Die Hofgärtnerin - Blütenzauber - Rena Rosenthal - E-Book
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Die Hofgärtnerin - Blütenzauber E-Book

Rena Rosenthal

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Beschreibung

Als erste weibliche Hofgärtnerin kämpft sie für die Gleichberechtigung der Frauen. Doch nicht alle gönnen ihr den Erfolg – droht ihr großer Traum zu scheitern? – Der krönende Abschluss der Bestseller-Familiensaga

Oldenburg, 1897. Als erste Frau überhaupt hat sich Marleene den Titel der »Hofgärtnerin« erkämpft. Nun möchte sie ihren Erfolg dazu nutzen, auch anderen Frauen den Weg zu einer Lehre zu ebnen. Doch der Aufbau einer eigenen Gärtnerinnenschule birgt viele Hindernisse, denn noch immer herrscht die weitverbreitete Überzeugung, dass Frauen nicht für einen Beruf geeignet sind. Als sich Marleene dann auch noch ihr größter Widersacher in den Weg stellt, steht ihr bisher größter Kampf bevor – für ihre Schülerinnen, ihren Lebenstraum und ihre Liebe!

Der duftende Abschluss der spannenden Hofgärtnerinnen-Familiensaga – in hochwertiger, veredelter Romance-Ausstattung.

Alle Bände der Saga:
Buch 1: »Die Hofgärtnerin – Frühlingsträume« (Neuerscheinung 2021)
Buch 2: »Die Hofgärtnerin – Sommerleuchten« (Neuerscheinung 2022)
Buch 3: »Die Hofgärtnerin – Blütenzauber« (Neuerscheinung 2023)

Freuen Sie sich auf weiteres bezauberndes Lesevergnügen: Rena Rosenthals neue historische Saga »Der Eispalast« in Kürze lieferbar!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 811

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Autorin

Rena Rosenthal hat schon als Kind jede freie Minute in der Baumschule ihrer Eltern verbracht. Die Baumschule in einem kleinen Örtchen in der Nähe von Oldenburg wird heute von ihrer Schwester geführt. Obwohl sie – im Gegensatz zum Rest ihrer Familie – nicht den Beruf der Gärtnerin ergriffen hat, ist Rena Rosenthals Liebe zu Blumen geblieben. Daher war schnell klar, dass ihre erste Familiensaga von duftenden Fliederbäumen und prächtigen Rhododendren handeln soll. Die Hofgärtnerin – Blütenzauber bildet den Abschluss in der Bestsellersaga rund um die junge Gärtnerin Marleene.

Außerdem von Rena Rosenthal lieferbar:Die Hofgärtnerin – FrühlingsträumeDie Hofgärtnerin – Sommerleuchten

RENA ROSENTHAL

DieHofgärtnerin

Blütenzauber

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Rena Rosenthal

Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildungen: ©Anne Krämer/ArcAngel, © Shutterstock (GypsyGraphy, REDPIXEL.PL, Showtime.photo, asharkyu, lavendertime, Anterovium, Spiroview Inc, Happy window, JeniFoto)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26735-3V001

www.penguin-verlag.de

Für Florentina

Prolog

Rastede im Großherzogtum Oldenburg, Januar 1896

Die dünne Schneeschicht auf dem Eis knirschte in der nahezu vollkommenen Stille, als Marleene sie auf ihren Schlittschuhen wie magisch durchschnitt. Sie sog die kalte Luft tief ein, genoss, wie die Frische ihren Kopf völlig klar machte. Es tat gut nach allem, was gewesen war. In weißen Wölkchen schwebte ihre Atemluft davon, und zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich wieder ein wenig leichter. Verzückt blickte sie um sich. In letzter Zeit hatte sie in einer dunklen Wolke gelebt, doch nun war alles um sie herum weiß überzogen. Die kahlen Bäume mit ihren schneebedeckten Zweigen, die geschwungene Brücke über dem Bach, der ganz leise in den zugefrorenen Ellernteich plätscherte, und auch das Gras am Ufer ließ kein bisschen Grün durchschimmern.

Vorsichtig setzte sie zum nächsten Schritt auf Kufen an. Eine Dohle flatterte erschrocken fort, als Marleene an ihr vorbeiglitt, der Zweig mit den karminroten Beeren blieb sich wiegend zurück. Marleene beobachtete für einen Moment versonnen, wie pulverige Flocken von ihm auf den feinen Schneeteppich herabsegelten, und konzentrierte sich dann wieder auf die Kufen, die durch das Eis schnitten. Links, rechts, links, rechts. Ganz vorsichtig!

Es glückte. Sie hatte geahnt, dass sie es schaffen könnte, wenn sie es nur in Ruhe anging. Doch bereits nach dem Frühstück herrschte ausgelassener Trubel auf dem größten See in Rastede. Das halbe Dorf schien sich hier zu versammeln. Dann jagten die Kinder sich mit Schlitten, die jungen Leute spielten Eishockey, nachdem sie nach einem geeigneten Ast gesucht hatten, der ihnen als Schläger gute Dienste leisten würde. Die Erwachsenen versuchten indes, möglichst elegant über das Eis zu gleiten, zumindest die Erfahrenen unter ihnen. Sie selbst war als Kind nie Schlittschuh laufen gewesen. Als Julius, ihr Ehemann, von dieser Vergnügung erzählt hatte, war sie nur zu gerne mitgekommen. Sie wollte ebenso über den zugefrorenen Teich rasen wie die Jungen und Pirouetten drehen wie die Mädchen. Allerdings hatte sie, statt über das Eis zu wirbeln, die meiste Zeit auf ihrem Allerwertesten verbracht. Pirouetten schienen ihr wahrlich nicht zu liegen. In den darauffolgenden Jahren hatte sie nicht fahren können, da sie jedes Mal guter Hoffnung gewesen war. Trotz aller Vorsicht war ebenjene Hoffnung jedoch immer wieder zerstört worden.

Das letzte Kind hatte sie vor drei Monaten verloren, der Schmerz darüber war erdrückend gewesen. Selbst einfachste Handlungen waren zur Herausforderung geworden, und am liebsten hätte sie sich für den gesamten Winter in ihrem Bett verkrochen. Doch nun war das neue Jahr angebrochen, und sie hatte beschlossen, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie war noch vor Tagesanbruch aufgestanden, hatte sich vorgenommen, heute über das Eis zu sausen und endlich diese vermaledeiten Pirouetten zu drehen.

Sie hatte schon so viel erreicht, erst die Gärtnerlehre, obwohl das für Frauen nicht vorgesehen war, und dann hatten Julius und sie eine eigene Gärtnerei aus dem Nichts aufgebaut. Es schmerzte sie beide zwar noch immer, dass Julius’ Bruder Konstantin die Fliedervilla samt ehemaliger Hofgärtnerei geerbt hatte, aber sie hatten das Beste daraus gemacht. Sie war sogar zur Hofgärtnerin gekürt worden, und da sie den Hof des Großherzogs von Oldenburg belieferten, durften sie sich fortan »Hofgärtnerei« nennen. War das nicht mehr, als sie sich je erträumt hätte?

Marleenes Kehle schnürte sich zu, denn sie wusste, dass sie dankbar sein müsste. Nur war ein eigenes Kind mit dem Mann, den sie liebte, eben ihr sehnlichster Herzenswunsch. Es war das, was zur Vollendung ihres Glücks noch fehlte.

Daran wollte sie heute jedoch nicht denken.

Heute sollte es einzig und allein um das Schlittschuhlaufen gehen. Einen Tag lang wollte sie sich nicht grämen. Zaghaft wandte sie sich um und begutachtete stolz die zwei Linien, die ihre Kufen in die Schneeschicht gefurcht hatten. Sie durfte also mutiger werden. Mit dem rechten Bein beschrieb sie einen schwungvollen Bogen, so wie sie es bei einigen Eisläuferinnen beobachtet hatte. Tatsächlich drehte sie sich auf der Kufe, wenn auch wackelig. Sie quietschte vor Schreck, als sie wie von selbst schneller wurde. Schon im nächsten Moment drehte sie sich noch rascher – und schrie schmerzerfüllt auf.

Abermals war sie auf dem Po gelandet. Leise fluchend klopfte sie den Schnee von ihren Handschuhen und blieb sitzen. Wie aus dem Nichts erklang hinter ihr eine Stimme.

»Immerhin hast du dich diesmal überhaupt gedreht.«

Sie drehte überrascht den Kopf und sah Julius mit einem Lächeln um die Mundwinkel am Ufer stehen. Ihr Herz flatterte sachte. Vergessen war der Schmerz im Gesäß, und sie strahlte ihm entgegen, derweil er vorsichtig auf das Eis trat. Hinter den schneebedeckten Baumwipfeln ging jetzt die Sonne auf und brachte die Eiskristalle zum Glitzern.

»Was machst du denn hier?«, fragte Marleene noch immer verwundert, während er sie hochzog, ließ ihm aber zunächst kaum Zeit für eine Antwort, sondern küsste ihn.

»Das könnte ich dich genauso gut fragen. Aufstehen vor dem Morgengrauen?«

Sie hielt sich vorsichtig an Julius’ Schulter fest und blickte in seine waldgrünen Augen. Sie blitzten unter den hellbraunen Haaren hervor, die sonst stets wirr von seinem Kopf abstanden, heute aber von seiner wollenen Mütze niedergedrückt wurden. Wie immer, wenn sie ihn küsste, wurde ihr warm, und sie fühlte sich voller Lebenskraft. Vielleicht brauchte sie nicht einmal mehr die heiße Schokolade mit Sahne, die sie sich für ihre Rückkehr nach ihrem Ausflug so bildhaft ausgemalt hatte, dass ihr der Kakaogeschmack bereits auf der Zunge gelegen hatte.

