Der Eispalast - Rena Rosenthal - E-Book

Der Eispalast E-Book

Rena Rosenthal

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Beschreibung

Eis unter den Kufen und Leidenschaft im Herzen – die neue glitzernde Familiensaga von Bestseller-Autorin Rena Rosenthal

Wien, im ausgehenden 19. Jahrhundert: Schlittschuhfahren bedeutet Nikolett alles. Sobald die Kufen das Eis berühren, ist sie glücklich und frei. Doch sie kann ihrer Leidenschaft nur heimlich nachgehen, wegen eines Unfalls lebt sie ein zurückgezogenes Leben – so zurückgezogen, dass sie dreiundzwanzig Arten von Stille unterscheiden kann. Auf keinen Fall möchte sie daher auf dem Wiener Opernball debütieren und zum Gerede der Gesellschaft werden. Erst recht nicht, da sich János, in den sie schon lange insgeheim verliebt ist, mit Händen und Füßen dagegen wehrt, mit ihr zu tanzen. Als sie sich verzweifelt zu ihrem See flüchtet, stößt Nikolett auf eine Eislaufgruppe und ist fasziniert von den fließenden und anmutigen Bewegungen. Begeistert schließt sie sich ihnen an und ahnt nicht, dass diese Begegnung ihr Leben für immer verändern wird …

Eine zauberhaft-winterliche und auf wahren Begebenheiten basierende Familiensaga, die durch wechselnde Perspektiven in der Ich-Form eine besondere Nähe zu den Hauptfiguren schafft.

Die Trilogie erscheint in hochwertig veredelter, liebevoller Ausstattung – funkelnd wie ein Eiskristall. Die drei Bände der Saga erscheinen im Jahrestakt, jeweils im Winter.

Lesen Sie gleich weiter und entdecken Sie auch Rena Rosenthals duftende Familiensaga »Die Hofgärtnerin«:
Buch 1: »Die Hofgärtnerin – Frühlingsträume« (Neuerscheinung 2021)
Buch 2: »Die Hofgärtnerin – Sommerleuchten« (Neuerscheinung 2022)
Buch 3: »Die Hofgärtnerin – Blütenzauber« (Neuerscheinung 2023)

... und entdecken Sie viele weitere spannende Hintergrundinfos auf www.renarosenthal.de.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 603

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RENA ROSENTHAL, aufgewachsen in einem kleinen Örtchen in der Nähe von Oldenburg, hat mit ihrer Trilogie Die Hofgärtnerin die SPIEGEL-Bestsellerliste erklommen. Für ihre neue Saga wurde sie durch eine Eislaufszene in der Hofgärtnerin inspiriert, durch die sie zufällig über die faszinierende Geschichte der ersten eiskunstlaufenden Frauen gestolpert ist. Als großer Wien-Fan wusste sie, dass ihre neue Saga auf jeden Fall dort spielen soll.

Außerdem von Rena Rosenthal lieferbar:

Die Hofgärtnerin. Frühlingsträume

Die Hofgärtnerin. Sommerleuchten

Die Hofgärtnerin. Blütenzauber

Rena Rosenthal

DEREISPALAST

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Rena Rosenthal

Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Verena Zankl

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildungen: Sophia Molek/Arcangel; mauritius images/PhotoStock-Israel/Alamy/Alamy Stock Photos; Roman Chekhovskoi, Aleksandr Ozerov, Baturina Yuliya, GLYPHstock, Here, Rob Wilson, Yakovlev Sergey/Shutterstock.com

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-30735-6V002

www.penguin-verlag.de

Dies ist ein fiktionaler Roman, der lediglich durch wahre Begebenheiten inspiriert wurde.

Prolog

Nikolett

Wien, Ende des 19. Jahrhunderts

Ich halte den Atem an, als der junge Mann über die Eisbahn fegt. Sein dunkler Umhang flattert im Fahrtwind. Unaufhaltsam saust er auf die Einfassung der Eisbahn zu, muss über seine Partnerin gar hinwegspringen. Ich greife nach Papas Hand und kralle mich daran fest. Viel zu schnell rückt die Bande näher, eine Kollision scheint unvermeidlich und ich erahne bereits seinen Schmerz in meinen Gliedern. Presse die Augen fest zusammen. Statt des ohrenbetäubenden Geräuschs von Knochen, die auf Holz treffen, atmen jedoch Hunderte Menschen gleichzeitig auf. Vorsichtig blinzelnd öffne ich die Augen wieder. Der Mann im venezianischen Kostüm muss sich in letzter Sekunde abgefangen haben. Die goldenen Ornamente seiner Weste glänzen in der Sonne und er hebt die Hand, während er zur Mitte der Eisfläche zurückgleitet und sich in unserem Applaus sonnt.

Erleichtert lache ich auf, Papa zwinkert mir zu. Das erste Winterfest des Wiener Eislauf-Klubs ist wirklich etwas ganz Besonderes. Schon bei unserer Ankunft hatten sich die Fiaker und Equipagen vom Parkring bis in den Stubenring gestaut, da niemand, der etwas auf sich hält, dieses neue gesellschaftliche Ereignis verpassen wollte. Das galt natürlich auch für meine Mutter, Viola Gräfin Finck von Ehrenbach. Für mich hingegen war es Grund genug, wegzubleiben. Doch nun bin ich froh, dass ich mich habe überreden lassen mitzukommen.

Wie die Seiten eines Buches blättern im Hintergrund die Dekorationen um, und ein prunkvoller Ballsaal wird angedeutet. Fünf Damen in Rokoko-Kostümen gleiten auf das Eis. Im adretten englischen Eislaufstil bilden sie verschiedene Formationen und Figuren.

Insbesondere die Haupttänzerin strahlt eine unbändige Freude, ja die reinste Glückseligkeit aus, während sie ihre Kreise zieht. Ich bin so fasziniert, dass ich kaum den Blick abwenden kann.

»Etwas so Wundervolles habe ich noch nie gesehen«, flüstere ich ergriffen meinem Vater zu. Die jungen Frauen wirbeln indes weiter in ihren pompösen Kostümen über das Eis. Er stimmt mir zu, und auch meine Mutter wirkt sehr angetan. Was Ferdinand davon hält, kann ich nicht sehen, er sitzt bei unseren beiden Brüdern, die bereits ausgezogen sind.

Noch als ich nach dem Winterfest im Gedränge der Menschen stehe, die zeitgleich zu den Kutschen und Fiakern zurückkehren wollen, tanzen die Figuren in meinen Gedanken anmutig weiter. Wie wundervoll muss es sein, so umjubelt zu werden für etwas, das man ganz offensichtlich liebt? Denn diese Liebe zum Eislauf stand ihnen ins Gesicht geschrieben, das hätten sie nicht vortäuschen können. Vielleicht sollte ich mich auch einmal aufs Eis hinauswagen?

»Oh, Nikolett, dein Tuch …« Mutter kommt näher und zieht es höher in mein Gesicht. Ihre mittelbraunen Haare sind hochgesteckt und der opalgrüne Hut mit der schwarzen Spitze passt perfekt zu ihrem Kleid. Mit der Perlenkette und der aufwendigen Flechtfrisur, ganz im Stil der Kaiserin, ist sie eine feine Dame, wie sie im Buch steht. Die Partie um die Augen und ihre Stirn sind von Haarlinien durchzogen, doch sie ist so wunderschön, dass sie noch immer zahlreiche Blicke auf sich zieht. Wie es wohl sein mag, wenn man im Anschluss mich mustert?

Ich glaube, der Vergleich macht es nur schlimmer. Das Schöne betont das Hässliche. Und selbst Mutters aufmunterndes Lächeln vermag die dunklen Gedanken nicht zu vertreiben, die nun aufziehen. Während wir uns durch die Menschenmenge bewegen, sehe ich es überall: dieses Flackern, das vom Wegzucken des Blickes zurückbleibt, wenn die Besitzer nach dem Starren gar zu schnell in eine andere Richtung sehen. Andere zeigen fürchterlich betontes Desinteresse an meiner Person und geben vor, dass sie mich gar nicht wahrgenommen haben, obwohl sie kurz zuvor kaum wegsehen konnten.

Ich versuche, hinter Papas breitem Rücken zu verschwinden. Es gelingt mir nicht.

»Was hat denn die?«, fragt ein junger Bub mit fehlenden Schneidezähnen. Sein zierlicher Zeigefinger deutet am weit ausgestreckten Arm genau in meine Richtung und ich hole die breite Haarsträhne hinter meinem Ohr hervor, lasse sie in mein Gesicht fallen. Seine Mutter drückt den Arm rasch herunter und schiebt ihn mit hochroten Ohren weg, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Dabei sind mir offene Fragen sogar lieber als diese Heuchler. Es gibt nämlich auch die Fraktion der Überfreundlichen. Deren Lächeln sitzt wie festgenäht im Gesicht, sie wagen nicht, den Blick auch nur für eine halbe Sekunde von meinen Augen abzuwenden.

Aber das Maul zerreißt sich jeder von ihnen. Ich muss ihnen lediglich den Rücken zuwenden. Deswegen wäre ein solcher Auftritt auf dem Eis, einer, der die Herzen der Zuschauer erreicht, nur ein vager Traum. Wie fliegen können. Man stellt es sich vor, weiß, dass es herrlich wäre, gleichzeitig ist einem bewusst, dass es nie so weit kommen wird.

