Die Hofgärtnerin − Frühlingsträume - Rena Rosenthal - E-Book
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Die Hofgärtnerin − Frühlingsträume E-Book

Rena Rosenthal

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Beschreibung

Blumen sind ihre Leidenschaft. Liebe ist ihr Schicksal. Wird sie es schaffen, ihren großen Traum zu leben?

Oldenburg, 1891. Als Gärtnerin in der Natur zu arbeiten und die schönsten Blumen dieser Welt zu züchten, davon träumt Marleene schon ihr ganzes Leben. Doch ihr Wunsch scheint unerreichbar, denn eine Gärtnerlehre ist allein Männern vorbehalten. Aber Marleene gibt nicht auf: Kurzerhand schneidet sie sich die Haare ab und verkleidet sich als Junge – und bekommt eine Anstellung in der angesehenen Hofgärtnerei. Marleene ist überglücklich! Doch die anderen Arbeiter machen ihr den Einstieg alles andere als leicht, und es wird zunehmend komplizierter, ihre Tarnung aufrechtzuerhalten. Als sie dann auch noch die beiden charmanten Söhne der Hofgärtnerei kennenlernt, werden ihre Gefühle vollends durcheinandergewirbelt. Marleene muss sich entscheiden – folgt sie ihrem Traum oder ihrem Herzen …

»Die Hofgärtnerin« ist eine spannende Familiensaga – angesiedelt in Norddeutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie ist ideal für Leserinnen von historischen Romanen und mitreißenden Liebesgeschichten.

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Seitenzahl: 866

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Autorin

RENA ROSENTHAL hat schon als Kind jede freie Minute in der Baumschule ihrer Eltern verbracht. Die Baumschule in einem kleinen Örtchen in der Nähe von Oldenburg wird heute von ihrer Schwester geführt. Obwohl sie – im Gegensatz zum Rest ihrer Familie – nicht den Beruf der Gärtnerin ergriffen hat, ist ihre Liebe zu Blumen geblieben. Daher war schnell klar, dass ihre erste Familiensaga von duftenden Fliederbäumen und prächtigen Rhododendren handeln soll. Rena Rosenthal lebt heute mit ihrer Familie in Köln.

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RENA ROSENTHAL

DieHofgärtnerin

Frühlingsträume

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Rena Rosenthal

Copyright Deutsche Erstausgabe © 2021 by Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: © Sarah Davis/Arcangel, Anne Krämer/Arcangel; phototropic/Getty Images; Nataliia K, Happy window, Gringoann, Drop of Light, Artens, New Africa, Violetta Honkisz, JeniFotoSpiroview Inc./Shutterstock

Redaktion: Angela Kuepper

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26733-9V005www.penguin-verlag.de

Für meine Eltern

Prolog

Oldenburg, 1881

Normalerweise waren die gut zehn Kilometer von Rastede nach Oldenburg, die Marleene zu Fuß zurücklegen musste, eine Qual. Doch nicht heute. Nicht an diesem besonderen Tag. Marleene wusste noch genau, wie ihre neue Lehrerin ihre Idee zu Beginn des Jahres angekündigt hatte. Fräulein Willenborg war vor den großen Fenstern auf und ab gelaufen, durch die Marleene so oft sehnsüchtig hinausblickte. Dicke Schneeflocken waren draußen vom Himmel gefallen, und die kahlen Zweige der Buchen waren bereits mit einer Schneeschicht bedeckt gewesen, sodass sie ausgesehen hatten, als wären sie mit Zuckerguss überzogen.

»Im Mai möchte ich gerne etwas mit euch ausprobieren. Eine wundervolle Idee, die ich während meiner Ausbildung in Amerika kennenlernen durfte.«

Sofort waren die Mädchen aus den vier Klassen, die sie gleichzeitig unterrichtete, mucksmäuschenstill gewesen. Selbst die Plaudertaschen, denn alle liebten es, wenn Fräulein Willenborg von ihren Erfahrungen in der Neuen Welt berichtete, wo sie das Lehrerinnenseminar absolviert hatte, während ihre Schwester dort sogar studiert hatte.

»Ich möchte, dass jede von euch etwas mitbringt, das euch am Herzen liegt, und hier vorne den anderen etwas darüber erzählt. Ein Vortrag von zehn Minuten, und anschließend beantwortet ihr die Fragen eurer Klassenkameraden.«

Sofort waren Gespräche entbrannt, und das Fräulein hatte mit dem Zeigestock mehrmals auf das Pult schlagen müssen, um für Ruhe zu sorgen. Als endlich Pause gewesen war, hatten alle wild durcheinandergeredet und laut überlegt, was sie mitbringen könnten.

Aber nicht Marleene. Sie hatte es sofort gewusst.

Denn es gab nur eines, was sie über alles liebte. Von ihrem Vater hatte sie so viel darüber gelernt, dass sie gewiss stundenlang darüber sprechen könnte.

Und nun war es so weit.

Vom Schnee war schon lange keine Spur mehr, die Frühlingssonne kitzelte ihre Haut, und auf den Wiesen neben den Feldern surrten Fliegen und Bienen eifrig umher.

Während des gesamten Weges ließ sie den Tontopf in ihren Händen nicht aus den Augen. Heute hatte sie nicht das Glück, ein Stück weit auf einem Pferdefuhrwerk mitfahren zu können, trotzdem war ihr die Strecke noch nie so kurz vorgekommen.

Denn was sie so fest umklammert hielt, war ihr ganzer Stolz. Während die übrigen Kinder ihre Teddybären und Haustiere dabeihatten, wollte Marleene ihren ersten selbst gezogenen Fliederbusch zeigen.

Natürlich hatte ihr Vater ihr geholfen. Er arbeitete in der Oldenburger Hofgärtnerei und hatte mit Erlaubnis des Obergärtners einige der Fliederbüsche für sich vermehren dürfen und sie zu Hause eingepflanzt. So hatte er dafür gesorgt, dass ihr ärmliches Heuerhus von wunderhübschen Fliedern umgeben war. Jetzt blühten sie in Weiß, Lila und kräftigem Rosa und dufteten ganz herrlich. Sobald dieser Duft Marleene auf dem Rückweg in der Nase lag, wusste sie, dass sie zu Hause war. Wenn ihr Vater abends von der Arbeit kam, tanzte er mit ihr durch den Fliedergarten, und sie fühlte sich dabei wie eine Märchenprinzessin. Auch wenn sie sonst nicht viel hatten, war sie zumindest die Fliederprinzessin.

»Du musst schon selbst dafür sorgen, dass du glücklich bist, meene kleene Marleene«, sagte ihr Vater ihr immer wieder und sah ihr dabei fest in die Augen. »Das wird kein anderer tun. Und auch wenn ich kein großes Hoferbe habe, möchte ich doch das Beste aus dem machen, was mir zur Verfügung steht. Daher habe ich den Fliedergarten angelegt. Vielleicht können wir daraus eines Tages eine eigene kleine Gärtnerei aufbauen …«

Dann hatte er ihr gezeigt, wie man einen Zweig so vorbereitete, dass ein neuer Fliederbusch daraus entstand. Das ging nicht ohne Weiteres. Ein Jahr lang musste man allein schon warten, bis er angewachsen war.

Gut, dass sie ihren Flieder bereits vor drei Jahren veredelt hatte. Er war etwas ganz Besonderes, denn die kleinen Blätter seiner Blüten waren nicht einfach nur Weiß oder vielleicht Helllila, nein, sie waren Purpurviolett und von einem strahlend weißen Rand umgeben.

Endlich war Marleene an der Reihe. Voller Stolz zeigte sie ihren Klassenkameradinnen den Flieder und erzählte ihnen alles, was sie darüber wusste. Selbst die Lehrerin, die in Amerika schon so viel gesehen hatte, schien beeindruckt und sprach ein kostbares Lob aus.

»Ich werde auch einen Fliederbusch pflanzen«, rief Marleenes Freundin Annemarie aufgeregt, deren Haare als geflochtene Affenschaukeln über ihren großen Ohren hingen. »Wo bekommt man so einen zweifarbigen her?«

»Das ist gar nicht so einfach. Mein Vater hat gesagt, dieser Flieder wäre eine Sensation. Er ist mehr oder weniger durch Zufall entstanden. Deswegen ist es so wichtig, dass wir ihn vermehren.«

»Und wie geht das?«

»Edelflieder lässt sich nicht aus Samen ziehen. Es ist eine so edle Pflanze, dass sie den Stamm eines robusten Wildflieders braucht, um zu wachsen.«

Ein Raunen ging durch die Klasse.

Ihr Vater hatte ihr geholfen, den dünnen Stamm eines wilden Flieders oben aufzuspalten und den Fliederzweig einzusetzen. Er war erstaunt gewesen, dass in der Gärtnerei keiner seine Begeisterung über den zweifarbigen Flieder geteilt hatte. Der Obergärtner hatte nur mit den Schultern gezuckt und sein Drängen, ihn zu vermehren, mit einem »Jo, dat mogt wie irgendwann« abgetan, da zu der Zeit sehr viel zu tun gewesen war. Aber ihr Vater hatte einen Zweig mit nach Hause nehmen dürfen und ihn Marleene geschenkt.

»Veredelung nennt man das«, erklärte sie abschließend und setzte sich an ihr Pult zurück. Noch immer flüsterten ihre Schulkameraden aufgeregt miteinander.

Einzig Rosalie Goldbach, die Tochter des Hofgärtners, war kein bisschen beeindruckt.