»Ach, ich wollte einfach noch mal schauen, ob ich nicht doch zur Eisprinzessin tauge.«

Sie musste ihm nicht sagen, dass sie das nur tat, um den Kummer aus ihren Gedanken zu vertreiben. Er verstand sie auch so, schließlich teilte er ihren Schmerz seit dem Verlust des ersten Kindes.

Zur Unterstreichung ihrer Worte wollte sie mit den Kufen aufs Eis klopfen, doch dabei geriet sie heftig ins Straucheln. Julius hielt sie an den Armen fest, während sich ihre Füße zu verselbstständigen schienen und mit einem grässlich kratzenden Geräusch das Eis zerschnitten. Kleine Flocken stoben nach hinten, obwohl sie einfach nur anhalten wollte.

»Herrje!«, fluchte sie mit Lachtränen und heftig atmend, als sie letztlich zum Stehen gekommen war. »Warum ist das so schwierig?« Das war es wirklich. Aber zugleich wohltuend. Endlich einmal kein Abzählen der Tage nach der Monatsblutung, um sich bei jedem Bauchzucken wahlweise dem Hoffnungsfunken hinzugeben oder der Angst zu erliegen – je nach Zustand.

»Vielleicht hältst du dich zunächst an den Flieder statt ans Eis … Du könntest meine Fliederprinzessin sein!«, sagte er mit einem Zwinkern und spielte damit auf den ganz besonderen Flieder an, der sie beide verband. Sie lachte und ließ sich von ihm ans Ufer helfen, wo sie die ledernen Schnallen löste, die die Kufen an ihren Schuhen befestigten. Der Flieder »Sensation« mit den zweifarbigen Blütenblättern, purpurviolett mit einem leuchtend weißen Rand, hatte nicht nur dazu geführt, dass sie und Julius sich gefunden hatten, sondern hatte sie stets in ihrem Willen bestärkt, ihren eigenen Weg zu gehen. Einst hatte sie ihn mit ihrem Vater veredelt, und wegen der Arbeit in ihrem Fliedergarten war sie sich schon früh sicher gewesen, dass sie Gärtnerin werden wollte.

Julius nahm ihr die Kufen ab und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Während sie auf das Fuhrwerk zugingen, legte er einen Arm um sie, und sie schmiegte sich nur zu gerne an ihn.

»Es ist schön, dich so ausgelassen zu sehen«, sagte er sanft, und sie bemerkte die Sorge in seinen Augen.

»Ich denke, ich habe einfach mal etwas Ablenkung benötigt …« Ohne ein Wort zog er sie an sich, und sie genoss es, dass sie jemanden hatte, der sie verstand und ihr Leid teilte.

»Auch darüber habe ich nachgedacht.«

Marleene sah Julius neugierig von der Seite an. Bisher hatten sie nie offen darüber gesprochen, was sie machen würden, wenn die Kinder gänzlich ausblieben – und davon musste sie mittlerweile ausgehen.

»Du sollst wissen, dass du mich sehr glücklich machst. Ich liebe Kinder und hätte gerne welche, aber wenn es Gottes Wille ist, dass wir keine bekommen, dann werde ich dieses Schicksal hinnehmen.«

Marleene wollte protestieren, er bedeutete ihr jedoch, einen Moment zu warten.

»Ich sehe doch, wie es dir ergangen ist in den vergangenen Jahren. Das tut dir nicht gut, Marleene.« Beklommen stimmte sie ihm zu. In der Tat war sie zum Schatten ihrer selbst verkommen. Mit jedem verlorenen Kind war sie verbissener geworden. Kinder und Schwangerschaft waren alles gewesen, worum sich ihr Leben gedreht hatte. »Und sieh dich an … Eben noch warst du wie ausgewechselt.«

»Das stimmt«, sagte sie leise und schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an.

»Und warum? Weil du eine neue Aufgabe, ein Ziel hattest.«

Marleene nickte. »Aber … was soll ich denn machen? Ich habe dich, wir haben ein Haus, die Gärtnerei …«

Julius blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Denk nach, Marleene. Was wolltest du früher immer tun?«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. Es gab vieles, wonach sie sich gesehnt hatte, war sie doch in Armut aufgewachsen und hatte zumeist von der Hand in den Mund gelebt, nachdem ihr Vater verstorben war. Aber hatte sie nun nicht alles erreicht?

Bis auf die Kinder. Wenn sie sich ausmalte, wie sie eines Tages zurückblickte, waren da stets Kinder gewesen. Vermutlich ging das Leben jedoch nicht immer den Gang, den man sich vorstellte. Sonst wäre ihre herzensgute Cousine Frieda, die so viel Liebe zu geben hatte, gewiss nicht alleinstehend. Und ihre Freundin und Nachbarin Alma, die eine geborene Großbäuerin war, würde jetzt nicht in Hannover hocken, um Krankenschwester zu werden.

Amüsiert schüttelte Julius den Kopf. »Du erinnerst dich wahrhaftig nicht mehr? Hast du denn etwa meinen Heiratsantrag vergessen?«

»Niemals könnte ich den vergessen!«, rief Marleene sofort. Julius hatte ihn vor dem Oldenburger Schloss gemacht mit einem Zweig des besonderen Flieders, den er extra vorgetrieben hatte, damit er bereits im Winter blühte.

»Und was hast du dort meinem Vater an den Kopf geworfen?«

Dezent ließ er aus, dass sein Vater ihm untersagt hatte, jemals in die damalige Hofgärtnerei zurückzukehren, wenn er Marleene ehelichte.

Und sie hatte ihm gesagt, dass sie ohnehin bessere Pläne hatte.

Jetzt flossen die Bilder zurück in ihr Bewusstsein.

Sie hatte auf dem Weg zur Gärtnerin so vieles erfahren, was ihr widerstrebte. Dass selbst die feinen Damen aus der höheren Schicht nur über Umwege die Reifeprüfung ablegen konnten. Dass jede große Leistung als männlich angesehen wurde. Dass es noch mehr Frauen gab, die einen Beruf erlernen wollten, der offenbar für sie nicht vorgesehen war. Frauen wie sie. Frauen, die Ärztin, Professorin oder Anwältin werden wollten. Denen konnte sie in keiner Weise behilflich sein.

Einige Frauen wollten allerdings Gärtnerin werden. Leider war es jedoch unmöglich, als Frau eine Lehrstelle in einer Handelsgärtnerei zu ergattern – auch das hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen. Ihr Blick glitt in die Ferne, wo die schneegekrönten Bäume ganz klein wurden und schließlich mit dem verschneiten See zu einem einzigen Weiß verschmolzen.

Wie hatte sie es dermaßen aus den Augen verlieren können?

Julius hielt ihr die Hand entgegen und holte sie aus ihrer Gedankenwelt zurück.

Ganz allmählich tauchten vage Umrisse erster Ideen in ihrem Kopf auf. Ihre Mundwinkel wanderten nach oben. Fragend sah sie ihn an, und Julius lächelte wissend.

»Ich werde mich auf das besinnen, was ich kann«, flüsterte sie probehalber, nur um zu schauen, wie es sich anfühlte.

Würde es wirklich gehen, eine Gärtnerinnenschule zu gründen? Oder übernahmen sie sich?

Die Leiterin der ersten Gartenbauschule, Hedwig Heyl, sah in der Pflanzenzucht eher eine Möglichkeit, die guten Sitten zu lehren und gesundheitliche Beschwerden zu lindern, als die Chance auf eine Berufsausbildung für Frauen zu schaffen. Wenn Marleene und Julius sich das zum Ziel machten, könnten sie zahlreichen Mädchen helfen, einen echten Beruf zu erlernen und auf eigenen Beinen zu stehen. Marleene fühlte sich, als hätte man eine Flamme in ihr entzündet. Am liebsten würde sie auf der Stelle mit der Planung beginnen. Gerade für Arbeiterinnen wäre es wichtig, als gelernte Kraft ordentliches Geld zu verdienen und nicht länger als Hilfsarbeiterin abgestempelt zu werden. In der bisherigen Gärtnerinnenschule wurden allerdings nur höhere Töchter aus gehobenen Familien akzeptiert. In einer eigenen Schule könnten sie ausschließlich Arbeitermädchen aufnehmen. Und sie hatte tausend Ideen, was sie alles unterrichten könnte. Tagsüber könnten sich die Mädchen in ihrer Gärtnerei durch die Mitarbeit mit den wichtigsten Arbeiten vertraut machen. Abends würden sie die alte Pflanzenenzyklopädie ihres Vaters studieren und die Themen in der Theorie erlernen.

Sie klatschte aufgeregt in die Hände, sodass kleine Flocken von den Handschuhen hinabrieselten. »Ja, lass es uns angehen und eine Gärtnerinnenschule eröffnen.« Dann hielt sie inne. Ihr kamen die abfälligen Stammtisch-Kommentare und die Artikel in den Zeitungen in den Sinn, die jegliche Forderungen nach Gleichberechtigung zerrissen. »In der Gartenwelt lese ich immer wieder Artikel über die Frauengärtnerei. Die Leute … sie sagen, dass die Mädchen keine Gartenbauschulen heimsuchen sollen. Das, was an Hauswirtschaftsschulen gelehrt wird, würde für ihre Verhältnisse genügen. Und erst gestern stand in einem Leserbrief, dass Frauen sich doch auf echte weibliche Beschäftigungen wie Kochen, Schneidern und Putzarbeiten beschränken mögen.«

Echte weibliche Beschäftigungen, so hatte sogar die Überschrift gelautet. »Schwachheit, dein Name ist Weib«, hatte in einer weiteren Zuschrift zum Thema Frauengärtnerei gestanden. Die Verfasserin war zu allem Überfluss der Meinung, dass nicht allein die fehlende Muskelkraft den Frauen auf lange Sicht einen Strich durch die Rechnung machen würde, sondern vielmehr die konsequente weibliche Selbstüberschätzung und Unbescheidenheit.