Ich könnte mich zwar aufs Eis hinauswagen – doch Comtesse Nikolett Finck von Ehrenbach, von der Masse geliebt und umjubelt? Das steht einem Menschen wie mir einfach nicht zu. Schließlich erträgt nicht einmal meine eigene Mutter meinen Anblick.

Julianna

Hennersdorf bei Wien, Ende des 19. Jahrhunderts

Das neue Mädchen hat gestern gesagt, dass nichts ihr Herz schwerer werden lässt als der letzte Tag des Sommers. Jener Tag, an dem man in jedem einzelnen Knochen spürt, dass die Tage kürzer werden. Und dass die Sonne ihre Macht verloren hat. Dann erkennt man, dass der Herbst sich unbemerkt herangeschlichen hat und darauf lauert, sich gänzlich über das Land zu legen.

Ich liebe diese Tage. Wenn der Herbst da ist, ist der Winter nicht mehr fern. Endlich. Gut neun Monate muss ich jedes Jahr auf die kalte Jahreszeit warten. Denn ich blühe erst auf, nachdem die Bäume ihre Blätter abgeworfen und die Blumen sich zurückgezogen haben. Deswegen bin ich heute schon wach, obwohl es noch ganz ruhig im Schlafsaal ist. Es herrscht jene Stille, die sich nur in den Morgenstunden einstellt, wenn alle zweiundzwanzig Kinder im Tiefschlaf sind. Nicht mehr lang und es werden unzählige Kinderstimmen durch den Raum schallen, einige kreischend und um Aufmerksamkeit heischend, andere flüsternd, um ja nicht aufzufallen.

Trotz der frühen Stunde schlage ich die dünne Wolldecke zurück. Zischend sauge ich die Luft ein, als meine bloßen Füße den eisigen Boden berühren, und tapse auf Zehenspitzen an den eisernen Bettgestellen vorbei zum Fenster am Ende des Raumes. Mit einem leisen Quietschen löst sich der Haken aus dem Ring und ich schiebe die mit Eisblumen übersäten Fensterflügel zur Seite, um sicherzugehen. Klirrende Kälte beißt in meine Arme, dennoch strecke ich meinen Kopf nach draußen und schnuppere.

Die Erleichterung lässt mich lächeln.

Frost.

Es liegt eindeutig der Geruch von Frost in der vollkommen klaren Luft. Gepaart mit einer dezenten Rauchnote, da die Menschen wieder heizen. Noch werden Bäume und Häuser in die grauschwarze Nacht getaucht, aber ich bin mir sicher, dass darunter messerspitzer Raureif die kahlen Äste, Wiesen und Häuser überzieht. Und das zum fünften Mal in Folge. Perfekt! Ich schließe das Fenster und kehre zu meinem Bett zurück. Hastig streife ich die Bluse aus festem Stoff über und steige in Rock und Unterrock. Dann noch das wollene Tuch, bald würde mir ohnehin warm werden. Ich greife nach dem Beutel mit meinem wertvollsten Gut neben der kleinen Bronzefigur meiner Mutter und presse ihn an meine Brust. Als ich zur Tür des Schlafsaals schleiche, gleitet mein Blick über die selig schlafenden Mädchen. Die Haare mal blond, mal schwarz, mal braun oder gar rot. Darin mögen sie sich unterscheiden, doch davon abgesehen sind sie alle gleich.

Nur ich gehöre nicht zu ihnen.

Und das nicht nur, weil mein Äußeres zeigt, dass ich aus Asien stammen muss. Es ist eher innerlich. Ich spüre, dass ich anders bin. Anders denke und fühle als die restliche Gruppe. Deswegen bin ich seit jeher eine Außenseiterin. Es wäre schön, eines der Kinder an der Schulter zu berühren und gemeinsam ins Abenteuer zu ziehen. Doch der Schein trügt. Jetzt mögen sie aussehen, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun, aber sobald sie aufwachen, schlagen sie um sich.

Als ich das Bett direkt vor der Tür passiere, halte ich inne. Die Neuen müssen sich stets mit den schlechtesten Betten zufriedengeben und ganz unten in der Hackordnung beginnen. Marilenas Arm ist von einer Gänsehaut überzogen, ihr Körper muss sich vermutlich noch an die kärgliche Ausstattung des Waisenhauses gewöhnen. Kein Wunder, dass sie den Winter verabscheut. Rasch kehre ich an mein Bett zurück, greife nach meiner Wolldecke und breite sie über Marilena aus, ziehe ihr die Decke bis ans Kinn. Wenn man gut geschlafen hat, lassen sich die schneidenden Kommentare und Sticheleien leichter ertragen. Das habe ich in den fünfzehn Jahren im Waisenhaus gelernt. Lautlos schließe ich die Tür hinter mir, schlüpfe in die Küche und nehme mir ein Stück Brot mit. Das Essen im Heim ist nicht gut, aber immerhin gibt es welches.

»Na, gehst du wieder aufs Eis?« Die Stimme, die plötzlich hinter mir erklingt, lässt mich zusammenzucken. Ich drehe mich um und entdecke ausgerechnet Krystof im Flur. Er ist wie ich schon fünfzehn, aber dazu auch der Tonangeber unter den Jungen, der nie zögert, seine Fäuste einzusetzen. Mit verschränkten Armen lehnt er an der Wand und mustert mich abschätzig. »Willst wohl eine Berühmtheit werden wie deine Mami? Wie passen eigentlich so große Träume in einen halben Meter Mensch?«

Zorn brodelt umgehend in mir hoch, da er meine Mutter erwähnt hat. Und mich daran erinnert, dass meine Träume töricht sind. Ich bin einst in das Kontor der Heimaufseherin eingebrochen, da ich die Ungewissheit nicht länger ertragen habe. Ich musste wissen, wer mich hier abgegeben hatte. Daher weiß ich, dass meine Mutter eine berühmte Eistänzerin war. Ein Zeitungsartikel mit ihrem Foto lag in meiner Akte. Ich weiß nur leider nicht, wo meine Mutter ist.

Krystof kommt mit verschmälerten Augen langsam auf mich zu. Ein Schein aus Bedrohlichkeit umgibt ihn. Ich muss schnell etwas sagen, um keine Schwäche zu zeigen. Also gehe ich ihm ein paar Schritte entgegen, statt zurückzuweichen, und sage seelenruhig: »Vielleicht sind die Dinge nicht immer an eine bestimmte Größe gebunden. Ich meine, schau dich an: So ein großer Kopf und doch so wenig Hirn …«

Schnaubend bleibt er stehen, taxiert mich weiter.

Ich drehe mich auf dem glatten Boden, als wäre ich bereits auf dem Eis. »Und dann deine Jämmerlichkeit … die ist obendrein grenzenlos! Aber ich verstehe das. Es muss schon hart sein, wenn man keine anderen Talente hat, als andere niederzumachen«, zwitschere ich über die Schulter, und im nächsten Moment bin ich draußen.

Vor Krystof muss man sich in Acht nehmen. Die meisten scheuen sich daher, Widerworte zu geben. Ich habe im Laufe der Jahre aber festgestellt, dass es besser ist, etwas gegenzuhalten. Am besten so fies wie möglich, das bringt einem bei den Jungen absurderweise Respekt ein. Und ich habe nie ihre Fäuste zu spüren bekommen.

Draußen atme ich mit geschlossenen Augen tief ein und genieße die frische Luft auf meinen Wangen. Ich kann es kaum erwarten, nach all den Monaten endlich wieder das Eis unter meinen Kufen zu spüren. Zum Glück habe ich es vom Heim aus nicht weit. Erst geht es an der Backsteinkirche vorbei, dann am Aichmüller Hof, aus dessen Stall es bereits ungeduldig muht. Danach kann ich in den Erdkuhlenweg abbiegen und muss nur mehr den Schienen bis zum kleineren der beiden Seen folgen, der stets als Erstes zufriert.

Die Dunkelheit lichtet sich, aus dem nächtlichen Blauschwarz wird das einheitliche Grau und in dunklem Smaragdgrün liegt kurze Zeit später der See vor mir. Ich kann gar nicht anders, als zu lächeln. So mag ich ihn am liebsten. Mystisch dunkel und noch vollkommen unberührt. Schon bald werden zahlreiche Furchen seine glatte Oberfläche zerschnitten haben. Auch wenn man meinen sollte, dass die Menschen bei diesen Minusgraden Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wüssten, doch in den letzten Jahren ist das Eislaufen zur Mode geworden. Ganz früher haben die Herren die Damen auf einem Schlitten über das Eis geschoben oder sind auf ihren Schuhen über die glatte Fläche geschlittert. Dann hat man sich eine Kufe untergeschnallt, Anlauf genommen, um sich über das Eis schleifen zu lassen. Doch nun gibt es Kufen, die man unter beide Schuhe schnallen kann.

Ich suche mir einen Stein, seine Eiseskälte gräbt sich direkt durch die Stofflagen in meinen Po, als ich mich setze, und ziehe die Schnallen der Kufen fest. Ich habe sie vor einigen Jahren zu Weihnachten bekommen – die beste Spende, die jemals im Waisenhaus abgegeben wurde, wie ich finde.

Zur Sicherheit werfe ich ein paar klobige Steine, so weit ich kann, in die Mitte des Sees, und als sie liegen bleiben, wage ich behutsame erste Schritte. Bei kleineren Seen ist die Gefahr nach mehreren Frostnächten gering, denn sie bilden schnell eine dicke Eisschicht. Einzig bei den größeren Seen ist Vorsicht geboten, deswegen halte ich mich davon eher fern, obwohl das Eislaufen auf einer großen Fläche viel mehr Freude bereitet.