»Das ist doch nichts Besonderes«, sagte sie und warf ihre goldenen Locken, die immer so schön in der Sonne glänzten, nach hinten. »Mein Vater hat jede Menge Fliederbüsche in seiner Gärtnerei, das kann doch jeder«, zischte sie und blickte düster in Marleenes Richtung, deren Herz sich zusammenzog. »Schaut lieber meine Puppe an. Sie kann sogar sprechen!«

Zum Glück stieß ihre Freundin Klara Marleene just in diesem Augenblick den Ellbogen in die Rippen und flüsterte: »Na und? Mein Vater ist Direktor der Glashütte, deswegen behaupte ich noch lange nicht, dass jeder Glasflaschen machen kann.«

Auf dem Rückweg, als sie den Flieder wieder wie ein rohes Ei vor sich hertrug, fühlte Marleene sich so leichtfüßig, als ginge sie auf Wolken.

Doch gerade als sie die Schultern straffte, bekam sie einen kräftigen Schlag in den Rücken, sodass ihr die Luft wegblieb. Sie stolperte, und der Topf fiel zu Boden. Mit einem knirschenden Geräusch zersprang der Ton. Die Erde verteilte sich über den Weg, und der Strauch lag darin wie in einer Lache aus Blut.

Das macht nichts, versuchte Marleene sich zu beruhigen. Irgendwo würde sie gewiss einen neuen Tontopf auftreiben können. Solange den Wurzeln und dem Stamm nichts passiert war, konnte sie das Bäumchen einfach neu einpflanzen. Doch bevor sie sich bücken konnte, hatte sich Rosalie so dicht vor sie gestellt, dass Marleene direkt auf die weiße Bordüre ihres blauen Kleides blickte und die Seife roch, mit der es gewaschen worden war.

»Nur dass du’s weißt, meine sprechende Puppe ist viel spannender als dein dummer Strauch. Pflanzen kann jeder haben. Aber meine Puppe ist durch das halbe Kaiserreich gereist und überaus kostbar. Solche Puppen haben nur wenige Menschen.«

»Ich weiß«, flüsterte Marleene, denn sie selbst hatte ihren Eltern jahrelang wegen einer Puppe in den Ohren gelegen, und sie hatten jedes Mal merkwürdig reagiert. Irgendwann hatte sie herausgefunden, wie teuer Puppen waren – selbst wenn sie nicht sprechen konnten. Ihr war klar geworden, dass das viel zu viel Geld für ihre Eltern war. Selbst auf diese Schule durfte sie nur gehen, weil ihr Vater dem Schuldirektor im Krieg das Leben gerettet hatte.

Also hatte sie die zerlumpte, selbst genähte Stoffpuppe, die nicht mal ein Gesicht hatte, an sich gedrückt und nie wieder nach einer neuen Puppe gefragt.

»Trotzdem ist es für mich etwas Besonderes, wenn ich mit neun Jahren schon mein eigenes Bäumchen gezogen habe.« Das hatte ihr Vater so gesagt. »Und wenn ich das gerne zeigen möchte, ist das meine Sache.«

Marleene bückte sich erneut, doch bevor sie nach dem Flieder greifen konnte, sah sie, wie Rosalies schwarz glänzender Lederschuh sich auf den dünnen Stamm zubewegte. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, und Marleene war starr vor Entsetzen. Sie konnte nur zusehen, wie die Stiefelette mit Wucht auf den Strauch niederging. Rosalie trat mehrere Male zu. Und das Knacken und Knirschen hörte sich an, als wären es Marleenes Fingerknochen, die da brachen. Der Schmerz in ihrem Herzen fühlte sich jedenfalls genau gleich an.

Aus kalten braunen Augen lächelte Rosalie sie an und gab dann ein bedeutungsvolles »Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein« von sich.

Bestürzt blickte Marleene in die Gruppe von Schülern, die um sie herumstanden. Von der Knabenschule waren Rosalies Brüder, Konstantin und Julius, herübergekommen, vermutlich um ihre Schwester abzuholen. In ihren adretten Matrosenanzügen standen sie da. Schließlich tat Julius, der Jüngere, dessen Haare wild zu Berge standen, einen Schritt auf sie zu, aber sein Bruder mit dem peinlich genauen Seitenscheitel zog ihn zurück.

Marleene blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und setzte ein Lächeln auf.

»Danke, dass du das schon einmal vorbereitet hast, Rosalie.« Sie bückte sich und hob die Überreste des Fliederbuschs auf. Er hing nur noch schlaff an der Wurzel, vereinzelte Zweige fielen zu Boden, andere hingen trostlos herunter oder ragten ungelenk zur Seite. »Doch wenn du dir auch nur ein einziges Wort gemerkt hast von dem, was ich heute erzählt habe, dann weißt du, dass man aus jedem einzelnen dieser Zweige einen neuen Fliederbusch machen kann. Versuch das mal mit deiner Puppe, wenn du ihr einen Arm abreißt.«

Ein paar der Schüler kicherten leise.

Rosalie quittierte ihre Worte mit einem eingeschnappten »Pfff!«, verschränkte die Arme und machte so abrupt auf dem Absatz kehrt, dass ihre Locken durch die Luft flogen.

»Ich werde aus diesen Zweigen zwanzig neue Flieder machen«, rief Marleene ihr hinterher, und ihre Mitschüler klatschten begeistert.

Auf dem Rückweg fühlte sie sich jedoch, als wären Kohlenkarren an ihre Beine gebunden. Jeder Schritt war unglaublich anstrengend.

Sie hatte gelogen.

»Ich kann es schaffen. Irgendwie kann ich es schaffen«, sagte sie sich tapfer. Noch am selben Tag könnte sie mehrere Triebe dieses einzigartigen Flieders veredeln. Aber sie war sich nicht sicher, ob es ihr alleine gelingen würde, die Schnitte zu machen. Ihr Vater war schon seit siebzehn Tagen bettlägerig. Keiner wusste, was ihm fehlte. Nicht einmal die Tinktur von Doktor Winkelmann hatte geholfen. Und lange würde der Flieder nicht überleben. Selbst dann nicht, wenn sie ihn zu Hause umgehend ins Wasser stellte.

Mit hängenden Schultern lief sie weiter. Die Traurigkeit füllte jeden Winkel ihres Körpers aus. Sie war kurz vor Rastede, konnte schon die Spitze der St.-Ulrichs-Kirche sehen, als sie jemanden auf sich zurennen sah.

»Marleene, Marleene«, rief er laut, und sie begann ebenfalls zu laufen.

Atemlos kamen sie voreinander zum Stehen.

»Was ist?«

Es war Heini, der Nachbarsjunge. Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Dein Vater! Du sollst sofort nach Hause kommen.«

Und Marleene drückte ihm ihre Schiefertafel und die Überreste des Fliederbuschs in die Hand und rannte los …

1. Kapitel

Oldenburg, 1891 – 10 Jahre später

Es war nicht ihre Art, in den Sachen der Gäste zu schnüffeln. Marleene achtete die Privatsphäre fremder Menschen, was bei einer Anstellung als Zimmermädchen unabdingbar war. Aber das Firmenzeichen auf dem Papier war ihr allzu vertraut, und so hatte sie innegehalten und den Staubwedel beiseitegelegt, um es genauer zu betrachten.

Sie hatte das Emblem schon länger nicht mehr gesehen, und doch förderte das edel geschwungene H, das mit seinem rechten Fuß das G umrankte, die Erinnerungen sogleich aus einem verborgenen Winkel ihres Kopfes zutage. Preisliste der Blumenzwiebeln und Pflanzen, stand in verschnörkelten schwarzen Buchstaben auf dem Deckblatt des dünnen Heftes, das von einer gezeichneten tiefblauen Hyazinthe geziert wurde. Frühjahr 1891, Hofgärtnerei Goldbach, Oldenburg. Marleene ließ sanft die Finger darübergleiten.

Sie schlug das Heft auf und las die botanischen Namen, die sogleich Bilder der dazugehörigen Pflanzen in ihr hervorriefen. Da waren Maiglöckchen – Convallaria majalis – aufgeführt, und Marleene sah vor sich, wie die zierlichen Gewächse schüchtern ihre weißen Köpfe in die Höhe reckten und so taten, als wären sie überhaupt nicht giftig. Oder Narcissus pseudonarcissus, die Narzisse, die mit ihrem leuchtenden Gelb wie eine kleine irdische Sonne wirkte, ganz ähnlich wie die Blüten des Cornus mas, der Kornelkirsche, bevor sich ihre roten Früchte ausbildeten, aus denen man so köstliche Marmelade machen konnte.

Unter dem Heft lag ein niederländisches Gartenmagazin. Allem Anschein nach war dieser Gast aus Holland angereist, um mit der Hofgärtnerei Geschäfte zu machen. Aber natürlich. Die Hofgärtnerei war weithin bekannt für ihre besonders hochwertigen Gewächse, und es war naheliegend, dass auch Menschen aus den Nachbarländern dort einkauften.