Vielleicht litt sie ja auch unter einer solchen weiblichen Selbstüberschätzung, dachte Marleene. Doch sie war nicht gewillt, sich von all den negativen Stimmen und Ansichten aufhalten zu lassen. Dennoch würde ein dorniger Weg vor ihnen liegen.

»Es wird nicht einfach werden.«

Julius lächelte sie spitzbübisch an. »War irgendetwas in unserem Leben bisher einfach?«

1. Kapitel

Rastede im Großherzogtum Oldenburg, November 1897

Marleene knallte voller Verdruss den Füllfederhalter auf den Tisch in der Wohnküche des alten Ammerländer Bauernhauses. »Ganz gleich, wie ich es schiebe und rechne – es kommt einfach nicht hin.« Sie schob das Heft mit ihren Berechnungen weit von sich.

Ihre Cousine und beste Freundin Frieda warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Marleene vergrub den Kopf in den Händen. Fast ein Jahr lang hatten Julius und sie nun getüftelt, um den großen Traum der Gartenbauschule für Frauen wahr werden zu lassen.

Doch ihr Plan wollte nicht aufgehen.

»Mien Deern«, sagte ihre Mutter von ihrem Platz im Schaukelstuhl neben dem Kamin und sah sie aus ihrem faltigen Gesicht liebevoll an. Sofort wurde Marleene ein wenig leichter ums Herz, und sie richtete sich auf. Sie sollte es zu schätzen wissen, dass sie an diesem stürmischen Winterabend mit den ihr liebsten Menschen im Schwalbennest, wie ihr Haus genannt wurde, zusammensitzen konnte. »Wenn de Katt ’nen Fisch fangen will, mutt se sük de Pfoten natt maken«, meinte ihre Mutter, und Marleene lächelte unwillkürlich über den Pragmatismus.

»Wenn es nur das wäre … Aber diese Problematik lässt sich nicht durch Mehrarbeit oder Überwindung richten.« Sie seufzte tief und fuhr sich mit beiden Händen durch die hellblonden Haare, die sich aus der Flechte auf ihrem Rücken gelöst hatten. Für jedes Problem hatten sie bisher eine Lösung gefunden. Sie hatten einen Weg ausgetüftelt, um in anderthalb Jahren so viel Lehrstoff wie irgend möglich zu vermitteln. Zudem nahmen sie in Kauf, weniger Pflanzen anzubauen, damit immer einer von ihnen unterrichten konnte. Den Verlust würden sie im Folgejahr, sobald die Mädchen eingearbeitet waren, wieder einfahren müssen. Seit die gröbste Arbeit des Jahres getan war und sie nicht mehr wie ein Baum ins Bett fielen, brüteten sie nun schon über den Finanzen, doch die Einbußen waren immer zu hoch. »Uns fehlt ganz einfach der Platz! Wenn wir eine größere Anzahl Schülerinnen aufnehmen könnten, bekämen wir für nahezu den gleichen Aufwand mehr Schulgeld.« Doch das Schwalbennest war nicht so geräumig wie etwa Julius’ Geburtshaus, die Fliedervilla mit ihren zahlreichen Räumen. Sie hatten nur zwei Kammern, in denen vier Schülerinnen wohnen könnten. Selbst mit ihrer Idee, Mädchen aus dem Umland anzusprechen, die abends nach Hause zurückkehren würden, waren die Mittel schlichtweg zu knapp.

Marleene zog das Heft wieder zu sich heran und deutete auf ihre Berechnungen. »Wir müssen für alle Schülerinnen die Gerätschaften bereithalten. Spaten, Hacken, Mistgabeln, Laubrechen, Jätegabeln, Gartenmesser, Okuliermesser, Pflanzkellen, Baumschaber, Heckenscheren … Wir können zwar nur sieben Schülerinnen aufnehmen, aber selbst da kommt eine beträchtliche Summe allein für die Gerätschaften zusammen. Und das bei verminderten Einkünften und mehr Essern? Das rechnet sich niemals, ganz gleich, wie sehr ich versuche, mit den anderen Kosten sparsam zu haushalten.«

»Herrje, das klingt wahrlich verfahren, dabei ist der Plan so herzallerliebst! Es ist wirklich allerhöchste Zeit, mehr für die Arbeitermädchen zu tun.« Frieda rückte näher an den Tisch und warf einen Blick auf Marleenes Notizen. »Können die Mädchen sich nicht mit den Gerätschaften abwechseln?« Aus ihren aufgeweckten braunen Augen unter ihrem Haarkranz blickte sie ihre Cousine fragend an.

»Leider nicht. Dann müssten wir die Arbeit aber- und abermals erklären, wenn nicht gleich jeder mitmachen und es selbst ausprobieren kann. Wir müssen möglichst vermeiden, dass die Schülerinnen untätig herumstehen. Ein Okuliermesser könnten sie vielleicht mitbringen, aber die anderen Geräte sind für die Arbeitermädchen zu kostspielig. Selbst das Messer wird für manche gewiss schon zur Herausforderung«, sagte sie und dachte an den Beginn ihrer eigenen Lehre zurück. »Aus diesem Grunde kann ich auch das Schulgeld nicht erhöhen, dann ist die Schule für niemanden aus der bedürftigen Bevölkerung mehr erschwinglich.« Enttäuscht blies sie die Luft heraus. Sollte ihr großer Traum doch scheitern? Ihr Wille, mehr Frauen zu einer fundierten Berufsausbildung zu verhelfen, war mit den Planungen nur noch stärker geworden – allerdings war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel Geld sie vorstrecken müssten.

Geld, das sie nicht hatten. Denn im kommenden Jahr lief zudem die kostenfreie Pacht ihres Grundstücks ab, und sie mussten jeden Pfennig zur Seite legen, um das Land rechtmäßig vom Großherzog zu erwerben. Für fünf Jahre hatte er es ihnen für den Aufbau der Gärtnerei überlassen, jetzt hatten sie sich bewährt und wollten es übernehmen.

Julius kam mit einem Schwung eisiger Winterluft herein, küsste Marleene sachte auf den Scheitel und ging dann zur Waschschüssel hinüber.

»Was ist euch denn auf die Stimmung geschlagen?«, erkundigte er sich und blickte in die Runde. Marleene fasste die Probleme zusammen und legte den Kopf in die aufgestützten Hände.

»Ich habe auch noch viel über die Finanzierung nachgedacht«, sagte er über die Schulter, während er seine Nägel schrubbte. »Wenn bei der angedachten Stelle kein Geld fließt, muss man eben die Quelle wechseln, oder? Deine Mutter hat bestimmt einen guten plattdeutschen Spruch dazu …«

»Geld un Good hollt Ebbe un Flood«, warf Marleenes Mutter sogleich von ihrem Schaukelstuhl aus ein.

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Marleene mit gerunzelter Stirn.

Julius griff nach einem Handtuch und trocknete sich die Hände ab. »Eine Arbeiterin mag sich ein höheres Schulgeld nicht leisten können. Aber es gibt ja auch junge Damen, die an einem Abend das an Schmuck tragen, wovon eine Arbeiterfamilie ein ganzes Jahr lang leben könnte.«

»Du meinst …«

»Ja.« Julius kam bedächtig auf sie zu. »Überleg noch mal, ob du nicht doch auch einige höhere Töchter mit aufnimmst. Ich weiß, für die Arbeiterinnen wäre es noch wichtiger, einen Beruf zu erlernen. Aber auch in der Oberschicht gibt es unglückliche Frauen, die sich nach einer Alternative sehnen. Und wenn ihr Schulgeld dann gleich die Ausbildung der Arbeiterinnen mitfinanziert …«

Marleene wog die Idee ab. Sie klang durchaus vielversprechend, obwohl sie es zunächst kategorisch ausgeschlossen hatte, höhere Töchter aufzunehmen. Sollte die Schule ansonsten jedoch gar nicht zustande kommen, wäre es gewiss besser. Und Julius hatte recht, die Frauen der gehobenen Schicht waren ebenfalls benachteiligt, auch wenn sie auf andere Weise darunter litten. »Aber ist es nicht ungerecht, wenn einige Schülerinnen mehr zahlen müssen als andere?«

Frieda verschränkte die Arme und prustete abfällig. »Ist es denn gerecht, dass einige Menschen gut zwanzig seidenrauschende Kleider im Schrank und eine auf Hochglanz polierte Equipage vor der Tür haben, während der kleine Fiete vom Marktplatz nur die zerlöcherten Lumpen tragen kann, die seine sieben Geschwister schon vorher anhatten, und dazu barfuß geht? Wenn man die Schulgebühr zum Jahreslohn der Familie ins Verhältnis setzt, zahlen die höheren Töchter höchstwahrscheinlich dennoch sehr viel weniger.«

Marleene nickte langsam. So gesehen wäre es nur rechtens, die Schulgebühr sozusagen vom Jahresverdienst der Eltern abhängig zu machen. »Wie viel könnten wir denn da verlangen?«

Julius zog einen der Binsenstühle zurück und setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Also, Rosalies Höhere-Tochter-Schule hat zweitausend Mark gekostet.«

»Zweitausend«, riefen Frieda und Marleene wie aus einem Munde, und Marleenes Mutter schaukelte heftig in ihrem Stuhl. Eine stattliche Summe, wenn man bedachte, dass ein Fabrikarbeiter oft nicht einmal hundert Mark im Monat verdiente.