Ich beschleunige mein Tempo, und mit jedem Strich über das Eis fühle ich mich mehr wie ich selbst. Hier gehöre ich hin. Ob es tatsächlich daran liegt, dass meine Mutter Eisläuferin war? Zumindest ist es mir von Anfang an leichtgefallen, und als ich herausgefunden habe, wer sie war, ergab alles für mich plötzlich Sinn.

Schon bald bin ich vollkommen in meiner liebsten Beschäftigung versunken. Doch leider bin ich nicht die Einzige, die es früh aufs Eis hinausgezogen hat. Nach und nach tauchen weitere Menschen auf, sodass ich immer mehr Bogen fahren und meine Geschwindigkeit deutlich drosseln muss.

Und dann geschieht es.

Direkt vor mir stürzt jemand so plötzlich der Länge nach hin, dass ich nicht mehr bremsen kann. Ein dumpfes Pochen, darauf schabende Geräusche auf dem Eis, als er liegend auf mich zu schlittert. O nein! Mit dem nächsten Wimpernschlag werde ich in ihn hineinrasen. Wie von selbst setzen meine Beine kurz vor dem Aufprall zum Sprung an. Im nächsten Moment segle ich über den jungen Burschen hinweg, komme mit beiden Kufen gleichzeitig zurück aufs Eis und umrunde ihn.

»Puh, das war knapp!« Besorgt beuge ich mich außer Atem über ihn. »Geht es dir gut?«

Er reibt sich das Bein. Doch als er aufblickt und mich aus graublauen Augen ansieht, lächelt er.

Für eine Sekunde bleiben meine Gedanken stehen. Oder ist es die Welt? Gefühlt bleibt einfach alles stehen, und nur ganz tief in mir wird mir bewusst, dass ich ihn anstarre.

Und doch kann ich nicht anders.

Ich kann meinen Blick nicht abwenden.

»Alles in Ordnung«, sagt er verschmitzt. Er mustert mich aus seinen eisigen Augen, die alles andere als kühl wirken. Zumindest schafft sein markanter Blick es, dass nach und nach ein warmes Gefühl in mir hochsteigt. Meine Wangen färben sich, und ich hoffe, dass er denkt, dass dies an der körperlichen Ertüchtigung liegt. Ich spüre, wie ein dümmliches Lächeln meine Mundwinkel nach oben ziehen will, und kämpfe es zurück.

»Das war ziemlich beeindruckend gerade«, sagt er.

Diese Stimme! Jetzt, wo ich mehr Worte von ihm höre, will ich künftig ausschließlich in seiner Stimme baden. Sie ist tief und melodisch und so angenehm wie die Wintersonne. Ich schüttle mich leicht und versuche, diese Gedanken loszuwerden. Beobachte angestrengt, wie er sich auf die Knie dreht, um sich aufzurichten.

Als er vor mir steht, muss ich hochschauen. Das bin ich gewohnt, so klein, wie ich bin, aber dieser junge Mann ist wirklich groß. Rotbraune Spitzen schauen unter seiner Wollmütze hervor und er lächelt mich so glücklich an, dass ich jetzt doch einstimmen muss. Was ihn wohl so fröhlich stimmt? Oder hat er generell ein sonniges Gemüt?

Unschlüssig stehen wir da. Und lächeln noch immer.

Herrje, ich komme mir so töricht vor. Wer bin ich denn? Ein liebestrunkener Backfisch? Ich bin immer so stolz gewesen, nicht zu den Mädchen zu gehören, die ständig bis über beide Ohren in irgendwelche Jungen verliebt sind. Meistens in die schlimmsten Raufbolde, wie Krystof, oder in beliebige Schönlinge, die im Fiaker vorbeigefahren sind. Von denen man sicher sein kann, dass sie uns Waisenkinder nicht einmal eines Blickes würdigen würden. Und doch tuscheln die Mädchen und putzen sich aufs Feinste heraus, als könnten Märchen wahr werden. Ich hingegen bin nüchtern. Schnörkellos. Sehe die Welt, wie sie ist: hart und ungerecht.

Und nun schafft es dieser Junge durch ein einziges Lächeln, mich zuversichtlich zu stimmen, nur weil ich ihm gegenüberstehe? Ich schließe nicht mehr aus, dass alles gut werden könnte. Verwirrt schiebe ich eine Haarsträhne unter meine Pudelmütze. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich mit diesem neuartigen Gefühl umgehen soll.

Bleib einfach den restlichen Tag hier stehen und labe dich an seinem Lächeln, schlägt der Backfisch in mir hingerissen vor. Aber meine nüchterne Seite ruft mich zur Ordnung: Es ist alles gesagt. Du kannst weiterfahren.

»Danke«, sagt der Junge in seiner unglaublichen Stimme. »Das hätte böse enden können.«

Ich nicke, da mir nichts Besseres einfällt. Was ist nur los, ich bin doch sonst nie um eine Antwort verlegen! Meine flinke Zunge ist im gesamten Waisenhaus bekannt. Von den Aufseherinnen unzählige Male mit dem Rohrstock bestraft und von den Kindern gefürchtet. Langsam setze ich mich in Bewegung. Ich will nicht, dass unser Zusammentreffen bereits beendet ist, doch ich ahne, dass er kein Arbeiter ist. Ein näheres Kennenlernen ist daher ausgeschlossen. Vielleicht ist das gut, ich stehe schließlich ohnehin vollkommen neben mir.

»A…Also …«, stammle ich, um irgendeine Abschiedsfloskel zusammenzubekommen. Obwohl es mich zerreißt. Ein Teil von mir schreit, dass ich diesen Menschen nicht einfach so sang- und klanglos gehen lassen kann. Aber ich muss den Dingen ins Auge sehen, wie sie sind, ermahne ich mich. »Also … das war«, setze ich erneut an, als der Junge ins Schlingern gerät. Es wird heftiger und er beginnt wie wild mit den Armen zu rudern, droht nach hinten zu fallen.

Geschwind gleite ich zu ihm hinüber und gebe ihm Halt. Ich höre, wie er tief einatmet, und nehme seinen dezenten Geruch nach Leder und Sesam wahr. Ist da auch ein Hauch von Rose? Wir sind uns viel zu nah. Sein verschmitztes Lächeln, das erneut zum Mitmachen lockt, verwandelt meinen inneren Frieden langsam in eine sanfte, warme Brise. Sie zieht bis in meine Fingerspitzen.

»Jetzt hast du mich schon wieder gerettet. Müsste nicht eigentlich der Prinz die Prinzessin retten?«

Wahrscheinlich sollte ich nun sagen, dass es mir eine Ehre war, oder mit einem Augenaufschlag darauf hinwiesen, dass er sich gerne erkenntlich zeigen kann. Das hätten die Mädchen im Heim vermutlich so gemacht. Doch bei mir hat die warme Brise wohl auch den Verstand aus dem Kopf gepustet.

»Vielleicht bin ich ja keine Prinzessin?«

»Was bist du dann?«, haucht er.

»I…Ich weiß nicht«, hauche ich zurück. »Vielleicht ein Frosch?«

Ich will die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Sollte da jemals eine romantische Stimmung gewesen sein, ist sie jetzt weg. Großartig, Julianna, jammert auch der Backfisch. Ein charmanter Junge macht dir den Hof, und dir fällt nichts Besseres ein, als zu kontern, dass du ein Frosch bist? Das war doch kein Angriff wie im Heim, den du abwehren musst.

Er lässt sich zum Glück nicht so schnell abwimmeln. Im Gegenteil. Ein schalkhaftes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. »Dann soll ich dich jetzt also küssen?«

»Erst wenn du den Drachen getötet hast«, schießt mein Mundwerk sofort zurück. Ohne auch nur den Kopf zurate zu ziehen.

Nein!, kreischt mein Backfisch-Ich verzweifelt. Vielleicht sollte ich einfach so schnell wie möglich davonfahren. Solche Gespräche sind nichts für mich, ganz gleich welch turbulente Gefühle mein Gegenüber in mir auslöst. »Ich … hoffe, du kommst ab jetzt alleine zurecht?«, sagt die nüchterne Julianna schweren Herzens, und ich wende mich ab. Es ist besser, den Abschied schnell hinter mich zu bringen.

Doch seine Worte halten mich zurück.

»Tatsächlich habe ich gerade überlegt, dich zu bitten, mir das Eislaufen beizubringen. Ich bin ein ziemlicher Grünling, wie du gesehen hast.«

Ich zwinge das Fitzelchen Verstand, das mir geblieben ist, über seine Worte nachzudenken. Sollte ich das machen? Dass jemand derartige Gefühle in mir auslöst, ist bisher nie vorgekommen. Ist es dann überhaupt gut, mehr Zeit miteinander zu verbringen? Soll ich nicht besser zurück ins Heim laufen und mein Herz in eine Truhe sperren?

Er beginnt, in seinen Taschen zu kramen. »Bitte, ich zahle dich auch. Du bist ganz offensichtlich eine Meisterin deines Faches und ich wollte es schon immer lernen.«

Unter knirschendem Eis umrunde ich ihn, und im nächsten Moment legt sich meine Hand auf seine, unterbricht ihn bei der Suche. Mein Körper wird so sehr von diesem Jungen angezogen, dass er offenbar die Entscheidungen jetzt alleine trifft.

»Lass mal gut sein«, sage ich.