Marleene seufzte unwillkürlich, als schmerzhafte Erinnerungen in ihr aufstiegen. Das kalte Blau in den Augen des Chefs der Hofgärtnerei, Alexander Goldbach, als er sie auf ihre Frage hin, ob sie eine Lehre in der Gärtnerei antreten dürfe, ausgelacht hatte …

Sie legte das Heft zurück und griff wieder nach dem Staubwedel. Wie schön musste es sein, mit Pflanzen zu arbeiten, statt den ganzen Tag Zimmer zu putzen. Es war ihr größter Traum gewesen, eine Gärtnerlehre in der Hofgärtnerei zu machen. Wann immer sie von Pflanzen umgeben war, fühlte sie sich ihrem Vater nahe. Und sie liebte die Arbeit an der frischen Luft, das Gefühl der kühlen Erde an ihren Händen, den Duft von Regen und das leuchtende Grün der Gewächse in der Sonne. Wenn sie mit Pflanzen arbeitete, hatte sie das Gefühl, etwas Schönes und Sinnvolles zu tun.

Stattdessen war sie hier drinnen gefangen und schrubbte Tag für Tag Böden und bezog die Betten frisch.

Denn nicht nur bei Herrn Goldbach, sondern auch in jeder anderen Gärtnerei hatte sie eine Absage auf ihr Anstellungsgesuch bekommen. Zum Schluss war sie sogar ein weiteres Mal zur Hofgärtnerei gegangen und hatte den Chef aus ihrer Verzweiflung heraus regelrecht angefleht. Doch er war unerbittlich gewesen. Er hatte sich nicht einmal davon erweichen lassen, dass schon ihr Vater unter seinem Schwiegervater dort gearbeitet hatte.

»Du kannst als Hilfsarbeiterin beim Unkrautjäten und Pikieren helfen«, hatte er gesagt. »Ansonsten sind Frauen für den Beruf des Gärtners ungeeignet.«

Natürlich. Als Frau war sie für niedere Arbeiten gerade gut genug, für die man feine Hände brauchte, wie beim Unkrautjäten und dem Verpflanzen der frischen Setzlinge. Aber Marleene war nicht dumm. Sie wusste, wie wichtig es heutzutage war, eine Lehre zu machen. Zumal sie von ihrem spärlichen Lohn auch die Kosten für die Unterbringung ihrer kranken Mutter zahlen musste. Das war mit dem Lohn einer einfachen Hilfsarbeiterin nicht möglich. Deswegen war sie nun wohl oder übel Zimmermädchen.

Als sich die Tür öffnete, zuckte sie zusammen, obwohl sie nichts Verbotenes getan hatte. Immerhin lag die Preisliste offen da und war mit Sicherheit nicht geheim, man konnte sie schließlich per Brief anfordern. Die Werbeanzeige dafür hatte sie erst neulich in den Oldenburger Nachrichten gesehen, die sie im Hotel für die Gäste bereithielten.

Ein Mann in feinem Zwirn, die Haare mit Pomade zurückgekämmt, trat ein. Sein Lächeln wurde so breit, als er sie erblickte, dass sie die Wurzeln seiner Zähne durch das Zahnfleisch schimmern sehen konnte.

»Na, wen haben wir denn da?«, fragte er mit holländischem Akzent.

Marleene stemmte den Wäschekorb, von dem ein unangenehmer Geruch ausging, auf ihre linke Hüfte und eilte zur Tür. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich habe Ihr Zimmer in Ordnung gebracht, jetzt ist alles für Sie bereit.«

Sie knickste und wollte sich an dem Mann vorbeischieben, aber er trat im selben Moment einen Schritt auf sie zu, sodass sie nicht durch die Tür schlüpfen konnte. Dann sah er ihr direkt in die Augen.

»Also kann ich das Bett jetzt wieder unordentlich machen?«

Marleenes Herz begann zu klopfen. Ihr gefielen weder seine Worte noch, wie er sie ansah.

»Wie es Ihnen beliebt«, erwiderte sie knapp, schob den Korb auf ihrer Hüfte etwas höher und drängte sich nun entschieden an ihm vorbei. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und im langen, dunklen Hotelflur stand, atmete sie auf. Schnell entfernte sie sich von dem Zimmer. Die Holzdielen verströmten den Geruch von Bohnerwachs, der sie täglich umgab, ihr Knarren hatte etwas Tröstliches.

Sie hasste solche Gäste. Gerade die besonders Reichen waren oft der Meinung, dass sie das Zimmermädchen gleich mitgebucht hätten. Schon öfter hatte sie sich aus solchen Situationen herauswinden müssen.

Wie zum Schutz zog sie die weiße Haube tiefer ins Gesicht und versuchte, ihre weizenblonden Haare, die sie geflochten und hochgesteckt hatte, darunter zu verbergen. Am Ende des Flures nahm sie die geschwungene Treppe in den nächsten Stock. Dabei stieß sie fast mit Sophie zusammen, die gerade die Treppe herunterrannte.

»Du hast es aber eilig«, sagte Marleene zu dem jungen Mädchen, das mit ihr im Hotel arbeitete.

»Ich soll sofort zu Frau Holthusen kommen, hat Bertha mir gerade ausgerichtet. Mal sehen, was ich jetzt wieder verbrochen habe.« Sophie verdrehte die Augen und eilte weiter.

»Viel Glück«, rief Marleene ihr hinterher. »Und denk an deine Schürze.«

Sophie sah an sich herab und bemerkte, dass ihre weiße Schürze verrutscht war. Frau Holthusen, ihre Chefin, war ziemlich streng, und auf korrekt gebundene und fleckenlose Schürzen legte sie besonders viel Wert. Sie betonte immer, dass dies das Aushängeschild des Hotels sei und einen direkten Rückschluss auf die Qualität des Hauses zulasse. Sophie lächelte Marleene dankbar zu und eilte weiter. Marleene holte den Putzwagen für dieses Stockwerk aus der kleinen Abstellkammer und betrat das nächste Zimmer. Als Erstes machte sie sich daran, das Bett frisch zu beziehen, mit Ecken, so spitz gefaltet, dass Frau Holthusen mit Sicherheit nichts zu beanstanden hätte. Dann griff sie nach dem Staubwedel. Selbst auf den Bilderrahmen durfte kein einzelnes Staubkorn mehr zu finden sein, das war ihr nach fast drei Jahren im Hotel nur allzu bewusst.

Als sie mit dem Putzen fertig war, gönnte sie sich eine kleine Annehmlichkeit. Sie war seit dem frühen Morgen auf den Beinen und brauchte dringend frische Luft, um die Müdigkeit zu vertreiben. Also öffnete sie die Tür zum Balkon, den dieses Zimmer als eines von dreien aufwies, und trat ins Freie. Das Hotel Holthusen war ein Eckhaus, und so konnte sie nicht nur den Centralbahnhof auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sondern auch die Eisengießerei am Ende der Bahnhofstraße sehen. Sie legte die Hände auf die schmiedeeiserne Balustrade und genoss die Winterluft, die unter ihre Haube fuhr.

Sie wandte sich zur anderen Seite, und obwohl der Bahnhof mit seinem Treppengiebel und den Bogenfenstern um Aufmerksamkeit buhlte, wanderten ihre Augen wie von selbst zu der kleinen Grünanlage davor. Vier Beete bildeten einen großen Kreis, unterbrochen von zwei diagonalen Fußwegen. Die runde Aussparung in der Mitte wurde nachts von einer Straßenlaterne beleuchtet. Bänke luden zum Verweilen ein.

Auf der Straße um das Kreisbeet herum fuhren Kutschen. Ein Pferd, das vor einen Holzwagen gespannt war, stand mit gesenktem Kopf ganz allein da und wartete darauf, dass sein Herr zurückkehrte. Es wirkte genauso niedergeschlagen, wie Marleene sich fühlte. Seufzend kehrte sie ins Zimmer zurück, denn sie hatte noch genug zu tun.

Drei Stunden später hatte sie die sechs Gästezimmer des vierten Geschosses gründlich geputzt. Das war das Gute an der oberen Etage: Sie hatte weniger Räume als die beiden Stockwerke darunter. Ganz unten im Erdgeschoss putzte Marleene gar nicht gerne. Dort befanden sich der Lese- und Rauchsalon und das Restaurant. Der Salon war zwar sehr hübsch mit den glänzenden Kronleuchtern und dem antiken Büfettschrank, aber oft hing hier selbst am nächsten Morgen noch der kalte Rauch so stark in der Luft, dass sie Kopfschmerzen davon bekam. Das daran anschließende Restaurant hatte elegante Bogenfenster und Stuck an der Decke. Hier mussten die Zimmermädchen mühselig die zahlreichen Stühle auf die Tische stellen, und in dem weitläufigen Raum gab es keine einzige Pflanze. Selbst die Blumen auf den Tischen hatte Frau Holthusen im vergangenen Jahr gegen künstliche getauscht. Marleene war überzeugt, dass man sich in so einem toten Raum unmöglich wohlfühlen konnte. Sie selbst hatte zwei kleine Fliederbäumchen in ihrer spärlichen Kammer in der Arbeiterherberge stehen. Am liebsten hätte sie noch viel mehr gehabt, doch die Kammer bot nicht viel Platz, und sie und ihre Cousine mussten sparen, wo es ging.

Die nächsten Stunden verbrachte Marleene in der Waschküche, um die Bettwäsche wieder blütenweiß zu bekommen. Der Dampf des kochenden Wassers machte die Strahlen der Frühlingssonne sichtbar, die durch die Luken hereinfielen. Die Fenster der Gästezimmer waren groß und von Verzierungen umgeben. Hier im Keller waren es nur zwei kleine Öffnungen, wie Luken aus der Unterwelt, mit Blick auf die Straße vor dem Bahnhof. Sie versuchte, draußen etwas zu erkennen, aber der Dampf machte es unmöglich. Rasch öffnete sie eine Luke, und die beschlagenen Hufe eines Pferdes klapperten nicht weit von ihr vorbei, gefolgt von den hölzernen Rädern der Droschke. Dann war der Blick zum Bahnhofsvorplatz frei, und Marleene sah sehnsüchtig zu den Kirschen und den Wacholderbüschen hinüber.