Julius hob die Schultern. »Mit Schulgeld, Pension und Anschaffungen kommt eben einiges zusammen.«

Kopfschüttelnd beugte Marleene sich wieder über ihre Notizen. »Kein Wunder, dass ich mit dem Budget nicht hinkomme. Aber selbst wenn wir nicht ganz so viel nehmen, könnten wir hochwertigere Gartengeräte anschaffen, die auch viel länger halten würden. Und … wir könnten sogar die Exkursionen an die Nordsee und in das Naturalienkabinett machen, die ich zugunsten des Budgets wieder gestrichen habe. Aber kann man Dinge nicht so viel besser verinnerlichen, wenn man sie direkt sieht?« Enthusiastisch zog sie das Tintenfass zu sich heran. »Lasst uns am besten gleich eine Anzeige für die Gartenlaube verfassen, die geht ja an fast jeden Haushalt.«

Nachdenklich legte sie das stumpfe Ende des Füllfederhalters an die Lippe. »Also, wie sollte eine angehende Gärtnerin aus gutem Hause denn sein, damit wir sie aufnehmen?«

»Na, sie sollte auf jeden Fall gut mit anpacken können und keine Arbeit scheuen. Zudem sollte sie nicht auf den Kopf gefallen sein und natürlich wetterfest.« Julius deutete mit dem Kinn zum Fenster, wo sich immer mehr Eisflocken auf den Querstreben sammelten. »Schnee, Wind, Regen, gleißender Sonnenschein – das alles sollte ihr nichts ausmachen. Außerdem wäre es gut, wenn sie ein gewisses Vorwissen mitbrächte und sich bereits einige Pflanzenenzyklopädien zu Gemüte geführt hätte.«

Marleene linste zu Frieda hinüber, deren Grinsen immer breiter geworden war und die nun leise gluckste. Julius schien davon nichts zu bemerken und sprach weiter. »Außerdem darf sie nicht zimperlich sein. Spinnen, Käfer, Jauche … Davor darf sie sich nicht zieren. Und wohlauf sollte sie sein, stundenlanges Hocken oder Stehen sollten ihr nicht zusetzen.«

Mittlerweile gab es für Frieda kein Halten mehr, sie lachte schallend los, und auch Marleenes Mutter schmunzelte.

»Soll sie vielleicht auch noch liebreizend aussehen, weizenblonde Haare und strahlend blaue Augen haben?«, fragte Frieda und wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. Zwischen Julius’ Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Nein, wieso? Mit ist ganz gleich, wie sie aussieht.«

»Weil du gerade exakt Marleene beschrieben hast.«

»Tatsächlich?« Julius kratzte sich im Nacken. »Nun, sie war ja auch der perfekte Lehrling.«

Jetzt war es an Marleene aufzulachen. »Das hast du damals aber anders gesehen …« Nicht nur er, sondern auch die Kollegen in der damaligen Hofgärtnerei in Oldenburg hatten ihr den Einstieg ziemlich schwer gemacht, da der damalige Chef sie an ihrem ersten Tag über den grünen Klee gelobt hatte.

»So oder so, ich fürchte, wenn ich all das aufführe, könnte es etwas abschreckend wirken. Wenn die feinen Damen erfahren, dass wir mit Jauche düngen …« Sie wedelte mit der Hand, als hätte sie sich verbrannt. »Das sollten wir den Schülerinnen lieber schonend beibringen.«

»So wie dir damals?«, fragte Julius mit einem schalkhaften Lächeln, denn Marleene hatte seinerzeit nähere Bekanntschaft mit der Jauchegrube geschlossen, als ihr lieb gewesen war.

»Kein Wort davon, du hast ohnehin nur zwei Zeilen«, beschloss Frieda. »Sag einfach, sie solle aktiv und gerne an der frischen Luft sein, alles andere wird sich schon von selbst ergeben. Immerhin soll in der Überschrift stehen, dass es um eine Gärtnerinnenschule geht, oder? Da wird sich doch keine bewerben, die keine Blumen mag.«

Marleene schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir auch nicht vorstellen.« Sie seufzte. »Ich hoffe nur, es bewerben sich überhaupt ausreichend höhere Töchter, sonst müssen wir die Schule wieder schließen, bevor sie auch nur begonnen hat.«

2. Kapitel

Jever, Dezember 1897

Es kam nicht oft vor, dass die Herrschaft die Räumlichkeiten des Gesindes betrat, und so blickten Lina und Hjördis überrascht auf, als Frau Nordhausen höchstpersönlich in die Küche stolzierte. Lina, die seit einem halben Jahr im Hause als Köchin angestellt war, fasste eilig ihren Wust an feinen Krissellocken zusammen. Eigentlich sollte sie bei der Arbeit stets einen Zopf tragen, doch ihre Haare waren so schwer, dass sie ihn zwischendurch öffnete, da die Haarwurzeln sonst schmerzten.

Frau Nordhausen stellte derweil eine Schüssel mit Essen auf den mit Kerben übersäten Holztisch. Mit ihrem roten Kleid aus feinster Pongéseide wirkte sie fehl am Platz. »Das ist für euch.« Sie lächelte mit ihren dünnen Lippen dem Stubenmädchen Hjördis und dann auch Lina zu. Sie bedankten sich und sahen der gnädigen Frau hinterher, bis ihre Schritte auf der Treppe verklungen und die Tür ins Schloss gefallen war. Neugierig zog Hjördis die Schüssel zu sich heran. »Eine ganze Kumme voll?« Begeistert sah sie zu Lina. »Ich frage mich, was in sie gefahren ist. Gibt es hier im Norden irgendeinen Feiertag, den ich noch nicht kenne?«

Es war tatsächlich ungewöhnlich, denn normalerweise bekamen sie nur das, was bei den Hauptmahlzeiten übrig blieb. Und da diese in der Regel knapp kalkuliert wurden, gingen sie häufig mit knurrendem Magen schlafen. Soße gab es schon gar keine, die war viel zu kostbar. Dennoch hätte Lina sich an bloße Erdäpfel mit etwas Gemüse und sonntags einem kleinen Stück Fleisch gewöhnen können – wenn es doch nur ein wenig mehr gewesen wäre.

Aber das heute ging wahrlich zu weit.

»Des Rätsels Lösung ist viel einfacher«, sagte sie und nahm Hjördis den hölzernen Löffel aus der Hand, mit dem sie etwas Grünkohl auf ihren Teller häufen wollte.

»He!«, beschwerte sich diese und stemmte die Arme auf den Tisch. »Willst du, dass ich verhungere? Wir haben seit Tagen nur das Nötigste bekommen.«

Lina schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass du die Nacht mit Magenkrämpfen auf dem Abort verbringen musst.«

Hjördis runzelte die Stirn, und Lina deutete auf die dunkelgrüne Pampe. »Ich durfte gestern kurz in die Speisekammer.« Hjördis riss die Augen auf, denn normalerweise bewachte die gnädige Frau den Schlüssel dazu wie einen Schatz, stets in Sorge, dass man sie beklauen könnte. Dabei hatten sie ursprünglich ausgemacht, dass sie für eine gewisse Summe, Kost und Logis in Stellung treten würde. Die Logis bestand aus einem in der Küche eingezogenen Hängeboden, in den sie mithilfe einer Leiter klettern und wie in einen Backofen hineinsteigen musste. Doch immerhin war es etwas Eigenes, das war bei sechs Geschwistern schon ein Vorteil. Wenn sie allerdings gewusst hätte, dass die Kost aus einem Kanten Brot und zwei Erdäpfeln am Tag bestand, hätte sie anders verhandelt. Aber so war das mit den Mädchen vom Lande, wie sie eines war. In Armut aufgewachsen, war sie den Hunger gewohnt, obwohl ihre Mutter schier alles gegeben hatte. Doch es waren zu viele Kinder gewesen. Deswegen war Lina froh, als sie alt genug gewesen war, um sich eine eigene Stellung zu suchen. Vielleicht würden wenigstens ihre Geschwister es besser haben. Sie tat alles dafür und schickte jeden Pfennig nach Hause, den sie erübrigen konnte. Dabei blieb kaum etwas für sie zum Leben.

Und dann war da noch der verdammte Stolz. Sie weigerte sich, sich wie ein Stück Dreck behandeln zu lassen, nur weil sie ein Arbeitermädchen war. Oder wie eine Leibeigene. Die Widerworte waren in ihrer ersten Arbeitsstätte nicht gut angekommen, und sie hatte mit einem entsprechenden Eintrag ins Gesindebuch gehen müssen. Das hatte sie in eine armselige Verhandlungsposition gebracht. Sie hatte froh sein müssen, die Anstellung als Köchin in einem angesehenen Haus bekommen zu haben, obwohl sie bisher nur daheim gekocht hatte, weil ihre Mutter stets arbeitete.

Immerhin würde sie so immer ausreichend zu essen haben, hatte sie angenommen, denn normalerweise herrschten die Köchinnen auch über die heilige Speisekammer. Frau Nordhausen aber hatte andere Vorstellungen.