Seine Augen werden traurig. »Du machst es nicht?«

Ich freue mich, dass es ihm nicht gleichgültig ist. Aber vermutlich geht es ihm nur um die Gelegenheit, das Eislaufen zu erlernen.

»Doch, ich zeige es dir gerne. Mir reicht dein Wille zu zahlen als Zeichen deiner Entschlossenheit. Wenn du die hast, ist der wichtigste Schritt getan.«

»Oh, dann sollte ich kurz vor dem Durchbruch stehen. Ich bin sehr entschlossen. Der reinste Himmelsstürmer, sagen meine Freunde.«

Ein Himmelsstürmer. Das gefällt mir. Wenn das überhaupt möglich ist, gefällt der Junge mir noch besser, und die frische Brise wird zum tosenden Wirbelsturm, der kurz davor ist, mich höchstpersönlich zu einer wortwörtlichen Himmelsstürmerin zu machen.

Er streckt unbeholfen seine Hand aus. Lange, kräftige Finger, die zu seiner Größe passen. Ich ergreife sie und beobachtete fasziniert, wie sie meine kleinen Finger fast vollständig umschließen. Ganz langsam und vorsichtig gleiten wir nach ersten Erklärungen Hand in Hand über das mittlerweile vielfach zerkratzte Eis. Bald finden wir einen gemeinsamen Rhythmus und ich nehme die Stimmen der anderen Menschen kaum noch wahr.

Ich erkläre ihm, dass man in der hohen Schule des Eiskunstlaufs im sogenannten englischen Stil fährt. Dabei sind die Beine kerzengerade, der Rücken ebenso und die Arme dicht am Körper. »Aber für den Anfang ist es besser, wenn wir etwas in die Knie gehen und die Hände zum Ausbalancieren nutzen.«

Er macht nach, was ich vorgebe. Nach einer Weile wirkt er so sicher, dass ich ihn loslasse. Doch sobald meine Hand ihn verlässt, fehlt ihm das Gleichgewicht und er gerät ins Straucheln.

»War wohl noch zu früh«, überlege ich laut, und er stimmt zu.

Ohne mich aus den Augen zu verlieren, hält er mir seine Hand von Neuem hin. Da ist etwas in seinem Blick, das mich zum Schmelzen bringt. Ich ergreife seine Finger und genieße wieder die Wärme, die zu mir herüberströmt.

»Und was macht ein Himmelsstürmer, wenn er nicht gerade die Himmelsgewölbe erstürmt?«, frage ich, als wir weiter im Einklang über das Eis gleiten. »Sag mir jetzt nicht, dass du bei der Armee bist, bis du das Gut deiner Eltern übernehmen kannst«, purzeln weitere Worte ungefiltert aus mir heraus. So etwas in der Art tun die Söhne der gehobenen Gesellschaft stets, bis sie zum Zug kommen. Wenn er zu ihnen gehört, sollten wir uns besser auf der Stelle verabschieden, allerdings hätte ich vermutlich etwas … unauffälliger nachfragen können.

Ein markerschütterndes Krachen unterbricht uns und ein weißer Riss zieht sich unter uns durch das Eis. »Das ist nur die Spannung«, sagen wir wie aus einem Munde, er hat das wohl ebenfalls bereits in der Kindheit gelernt. Solche Risse klingen beängstigend, sind aber völlig normal.

Gemächlich setzen wir unsere Fahrt fort. Mittlerweile ist es auf dem See so voll geworden, dass wir kaum noch Geschwindigkeit aufnehmen können – nicht dass das mit dem Jungen überhaupt möglich gewesen wäre. Und der Himmelsstürmer beantwortet nun meine Frage. »Keine Sorge, ich gehe einer todlangweiligen Arbeit nach.« Auf meine Nachfrage nickt er zu den hohen Schornsteinen der Ziegelfabrik, aus denen selbst heute am Sonntag der wolkige Rauch gen Himmel zieht. Sofort wird mir leichter zumute. Welch ein Glück! Er ist wie ich. Kein reicher Fatzke. Ich erzähle ihm, dass ich noch zur Schule gehe. Das mit dem Waisenhaus lasse ich weg, er soll mich schließlich nicht bemitleiden. Er will wissen, was ich danach machen will, und ich zucke mit den Schultern. Es bleibt ja nur die Wahl zwischen dem Dienstbotendasein und der Arbeit in einer Fabrik.

»Und was würdest du machen, wenn du die freie Wahl hättest?«, erkundigt er sich nun.

Ich muss lachen. »Eislaufen natürlich.«

Für einen Moment setze ich mich ab und vollführe eine Drehung mit abschließender Verbeugung. Auf wackeligen Beinen sieht der Himmelsstürmer zu, und ich kehre rasch zu ihm zurück, als er ins Wanken gerät.

»Es wäre so schön, aber das geht ja nicht.« Ein paar Koryphäen gibt es zwar, doch es ist nicht einfach, sich einen Namen zu machen und im Winter so viel zu verdienen, dass man auch im Sommer davon leben kann. Ein vornehmer Mann im dicken Mantel rempelt mich an, sodass es diesmal an dem Jungen ist, mich aufzufangen. Zornig richte ich mich wieder auf. »Oder ich würde eine weitere Eisbahn in Wien aufbauen, sodass die Städter der Landbevölkerung nicht die Seen wegnehmen!«

Der Junge lacht in seiner klangvollen Stimme und ich gestikuliere in die Menschenmasse. »Sieh dich doch mal um – wenn man nur zwanzig Kreuzer von jedem als Eintritt nähme, könnte man reich werden. Und wusstest du, dass man in London, Montreal und Paris in überdachten Häusern eislaufen kann? Ach, was sage ich denn? Es sind ganze Paläste!« Ich habe alles darüber gelesen, wie es ist mit dem Eislaufen in den anderen Ländern. Schließlich ist aller Wahrscheinlichkeit nach meine Mutter dort aufgetreten.

»Wirklich?«, fragt er und wirkt dabei ehrlich interessiert.

»Ja! Als die überdachte Eislaufhalle in Paris eröffnet wurde, war der Andrang so groß, dass die Leute sogar das Gerüst erklommen haben und durch die Fenster gestiegen sind! Warum gibt es so etwas nicht bei uns? Das Eis würde viel länger halten. Und ich hätte mehr Platz.«

Er schmunzelt, wirkt aber auch nachdenklich. Dann sagt er: »Na ja, es wäre technisch wahnsinnig anspruchsvoll, so etwas umzusetzen …«

Ich zwinkere ihm zu. »Klingt für mich nach genau der richtigen Aufgabe für einen Himmelsstürmer.«

Er sieht mir tief in die Augen. »Und für eine Eisprinzessin wie dich würde ich natürlich sofort einen Eispalast bauen.« Lachend deutet er auf die andere Seite der Werksstraße, wo nun auch zahlreiche Gestalten auf dem großen See fahren. »Es dauert allerdings, bis ich damit fertig bin. Sollen wir fürs Erste zum größeren See wechseln? Er scheint bereits zu tragen, und dort hättest du ebenfalls mehr Platz.«

Ich stimme zu, und gemeinsam wackeln wir mit den Kufen über das gefrorene Gras zum Ufer des anderen Sees.

»Was hältst du von einer kleinen Pause, bevor wir weitermachen?«, fragt er unterwegs. »Die Mittagszeit ist ja schon lange vorbei.«

»I…Ich …« Tatsächlich bin ich hungrig, mehr als das Stück Brot hat es in der Küche heute nicht gegeben.

Er lächelt mich offen an und gibt dem Wirbelsturm in mir dadurch ungeahnte Kräfte. Ich kann nur hoffen, dass mir der spärliche Rest meines Verstandes erhalten bleibt. »Ich habe zwei Brote als Jause dabei.«

Ich nehme auf dem Stein Platz, auf den er gedeutet hat, und verschlinge das Käsebrot, das er mir reicht. Es ist nur noch ein winziger Happen übrig, der partout nicht mehr in meinen Mund gepasst hat, als mir bewusst wird, dass er mich ansieht. Mitten beim Kauen halte ich inne. Da ist ein amüsierter Zug um seine Mundwinkel, und als ich bemerke, dass von seinem Brot lediglich ein einziger Bissen fehlt, ahne ich, warum. Mein Gesicht ist jetzt gewiss rot wie meine Pudelmütze und bei aller Liebe zum Eis hätte ich nichts dagegen, wenn ich auf der Stelle wegschmelzen würde. Wenn es im Heim das Essen gibt, muss man zusehen, jegliche Nahrung so schnell wie möglich in sich hineinzubekommen, sonst wird sie einem förmlich aus der Hand gerissen. Ich bemühe mich nun natürlich umgehend, langsam und bedächtig zu kauen – doch bei so viel Brot auf einmal im Mund ist das nahezu unmöglich.

»Du warst wirklich hungrig, oder?«

Ich versuche, völlig gelassen mit den Schultern zu zucken. Ganz so, als hätte ich mich soeben nicht komplett lächerlich gemacht. Gerne hätte ich eine Gegenfrage gestellt, um die Aufmerksamkeit von mir wegzulenken, aber es wären wohl nur Krümel aus meinem Mund geflogen. Mehrmals muss ich ablehnen, obendrein sein zweites Brot zu essen. Er kann wirklich stur sein, versucht sogar, mir weiszumachen, dass er es nicht schafft. Zum Glück bin ich nicht weniger stur.