Tief sog sie die kühle Luft ein. Vielleicht würde sie den Duft der Krokusse herübertragen, die sie am Morgen dort gesehen hatte. Wie es wohl sein mochte, jeden Tag an der frischen Luft arbeiten zu dürfen?

Gedankenverloren kehrte sie zu dem dampfenden Waschkessel zurück und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Sie würde am späten Abend, wenn sie endlich zurück in der Arbeiterherberge war, auch ihre Kleidung waschen müssen. Sie wünschte, sie könnte wenigstens eine Lage der Unterröcke ausziehen, aber das ziemte sich nicht, wie Frau Holthusen zu sagen pflegte.

Marleene war erleichtert, als sie endlich die gesamte Bettwäsche gewaschen und auf dem Trockenboden aufgehängt hatte. Sie ging ins Hotelrestaurant, wo Frau Holthusen um diese Zeit hinter der Theke stand. Ihr Mann war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, und so hatte sie die Führung des Hotels übernommen.

»Alle Zimmer sind geputzt, und die Bettwäsche ist gewaschen. Darf ich gehen, oder gibt es noch etwas zu tun?« Sie arbeitete nun seit zwölf Stunden und sehnte sich nach ihrem Bett. Hoffnungsvoll sah Marleene ihre Chefin an, die gerade Weingläser polierte.

»Nein, noch nicht.« Frau Holthusen hielt kritisch ein Glas in die Luft. »Helga war unpässlich, und ich musste sie nach Hause schicken. Ich brauche dich zum Essenauftragen. Tisch fünf wartet auf die Vorspeise.« Sie nickte zu einem von drei besetzten Tischen hinüber.

Oh nein. Nicht ausgerechnet der! Marleene zwang sich, tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Sie hatte sich bereits daran gewöhnt, dass jegliche Extraarbeit an den übrig gebliebenen Mädchen hängen blieb. Aber lieber würde sie vom Fußboden essen, als diesem Gast das Essen zu servieren. Es war der Holländer.

Doch sie hatte keine Wahl. Widerworte duldete die Hoteldirektorin nicht.

»Was stehst du noch hier herum?«, fragte Frau Holthusen unwirsch. Marleene verschwand durch die Schwingtür am Ende der Theke in die Küche und atmete tief ein. Immerhin gab es nicht viel, was dieser Mann vor den Augen aller Anwesenden machen konnte.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, balancierte sie zwei gut gefüllte Suppenschüsseln auf Untertellern vor sich her. Sie war so müde, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment alles fallen zu lassen. Wenigstens durften sich die Mädchen, die das Essen auftrugen, die Reste aus der Küche mitnehmen. Heute würde sie also nicht hungrig zu Bett gehen müssen.

Der Holländer und sein Begleiter waren nun in Hörweite. Marleene verlangsamte unwillkürlich ihre Schritte, denn alles in ihr wehrte sich dagegen, diesen widerwärtigen Kerl zu bedienen. Bestimmt roch er wie eine Ratte, die in ein Fass mit Pomade geplumpst war. Mit einem Mal merkte sie auf und spitzte die Ohren. War da nicht gerade das Wort Hofgärtnerei gefallen?

»Also, die Pflanzen waren ja in Ordnung, aber hast du das Unkraut überall gesehen? Da müssten die wirklich mal was tun. Sonst haben die bald mehr Unkraut als Pflanzen anzubieten.«

Der Holländer mit dem schütteren Haar lachte, aber es klang so kratzig, als hustete er.

»Du musst schon etwas Nachsehen haben. Die Hofgärtnerei hatte es in diesem Jahr nicht leicht. Zwei Mitarbeiter sind ausgefallen, und wie ich gehört habe, mussten sie jetzt auch noch den Lehrling entlassen. Pflanzen hat er mitgehen lassen, dieser Spitzbube. Sie sind also mehr als schlecht aufgestellt, da ist Unkraut natürlich das Letzte, worum sie sich kümmern können.«

»Sehr wahr. Der Besitzer schien mir auch reichlich durch den Wind. Nicht mal wiedererkannt hat er mich, obwohl ich jedes Jahr komme.«

»Ach, da musst du dir bei dem Goldbach keine Gedanken machen. Der ist nicht gut mit Gesichtern …«, sagte der andere Mann, während Marleene die Suppe vor ihm auf den Tisch stellte.

Ihre Gedanken schwirrten durcheinander wie ein Bienenschwarm. Sie hatten keinen Lehrling mehr und einen Mangel an Arbeitern? Sollte das etwa … Das Klirren der zweiten Suppenschüssel auf der Untertasse holte sie aus ihren Gedanken zurück. Im letzten Moment bekam sie die Schüssel noch zu fassen, sodass sie immerhin nicht zu Boden fiel und zerbrach. Aber ein wenig Suppe war über den Rand geschwappt, und die Hitze fraß sich durch ihre Haut. Eilig stellte sie die Schüssel ab, schüttelte ihre Finger und wischte sich die verschmierten Hände in ihrer Schürze ab.

Frau Holthusen kam herbeigelaufen.

»Was ist denn hier los?«

»Alles in Ordnung, junge Frau«, sagte der holländische Gast zu ihrer Chefin, die alles andere als jung war. »Ihre Bedienung war nur ein wenig stürmisch.«

Frau Holthusen wischte mit dem Geschirrhandtuch über den Tisch, wo ein winziger Suppenfleck zu sehen war. »Es tut mir aufrichtig leid, Herr de Vos, das wird nicht wieder vorkommen. Ich bin untröstlich.« Sie warf Marleene einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Aber, aber, meine Liebe, das kann doch mal passieren. Grämen Sie sich nicht.«

Er lehnte sich auf dem gepolsterten Holzstuhl zurück und stieß sein hustendes Lachen aus. »Unverzeihlich wäre es nur, wenn ich nicht bald etwas Ordentliches zu essen bekäme. Von so einer halben Suppe wird man ja schwerlich satt.«

Frau Holthusen wandte sich an Marleene. »Worauf wartest du noch? Hol eine frische Suppe aus der Küche. Du hast doch gehört, was Herr de Vos wünscht.«

Marleene knickste leicht.

»Sehr wohl.« Sie wandte sich um, doch de Vos ließ es sich nicht nehmen, ihr dabei einen kräftigen Klaps auf den Hintern zu geben.

»Auf, auf, meine Gazelle«, rief er ihr hinterher, was alle Anwesenden zum Lachen brachte.

Marleene hätte sich am liebsten geschüttelt. Was dachte sich dieser Widerling bloß? Wieso meinte er, sie wie Freiwild behandeln zu dürfen, und kam damit auch noch durch? Sie nahm sich vor, nach dem Servieren des Hauptgangs so zackig vom Tisch zu verschwinden, dass ihm eine solche Dreistigkeit nicht erneut gelang. Als er beim nächsten Mal statt auf ihr Hinterteil ins Leere schlug, konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Wünschen Sie noch eine Nachspeise?«, fragte sie, wie es die Etikette erforderte, nachdem sie erfolgreich weiteren Klapsen und Berührungen aus dem Weg gegangen war.

»Was steht denn zur Wahl?«, fragte Herr de Vos mit einem vielsagenden Blick, der ihr die Kleidung förmlich vom Leib riss. »Gibt es auch Gazelle?«

***

»Bitte, Frau Holthusen, ich übernehme gern drei andere Zimmer. Nur nicht die 57. Ich flehe Sie an.« Marleenes erster Weg am nächsten Morgen hatte sie ins Kontor der Hoteldirektorin geführt, um ihre Bitte vorzutragen. Auf dem gesamten Nachhauseweg zur Arbeiterherberge und in der kleinen Kammer, die sie sich mit ihrer Cousine teilte, hatte Marleene voller Unbehagen über den Holländer nachgedacht. Jetzt hatte sie allen Mut zusammengenommen, um ihr Anliegen vorzubringen.

Frau Holthusen sah nur kurz von ihren Notizen auf. Sie war blass, und selbst aus mehreren Metern Entfernung konnte Marleene riechen, dass die Direktorin wieder heimlich geraucht hatte. Unbewusst hielt sie die Luft an.

»Ich bitte dich, Marleene, wo kommen wir denn da hin? Wenn jetzt jedes Zimmermädchen nur noch ihre Wunschzimmer putzt, dann werden wir gar nicht mehr fertig. Und es ist ja nicht so, als ob er handgreiflich geworden wäre.«

»Das nicht, aber ich habe wirklich ein sehr ungutes Gefühl nach diesem … Vorfall. Bitte, nur dieses eine Mal. Ich verspreche Ihnen, dass ich nie wieder derartige Sonderwünsche haben werde.«

Marleene hoffte inständig, Frau Holthusen würde verstehen, wie viel Angst sie hatte. Erkannte sie denn nicht, was für ein Mensch dieser Holländer war?