»Weißt du noch vorgestern, als Frau Nordhausen vor dem Mittagessen überraschend Besuch bekommen hat?«

»Ja, ich musste ihr in aller Eile in das Tageskleid helfen.«

»Genau. Ich brauchte aber noch Erdäpfel, um den Steckrübeneintopf rechtzeitig fertig zu bekommen. Du weißt, dass Herr Nordhausen ungnädig wird, wenn das Essen nicht sättigend genug ist. Also hat sie mir den Schlüssel ausgehändigt …«

Hjördis legte den Kopf schräg. »Das ist doch Tage her. Was hat das mit unserem Essen zu tun?«

»Ich habe ihn dort stehen sehen. Den Grünkohl, den ich in der vorigen Woche gekocht habe. Schon da habe ich mich gewundert, denn ich habe mehr gemacht, als sie mir aufgetragen hatte, aber viel zu wenig ist zurück nach unten gekommen. Und dort im Regal stand eine ganze Servierschüssel voll.«

Nachdenklich sah Hjördis sie an, und Lina erklärte, was die Sache so prekär machte: »Allerdings war sie mit einer dicken Schimmelschicht überzogen.«

Hjördis schlug die Hand vor den Mund, und ihr Gesicht wurde blass. Auch in Lina war an jenem Tag die Übelkeit aufgestiegen, und sie hatte sich rasch zurückgezogen. Schon da hatte sie eine Vorahnung gehabt.

Und nun war es tatsächlich so gekommen.

»Dann hat sie also die Schimmelschicht abgetragen und …« Hjördis fuchtelte unbeholfen in Richtung der Schüssel und sah sie fassungslos an. Lina nickte.

»Ja, sie hat den Schimmel entfernt und setzt uns den verdorbenen Rest zum Fraß vor. Aus purem Geiz. Als wären wir räudige Straßenhunde. Aber was sage ich da eigentlich? Nicht einmal denen würde ich so etwas zu essen geben.« Sie seufzte, und Hjördis sank ermattet auf einen Stuhl.

»Hast du die Zeitung mitgebracht?«, fragte Lina nach einer Weile.

Hjördis brachte stets die Zeitung vom Vortag mit herunter, wenn der Herr des Hauses keine Verwendung mehr dafür hatte. »Aber gewiss doch!« Sie holte sie von der Ablage und legte sie Lina vor die Nase. Die schlug sie auf und blätterte unwirsch zu den Stellenangeboten vor. Keinen weiteren Tag würde sie es hier aushalten.

»Gibt es etwas Ansprechendes?«, erkundigte sich ihre Leidensgenossin, die sich nun an den Abwasch machte.

»Womöglich. Möchtest du eine Kur machen?«

»Unter Umständen ja.« Hjördis warf übertrieben den Kopf nach hinten, denn natürlich wäre dies ein Unterfangen, das bei Weitem über ihren finanziellen Möglichkeiten lag. »Was haben Sie denn zu bieten?«

»Mildes Klima, Schutz gegen empfindliche Windströmungen, schöner Park, üppige Tannen- und Buchenwaldungen«, las Lina vor. »Oh, und offenbar sogar Ozon und Sauerstoff. Außerdem Lignosulfit-Inhalation und ein Röntgenzimmer! Dazu gibt es elektrische Beleuchtung und eine Wasserleitung.«

»Das Röntgenzimmer gefällt mir, das ist gewiss sehr ergötzlich. Aber was ist mit einem Kurhäuschen für die Höhenluft?«

Lina studierte die Anzeige abermals und schüttelte den Kopf. »Bedaure.«

»Ts, ts! Dann kommt es leider nicht infrage.«

Sie lachten die düstere Stimmung weg, und Hjördis nahm die Schüssel vom Tisch und entsorgte den Inhalt. Noch immer lächelnd, huschte derweil Linas Blick über die Annoncen mit den bunt gemischten Buchstaben in unterschiedlichen Schriftarten, wodurch der Setzer sich die Arbeit erleichterte. Ihre Augen blieben an einem Wort hängen, und je mehr sie von der Anzeige las, desto schneller schlug ihr Herz.

Gartenbauschule für Frauen Unter der Leitung der Hofgärtnerin von Oldenburg. Interessentinnen sollten aktiv sein und gerne an der frischen Luft arbeiten.Höhere Töchter sowie Arbeiterinnen willkommen.

Es war nicht nur die Tatsache, dass Arbeiterinnen erstmalig nicht von vornherein ausgeschlossen wurden, nein. Wer die Hofgärtnerin von Oldenburg war, das wusste man im gesamten Großherzogtum. Viele waren beeindruckt, was sie als Frau niederer Herkunft geschafft hatte. So manch einer bewunderte sie gar. Aber Lina wusste mehr. Sie wusste, dass Marleene Langfeld kein guter Mensch war. Und nun wurde ihr eine Gelegenheit auf dem Silbertablett serviert, sie dafür büßen zu lassen.

3. Kapitel

»Ich bitte dich inständig, mein Liebchen, lass es uns wagen!« Konstantin hatte es sich mit seiner Gattin Dorothea im Salon der Fliedervilla gemütlich gemacht und legte nun alle Hoffnung und Zuversicht in seinen Blick, um seine Ehefrau von seinem Vorhaben zu überzeugen. Abermals. Alle paar Monate wagte er diesen Vorstoß – bisher leider stets vergeblich.

Doch diesmal hatte er sich etwas überlegt. Er würde Dorothea ein Angebot machen, das sie schwerlich zurückweisen konnte.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sog sie nur betont die Luft ein. »Wir haben unzählige Male darüber gesprochen … Ich verstehe einfach nicht, warum dir die Fliedervilla nicht mehr genügt!« Sie deutete auf die eleganten Möbel, von denen sie die Hälfte aus ihrem Stadthaus mitgebracht hatte. Und es war nicht nur das. Die herrschaftliche Villa war wunderschön gebaut, von Fliederbüschen umgeben, eine altehrwürdige Lindenallee führte auf das Anwesen zu.

»Und vor allem ist hier die Hofgärtnerei«, ergänzte Dorothea und verschränkte die kräftigen Arme.

Konstantin zog die gepflegten Augenbrauen zusammen und grummelte leise. »Gärtnerei Goldbach«, korrigierte er sie bitter. Obwohl er vor vier Jahren den Titel als Hoflieferant, den sein Vater geführt hatte, verloren hatte, nannten die meisten seine Gärtnerei weiterhin die Hofgärtnerei oder – und das war noch schlimmer – ehemalige Hofgärtnerei. Das erinnerte ihn stets an sein Versagen.

Aber die Zeiten der Hofgärtnerei waren für ihn vorbei.

Hier gab es nichts Prestigeträchtiges mehr – und deswegen musste er fort. Die ewig gleichen Arbeiten, die sich mit dem Lauf der Jahreszeiten unablässig wiederholten, ödeten ihn an. Er war zu Höherem berufen und wollte einen vollständigen Neuanfang. Ein ansehnliches Gutshaus mit üppigem Garten. Am besten in einer Gegend, wo sie kaum jemand kannte.

»Wir könnten es Gut Dorotheenhöhe nennen«, schmeichelte er seiner Frau und strich eine leicht gewellte Strähne ihres schwarzen Haares zurück, die sich aus der kunstvollen Hochsteckfrisur gelöst hatte.

Dorotheas rundliche Wangen wurden rosig, und sie blickte ihn aus ihren dunklen Augen überrascht an. »Das wäre reizvoll, aber dennoch … Warum sollten wir Oldenburg verlassen? Wir haben hier unsere Freunde, unsere Familien, ich bin zweite Vorsitzende im Frauenverein. All das müssten wir völlig neu aufbauen. Wozu die Mühe, wenn es uns hier doch gut geht?«

Konstantin bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Seiner Frau mochte es gut gehen. Er hatte ihr zwar untersagt zu arbeiten, obwohl das ihr Wunsch gewesen war, aber sie hatte mit ihrem Engagement in diesem lächerlichen Frauenverein wohl ihre Erfüllung gefunden. Ihm sollte es recht sein, denn wenn sie etwas hatte, wo sie stetig mit Gleichgesinnten plappern konnte, hatte er mehr Ruhe. Und Zeit für andere Dinge. Nur gab es eben kaum mehr andere Dinge. Beim Gärtnerstammtisch konnte er sich nicht länger blicken lassen, da sein Bruder samt Frau dort hingingen. Und diesem miesen Weibsbild, das ihm den Titel als Hofgärtner – der ihm rechtmäßig zustand – abspenstig gemacht hatte, wollte er nicht unter die Augen treten. Sonst würde er sich noch vergessen.

In den vergangenen Jahren hatte er sich auf den Bällen und Festen der ländlichen Bevölkerung vergnügt, doch irgendwie glückte ihm das nicht mehr. Es war fast, als durchschauten die Frauen ihn. Dabei war er stets ein hervorragender Charmeur gewesen, spürte, was die jungen Damen hören wollten, und zögerte nicht, ihnen genau damit zu schmeicheln. Seit einiger Zeit waren seine Bemühungen jedoch nicht länger von Erfolg gekrönt.

Es war ihm ein Rätsel.

An seinem Erscheinungsbild konnte es gewiss nicht liegen, erst heute Morgen hatte ein Blick in den Spiegel ihm bezeugt, dass dies noch immer vortrefflich war. Ein akkurater Seitenscheitel in den kastanienbraunen Haaren, die so gut zu seinen Augen in ebendieser Farbe passten, ein astrein gepflegter Schnurrbart, und um das Ganze abzurunden, trug er stets den feinsten Zwirn im gleichen Braunton seiner Augen. Das hatte immerfort eine gewisse Wirkung auf die Damenwelt gehabt, insbesondere, wenn er sie mit seinem charmanten Lächeln bedachte. So etwas konnte schlichtweg nicht von heute auf morgen vergehen! Nein, sie mussten über ihn im Bilde sein. Und das vertrauliche Wissen hatte sich wie Unkraut verbreitet, war bis in die untersten Schichten der Gesellschaft vorgedrungen.

Aus diesem Grunde wollte er fort von hier.

»Dass es uns gut geht, bedeutet aber nicht, dass es uns nicht noch besser gehen könnte …«, warf er daher in die Waagschale und senkte den Blick, um Trübsinn zu signalisieren. Dorothea sprang umgehend darauf an.