»Wollen wir weiterfahren?«, frage ich, sobald die letzte Krume in seinem Mund verschwunden ist, und springe auf. Auf dem See fühle ich mich viel sicherer. Und möglicherweise hängt es auch damit zusammen, dass das gemeinsame Eislaufen die perfekte Ausrede dafür bietet, einander nah zu sein. Ich möchte so gerne noch einmal seinen Arm um meine Taille spüren.

»Wie … wie heißt du eigentlich?«, frage ich schüchtern, bevor wir die Eisfläche betreten. Seit wann bin ich schüchtern? Mit diesem Jungen ist alles verdreht.

Er tritt so nahe an mich heran, dass ich fürchte, er könnte das Tosen in mir hören. Wieder muss ich den Kopf nach hinten legen. Ich sehe seine feinen Bartstoppel und würde nur zu gerne mit den Fingerspitzen darüberfahren.

»Ist … ist das denn wichtig?« Er flüstert seine Frage. Und obwohl die Bedeutung seiner Worte schmerzvoll ist, ist so viel Zärtlichkeit in seinem Blick, als würde er mich im nächsten Moment küssen wollen. Ich bin verwirrt. Dass ich seinen Namen nicht wissen darf, kann nichts Gutes bedeuten.

»Nun ja«, sage ich zaghaft. »Ich kann dich schlecht die restliche Zeit Himmelsstürmer nennen …« Und mehr weiß ich schließlich nicht über ihn.

»Warum denn nicht? Das klingt viel spannender als mein stinknormaler Name.« Er streicht mir eine Strähne hinters Ohr, und die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich seinen Fingerspitzen folgend auf. »Wie heißt denn du?«

O nein! Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.

Er glaubt doch nicht etwa, dass ich meinen Namen preisgeben werde, wenn er seinen geheim hält? Zudem haben wir im Waisenhaus mehr oder weniger willkürliche Namen bekommen. Irgendein Vorname, und der Nachname war schlichtweg der Wochentag oder die Jahreszeit. Ich bin an einem Wintertag abgegeben worden und heiße Julianna Winter. Wenn er eins und eins zusammenzählen kann, weiß er sofort, dass ich ein Waisenkind bin.

»Ist das denn wichtig?«, wiederhole ich daher seine Frage, um den Zauber nicht zu zerstören.

»Ich kann dich schließlich nicht die restliche Zeit Eisprinzessin nennen.«

Hat er nicht zugehört? Ich bin doch alles andere als eine Prinzessin. Aber wenn dies ein Märchen ist, will ich nicht, dass es bereits vorüber ist. Noch nicht. Selbst wenn es gewiss kein glückliches Ende gibt. Heute will ich mich tatsächlich wie eine Eisprinzessin fühlen. Und er schafft das. Ich weiß nicht, wie, aber seit er an meiner Seite ist, fühle ich mich … besonders. Deswegen grinse ich vielsagend und wende mich zur Eisfläche.

»Warte.« Er berührt meinen Arm, als ich im Begriff bin, auf das Eis zu treten, und löst seinen grauen Schal. Ist ihm etwa so warm? Ich fröstle eher – bis er mir mit einer einzigen fließenden Bewegung den Schal um den Hals legt. Ich bin erstaunt, wie weich sich der Stoff an meine Haut schmiegt. Fragend sehe ich zu ihm hoch.

»Meinetwegen fährst du viel langsamer als gewöhnlich. Du sollst nicht frieren.«

Er zieht mich sanft in seine Richtung. Wieder sind wir uns viel zu nahe. Doch langsam genieße ich das Toben, das er in mir auslöst. Kämpfe das Lächeln nicht länger nieder.

Eine Weile fahren wir wieder in stiller Eintracht. Genießen die angenehme Sonne, die das Eis zum Glitzern bringt, und die frische Luft.

»Was ist eigentlich mit dir?«, frage ich schließlich und komme auf unsere anfängliche Unterhaltung zurück. »Was würde ein Himmelsstürmer tun, wenn ihm alles offenstünde?« Wir umrunden drei Hockey spielende Kinder und der Junge zieht mich schützend an sich, als der flache Stein, den sie zum Spielen benutzen, bedrohlich nahe kommt. Im ersten Moment will ich ihn anfauchen, immerhin kann ich verflucht gut auf mich selbst aufpassen. Dann bemerke ich, dass es guttut, wenn ich das an einem Tag in meinem Leben nicht tun muss. Es ist schön, wenn jemand für einen da ist, und ich schenke ihm zum Dank ein Lächeln.

»Gute Frage«, sagt er nachdenklich. »Sicherlich nicht in der Fabrik arbeiten. Ich interessiere mich für Technik, würde gerne etwas völlig Neues entwickeln … Aber du weißt ja, wie das ist, man kann sich sein Leben nicht aussuchen. Ich …«

Der Junge kommt nicht dazu, den Satz zu beenden. Ein Kleinkind mit Ohrenschützern, das mit seinem Schlitten überraschend fix unterwegs ist, schießt auf uns zu. Unsere Hände lösen sich, um Platz zu schaffen. Sofort spüre ich die Kälte und vermisse den sanften Druck. Sorgenvoll sehe ich zum Himmelsstürmer. Wird er sich halten können? Er macht just in diesem Moment eine gekonnte Drehung.

Eine verdammt gekonnte Drehung.

Das darf nicht wahr sein! Ich stemme die Hände auf die Hüften und blitze ihn an.

Dieser Bastard hat mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. »Du!«, stoße ich aus und weiß nicht, wie lange ich meine Gefühle noch im Zaum halten kann.

»Äh … Du bist eben eine wirklich gute Lehrerin?«, versucht er sich gefinkelt herauszureden.

Doch davon will ich nichts hören. »Bis vor einer Sekunde konntest du dich kaum auf den Kufen halten, und drei Sekunden später machst du eine Rückwärtswende?«

Er fährt sich mit den Händen durchs Gesicht. »Na schön, ich gebe es zu.« Mit kräftigen Zügen umrundet er mich auf dem Eis, zeigt sein eigentliches Können, das recht beeindruckend ist. »Womöglich habe ich mich einen Hauch schlechter gegeben, als ich tatsächlich bin.«

Im nächsten Moment ist er erneut ganz nah. Sesam und Leder. Und eisige Augen ohne Kälte lassen den Wirbelsturm zahlreiche Ausläufer bilden und bald jedes Fleckchen meines Körpers beherrschen.

»Aber das gibt uns jetzt die Gelegenheit, mal eine echte Runde zu drehen.« Er hält mir seine Hand entgegen. Die Hand, die sich so gut und vertraut angefühlt hat. Als wäre unsere Harmonie vollkommen. Normalerweise würde ich sie dennoch unwirsch wegschlagen und auf dem Absatz kehrtmachen. Oder eben auf der Kufe.

Das hätte er verdient. Mich so zu belügen, ist alles andere als nett gewesen.

Doch dann wird mir etwas klar. Wenn er bereits eislaufen kann … ging es ihm niemals um das Erlernen der Kunst. Es gibt nur eine Erklärung: Es ging ihm um mich!

»Na komm.« Nur minimal gleitet er auf mich zu, als wäre ich ein Wildtier, das jeden Moment Reißaus nehmen könnte.

Und schon liegt meine Hand wieder in seiner. Ich werde von seiner wohligen Wärme umhüllt, und diesmal ist der Eislauf ein ganz anderer. Sein Arm liegt um meine Taille. Die Hände fest verschränkt, fliegen wir in atemberaubender Geschwindigkeit über das Eis. Wir bilden eine Einheit und können mühelos anderen Läufern ausweichen. Es ist, als hätten wir unser Leben lang geübt, könnten durch kleinste Hinweise die Richtung des anderen erspüren. Anfangs bemerke ich staunende Blicke der anderen Eisläufer, doch schon bald verschwimmen alle Menschen zu unscharfen bunten Punkten. Da sind nur noch die frische Luft in meinem Gesicht, die berauschende Geschwindigkeit und der Himmelsstürmer. Und dieses unglaubliche Gefühl. Ich weiß mit absoluter Gewissheit, dass all das hier richtig ist. Dass wir zusammengehören.

Selig lächle ich den Jungen an und spüre, dass er ebenso fühlt.

Erst nach unzähligen Runden auf dem Eis kommen wir lachend und prustend zum Stehen.

»Das war fantastisch!«, rufe ich nach Luft schnappend aus. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so lebendig gefühlt. Und obwohl wir nicht mehr über das Eis fliegen, ist da noch immer nur dieser Junge in meinem Sichtfeld, der ebenso glücklich und gelöst wirkt wie ich selbst. Und dieses Kitzeln in meinem Bauch.

»Das müssen wir unbedingt wiederholen, bist du nächsten Sonntag wieder hier?«, frage ich, obwohl ich ihn eigentlich an keinem einzigen Tag in meinem Leben mehr missen möchte.

»Nein, ich war heute außer der Reihe hier. Ich …«

Ein ohrenbetäubendes Kreischen unterbricht ihn. Aus einem Schrei werden mehrere, sodass wir nicht sofort verstehen.

Doch dann dringt die bedrohliche Wahrheit an unsere Ohren. »Das Eis, es bricht!«, hören wir Rufe.

Alarmiert sehen wir uns an. Für einen Atemzug setzen meine Gedanken aus.

Was ist geschehen, was sollen wir tun?