»Vorfall? Er hat ein paar lustige Sprüche zum Besten gegeben. Es gab keinen Vorfall. Und jetzt geh bitte an die Arbeit, Marleene, ich habe für solche Sperenzchen wirklich keine Zeit.«

Marleenes letzte Hoffnung hatte sich in Luft aufgelöst. Hatte Frau Holthusen recht? Hatte sie womöglich überreagiert? Nein, ihr Instinkt trog sie nicht. Der Blick des Mannes hatte etwas Lauerndes gehabt, und sie war sich sicher, er würde nicht zögern, sie bei der nächsten Gelegenheit wieder zu bedrängen.

»Ach, Marleene?«

Voller Hoffnung wirbelte sie herum und sah die Direktorin erwartungsvoll an.

»Mach dir keine Sorgen. Eik de Vos will heute die Gärtnerei Birkenfeld besuchen und erst spät am Abend zurück sein, wie ich gehört habe. Du wirst ihn höchstwahrscheinlich nicht einmal zu Gesicht bekommen.«

Marleene nickte, deutete einen Knicks an und verließ mit hängenden Schultern den Raum. Es war gut zu wissen, dass der Holländer außer Haus sein würde, aber so richtig wollte sich die Erleichterung bei ihr nicht einstellen. Nach wie vor hatte sie das Gefühl, er könnte ihr hinter jeder Ecke auflauern. Nur zwischendurch gelang es ihr, sich mit der verrückten Idee abzulenken, wie sie vielleicht doch noch eine Lehrstelle ergattern könnte. Die Idee war ihr in der Nacht gekommen, als sie trotz aller Müdigkeit nicht hatte schlafen können und ihre Gedanken wieder zur Preisleiste und der Hofgärtnerei gewandert waren.

Aber es würde niemals funktionieren.

Es war nur eine klägliche Lösung für ihre Misere, geboren aus der Verzweiflung. Dabei sollte sie wohl dankbar sein für das, was sie hatte. Die Arbeit als Zimmermädchen bescherte ihr zwar keinen besonders guten, aber doch einen regelmäßigen Lohn, auf den sie und ihre Mutter angewiesen waren.

Die Reinigung des Zimmers von Herrn de Vos schob sie immer weiter nach hinten. Vielleicht würde sie ja Sophie oder Bertha treffen und heimlich Zimmer tauschen können. Doch als sie am Nachmittag ihren Kolleginnen im zweiten Stock begegnete, wurde ihr auch dieser letzte Strohhalm genommen, an den sie sich geklammert hatte. Bertha starrte konzentriert auf die Astlöcher in den Holzdielen, und Sophie wurde ganz blass und stammelte: »Also, wenn Frau Holthusen es untersagt hat …«

»Du hast recht.« Marleene nickte. »Entschuldige, ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«

Mit Frau Holthusen wollte es sich niemand verscherzen. Sie erhob zwar selten die Stimme, aber sie zögerte nicht, wenn es um Kündigungen ging. Marleene hatte schon viele Kolleginnen kommen und wieder gehen sehen. Auch deswegen hatte sie lange gezögert, ob sie mit ihrer Bitte wirklich an die Hoteldirektorin herantreten sollte. Aber noch weniger wollte sie eines der anderen Mädchen in eine missliche Lage bringen.

Als sie schließlich mit den übrigen Zimmern fertig war, kam Marleene nicht länger umhin, sich um die 57 zu kümmern. Mit angehaltenem Atem schloss sie die Tür auf. Alles war ruhig. Das Bett war zerwühlt, zwei Gläser standen auf dem Tisch, es roch muffig. Sie öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Dann machte sie mit routinierten Handgriffen das Bett und verdrängte dabei den Gedanken, dass dieser Widerling darin geschlafen hatte. Sie nahm frische Gläser von ihrem Wagen und stellte sie neben die Cognacflasche auf dem Sekretär. Immer auf der Hut, wechselte sie die Handtücher, leerte die Mülleimer und wischte mit dem großen Wedel Staub. Zum Abschluss warf sie hektisch einen letzten prüfenden Blick um sich, ob auch alles tadellos aussah.

Sie hatte es geschafft. Erleichtert drehte sie sich um – und zuckte zusammen. Dort stand er. Er hatte seinen massigen Körper an den Türrahmen gelehnt, das obligatorische Grinsen verzog seine Oberlippe zu einem dünnen Strich. Wie lange hatte er sie von seiner Position an der Tür aus beobachtet?

Am liebsten wäre sie davongestürzt, doch sie fühlte sich, als wäre sie fest mit dem Boden verwurzelt, und konnte sich vor lauter Angst nicht rühren.

De Vos kam herein und löste dabei seinen Blick keine Sekunde von ihr.

»Oh, welch charmanter Besuch.«

Marleene hob den Staubwedel auf und wollte sich an ihm vorbeischieben. »Ich bin nur meiner Arbeit nachgegangen.«

»… und hast dir dabei besonders viel Zeit gelassen.« In einer fließenden Bewegung wandte er sich um, machte die Tür zu und drehte zweimal den Schlüssel um.

Dann kam er langsam auf sie zu.

»Ich habe die anderen Zimmermädchen bereits in der Küche miteinander schwatzen hören. Alles so süße junge Dinger, mit ihren weißen Schürzen und den Häubchen. Ihr versteht es schon, den Männern den Kopf zu verdrehen.« Mit diesen Worten zog er ihr die Haube vom Kopf. »Aber ich mag euch so noch viel lieber.«

Marleene war noch immer wie erstarrt, als er begann, ihre Zöpfe zu lösen, und die Haare auf der linken Seite ihres Kopfes in sanften Wellen bis zu ihrem Ellbogen herabfielen.

»Hmmm, Haare wie Honig«, säuselte er genüsslich.

Sie unterdrückte ein Zittern.

»Hören Sie auf, ich möchte das nicht«, sagte sie. Endlich erwachte sie aus ihrer Starre und wich einen Schritt zurück, doch er zog sie zu sich heran und hielt sie fest. Verzweifelt versuchte Marleene, sich aus seinem Griff zu lösen.

»Ich habe schon verstanden, was du möchtest. Immer das Gleiche mit euch jungen Dingern. Ihr sagt das eine und meint das andere. Ihr wollt erobert werden.« Mit einem Ruck drückte er sie an sich.

Als er mit dem Kinn über ihre Wange rieb und sie spürte, wie sein Bart ihre Haut zerkratzte, versuchte sie ihn mit aller Kraft von sich zu stoßen.

»Nehmen Sie die Finger von mir, sonst schreie ich das ganze Hotel zusammen!«

Er seufzte ergeben.

»So eine bist du. Erst süße Versprechungen machen und dann doch nicht wollen. Aber ich verstehe schon.« Schnell griff er nach der Aktentasche, die er neben der Tür auf den Boden gestellt hatte. »Alles hat seinen Preis. Auch du musst überleben.« Er holte seinen Geldbeutel hervor. »Also, wie viel soll es kosten?«

Ungläubig starrte Marleene ihn an. War das sein Ernst? Vielleicht war doch alles einfach nur ein Missverständnis. Er dachte wohl, dass sie eine von diesen Frauen wäre, die ihren Körper verkauften. In der Mottenstraße, wo sie wohnte, gab es einige Verzweifelte, die dazu gezwungen waren. Marleene wusste auch, dass manche Mädchen, die in Diensten waren, auf diese Weise ihr Gehalt aufbesserten. Für sie käme das jedoch niemals infrage. Sie musste das Missverständnis auf der Stelle klären, dann würde er die Finger von ihr lassen.

»Sie verstehen nicht«, begann sie, »ich bin nicht … so eine.«

De Vos lachte gehässig. »Ich weiß. Am Anfang seid ihr es alle nicht.« Er stopfte ihr einen Zehnmarkschein in das Dekolleté. »Ich denke, das sollte genügen.«

»Nein!«, schrie Marleene, griff hektisch nach dem Geld und warf es von sich. De Vos aber löste mit der linken Hand den Knoten ihrer Schürze und nagte an ihrem Hals, was in seiner Welt wohl Küssen gleichkommen sollte.

Marleene schlug mit geballten Fäusten auf seine Brust ein. »Nein, nein, nein! Ich will es wirklich nicht. Nicht für alles Geld der Welt!« Es war in der Tat mehr Geld, als sie monatlich verdiente, doch niemals würde sie ihren Körper verkaufen. »Lassen Sie mich los!«

Sein Griff wurde fester und seine Stimme gereizter. »Was willst du denn noch? Mehr bist du nun wirklich nicht wert, Kleine. Ganz possierlich bist du ja, doch eigentlich ist das bei Weitem genug.« Er zögerte einen Moment. »Aber ich sag dir was. Wenn du noch Jungfrau bist, lege ich einen Fünfer obendrauf.«

»Was?« Entgeistert sah sie ihn an. Sie war neunzehn Jahre alt, und natürlich hatte sie sich noch keinem Mann hingegeben, aber das würde sie ihm niemals offenbaren. Leider hatte ihr Ausdruck sie wohl verraten. Abermals verzog sich sein Gesicht zu einem schmierigen Grinsen. »Habe ich’s mir doch gedacht.«

Marleene versuchte sich zu befreien, um zur Tür zu gelangen, doch sein Griff war erbarmungslos. Sie hämmerte mit den Fäusten wild auf ihn ein, als er sie gegen die Wand drängte und sein Zwiebelgeruch ihr in die Nase stieg. Sie schrie aus Leibeskräften, schmeckte den salzigen Geschmack seiner Finger, die sich auf ihren Mund pressten. Sie unterdrückte den Würgereiz, riss den Kopf zur Seite und schrie jetzt so laut, dass man sie bestimmt bis nach Rastede und Wiefelstede hören konnte.