»Ich wünsche mir doch ebenso einen Erben und bin überfragt, warum es mir nicht gelingt, aber ein neues Anwesen wird gewiss auch nichts daran ändern.«

Manchmal war es ihm ein Gräuel, dass er seine Frau nicht mühelos an der Nase herumführen konnte wie einst so manch leichtes Mädchen. Bei ihr musste er stets gewiefter vorgehen. In diesem Fall würde er mit ihren Schuldgefühlen arbeiten.

»Das Anwesen an sich nicht, das ist richtig. Aber die Lage. Frische Meeresluft soll sehr förderlich für die Gesundheit sein. Und wenn dein Wohlbefinden erst vollends wiederhergestellt ist, wird es schon gelingen mit der Schwangerschaft. Dann bekomme ich endlich einen Sohn.«

Dorothea presste die Lippen zusammen, er wusste, es lastete schwer auf ihr, dass sie es nicht zustande gebracht hatte, ihm ein weiteres Kind nach seiner Tochter zu gebären. Dass es ausschließlich ihre Schuld war, lag auf der Hand, immerhin hatte er bereits zwei Kinder gezeugt und einigen haltlosen Beschuldigungen zufolge sogar mehr. Aber nur bei der Arbeiterin Greta, die vor einigen Jahren in der Gärtnerei seines Vaters gearbeitet hatte – damals, als sie noch die Hofgärtnerei gewesen war –, und bei seiner Gattin konnte er sich vollkommen gewiss sein, dass es wahrhaftig seine Nachkommen waren. Nun brauchte er zudem einen offiziellen Erben. Immerhin hatte sein kleiner Bruder Julius mit Marleene ebenfalls keine Kinder – nicht mal ein Mädchen. Und seine Schwester Rosalie konnte wegen ihres Lehrerinnengedöns nicht heiraten. Am Ende würde die Familie Goldbach noch aussterben! Das konnte er nicht zulassen. Das nicht – und ebenso wenig, dass er in seinem Leben keinerlei Freuden mehr nachgehen konnte.

»Aber mit Sicherheit weiß man es nicht.« Dorotheas Blick war voller Zweifel.

Zum Glück war er darauf vorbereitet.

Er zog die Illustrierte hervor, die einen ganzen Artikel darüber gebracht hatte, was das frische Klima an der See Gütliches für die Gesundheit zu tun vermochte. Mit einem gekonnten Griff schlug er die entsprechende Seite auf und deutete mit dem Zeigefinger mehrmals darauf. Mit hochgezogenen Augenbrauen las Dorothea den Artikel. Schon bald sanken ihre Brauen wieder nach unten, und sie zog die Zeitschrift näher zu sich heran. Als sie geendet hatte, lehnte sie sich nach hinten. Für einen Moment ging ihr Blick durch das Fenster zum Garten hinaus, wo die kleine Helene spielte. Sie sah über die Topfpflanzen bis hin zu den Freilandquartieren, wo in der Ferne der alte Alois und ein neuer Arbeiter die Pflanzen verluden.

Dann wandte sie sich ihm wieder zu.

»Na schön«, willigte sie ein. »Lass uns ans Meer ziehen.«

4. Kapitel

Drei Monate später

»Bist du sicher, dass du die Schülerinnen nicht zu sehr verhätschelst, wenn du sie gleich am ersten Tag bekochst?«, fragte Frieda, die Möhren für den Eintopf in Stücke schnitt, während Marleene sich um die Kartoffeln kümmerte. Das Bauernhaus hatten sie bereits auf Hochglanz gebracht und die kleinen Kammern im Bereich der ehemaligen Viehställe hergerichtet. »Sollten wir sie nicht vielleicht besser von Anfang an Zucht und Ordnung lehren, wie an den gewöhnlichen Schulen?« Frieda blitzte sie vergnügt an.

»Du meinst also, wir sollten sie für kleinste Vergehen zusammenstauchen und nicht mit Schlägen mit dem langen Holzlineal geizen, anstatt alle mit einem deftigen Eintopf zu begrüßen?«

Frieda lachte. »Eigentlich nicht, das war damals grauenvoll. Bei uns in Wiesmoor hat nahezu täglich jemand bitterlich geweint.« Sie schüttelte sich. »Aber auf der anderen Seite ist es doch meistens so in der Schule … Anscheinend wird es auf diese Weise gemacht. Nicht, dass uns am Ende alle auf der Nase herumtanzen.«

»Das glaube ich nicht«, überlegte Marleene laut und rührte mit dem Holzlöffel in dem riesigen Topf. »Wir haben doch bei der Auswahl der Schülerinnen größte Vorsicht walten lassen und nur denen mit den überzeugendsten Briefen eine Zusage gegeben. Außerdem«, sie blinzelte Frieda an, »kannst du ganz schön resolut sein. Weißt du noch, wie du mir beigebracht hast, wie man sich als Mann benimmt? Da hast du mir ordentlich die Leviten gelesen …«

Ihre Cousine warf empört den Stumpf einer Möhre nach ihr. »Mitnichten habe ich das!« Marleene hatte sich weggeduckt und drohte nun, mit dem Kochlöffel auf sie loszugehen. Umgehend trat Frieda die Flucht durch die Wohnküche an und verschanzte sich hinter dem klobigen Esstisch neben dem Kamin, in dem ein behagliches Feuer knisterte. Sie griff nach dem Schürhaken. »Außerdem warst du der lausigste junge Bursche, der jemals in irdischen Gefilden gewandelt ist. Da musste ich mit Nachdruck arbeiten!«

Lachend verloren sie sich in der Erinnerung, wie Marleene damit gerungen hatte, als Knabe durchzukommen, um ihre heiß ersehnte Gärtnerlehre machen zu können. Dank Friedas Nachhilfe war es eine Weile gut gegangen, doch dann hatte sie sich in Julius, der damals noch der Sohn des Chefs gewesen war, verliebt, und die Dinge waren immer schwieriger geworden. Zum Glück hatten sie mittlerweile ihre eigene Gärtnerei, und mit ihrer Schule würde es mehr und mehr jungen Frauen möglich werden, als Gärtnerin zu arbeiten – ganz ohne sich dafür verkleiden zu müssen. Beziehungsweise mit offizieller Verkleidung, denn da die Arbeit in Hosen einfach praktischer war, würden die Schülerinnen diese statt Röcke tragen.

Sie hatten gerade ihre Messer wieder aufgenommen, um das letzte Gemüse für den Steckrübeneintopf zu schneiden, als es heftig an der Doppeltür des Schwalbennests donnerte.

Sollte etwa eine der Schülerinnen bereits so früh eintreffen? Bruno wollte eigentlich später alle vom Bahnhof abholen. Und würde ein Backfisch so vehement anklopfen?

Noch bevor Marleene den Besucher hereinbitten konnte, schwang die Tür auf. Rosalie Goldbach, Julius’ Schwester, trat mit resoluten Schritten ein und klopfte sich den Schnee von den Haaren und dem Wollmantel. Mittlerweile verstand Marleene sich recht gut mit ihr, anfangs waren sie und Rosalie sich einander allerdings spinnefeind gewesen.

»Kann ich hier wohnen?«, fragte sie freiheraus, ohne sich die Mühe zu machen, Frieda oder Marleene zu begrüßen. Die beiden sahen sich überrascht an, Friedas Blick verdunkelte sich dabei umgehend. Sie hatte Rosalie nie verziehen, dass sie ihr einst den Verlobten hatte abspenstig machen wollen. Dann sah Marleene wieder zu Rosalie, die ihre goldenen, leicht gewellten Haare nach hinten schlug, die Arme verschränkte und sie abwartend ansah.

»I-ich verstehe nicht …«, sagte Marleene verwirrt.

»Was gibt es da nicht zu verstehen? Ich möchte wissen, ob ich fortan bei euch leben kann.« Sie sah sich im Schwalbennest um, als wäre sie zum ersten Mal hier. Von der geräumigen Wohnküche mit dem massiven Herd und dem riesigen Esstisch neben dem Kamin gingen drei Türen in kleinere Kammern ab, die einst die Viehställe gewesen waren. Frieda bewohnte eine davon, und auch die Schülerinnen, die von außerhalb kamen, sollten eine beziehen. Im hinteren Bereich, neben der schmalen Speisekammer samt Keller für die zu kühlenden Lebensmittel, befanden sich Marleenes und Julius’ Schlafzimmer und eine Waschküche. Sonst nichts. Bisher wohnte Rosalie bei ihrem Bruder Konstantin in der Fliedervilla mit unzähligen Zimmern mit goldenen Türklinken, Doppeltreppe im Vestibül und Dienstboten. Dat war een ganz anderer Schnack, wie Marleenes Mutter zu sagen pflegte. Warum sollte sie solch einen Komfort gegen ein altes Bauernhaus tauschen? Rosalie hatte sich in den vergangenen Jahren zwar stark verändert und war nicht mehr die verwöhnte höhere Tochter, die sie einst gewesen war, aber ein Verzicht in diesem Ausmaß passte dennoch nicht zu ihr.

»Warum? Hast du dich mit Konstantin überworfen?«

»Ts«, Rosalie winkte ab. »Seine Missetaten sind mir mittlerweile einerlei. Ich lasse ihm sein Leben, solange er sich nicht in meines einmischt, das war unser Arrangement, als ich nach dem Lehrerinnenseminar nach Oldenburg zurückgekehrt bin. Eigentlich konnten wir damit beide gut leben.« Schmollend schob sie die Unterlippe vor.