»Wir müssen sofort weg von hier!«, ruft der Junge gehetzt und greift nach meiner Hand. Zusammen mit Hunderten anderen Eisläufern strömen wir auf das Ufer zu. Die zahlreichen Menschen scheinen zu einer einzigen Masse zu verschmelzen, die sich ohne Rücksicht auf Verluste in Bewegung setzt. Der pure Überlebensinstinkt übernimmt die Steuerung. Von hinten kommt immer mehr Druck, weil es vorne nicht vorangeht. Wir werden gegen eine ganze Mauer aus Menschen gepresst. Und plötzlich gibt die Mauer direkt vor mir nach, während die vor ihm fest bleibt.

»Nein!«, schreie ich entsetzt. Die Masse hinter mir schiebt mich schonungslos voran. »Warte!«, kreische ich, als ich spüre, wie unsere Hände auseinandergezogen werden.

Ich greife fester zu.

Nichtsdestotrotz gleitet meine Haut über seine. Schon ist die Handfläche fort, und da sind nur noch die Finger. Sie werden schmaler. Verzweifelt krümme ich die Fingerspitzen, um das letzte bisschen festzuhalten. Doch es hilft nichts. Nein. Der Druck wird zu groß. Er presst die Atemluft aus mir heraus. Wir haben uns verloren. Hektisch drehe ich mich nach ihm um, sehe Mantelkragen und Schals. Keine graublauen Augen. Im Geschrei meine ich seine Stimme herauszuhören, verstehe aber die Worte nicht. Ich kämpfe gegen fremde Arme, Oberkörper und metallene Zierknöpfe, die in mein Gesicht gedrückt werden. Will umkehren. Doch die Menschenmasse ist zu stark, ihr gemeinschaftlicher Wille nicht zu brechen. Sie kennen nur eine Richtung: vorwärts.

Es ist ein Kampf, den ich nicht gewinnen kann.

Kapitel 1

Nikolett

3 Jahre später

Seufzend klappe ich den Roman zu und sehe zum Fenster hinaus. Wieder ein Buch, das viel zu schnell zu Ende gegangen ist. Draußen verbergen sich die geschwungenen Wege des Parks, die Buchen, Linden und auch der Seerosenteich unter einer dünnen Schneeschicht. Die unberührte Winterlandschaft verbreitet eine Stille, die sich kaum ertragen lässt. Dabei bin ich Stille gewohnt. Das ist untertrieben. Ich kenne sie so gut, dass ich dreiundzwanzig verschiedene Arten von Stille unterscheide. Die Stille in mir ist die Nummer acht. Sie ist so allgegenwärtig, dass sie ohrenbetäubend ist, bis der große Zeiger der hölzernen Kaminuhr, die sich elegant über dem Sims erhebt, geräuschvoll vorrückt.

»Es ist noch nicht einmal drei Uhr, Max, was machen wir mit dem restlichen Tag?«, frage ich meinen kleinen Mischlingshund. Vor drei Jahren habe ich ihn nach dem legendären Winterfest halb verhungert und erfroren am Straßenrand entdeckt. Max hebt den Kopf von den Pfoten, stellt die Ohren auf und sieht mich nachdenklich an. Andere junge Frauen sitzen jetzt vermutlich beim Kaffeekränzchen zusammen und führen sich ein weiteres Stück des Gugelhupfs zu Gemüte oder lauschen gemeinsam einer Nachmittagsmusik. Aber selbst bei solch einem zwanglosen Beisammensein würde ich mich unwohl fühlen.

Ich gleite von der gepolsterten Fensterbank, die eine Mulde an der Stelle hat, wo ich jeden Tag sitze, und ignoriere das nagende Gefühl in meinem Bauch. Langsam wandere ich durch mein Zimmer mit den beruhigenden sanft grünen Wänden. Den Spiegel über dem Kamin habe ich schon vor Jahren abnehmen lassen. Die unzähligen Porzellanpuppen, die mir stets geschenkt werden, habe ich mit dem Gesicht zur Wand gedreht, damit sie mich nicht länger beobachten, und das Vertiko mit den tausend Schubladen enthält ausschließlich Kissenbezüge und Decken, die ich bereits bestickt habe. Ich würde nur zu gerne eislaufen, doch das findet meine Mutter zu gefährlich, daher muss ich damit immer warten, bis sie das Haus verlassen hat.

»Sollen wir uns ein neues Buch holen?«, frage ich Max. Lesen ist immer gut. Obwohl es nur im Kopf geschieht, vertreibt es fast jede Art von Stille.

Er bellt leise.

»Ich weiß. Aber irgendein Buch werde ich gewiss finden, das ich noch nicht kenne. Immerhin hat Vater eine der am besten sortierten Bibliotheken von ganz Wien.«

Max bellt abermals und erinnert mich daran, dass ich neulich sogar ein physikalisches Fachbuch über Kathodenstrahlen durchgeblättert, ein medizinisches Büchlein über die Austilgung der Cholera in Hamburg und einen Band mit japanischen Gedichten gelesen habe.

»Sobald Katalina von ihrem Verwandtschaftsbesuch zurück ist, werde ich sie bitten, mir einige Romane zu leihen«, versichere ich Max. Katalina, meine einzige Freundin, liest zwar nicht viel, aber die Bibliothek ihres Vaters, des Freiherrn von Rottenau, ist ebenfalls sehr gut bestückt.

Mit dem Buch in der Hand gehe ich die linke Seite der Doppeltreppe hinunter. Meine Lieblingsseite, die ich immer wähle, selbst wenn die anvisierten Räumlichkeiten näher an der rechten Seite liegen. Ausreichend Zeit habe ich ohnehin. Die edlen Orientteppiche verschlingen die Geräusche meiner Absätze, und der kristallene Lüster beäugt mich aus tausend Augen. Unten dringen Wortfetzen aus dem Wohnzimmer an mich heran. Die sanfte Stimme meiner Mutter hat heute eine gewisse Dringlichkeit, einen Nachdruck, den sie mir gegenüber nur verwendet, wenn sie mir etwas zu Gefährliches verbietet. Normalerweise wäre ich dennoch weitergelaufen. Ich bekomme oft private Unterhaltungen mit, vielleicht weil ich mich meist so lautlos bewege wie eine Katze. Zumindest behauptet Mutter das immer. Zudem darf ich ohnehin in keiner wichtigen Angelegenheit mitreden.

Im Grunde genommen nicht einmal in den unwichtigen.

Doch der vertraute Klang meines eigenen Namens lässt mich in der Bewegung stoppen. Die vier Lagen Röcke, die ich im Winter trage, schlagen leise raschelnd an meine Waden. Ich halte den Atem an und sehe zu Max, dessen Ohren zucken. Hat man uns gehört? Sollte ich mich bemerkbar machen, immerhin scheint es hier um mich zu gehen.

Mutter spricht jedoch bereits weiter. »Ich bitte dich inständig, János, erweise uns diese kleine Gefälligkeit.«

Dass János auch da ist, ist keine Überraschung. Der beste Freund meines Bruders geht seit Jahren bei uns ein und aus, nachdem er mit zwölf Jahren seine Eltern verloren hat.

Überraschend ist vielmehr seine Antwort. »Wie gesagt, ich würde lieber verzichten. Einem anderen wird es gewiss eine große Ehre sein, die Aufgabe zu übernehmen.«

Welche Aufgabe? Was will er partout nicht übernehmen?

»Aber das ist es ja.« Mutter klingt nahezu verzweifelt. »Keiner will. Ich habe schon vor Monaten meine Fühler ausgestreckt und mittlerweile all meine Kontakte spielen lassen. Doch niemand auch nur ansatzweise Annehmbares lässt sich erweichen. Denkst du, ich frage dich gerne? Mir bleibt schlichtweg keine andere Wahl. Ein Fortbleiben bei Rudolfs Position zu Hofe wäre indiskutabel! Wir müssen zur Wiener Hofsoiree. Der Opernball ist eines der wichtigsten Ereignisse der Saison, wie du sehr gut weißt, und Nikolett muss dort debütieren. Sie macht zwar sonst alles allein, aber das Debüt geht beim besten Willen nun einmal nicht ohne Partner.«

Hitze brennt hinter meinen Augenlidern, und ich schließe sie. Das ist es, was János unter keinen Umständen will? Ich taste nach der Kommode im Vestibül. Dabei ist es eigentlich nichts Neues. Ich weiß ja inzwischen, dass die Leute mich ablehnen. Aber selbst János? Gewiss ist es nicht mehr wie früher als Kind, als wir gemeinsam unzählige Abenteuer erlebt haben. In den letzten beiden Jahren haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Wir kommunizieren eher über eine befangene Stille, also gar nicht. Aber was soll ich tun? Sobald er auftaucht, geschieht alles in doppelter Geschwindigkeit. Mein Herz geht schneller, dementsprechend auch mein Atem, und das Blut scheint durch meine Adern zu rauschen – zumindest kitzelt es in meinen Handflächen. Und die Gedanken hetzen so geschwind an mir vorbei, dass ich ihnen nicht mehr folgen kann. Das macht es schwer, Konversation mit János zu betreiben. Denn die Worte sind die einzigen Dinge, die nicht fließen wollen. Quälend langsam bröckeln sie aus meinem Mund, und in meiner Vorstellung sind sie so verzerrt wie die Töne einer Platte auf dem Grammofon, wenn sie sich zu langsam dreht.

Es ist von daher kein Wunder, dass er nicht mein Tanzpartner sein möchte. Dennoch schmerzt seine Ablehnung mehr als die sämtlicher Junggesellen aus ganz Wien zusammengenommen. Ich bin schon so lange in ihn verliebt, dass ich gar nicht mehr weiß, wann genau es angefangen hat. Oder wie eine Welt ohne unglückliches Verliebtsein aussieht, ich habe mich an den klumpigen Schmerz in meinem Bauch schon fast gewöhnt.