Doch es dauerte schier eine Ewigkeit, bis ihre Hilferufe erhört wurden.

Es ruckelte an der Tür, und Frau Holthusen betrat zusammen mit Sophie das Zimmer. Sie hatte sich vermutlich mithilfe eines Zweitschlüssels Einlass verschafft. Sofort ließ de Vos von Marleene ab. Sie musste ein jämmerliches Bild abgeben, wie sie da mit verheultem Gesicht, gelöstem Haar und geöffneter Schürze im Zimmer des Gastes stand.

»Marleene, warum schreist du hier Zeter und Mordio? Was ist nun wieder los?«, fragte Frau Holthusen mit tadelndem Blick.

»Ich, ich, ich …« Marleene sah zu dem Holländer hinüber, der soeben seinen Anzug glatt strich. Wie sollte sie das Ganze nur erklären? Warum musste sie es überhaupt erklären? War es nicht offensichtlich, dass er sich an ihr vergehen wollte? »Er …«, setzte sie an, doch da ergriff de Vos das Wort.

»Es tut mir sehr leid, wenn das junge Fräulein mich missverstanden hat. Ich hatte sie lediglich um einen kleinen Gefallen gebeten, aber sie scheint meine Worte völlig falsch verstanden zu haben. Ehe ich mich versah, hat sie auf einmal wie wild geschrien und an der Tür gerüttelt.« Er drehte in gespielter Unwissenheit die Handflächen nach außen. »Dabei hätte ich sie doch sofort geöffnet, wenn sie mir nur die Gelegenheit dazu gegeben hätte.«

Frau Holthusen schüttelte resigniert den Kopf. »Marleene, hatte ich nicht gesagt, keine Sperenzchen?«

Sperenzchen? Marleene schnappte nach Luft. Das hier waren doch keine Sperenzchen gewesen! Um ein Haar hätte er ihr Gewalt angetan.

»Aber er …«, stammelte sie, doch dann brach sie ab.

Auf Frau Holthusens Stirn zeichneten sich Zornesfalten ab. Sie wandte sich de Vos zu, und Marleene freute sich schon darauf, dass sie ihm gehörig die Leviten lesen würde. Das konnte ihre Chefin gut, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Es tut mir aufrichtig leid, dass unser unerfahrenes Zimmermädchen Ihre Worte in den falschen Hals bekommen hat. Ich bitte Sie, ihr dies nachzusehen.«

Über ihre Schulter sah sie Marleene an. Es war der gleiche Blick, den sie aufsetzte, wenn sie einen nicht geleerten Mülleimer entdeckte. Der Blick, der in Marleenes Innerem alles gefrieren ließ … Er sagte ihr, dass sie in den Augen ihrer Chefin nichts als ein niederes Wesen war, dumm genug, diesen vermaledeiten Fehler zu machen. Einen Fehler, der für alle anderen offensichtlich war und für den man es verdient hätte, entlassen zu werden.

»Marleene, entschuldige dich bei Herrn de Vos.«

Nein! Das konnte, das durfte ihre Chefin nicht von ihr verlangen. Sie hatte nichts falsch gemacht. Alles in Marleene zog sich zusammen. Niemals würde sie diese Worte über die Lippen bringen und sich damit selbst verraten. Sie hatte nichts falsch gemacht. De Vos müsste sich entschuldigen. Wenn sie es täte, würde es bedeuten, dass Frauen wirklich weniger wert waren, dass ihr Wort nicht zählte.

Sie presste die Lippen zusammen. »Aber ich …«

Frau Holthusen hob die Augenbrauen und legte den Kopf schief. Sie musste nichts sagen. Ihr Blick vermittelte ihr die Botschaft unmissverständlich. Wenn dir deine Anstellung lieb ist, dann tu, wie dir geheißen.

Hilfe suchend sah Marleene sich im Raum um. Sophie war voller Mitleid, aber sie konnte ihr nicht helfen. Niemand konnte das. Frau Holthusen hatte sich gegen sie und für den Gast entschieden.

Marleene schloss die Augen. Das Atmen erschien ihr unsagbar schwer, und ihre Kehle brannte, als hätte jemand zu fest zugedrückt. Eine Entschuldigung würde ihr das letzte bisschen Würde nehmen.

»Marleene«, sagte Frau Holthusen, die Drohung in ihren Worten war schwer zu überhören.

Marleene holte tief Luft. Sie brauchte diese Arbeit. Ohne Lohn würde nicht nur sie auf der Straße sitzen, sondern auch ihre Mutter.

Sie trat vor, und es fühlte sich an, als watete sie durch Tiefschnee. Herr de Vos trug wieder sein Schmiergrinsen. Die Wut, die dieses Grinsen in ihr weckte, gab ihr die Kraft für die Worte. Sie schleuderte sie heraus, ohne noch länger darüber nachzudenken, denn sie wusste, dass sie es sonst nicht schaffen würde.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte sie, jedoch ohne ihm in die Augen zu blicken. Trotzdem schabte jedes einzelne Wort wie ein faseriges Stück Holz über ihr Herz und ließ eine Menge Splitter zurück. Sie hatte sich selbst verraten, hatte es nicht geschafft, für sich einzustehen.

Frau Holthusen ließ ihr keine Zeit, sich in ihrem Schmerz zu suhlen.

»Und? Was sagen wir außerdem all unseren Gästen?«

Nein, nicht auch noch das! Mit panischem Blick sah sie ihrer Vorgesetzten in die Augen. Diese nickte streng, ohne eine Miene zu verziehen.

»Und ich hoffe, Sie werden uns auch in Zukunft mit Ihrem Besuch wieder beehren«, brachte Marleene mit krächzender Stimme über die Lippen.

Dann stürzte sie aus dem Raum.

2. Kapitel

Es war noch nicht an der Zeit für einen Besuch und die Fahrkarte für den Zug viel zu teuer, aber Marleene musste einfach mit ihrer Mutter sprechen. Sie lebte in der Nähe von Bremen bei einer Bauernfamilie. Marleene zahlte den Leuten die Hälfte ihres Gehalts dafür, dass ihre Mutter dort wohnen durfte und sie sich um sie kümmerten.

Schon seit einigen Jahren konnte ihre Mutter das Bett nicht mehr verlassen. Die viele Arbeit war einfach zu hart gewesen. Marleene zwang sich, ihre Gedanken an den grauenvollen Vortag zu verdrängen, während die Ortschaften an ihr vorbeizogen. Sande, Hude, Hatten. Fast überall hatte sie zeitweilig mit ihrer Mutter gewohnt, denn nach dem schlimmsten Tag ihres Lebens, dem Tod ihres Vaters, waren sie von Arbeitsstätte zu Arbeitsstätte gezogen und hatten überall geholfen, wo jemand für ein paar Groschen oder auch nur im Tausch für ein Bett und eine warme Mahlzeit gesucht wurde.

Doch dann hatte sich ihre Mutter das Bein gebrochen, und es wollte einfach nicht heilen. Im Gegenteil, es ging ihr immer schlechter. Als ihre Tante und ihr Onkel Marleene angeboten hatten, zusammen mit ihrer Cousine Frieda in eine Kammer nach Oldenburg zu ziehen, um sich dort eine Arbeit zu suchen, hatte Marleene annehmen müssen. Für Frieda gab es auf dem heimischen Hof keine Arbeit und in der Nähe von Wiesmoor, wo sie wohnten, auch keine Anstellung. Sie musste also in die nächste größere Stadt ziehen, und im Grunde war es eine gute Lösung, dass die beiden Cousinen nun immerhin zusammenwohnen und sich die teure Miete teilen konnten. Marleene liebte Frieda wie eine Schwester, und es war schön, mit solch einer guten Seele zusammenzuwohnen. Trotzdem war es Marleene sehr schwergefallen, ihre Mutter zurückzulassen, aber es war die richtige Entscheidung gewesen. Sie besaßen nicht mal mehr das bescheidene Heuerhus ihres Vaters, das ihm nach der Höfeordnung als drittgeborenem Sohn zugestanden hatte. Wie sollte sie sonst das Geld beschaffen, wenn nicht durch ihre Arbeit?

Zischend kam die Eisenbahn in Brettorf, einem kleinen Dorf zwischen Oldenburg und Bremen, zum Stehen. Marleene kletterte die schmale Eisenstiege des Zuges hinunter und machte sich auf den langen Fußmarsch nach Prinzhöfte. Das Klackern ihrer Holsken, der Holzschuhe, wenn sie gegen einen Stein stießen, war die einzige Ablenkung. Die Felder, die von baumbewachsenen Wällen unterteilt wurden, boten nicht viel Abwechslung.

Und so drängte er sich in ihren Kopf.

Wieder und wieder spürte sie seinen heißen Atem und die Spucketropfen in ihrem Nacken. Die fordernden Hände, die ihre Brüste begrapschten. Am gestrigen Abend hatte sie ihren Körper immer wieder mit einem feuchten Lappen abgeschrubbt. Trotzdem konnte sie seine Berührungen nicht aus ihrer Erinnerung wegwischen.

Doch als das einsame Bauernhaus endlich in Sicht kam, blinzelte Marleene entschieden die Tränen weg. Sie wollte ihrer Mutter nicht noch mehr Leid bereiten.