»Warum dann dein Anliegen?«

»Weil er wegzieht.«

Marleene hielt die Luft an. Konstantin zog weg? Sie wusste, dass sie sich nicht freuen sollte, immerhin war er ihr Schwager. Dennoch hatte er ihr das Leben einst sehr beschwerlich gemacht, und sein Fortgang wäre nicht unbedingt ein Verlust.

»U-und die Gärtnerei? Die Fliedervilla?«

Rosalie suchte ihren Blick. »Die will er verkaufen.«

***

Als Julius aus der Ferne seine Schwester mitten am Tag aus der Mietdroschke steigen sah, stellte er das Schälchen mit Baumwachs umgehend zur Seite. Um die Astwunden der Apfelbäume würde er sich später kümmern.

Eiligen Schrittes ging er auf das Schwalbennest zu, in das Rosalie soeben verschwunden war. Hinten, zwischen den Glashäusern, tauchte nun Johannes auf, der einen langen Vollbart trug, obwohl er nur wenige Jahre älter als Julius war. Bruno, der andere Arbeiter, ging mit seinen feuerroten Haaren hinter Johannes her. Nur Franz, ihr ehemaliger Lehrling, arbeitete unbeeindruckt weiter, stellte Julius mit Blick auf die neu angelegte Obstbaumwiese fest, wo Franz die dünnen Äste herausbrach. Hoffentlich würde sich der Jüngling nicht von der Horde junger Frauen, die in Kürze hier einfallen würde, den Kopf verdrehen lassen. Oder umgekehrt.

Doch zunächst gab es offenbar andere Probleme, um die er sich kümmern musste.

Er stieß die Tür auf und ließ sie offen, damit Johannes und Bruno, die zu engen Freunden der Familie geworden waren, ihm folgen konnten.

»Was ist geschehen?«, fragte er und sah besorgt von Marleene und Frieda zu seiner Schwester Rosalie, die wie immer wie aus dem Ei gepellt wirkte, auch wenn sie sich nicht mehr so elegant wie vor einigen Jahren kleidete.

»Ist es etwas Schlimmes? Was verschlägt dich mitten am Tage hierher?« Johannes hatte wohl die letzten Schritte im Laufschritt zurückgelegt und war leicht außer Atem. Bruno schloss leise die Tür hinter sich und sah mit großen Augen umher. Zwischen seinen Augenbrauen zeichnete sich eine steile Falte ab. Er war seit drei Jahren verheiratet, doch das hatte ihm nicht gutgetan. Er war immer stiller geworden, wirkte mittlerweile fast in sich gekehrt, dabei war er einst fröhlich und nie um ein Wort verlegen gewesen.

Rosalie stieß unbeherrscht die Luft aus und beantwortete erst dann Julius’ Frage. »Dein Bruder hat beschlossen umzuziehen. Er will die ehemalige Hofgärtnerei und die Fliedervilla verkaufen. Unser Elternhaus, kannst du dir das vorstellen?« Sie verschränkte ihre Arme und ihre Unterlippe schob sich ein wenig vor. »Keinen Gedanken verschwendet er daran, was aus mir werden soll. Eiskalt setzt er mich an die Luft!« Sie sprühte vor Zorn, doch schon die Tatsache, dass sie Konstantin nur als seinen Bruder bezeichnet hatte und nicht etwa als ihren, hatte Julius gezeigt, dass Rosalies und Konstantins ohnehin schon zerrüttetes Verhältnis nun wohl nicht mehr zu kitten war.

»Darf ich hier wohnen?«, fragte sie vergrämt, und Julius sah sich unschlüssig um. Eigentlich wäre kein Platz übrig, wenn erst die Schülerinnen angereist waren. Sogar in Friedas Zimmer sollte eine achte Schülerin nächtigen, das hatte Frieda selbst vorgeschlagen.

Rosalie spürte offenbar sein Zögern. »Bitte, ich werde ohnehin den ganzen Tag in der Schule sein. Bald werde ich beim Stadtmagistrat vorstellig, der die Stellen vergibt, und ich wüsste keinen Grund, warum sie mich nicht nehmen sollten. Ihr werdet also kaum merken, dass ich da bin.«

Die Wahrscheinlichkeit, mit Rosalie in einem Haus zu leben und es nicht zu bemerken, war in etwa so hoch, wie mit einem Zirkuspferd beim sonntäglichen Kirchengang nicht aufzufallen. Dennoch mochte er es seiner Schwester in Not nicht verwehren. Sein Blick ging zu Marleene, die kaum merkbar nickte.

»Natürlich darfst du das.« Von der Seite hörte er Frieda nach Luft schnappen, aber er bedeutete allen, sich erst einmal hinzusetzen. Marleene stellte unterdessen den Kessel auf den Herd und setzte Teewasser auf.

»Vielleicht könnten wir dann jetzt ja …«, sagte Johannes, der gegenüber von Rosalie Platz genommen hatte, ungewohnt zaghaft. Wenn es um Rosalie ging, zeigte er sich selten so rebellisch, wie man es gewohnt war.

»Tse«, sagte seine Schwester konsterniert und hob gekonnt die linke Augenbraue. »Als wenn ich mir von einem Waldschrat wie dir die Daumenschrauben der Ehe anlegen lassen würde.«

»Gut. Solch eine biestige Suffragette, die sich von keinem etwas sagen lässt, würde ich ohnehin nicht wollen.«

Rosalie griff über den Tisch nach Johannes’ Händen und lächelte ihn verliebt an. »Und dafür schätze ich dich sehr. Aber du weißt, ich möchte erst einige Jahre arbeiten, bevor wir heiraten. Jetzt, wo ich das Lehrerinnenseminar absolviert habe, kann ich nicht sofort in den Stand der Ehe treten.«

Johannes nickte resigniert, und Julius ahnte, dass sie dieses Gespräch schon viele, viele Male geführt hatten, doch leider war es momentan Pflicht, dass Lehrerinnen unverheiratet waren.

Rosalie wandte sich an Julius und Marleene, die nun blau geblümte Tassen auf dem Tisch verteilte. Frieda hielt sich dabei zurück, und Julius konnte sich denken, warum. »Danke, dass ich bei euch wohnen darf. Ich kann noch immer nicht glauben, dass Konstantin unsere Fliedervilla verkauft. Samt Gärtnerei, könnt ihr euch das vorstellen?«

Sie redeten noch weiter, doch ihre Worte verschwammen vor Julius’ neuen Gedanken zu Hintergrundgeräuschen. Erst jetzt begriff er so richtig, was Rosalie ihnen soeben eröffnet hatte. Er musste hart mit sich ringen, um die nun tosenden Gedanken zu bezwingen.

Die Fliedervilla stand zum Verkauf.

Die Fliedervilla samt ehemaliger Hofgärtnerei.

Das Haus, in dem er aufgewachsen war. Die Gärtnerei, in der er Marleene kennengelernt hatten. Zentral gelegen in Oldenburg mit Orangerie und modernster Bewässerung. Es gab zahlreiche Erdgewächshäuser und ein Wäldchen zur eventuellen Erweiterung der Gärtnerei – das im Grunde genommen der perfekte Standort für ein Mädchenwohnheim wäre. Es wäre die Lösung für das Platzproblem.

Der Kessel begann zu pfeifen, und Marleene hob ihn vom Herd, um den Ostfriesentee aufzugießen, hielt jedoch inne. Julius wollte ihr helfen, doch seine Gedanken nahmen ihn zu sehr gefangen. Er musste den Faden immer weiter spinnen. Für den Anfang könnten sie weitere Schülerinnen in der Villa unterbringen, sodass die Gärtnerinnenschule mehr Mädchen ausbilden könnte.

Was allerdings noch viel wichtiger wäre: Sie wären wieder zu Hause.

Er mochte das Schwalbennest, und die Gärtnerei, die sie hier aufgebaut hatten. Nicht zuletzt durch ihre Freunde war es zu einem schönen Ort geworden, an dem man sich wohlfühlte. Doch dieses ganz spezielle Gefühl der Heimat, diese innere Gewissheit, angekommen zu sein – das vermochte nur die ehemalige Hofgärtnerei in ihm auszulösen. Und mit den Ersparnissen, um das Land vom Großherzog zu erwerben, könnte es gerade hinkommen. Sie könnten stattdessen die ehemalige Hofgärtnerei zurückkaufen. Brennend darauf, seine Gedankengänge mit Marleene zu besprechen, sah er in ihre Richtung.

Ihr Blick lag bereits auf ihm.

Wortlos unterhielten sie sich, und er merkte, dass durch ihren Kopf genau die gleichen Gedanken gegangen waren. Strahlend nickte sie ihm zu, und er erwiderte es.

Sie würden es tun.

Sie würden sein Erbe zurückholen.

»Was in aller Welt ist denn in euch gefahren?«, fragte Frieda nun, die die unsichtbare Verbindung von Julius und Marleene vermutlich gespürt hatte, und selbst Rosalie hielt mit ihrem Geplapper inne. Alle sahen zwischen Marleene, die weiterhin unverrichteter Dinge neben dem Teekessel stand, und Julius am Küchentisch hin und her.

Sie antworteten nicht sofort.

»Nun ja«, begann Marleene dann aber mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Also wenn Konstantin die Fliedervilla samt Gärtnerei nicht mehr will …«, setzte Julius den Satz mit einem ebensolchen Lächeln fort.

Umgehend war es vollkommen still, allein das Holzfeuer knisterte im Kamin, sonst hätte man die Schneeflocken wohl an der Fensterscheibe schmelzen hören können.

Frieda hatte die Augen aufgerissen, holte tief Luft und legte sich eine Hand aufs Herz. Auf Johannes’ bärtigem Gesicht zeichnete sich ein triumphierend genüssliches Grinsen ab, und Rosalie formte mit den Händen ein Dreieck um Mund und Nase, um ruhiger atmen zu können.