»Ich bitte dich, Mutter, irgendwer wird sich gewiss finden lassen«, wirft Ferdinand ein. Er ist der Einzige von meinen Geschwistern, der noch hier lebt. Albert und Benno sind vor einigen Jahren ausgezogen. Und kommende Woche wird auch Ferdinand unseren Palais verlassen und seine Laufbahn beim Militär antreten. »So schlimm ist es nun wirklich nicht.«

»Der Ansicht war ich ebenfalls. Aber ich habe bereits alles versucht, schon seit Monaten. Mir ist die Situation mehr als unangenehm, das kannst du mir glauben.«

»Was ist denn mit Albert und Benno, kennen die nicht jemanden, der Nikolett begleiten würde?«

»Ich wünschte, es wäre so einfach, doch im Alter deiner Brüder sind fast alle verheiratet. Deswegen ist János unser letzter Ausweg. Und ich muss mich offen gestanden schon sehr wundern, dass ich hier nahezu betteln muss, nach allem, was unsere Familie für ihn getan hat.«

Das Brennen in meinen Augen zieht bis in den Hals, obwohl Max sich dicht gegen meine Schienbeine drückt und ich seine Wärme spüre. Ich schlucke gegen den wachsenden Klumpen an, während János hörbar herumdruckst.

Ich sehe ihn vor mir, wie er mit fahrigen Händen seine dunklen, lockigen Haare nach hinten schiebt, da er bereits nach der nächsten Zigarette lechzt, und wie seine ohnehin schon traurigen Augen nun gehetzt wirken.

Ich ertrage es nicht länger. Ich will nichts mehr davon hören, wie fürchterlich ich bin. Deswegen lege ich mein Buch auf die Kommode und steuere den Dienstbotenausgang an. Neben dem Lesen gibt es nur eine weitere Betätigung, die mir Freude bereitet.

Aus der Kiste unter der Garderobe der Angestellten hole ich meine Schlittschuhkufen hervor. Es ist mein Geheimversteck. Meine Eltern würden niemals auf die Idee kommen, dass ich Dinge beim Hauspersonal verberge. Ich streife den Mantel über und schlinge ein übergroßes Seidentuch um den Hals, wie immer, wenn ich aus dem Haus gehe oder Besuch erwarte. Heute mein liebstes, mit den filigranen Rosen. Dann verlasse ich lautlos das Palais am Stadtrand von Wien.

PalaisEdelweiß wird er genannt. Ich finde den Namen etwas beschämend, denn es blüht kein einziges Edelweiß auf dem gesamten Anwesen. Der Name zeigt nur, dass Vater sich bei der Kaiserin, die ganz vernarrt in diese Blume ist, beliebt machen will.

Ich folge einem geschwungenen Weg aus gefrorenen Kieselsteinen in den Park, der in ein Wäldchen übergeht, um zum Mondscheinsee zu gelangen. Er heißt nicht wirklich so. Aber als Kind, als ich eher in der Welt der Märchen gelebt und jede Menge Abenteuer erlebt habe, habe ich ihn so getauft. Dass ich keine Prinzessin bin, die geduldig auf den Prinzen warten kann, ist mir mittlerweile klar geworden. Nur ganz insgeheim gibt es da diese winzige Hoffnung, an die ich mich klammere: dass irgendjemand mich dennoch lieben könnte.

Dabei findet sich offensichtlich nicht einmal ein Tanzpartner.

Am liebsten wäre ich unsichtbar. Dann würde niemand hinter meinem Rücken tuscheln, und ich hätte derlei Probleme nicht.

Der Wind bläst noch eisiger, dort, wo die weggewischten Tränen ihre Striemen hinterlassen. Fast habe ich den See erreicht, als ein Geräusch mich innehalten lässt. Sind das Vögel? Nein. Da sind Stimmen! Ich verlangsame meine Schritte, gehe nun wie ein frisch geborenes Rehkitz auf den Mondscheinsee zu. Ich ziehe das Tuch höher und hole die dicke Haarsträhne hinter dem Ohr hervor, damit sie mir ins Gesicht fällt. Im Schatten einer weiß bestäubten Zeder begutachte ich den See, der in seiner gefrorenen Stille vor mir liegt. Er wird eingefasst von Schilfgras, dessen Grün nur noch ein Wispern unter dem Frost ist. Auf der rechten Seite steht ein Bootshäuschen. Das Dach ist ebenso weiß überzogen und dicke Eiszapfen hängen von den Kanten herunter. Es fehlt einzig eine heimelige Rauchfahne, die gen Himmel zieht, für ein perfektes Winterbild.

Zwei Personen kann ich in der einsetzenden Dämmerung ausmachen. Es müssen Arbeiterinnen sein, ihrer einfachen Kleidung nach zu urteilen. Eine zierliche, mit hohen Wangenknochen, festem Knoten auf dem Kopf und grauem Schal gleitet in einer bezaubernden Anmut über das Eis. In ihren Gliedern steckt keinerlei Angst und es wirkt, als wüsste sie jederzeit genauestens, wie ihre Kufen auf jegliche Bewegungen reagieren werden. Das zweite Mädchen, mit der Brille, agiert nicht ganz so sicher auf dem Eis. Als sie die Richtung ändern will, gerät sie ins Wanken. Die Resolute ist sofort bei ihr und gibt ihr Halt.

Mein Herz krampft sich zusammen. Das muss schön sein. Echte Gespräche führen, nicht nur gedankliche mit einem Hund. Sich mit einer Freundin auf einem abgelegenen See zu treffen und einen lustigen Nachmittag zu verbringen. Katalina fährt ja nur mitten in der Stadt, auf der Fläche des WEK, des Wiener Eislauf-Klubs. Das habe ich vor dem dunklen Tag auch getan. Mittlerweile sind dort jedoch so viele Menschen, dass ich kaum atmen kann. Und da ich es bisher noch nicht geschafft habe, unsichtbar zu sein, starren mich alle an. Daher wäre so ein kleiner Rahmen mir um einiges lieber. Es wäre herrlich, an diesem stillen Ort meine Lage zu besprechen und gemeinsam zu beratschlagen, was zu tun wäre. Im Palais hängen gewiss noch Fetzen des peinvollen Gesprächs in der Luft. Wie soll ich János eigentlich je wieder in die Augen sehen, jetzt, wo ich weiß, wie sehr auch er mich verabscheut? Dass etwas zwischen uns nicht mehr stimmt, merke ich schon seit gut zwei Jahren. Aber dass es so schlimm ist, erschreckt mich.

Während die beiden Arbeiterinnen nahezu lautlos über das dunkle Eis gleiten, flammt in meiner Brust ein Gefühl der Sehnsucht auf. Vielleicht gibt es da unten am See keine Märchenwelt, in die ich flüchten kann, dennoch gibt es eine andere als die, die ich bisher kannte. Eine ohne Opernbälle und Anstandsbesuche, wo Heiratsanträge keine allzu große Rolle spielen. Eine, wo man auch mal lachen darf und sich gegenseitig unterstützt. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber mit einem Mal wünsche ich mir mehr als alles andere, dazuzugehören. Max läuft auf die jungen Frauen zu und sieht auffordernd zu mir zurück.

»Ich soll rübergehen?«, flüstere ich erschrocken.

Für einen Moment sehe ich es vor mir. Wie ich einfach hingehe, mich vorstelle, die Namen der beiden erfahre und wir dann gemeinsam über das Eis schweben. Ich würde erfahren, was sie arbeiten, ein wenig von mir erzählen, und im Anschluss würden wir uns für den kommenden Sonntag abermals verabreden.

So wäre das wohl in der normalen Welt.

Allein die Vorstellung, zu den fremden Frauen hinüberzugehen, lässt allerdings meinen Mund trocken werden und meine Hände schwitzig. Ich spüre das Pulsieren meines Herzens bis in die Ohren.

Ich kann das nicht tun.

Sie würden mich auslachen oder – schlimmer noch – auf der Stelle fortschicken. Mit mir will niemand befreundet sein. Wie oft muss ich abermals auf die Nase fallen, bis ich es begreife? Ich kann dankbar sein, dass Katalina sich mit mir abgibt. Nur wenige Menschen haben so viel Güte. Für eine Sekunde blitzen die gehässigen Augen und das spöttische Grinsen meiner Freundinnen aus Kindheitstagen auf. Ich kann mir tausend Dinge ausmalen, die schön wären. Aber wenn ich nicht erneut durch die Hölle der Ablehnung gehen will, muss ich ehrlich zu mir sein.

»Komm, Max, wir gehen«, flüstere ich und ziehe unauffällig den Rückzug an, obwohl er leise winselt.

Die Tür des Wohnzimmers geht auf, als ich die Hand auf das Treppengeländer lege. Ich höre das Knistern des Kaminfeuers, vor dem Mutter gewiss gesessen hat. Der Bezug des weißen Kissens liegt noch in ihrer Hand. Sie stickt des Abends immer, wenn sie nicht außer Haus ist. Die Wintersaison in Wien ist gefüllt mit sozialen Zusammenkünften. Als ich früher meine Mutter in den eleganten Kleidern an der Seite meines adretten Vaters das Haus habe verlassen sehen, habe ich dem Tag entgegengefiebert, an dem ich ebenfalls auf die zahlreichen Bälle und Soireen durfte.

Das war, bevor ich begriffen habe.

