fenster.
»Gott sei Dank, dass du hier bist«, platzt es aus ihr heraus, bevor ich etwas sagen kann. Sie hat eine überraschend tiefe und sehr markante Stimme. »Ich habe meine Handtasche vergessen und müsste sie dringend abholen.«
Ich mustere sie skeptisch. Vor dem eleganten Wollmantel baumelt ein riesiger Fellmuff. Sie hat glänzende Haare und zarte Hände, die mit Sicherheit noch nie den Boden gescheuert haben. Vielleicht keine höhere Tochter aus dem Hochadel, aber gewiss aus einem sehr guten Hause mit dazugehörigen Benimmregeln im Inventar. Es wundert mich, dass sie zu nachtschlafender Zeit alleine unterwegs sein darf. Nervös blickt sie über die Schulter nach hinten. Aha! Vermutlich darf sie genau das nicht.
»Darf ich reinkommen?«, fragt sie zaghaft und ich muss freudlos lachen, da es so klingt, als würde der Prince’s Skating Rink mir gehören und sie käme zum Kaffeekränzchen vorbei.
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Eigentlich nutze ich eine Notsituation nicht aus, aber ich habe zu viel zu verlieren. »Wenn … wenn du niemandem verrätst, dass ich … dass ich eisgelaufen bin …«
Sie hätte wütend werden können, dass ich Bedingungen stelle, stattdessen bekommt ihre Miene etwas Verschwörerisches. »Solange du niemandem verrätst, dass ich mitten in der Nacht hier war …«
Lächelnd mache ich einen großen Schritt nach hinten und gestikuliere in den Innenraum. Gemeinsam gehen wir an dem von hölzernen Schmucksäulen geschützten Sitzbereich für die Zuschauer entlang, wobei ich so schnell wie möglich wieder auf die Eisfläche zurückkehre, um meine Kufen zu schonen.
»Ich geh dann mal …« Sie deutet mit dem Kinn in Richtung der Umkleideräume, wo sie offenbar die Tasche hat liegen lassen, und ich drehe ein paar letzte Runden auf dem Eis, bevor ich mich an die Arbeit mache.
Erst als ich meine kleine Kür nach einer tiefen Pirouette – die Spezialität meines Lehrers Jackson Haines – beende, merke ich, dass die junge Frau mich anstarrt. In etwa so müssen Nikolett und ich ausgesehen haben, als wir Jackson damals beim Wiener Eislauf-Klub zum ersten Mal gesehen haben.
Sie schüttelt sich leicht und schnappt nach Luft. »Du liebe Güte! Das war … das war … faszinierend.«
Ich lächle und bekomme ein warmes Gefühl im Bauch.
»Wo hast du gelernt, so zu laufen?«
»In Wien«, erkläre ich ihr. »Wir hatten einen sehr begabten Lehrer aus Amerika. Er hat den Balletttanz mit dem Eislauf kombiniert. Man nennt es mittlerweile die Wiener Schule.«
»D… d… das … das musst du mir zeigen.« Ohne meine Antwort abzuwarten, steuert sie die Theke mit den Kufen zum Ausleihen an, schwingt sich samt ihrem mehrlagigen Rock darüber und kommt mit einem Paar Kufen in der Hand zum Rand der Eisfläche und schnallt sie um.
»Das wäre allerdings das erste Problem.« Ich deute auf meine Schlittschuhe. »Mit Kufen geht es leider nicht so gut. Man hat viel mehr Standfestigkeit, wenn man die Kufen mit den Schuhen fest verschraubt. Außerdem muss ich jetzt eigentlich anfangen, das Eis zu glätten, sonst reicht die Zeit nicht mehr.«
»Bitte! Ich muss das unbedingt lernen. Ich … ich kann auch schon Ballett, habe mit sechs Jahren damit angefangen. Wenn ich das meinen Geschwistern zeige … Ich bin sicher, dass sie die Weltmeisterschaft gewinnen würden. Ach was sage ich denn, du solltest antreten! Hast du einen Partner?«
Ich senke den Blick. Ihre Begeisterung gefällt mir, und ich möchte jetzt nicht darauf hinweisen, dass ich mir ja nicht einmal ein Fahrticket in den Süden von London leisten kann.
»Nun gut, wenn es dir so wichtig ist …« Ich zeige ihr zunächst die veränderte Grundhaltung, die in der Wiener Schule sehr viel lockerer und nachgiebiger ist als im eher steifen englischen Stil. Sie ahmt sie nach und ich sehe sofort, dass sie nicht nur eine geübte Balletttänzerin ist, sondern auch seit den jüngsten Jahren auf dem Eis steht. Zudem lernt sie unglaublich schnell, fast bin ich ein wenig neidisch.
»Unglaublich, das macht ja so viel mehr Spaß«, ruft sie mir eine Viertelstunde später ausgelassen zu, nachdem sie vorsichtig eine erste Wendung versucht hat.
Da kann ich nur zustimmen.
»Ich wünschte, wir könnten Stunden bei dir nehmen«, überlegt sie laut. »Wir haben zwar einen Trainer, aber man merkt ihm richtig an, dass er eigentlich keine Lust hat, und er gibt nur notdürftige Tipps. Aber wenn meine Geschwister diesen neuen Stil lernen könnten, dann … dann wäre ihnen der Sieg sicher.«
Ich beobachte sie genau und kann kaum glauben, wie schnell sie sich in den neuen Stil eingefunden hat. »Wieso treten nur deine Geschwister bei der Weltmeisterschaft an? Du solltest unbedingt ebenfalls antreten«, entgegne ich, denn die Art, wie sie sich auf dem Eis bewegt, habe ich bisher nur bei einem gesehen: Jackson Haines.
Als hätte ich einen Fluch ausgesprochen, stolpert sie mit dem nächsten Wimpernschlag und liegt bereits auf dem Eis. Rasch rappelt sie sich wieder hoch und ich sehe sie fragend an. »Ich?« Sie lacht fast schon hysterisch auf. »Das geht leider nicht. Unter gar keinen Umständen.«
»Aber wenn deine Geschwister angemeldet sind …« Sie kommt aus gutem Hause, Geld sollte keine Schwierigkeiten bereiten und an Talent mangelt es ihr gewiss nicht.
Mit einer Handbewegung wischt sie meine Einwände fort. »Lange Geschichte … So. Was macht man nun, um das Eis wieder glatt zu bekommen? Ich werde dir helfen, nachdem ich so viel deiner Zeit beansprucht habe.«
Ich will sie fragen, ob sie nicht dringend zurückmuss, wenn keiner wissen darf, dass sie nachts unterwegs ist, aber sie wirkt fest entschlossen, und so zeige ich ihr, wie man den Glätter in heißes Wasser taucht und dann so über das Eis zieht, dass eine spiegelglatte Fläche entsteht. Merkwürdigerweise funktioniert es mit heißem Wasser besser als mit kaltem, es gefriert zügiger auf dem Eis.
Man braucht etwas Übung, um das Wasser gleichmäßig zu verteilen, aber für das erste Mal stellt sie sich nicht so schlecht an. Florence Madeline Cave heißt sie, aber ich soll sie einfach Madge nennen. Sie erzählt mir, dass es ganz früher hier in London Eislaufhallen gegeben hat, wo man auf einem dicken Gemisch aus Schweineschmalz gelaufen ist, und dass das