»Was willst du denn jetzt schon hier?«, keifte eine Stimme zu ihrer Linken, und Marleene entdeckte die Bäuerin, die neben dem schmalen Kiesweg mit der Hacke auf dem Feld stand.

»Ich wollte meine Mutter besuchen«, antwortete sie.

Die Bäuerin murmelte etwas Unwirsches und hob dann den Zeigefinger.

»Glaub ja nicht, dass du was von dem Rübeneintopf abbekommst. Das Essen zahlst du nur für deine Mutter.«

Marleene biss sich auf die Lippe, um nichts zu entgegnen. Die Mäuseportionen, die ihre Mutter noch zu sich nahm, und die winzig kleine Kammer, in die gerade mal ein Bett passte, verschluckten wohl kaum das ganze Geld. Ihr war nur allzu bewusst, dass ihr hart erarbeiteter Lohn die neuesten Geräte des Großbauern mitfinanzierte. Erst beim letzten Mal hatte sie eine dieser neumodischen Schubkarren aus Eisen anstelle von Holz gesehen, und sie wusste, dass die sehr teuer waren. Aber sie hatte keine Wahl.

»Natürlich. Ich will sie nur besuchen. Nichts weiter. Ich werde keine Umstände bereiten«, rief sie der Bäuerin zu. Diese richtete selbstzufrieden ihr Kopftuch und griff dann nach der Hacke.

Nachdem sie das Bauernhaus erreicht hatte, öffnete Marleene vorsichtig die grüne Doppeltür. Beißender Gestank nach Kuhdung schlug ihr entgegen, und sie beeilte sich, den Viehstall zu durchqueren, der direkt an die bewohnten Räume grenzte, damit es im Winter drinnen schön warm blieb.

In den Wohnräumen roch es deutlich angenehmer. Ihre Mutter war in einer kleinen Seitenkammer untergebracht, die von der Wohnstube abging. Ihre Augen leuchteten auf, als sie erkannte, wer sie da besuchte.

»Marleene«, hauchte sie schwach, aber voller Freude. »Was machst du denn hier? Wir haben doch noch gar nicht Hochsommer.«

»Ich musste dich sehen, Mama. Ich habe einen freien Tag und bin einfach losgefahren.«

Marleene setzte sich auf den Rand des Bettes und griff nach der runzeligen Hand ihrer Mutter, die von der harten Arbeit schwielig und an vereinzelten Stellen hart war.

»Erzähl erst mal, wie geht es dir? Behandelt man dich auch gut?«

Immerhin konnte sie auf den ersten Blick nichts finden, das zu beanstanden wäre. Die Bettdecke wirkte sauber, und der Raum war offenbar erst vor Kurzem ausgefegt worden.

»Ach, wie soll es mir schon gehen? Hier ist alles beim Alten. Aber ich freue mich so, dass du mich besuchen kommst. Wie ist die Arbeit im Hotel, und was macht deine Cousine?«

Marleene begann mit der letzten Frage, um sich noch ein wenig vor dem schwierigen Thema drücken zu können.

»Bei Frieda ist alles in Ordnung. Die alte Frau Maader aus dem Blumenladen setzt ihr zwar ganz schön zu, aber immerhin lernt sie den Beruf, den sie sich gewünscht hat. So langsam erholt sie sich auch wieder von dieser schlimmen Sache kurz vor Weihnachten.«

Ihre Mutter nickte verständnisvoll und drückte die Hand ihrer Tochter. »Und wie geht es dir, meen Deern? Du wirkst ein wenig … bedrückt.«

Im Blick ihrer Mutter lag so viel Mitgefühl, dass Marleene die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Sie schluchzte auf, und erst nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, konnte sie ihrer Mutter die ganze Geschichte erzählen.

»Ach, meine kleine Marleene«, sagte ihre Mutter und strich ihr tröstend über den Arm.

»Es ist so ungerecht.« Mit dem Handrücken wischte Marleene sich die verbliebenen Tränen aus den Augen. »Warum dürfen sich Männer so was herausnehmen und kommen auch noch ungeschoren davon?«

Ihre Mutter deutete ein Schulterzucken an.

»Es war immer so und wird wohl immer so sein, dass wir Frauen nicht die gleichen Rechte haben wie die Männer. Du musst dich damit abfinden. Schlaf noch mal eine Nacht drüber. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

Marleene schwieg eine Weile. Sie war sich nicht sicher, wie sie ihrer Mutter ihr Vorhaben schonend beibringen könnte. Gewiss würde es ihr nicht gefallen. Unschlüssig stand sie auf, trat zum Fenster und verschränkte die Arme.

»Ich möchte nicht zurückgehen«, sagte sie schließlich.

Ihre Mutter versuchte ächzend, sich aufzusetzen.

»Das kannst du nicht tun, Marleene. Du hast eine gute Stellung als Zimmermädchen.«

»Aber ich bin im Hotel nicht glücklich. Es war nie das, was ich wirklich machen wollte.«

»Die Gärtnerei.« Ihre Mutter seufzte. »Ich weiß, dass das immer dein großer Traum war. Aber unsere Träume gehen selten in Erfüllung, meen Deern. Wir müssen das nehmen, was wir kriegen können. Du hast schon ein unglaubliches Glück gehabt, diese Anstellung im Hotel zu bekommen. Denk daran, was dein Vater tun würde. Er würde nicht wollen, dass du dein Glück mit beiden Händen von dir wirfst.«

Marleene ließ die Schultern hängen. Hatte ihre Mutter recht? Hätte ihr Vater das auch so gesehen? Verlangte sie zu viel vom Leben? Sie ließ den Blick über den matschigen Hof und die Bäume auf den Wällen in der Ferne schweifen. Sie wusste es nicht. Sie wollte schlicht und einfach mit Pflanzen arbeiten und nicht in schmutzigen Hotelzimmern.

»Aber was ist, wenn ich für mein Glück noch gar nicht stark genug gekämpft habe? Ich habe gehört, dass in der Hofgärtnerei eine Stelle frei ist. Ich möchte dort noch einmal fragen, ob sie mich nicht vielleicht doch in die Lehre nehmen.«

»Aber das hast du doch schon. Und sie haben dich abgelehnt, obwohl dein Vater dort früher gearbeitet hat. Irgendwann muss es einfach mal gut sein, Marleene. Wie oft müssen sie dir noch sagen, dass sie dich nicht haben wollen? Du musst dich damit abfinden, dass man im Leben nicht alles bekommen kann, was man möchte, gerade als Frau.«

Als Frau … Marleene kam es so vor, als würde alles immer wieder daran scheitern. Ein Junge hätte sicherlich eine Lehrstelle in einer Gärtnerei bekommen. Aber für ein Mädchen war das undenkbar. Es gab zwar neuerdings sogar Gartenbauschulen, aber die waren teuer und höheren Töchtern vorbehalten. Und auch von diesen Schulen hörte man nicht nur Gutes. Selbst als Frau der Oberschicht hatte man Nachteile im Leben. Marleene hat es nie verstanden, warum Männern in dieser Welt so viel mehr Rechte zugestanden wurden. Als wären sie bessere Menschen. Als hätten sie mehr verdient, nur weil sie von Natur aus höher gewachsen und kräftiger waren. Dabei hatten Frauen ganz andere Vorzüge, und eigentlich ergänzten sich Männer und Frauen doch hervorragend. Warum also sollte ihr weniger zustehen, nur weil sie zufällig als Frau geboren worden war?

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, bis ans Ende meiner Tage als Zimmermädchen zu arbeiten. Wie vielen Männern wie Herrn de Vos werde ich denn noch begegnen? Und immer dieses Eingesperrtsein … die täglich gleichen Arbeiten. Stets dieselben Zimmer putzen, Betten aufschütteln, waschen, bügeln. Vielleicht am Abend noch Essen servieren. Das kann doch nicht alles sein! Ich möchte nach draußen.« Marleene deutete durch das Fenster, wo die Sonne sich gerade in den Bäumen verfing. »Ich möchte in der Natur arbeiten, ich möchte den Wechsel der Jahreszeiten miterleben, Regen und Sonne auf meiner Haut spüren, mit meinen Händen in der Erde graben und mithelfen, dass wunderschöne Pflanzen gezogen werden.«

Ihre Mutter lachte sanft. »Du kommst wahrhaftig nach deinem Vater. Auch er hat seine Arbeit draußen über alles geliebt. Aber anscheinend hat der liebe Gott einen anderen Weg für dich vorgesehen. Sonst hättest du diese Stelle im Hotel nicht bekommen. Komm, setz dich wieder zu mir.« Sie tätschelte die Bettkante, und Marleene kam ihrem Wunsch nach. »Wir hatten es nicht immer leicht im Leben, das weiß ich. Aber es werden auch wieder bessere Tage kommen. Also gib jetzt nicht auf, das hätte dein Vater nicht gewollt.«

Marleene nickte tapfer. Ihre Gedanken schweiften zu ihrem Vater. Er hatte stets mehr für sie gewollt. Der Krieg in Frankreich hatte ihn verändert. Dort hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie die Kinder der Oberschicht sofort zum Offizier aufstiegen, während die Arbeiter einfache Soldaten blieben und als Kanonenfutter dienten. Sie starben den Heldentod auf dem Feld der Ehre, was in Wirklichkeit nichts anderes bedeutete, als in den Feuerpausen eiligst eingesammelt und verscharrt zu werden, um Seuchen zu vermeiden.