Seit ich weiß, welchen Widerwillen, ja welchen Ekel ich in den Menschen auslöse, hadere ich mit diesem Tag.

»Nikolett, da bist du ja wieder. Wo warst du denn so lange?« Mutter sieht sorgenvoll aus. Wenn es nach ihr geht, lauern draußen an jeder Ecke Gefahren. Dabei ist der schreckliche Unfall zu Hause geschehen. Drüben im weißen Salon. Einst das Lieblingszimmer meiner Mutter, hat die Köchin erzählt, nun betritt es kaum mehr jemand.

»Max und mir war nach einem Spaziergang zumute.«

Ich habe schon fest damit gerechnet, dass Mutter sich jetzt – wie immer – erkundigt, ob ich auch vorsichtig gewesen sei, doch es kommt anders.

»Hör mal, dein Vater und ich haben uns wegen des Opernballs Gedanken gemacht.« Sie räuspert sich, und der Griff um den weißen Stoff des Kissenbezugs wird fester. »Wir haben überlegt, wer ein geeigneter Begleiter sein könnte.«

Mein Bauch zieht sich zusammen und mir wird ganz mulmig. »Aha«, presse ich hervor, wage aber nicht, meiner Mutter in die Augen zu sehen.

»Ja«, sagt sie gedehnt. Sie legt den Stoff beiseite und kommt tiefer in das Vestibül, verhakt die Finger ineinander, sucht sichtbar nach Worten. Wie soll sie ihrer geliebten Tochter schonend beibringen, dass sich so gar niemand für sie opfern will?

Gut, dass ich ohnehin nicht vorhabe, bei diesem fürchterlichen Ball anwesend zu sein. Dort ist die gesamte Welt der Schönen und Reichen anzutreffen, und ich würde wie das Aschenputtel herausstechen. Ohne vorherige Verwandlung natürlich.

»Es gab zwar zahlreiche Bewerber, aber dein Vater und ich haben überlegt, dass János der richtige Begleiter für dich ist.«

»János?«, frage ich mit einer zu schrillen Stimme, da ich meine Überraschung nicht verbergen kann. Der wollte doch nicht!

»Ja. Wir haben zunächst gezögert, da ein junger Mann mit einem … etwas respektableren Hintergrund passender für dich wäre, aber du sollst ihn ja nicht heiraten. Und bei János weiß man, was man hat. Er wird sich ehrenhaft verhalten, da müssen wir uns keinerlei Sorgen machen, und daher ist unsere Wahl auf ihn gefallen.«

Ich nicke. Theoretisch wäre er ein passender Begleiter, obwohl er in jungen Jahren das Vermögen seiner Eltern in den Sand gesetzt hat. Aber eben nur theoretisch.

»H…Hat er denn Interesse daran, die nervige kleine Schwester seines Freundes zum Ball zu geleiten? Und es ist ja nicht nur das, all die Proben und Tanzstunden würden ja auch noch hinzukommen, da steht ihm als aufstrebender Geschäftsmann bestimmt nicht der Sinn danach.«

»Warum nicht? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er etwas dagegen haben könnte. Du müsstest ihn einfach nett fragen, da wird er gewiss nicht Nein sagen.«

Ich starre Mutter an. Sie hat mir soeben direkt ins Gesicht gelogen! Und nun soll ich János bitten, weil es ihm sicherlich noch unangenehmer wäre, die Anfrage mit Blick in meine Augen abzulehnen? Vielleicht sogar dermaßen unangenehm, dass er stattdessen zustimmen würde? Das kann Mutter nicht verlangen!

»Das ist alles sehr nett, Mutter«, sage ich mit gespielter Ruhe, während in mir das Blut kocht, »aber ich habe einen Entschluss gefasst.« Ich steige die ersten Stufen hinauf.

Überrascht sieht Mutter zu mir hoch und neigt den Kopf ein wenig.

»Ich werde nicht auf den Opernball gehen.«

Ein knapper Schrei entfährt ihr, und ich greife nach der ersten Säule des Treppengeländers.

»Aber es ist dein Debüt! Wenn du dort nicht hingehst, kannst du an keinem Ball der Société teilnehmen!«

Das stimmt. Allerdings will ich ohnehin kein Teil dieser Gesellschaft sein, die mir das Leben immer so schwer macht. Und ich möchte lieber von der Gesellschaft verachtet werden, als junge Männer anzuflehen, mit mir zu tanzen. Ich werde einfach den Rest meines Lebens in meiner eigenen kleinen Welt aus Büchern verbringen. Dort ist es sicher.

»Du kannst mich nicht zwingen«, stelle ich fest und gehe eilig die Stufen hinauf.

»Nikolett!«, ruft sie mir überraschend zornig hinterher. »Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen.«

Kapitel 2

Julianna

Als ich hochschrecke, weiß ich im ersten Moment nicht, wo ich bin. Das Geräusch muss mich aus dem tiefsten Schlaf gerissen haben. Kein Wunder. Vorgestern hatten Franz Wilhelm Markow, mein Dienstherr, und seine Gattin Gäste im Haus, und es ist sehr spät geworden. Bis ich abgedeckt und das Geschirr gespült hatte, war nicht mehr viel von der Nacht übrig. Das änderte natürlich nichts daran, dass ich als Erste wieder aufstehen musste, um alle zwölf Kachelöfen im Schloss zu befeuern und Eimer um Eimer Wasser in die Küche zu schleppen. Im Schloss – das eigentlich gar kein richtiges Schloss ist, sondern eher ein großes Gutshaus mit einem Türmchen mit Zwiebeldach in der Mitte – gibt es zwar viele Angestellte, aber ich stehe ganz unten in der Rangordnung. Muss sogar den anderen Hausangestellten zu Diensten sein.

Ein lang anhaltendes Klingeln flirrt durch den schmalen und dennoch eisigen Raum, den ich mit Adreana, der Köchin, und der Kammerzofe teile.

»Jetzt mach schon«, brummt Adreana in ihrem ewig leidenden Tonfall und im Licht des Mondscheines sehe ich, dass sie sich auf die andere Seite dreht.

Um nichts in der Welt will ich mein warmes Bett verlassen. Trotz der Bettwanzen. Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht mehr. Mir fehlt jegliche Kraft. Die Nächte sind ohnehin schon so kurz, und diesen Monat konnte ich keine einzige Nacht zwei Stunden am Stück schlafen, sodass eine unendliche Schwere in meinen Gliedern und mittlerweile auch in meinem Gemüt sitzt. Die Aussicht, nun wieder durch die eisigen Gänge unseres Gesindehauses ins Schloss zu huschen, um mich ehrfurchtsvoll zu erkundigen, womit ich zu dieser nachtschlafenden Stunde zu Diensten sein kann, ist kaum erträglich.

Es gibt nur eine Sache, die mich antreibt, es dennoch zu tun. Das Gesindebuch.

Jenes Dienstbüchlein, das einem gutes Benehmen zollt. Fleiß, Treue, Gehorsam, sittliches Betragen und Ehrlichkeit sind unerlässlich, um eine neue Stellung zu beziehen. Es darf keinerlei Lücken in meinem Buch geben, und den Eintrag würde ich sogar von der Polizei beglaubigen lassen müssen. Dabei darf ich allerdings nicht darauf hoffen, gegen einen schlechten Eintrag Einspruch erheben zu können, hat Adreana mir gesagt. Es ist ihnen einerlei, wie wir hier hausen und dass es oft nicht genug Essen für uns gibt. Wir können froh sein, dass unser Hausherr sich nicht an uns vergreift. Er hat jedoch andere Wege, um uns das Leben schwer zu machen, habe ich gehört.

Wenn ich aber jemals eine bessere Anstellung als diese hier ergattern will, darf ich mir nichts zuschulden kommen lassen. Deswegen zwinge ich meine Beine aus dem Bett und schlüpfe vorsichtig unter der Bettdecke hervor. Dann ist mit etwas Glück noch ein Rest Wärme übrig, wenn ich zurückkehre.

Hastig streife ich meine Strickjacke über, doch mein gesamter Körper zittert bereits vor Kälte. Mit knurrendem Magen entzünde ich die Kerze neben meinem Bett und eile zum Klingelbrett. Welche der Herrschaften benötigt denn meine Dienste? Die gnädige Frau, aber gewiss doch. Allein schon, dass ich sie »gnädige Frau« nennen muss, wurmt mich. Nichts an der ist gnädig!

Ich rufe mich zur Ordnung. Diese Stellung muss ich halten! Ich habe bereits meine erste Anstellung ohne Eintrag verlassen und diese nur bekommen, da ich vorgegeben hatte, direkt aus dem Waisenhaus zu kommen. Was auch so gewesen wäre, wenn man mich dort nicht hinausgeworfen hätte. Ein weiteres Mal würde dieser Schwindel nicht gelingen. Deswegen eile ich weiter. Fünfunddreißig Zimmer habe ich an meinem ersten Tag im Schlösschen gezählt. Es hat etwas Absurdes. Selbst nach zwanzig Jahren Arbeit hätte ich vermutlich noch nicht ausreichend Geld zusammengespart, um mir ein apartes Kleid leisten zu können, ganz zu schweigen davon, meine Mutter zu suchen, und im Schloss lauert in jedem der fünfunddreißig Zimmer der ungenutzte Prunk. Manchmal juckt es mir unter in den Fingern, eine vergoldete Vase in meiner Schürzentasche verschwinden zu lassen, aber auch davor bewahrt mich das Gesindebuch.