Deswegen hatte er alles dafür getan, dass sie eine bessere Schule besuchte. Und deswegen hatte er den Grundstein für eine eigene Gärtnerei legen wollen. Hätte er es also nicht für gut befunden, wenn sie sich um eine Gärtnerlehre bemühte? Hatte er dort nicht ebenso eine Zukunft gesehen?

Ihre Kehle brannte, und sie musste wieder mit den Tränen kämpfen.

Was ihre Mutter gesagt hatte, war nicht das, was sie hatte hören wollen. Sie hatte sich so gewünscht, in ihren Plänen bestärkt zu werden, war aber doch wieder nur in die Schranken gewiesen worden. In das Korsett eines Lebens, das einfach nicht zu ihr passte.

Es würde ihr auf ewig die Luft zum Atmen rauben.

Aber immerhin war ihr durch das Gespräch klar geworden, was sie wirklich wollte. Selbst ohne Herrn de Vos und seinesgleichen hasste sie die Arbeit im Hotel. Sie fühlte stärker denn je, dass sie nach draußen gehörte. In die freie Natur. Sie würde einen Weg finden. Was hatte sie denn schon zu verlieren?

Später, als Marleene sich auf dem Weg nach Hause befand und ihr Blick sich in den Bäumen und Büschen verlor, wirkten sie verändert. Jetzt sah sie das zart aufkeimende Grün der Äste. Es sprießte genauso vorsichtig wie die Idee in ihrem Kopf.

Denn mit einer Sache hatte ihre Mutter recht: Als Frau standen ihr in dieser Welt kaum Möglichkeiten offen. In einer anderen Sache aber hatte ihre Mutter sich geirrt: Ihr Vater hätte niemals gewollt, dass sie für den Rest ihres Lebens einer Arbeit nachging, die sie unglücklich machte. Er hatte ihr immer wieder gesagt, er wolle, dass sie glücklich sei. Und er hat außerdem gesagt, sie sei für ihr Glück allein verantwortlich. Deswegen gab es nur eine Lösung. Und die war einerseits bestechend einfach, andererseits aber riskierte sie damit alles.

3. Kapitel

Frieda blieb mit der Türklinke in der Hand stehen und schlug die Hand vor den Mund.

»Ach, du meine Güte, was ist geschehen? Deine wunderschönen Haare, die wie Weizen in der Sonne geglänzt haben …«

Frieda, die ihre eigenen Haare stets zu einem Haarkranz flocht, ging mit schreckgeweiteten Augen auf Marleene zu. Sie streckte die Hand nach ihren raspelkurzen Haaren aus, die nun wohl eher einem Stoppelfeld glichen.

Herrje, sah es wirklich so schlimm aus? Oder war es nur die Überraschung? Kurze Haare passten schwerlich zu Friedas romantischer Gesinnung. Marleene atmete tief durch. Auf jeden Fall musste sie ruhig bleiben. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass in ihrem Kopf gerade ein Wirbelsturm aus Gedanken und Zweifeln tobte.

Betont gleichgültig zuckte sie mit den Schultern.

»Läuse«, sagte sie schlicht und erreichte damit genau das, was sie beabsichtigt hatte. Friedas Hand zuckte zurück, als ob sie sich verbrannt hätte. Hoffentlich merkte ihre Cousine nicht, wie aufgeregt sie in Wahrheit war. Würde sie mit ihrer Geschichte durchkommen? Frieda war ihr erster Versuch, um zu sehen, ob sie Menschen ins Gesicht lügen konnte. Denn das würde sie noch häufig machen müssen. Zwangsläufig. Es war eines der Opfer, die sie bringen musste, um ihrem Ziel näherzukommen.

»Aber da gibt es doch dieses neue wundersame Mittel von Doktor Winkelmann …« Frieda eilte auf das wackelige Nachtkästchen zu, das zwischen den beiden Holzbetten stand. »Warum hast du nichts gesagt? Ich habe sogar noch etwas da.« Sie rüttelte am dunklen Messinggriff der obersten Schublade, die immer klemmte.

»Lass gut sein.« Marleene trat zur Tür der Kammer, die sie gemeinsam bewohnten. Ihre Cousine hatte sie in der Aufregung offen stehen lassen.

»Ich weiß, wie teuer die Tinktur ist, und sie wirkt nur, wenn man sie frühzeitig einsetzt. Dafür war es bei mir zu spät. Was sein muss, muss sein.«

»Aber deine wunderschönen Haare!« Frieda setzte sich auf das Bett und sah sie zerknirscht an. »Ich würde alles für solch ein helles Blond geben! Jetzt siehst du aus wie ein Junge!« Frieda hatte die letzten Worte geflüstert, so schockiert war sie.

Marleene senkte den Kopf und widmete sich ihren Blusenknöpfen, damit Frieda nicht die Erleichterung sah, die ihr sicherlich ins Gesicht geschrieben stand. Immerhin war es ihre größte Sorge gewesen, dass man sie weiterhin für ein Mädchen hielt. Aber das war nur eine von vielen Schwachstellen in ihrem waghalsigen Plan. Dennoch, sie würde es versuchen. Was hatte sie schon zu verlieren? Eine schlecht bezahlte Anstellung im Hotel – aber immerhin eine, die das dringend benötigte Geld einbrachte, erinnerte sie eine Stimme in ihrem Kopf, die ein wenig wie ihre Mutter klang.

Und ihr Ansehen.

Und das ihrer Familie.

Wenn es herauskam, würde sie sich in der ganzen Stadt lächerlich machen und vielleicht nie wieder eine Anstellung finden. Dann müsste sie ihr geliebtes Oldenburg verlassen.

Marleene verbannte die Zweifel zurück in die hinterste Ecke ihres Kopfes und setzte eine zuversichtliche Miene auf.

»Sie werden wieder nachwachsen«, sagte sie und zog das Unterhemd über den Kopf. Das stimmte natürlich. Auch wenn sie dafür sorgen würde, dass das nicht allzu schnell passierte, vor allem, wenn ihr Plan aufging. Doch jetzt sollte sie dringend das Thema wechseln.

»Wie war es bei dir auf der Arbeit? Hat die alte Frau Maader dich wieder herumkommandiert?«

»Wer so ungeschickt und lahm ist, hat sich das alles selbst zuzuschreiben.« Frieda ahmte den vorwurfsvollen Ton ihrer Chefin so gut nach, dass Marleene lachen musste. Frau Holthusen war zwar sehr streng, aber immerhin ließ sie nicht jeden Tag ihre Launen an den Mädchen aus.

Frieda kleidete sich nun ebenfalls aus und legte ihre Sachen fein säuberlich zusammen, während Marleene ihr Nachthemd anzog und rasch unter die Decke schlüpfte. Das Stroh raschelte, roch aber immerhin noch schön frisch. Trotzdem hoffte sie, sich irgendwann eine Federbettdecke leisten zu können.

Auch Frieda streifte nun ihr Nachthemd über und eilte ins kleine Holzbett an der gegenüberliegenden Wand. Wie Marleene besaß sie nur zwei Hemden und Blusen für die Werktage und eine bessere Garnitur für die Sonntage. Beide achteten sie peinlich genau darauf, sie so sauber wie möglich zu halten.

Frieda seufzte, während sie ihren Haarkranz löste.

»Hugo ist krank, deshalb musste ich mit dem Handkarren durch halb Oldenburg laufen, um bei der Hofgärtnerei die Blumen abzuholen. Als ich endlich dort war, konnte ich weit und breit niemanden entdecken. Eine halbe Stunde habe ich gesucht, bis ich jemanden gefunden habe, der gewusst hat, welche Ware für den Blumenladen reserviert war. Sie sind wirklich vollkommen unterbesetzt.«

Marleenes Herz klopfte schneller. Dann stimmte es also. »Das habe ich im Hotel auch schon aufgeschnappt. Zwei Holländer, die dort Pflanzen einkaufen wollten, haben sich darüber unterhalten. Wie kommt das denn bloß?«, fragte sie. Da der Blumenladen, in dem Frieda lernte, zur Hofgärtnerei gehörte, wusste ihre Cousine immer gut über solcherlei Dinge Bescheid. Das Blumenbinden hatte Marleene ebenfalls in Betracht gezogen, um zumindest mit Pflanzen arbeiten zu können, auch wenn es sie niemals so erfüllen würde wie das Gärtnern. Doch es gab nur wenige Blumenläden in Oldenburg, und die hatten alle bereits ihre Lehrlinge.

»Gleich drei Arbeiter haben das Unternehmen verlassen. Den jungen Franz haben sie hinausgeworfen, weil er Pflanzen gestohlen hat. Gott, der Arme. Er muss vollkommen verzweifelt gewesen sein, so etwas zu machen. Ich wünschte, ich könnte irgendwas für ihn tun.«

Das war typisch für Frieda. Sie lebte selbst mehr oder weniger von der Hand in den Mund, sorgte sich aber trotzdem um die anderen.

»Und wer fehlt noch?«, hakte Marleene nach.

»Willibald hat eine bessere Stellung in Bremen gefunden, und Hugo, der uns sonst die Blumen liefert, ist, wie gesagt, krank.« Sie strich sich durchs Haar. »Es sieht nicht so aus, als ob er zurückkehren würde.«

»Oh«, sagte Marleene betroffen. Das hatte sie nicht gewusst.

»Schlimm für die Familie«, murmelte Frieda, und Marleene stimmte ihr zu. Wenn der Hauptverdiener ausfiel, bedeutete das den sozialen Abstieg der gesamten Familie.