Nur Bruno blickte wie ein aufgeschrecktes Huhn um sich. »Hä? Was denn? Was habt ihr denn alle?«

Julius schmunzelte innerlich, aber immerhin kam er so in den Genuss, die Worte laut auszusprechen, nach denen er sich lange gesehnt hatte. »Wenn Konstantin die ehemalige Hofgärtnerei nicht mehr will, dann werden wir sie kaufen. Denn wir können uns nichts Schöneres vorstellen.« Marleene war dicht an ihn herangetreten, und er streckte eine Hand nach ihr aus, um sie zu drücken. Glücklich lächelten sie sich an.

»Ahhhh, jetzt wird ’ne Kuh draus.« Brunos Gesicht verzog sich verzückt, während durch seine Augen nostalgische Bilder vergangener Zeiten zogen, als er und Greta bloß Kollegen und das Tagesziel das Veräppeln des Lehrlings war. Mit einem Mal wirkte er endlich wieder ein wenig glücklich. »Dann kehren wir alle in die ehemalige Hofgärtnerei zurück?«, fragte er, und die Hoffnung, die in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

Es war Rosalie, die sie auf den Boden der Tatsachen zurückholte. »Dann solltet ihr euch aber beeilen«, warf sie ein.

»Wieso?«, fragte Julius. »Er wird sie doch kaum noch heute veräußern!?«

»Das nicht. Allerdings hatte er einen Termin diesbezüglich, ich weiß leider nicht genau, worum es da geht. Aber du kennst doch Konsti, wenn er etwas Neues entdeckt hat, kann es ihm gar nicht schnell genug gehen.«

»Gerade heute.« Julius sprang dennoch auf. »Wie viel Zeit haben wir noch, bevor die Schülerinnen kommen?«

Marleene sah zur vergoldeten Tischuhr, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. »Es könnte knapp werden.«

»Fahrt ihr nur los«, warf Frieda rasch ein. »Ich kann meinen Blumenladen heute später aufmachen und werde die Schülerinnen in Empfang nehmen.«

Julius und Marleene mussten lediglich einen kurzen Blick austauschen und nickten gleichzeitig. »Ich spanne das Pferd ein«, kündigte Bruno an, und Marleene griff nach ihrem wollenen Tuch. Julius holte derweil die Bargeldtasche, die ihre gesamten Ersparnisse enthielt. Sie hatten stets nur das Nötigste gekauft, trotzdem würde es vermutlich nicht ganz ausreichen, die ehemalige Hofgärtnerei war zu prestigeträchtig. Aber Konstantin würde seinem Bruder doch gewiss preislich entgegenkommen und erlauben, dass sie den Rest in Raten abbezahlten?

Sie sprachen vor Aufregung kaum ein Wort, während der Friese die Oldenburger Straße entlangtrabte, die bald in die Nadorster Straße überging, von der die Straße zur Hofgärtnerei abzweigte. Je näher sie dem Gebäude kamen, desto nervöser wurde Julius. Als er den Wagen nach links zwischen den schneebestäubten Linden auf die Villa aus roten Backsteinen zutraben ließ, schien sein Puls sich fast zu überschlagen. Er schlug den Halskragen seines Mantels hoch, Marleene lächelte ihm zu. Niemals hätte er zu träumen gewagt, dass er jemals die Fliedervilla zurückbekommen könnte.

Jetzt war sie zum Greifen nahe.

***

Mit zittrigen Händen betätigte Julius den Türklopfer. Ein Mädchen in Dienstbotenuniform mit Spitzenhäubchen öffnete. Es war nicht Meike, das Stubenmädchen, das früher in der Villa gelebt und gearbeitet hatte – aber das war nicht weiter überraschend. Das neue Mädchen musste zum Personal seiner Schwägerin gehören, das sie bei ihrem Einzug mitgebracht hatte. Dorothea, geborene von Wallenhorst, war adeliger Herkunft und hatte vor Jahren jene Gartenbauschule für höhere Töchter von Hedwig Heyl besucht, in der es vor allem darum gegangen war, den jungen Frauen die Arbeit an der frischen Luft schmackhaft zu machen. Als sie bei ihnen in der Hofgärtnerei angefangen hatte, war Julius zunächst nicht begeistert, mittlerweile wusste er aber, dass sie ein gutes Herz hatte.

Das Mädchen führte sie in den Salon, und Julius verspürte einen Stich, als er die vertrauten Möbel sah. Die mit grünem Samt bezogene Sitzgruppe, wo sie einst Dorotheas Vater hatten beichten müssen, dass alle Rosen für seinen Rosenball vertrocknet waren. Das Fenster, das zur Gärtnerei hinausging, an dem sein Vater so gerne gestanden und über das Leben sinniert hatte. Die edle Kommode aus Nussbaumholz, auf der die Porzellankatzensammlung seiner Mutter und die goldene Uhr seines Großvaters einen Platz gefunden hatten.

Alles hier war gespickt mit Erinnerungen.

Schönen und auch weniger schönen. Dennoch konnte er es kaum abwarten, hier wieder einzuziehen und in dem Haus gemeinsam mit Marleene neue Momente zu erleben, die irgendwann zu Erinnerungen wurden.

»Brüderchen«, sagte Konstantin herablassend und würdigte Marleene keines Blickes. Sie hatte ihn einst verschmäht, das hatte er ihr bis zum heutigen Tag nicht verziehen, und als sie zudem den Titel der Hofgärtnerin erkämpft hatte, hatte dies seinem Verdruss die Krone aufgesetzt. »Was führt dich zu mir?« Er setzte sich auf den Ohrensessel, schlug die Beine übereinander und nickte immerhin zum Sofa, wo Julius und Marleene Platz nahmen.

Nicht ohne Stolz legte Julius die prall gefüllte Geldtasche auf den Nussbaumtisch.

Fragend sah sein Bruder ihn an.

»Du willst verkaufen, habe ich gehört? Hier ist das Geld.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

Für drei Sekunden musterte Konstantin die Tasche, und seine hellbraunen Augen schienen dunkler zu werden. Dann erhob er sich und trat zum Fenster, drehte ihnen den Rücken zu. »Du bist falsch informiert.«

»Du willst gar nicht verkaufen?«, fragte Marleene mit einem Anflug von Hoffnungslosigkeit, die auch er spürte. Sollte am Ende alles nur ein Missverständnis sein?

Zum ersten Mal an diesem Tage schien Konstantin sie überhaupt wahrzunehmen, und sein stechender Blick schoss in ihre Richtung. »Doch.«

Zeitgleich richteten Marleene und Julius sich auf. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Es bestand noch Hoffnung! Nur warum zögerte Konstantin?

»Aber?«, hakte Julius nach.

»Ich werde die Fliedervilla samt Gärtnerei natürlich meistbietend versteigern.«

5. Kapitel

Lina sah sich neugierig um, als sie durch die geklinkerte Hauptstraße in Rastede lief. Um Geld zu sparen, war sie eine Station früher ausgestiegen und legte den Rest zu Fuß zurück. Lange Zeit war sie nicht hier gewesen, doch vieles wirkte sogleich wieder vertraut.

Der Turm der St. Ulrichskirche ragte in der Ferne sein rotes Spitzdach in den Himmel, und auch die Wirtschaft, die sie jetzt passierte, hatte es vor Jahren bereits gegeben.

In der Auslage der Putzmacherin türmten sich die Hüte, hübsch garniert mit Reiherfedern oder Blumen aus Samt und Spitze. Innerlich schnaubte Lina. Welch eine Verschwendung! Die einen konnten sich nicht mal ordentliches Schuhwerk oder ein zweites Hemd leisten, während andere gleich mehrere dieser sündhaft teuren Kopfbedeckungen besaßen, die nur der Zierde dienten.

Überrascht stellte sie fest, dass als Nächstes ein Blumenladen folgte. Den kannte sie bisher nicht. Friedas Blumen stand in geschwungenen Lettern über der Tür, er war jedoch noch geschlossen.

Blumen und Pflanzen schienen in dieser Gegend immer wichtiger zu werden. Sollte ihr die Gartenbauschule, für die sie sich beworben hatte, am Ende gar zugutekommen?

In ihrem Schreiben, mit dem sie um Aufnahme gebeten hatte, hatte sie lügen müssen, dass sich die Balken bogen. Sie hasste Arbeit im Freien bei Wind und Wetter, zog die heimelige Wärme der Küche vor. Dort gab es in jeder Ecke etwas Aufregendes, und je nachdem, wie sie die Zutaten zusammenstellte oder behandelte, konnte sie die schmackhaftesten Gerichte zaubern. War es nicht faszinierend, dass man aus einem Erdapfel sowohl Brei als auch Puffer oder geröstete Spalten machen konnte? Das war allemal besser als Pflanzen.

Immerhin würden die Blumen sie im Gegensatz zu ihrer Arbeit in der Küche nicht daran erinnern, wie hungrig sie war, tröstete sie sich, als sie das Rasteder Posthaus passierte.

Ihr Magen war so leer, dass es schmerzte, denn die Herrschaft hatte ihr am Tag ihrer Abreise kein Essen mehr zugestanden und sich nach ihrer Kündigung sogar noch knauseriger gezeigt als zuvor. Aber sie scheute davor zurück, ihre dürftigen Ersparnisse zu verwenden, die sie gewiss eines Tages dringend benötigen würde.

Nämlich, wenn sie im hohen Bogen hinausgeworfen wurde.

Und das würde sie – sobald man ihr auf die Schliche gekommen war, und das ließe sich auf die Dauer bestimmt nicht vermeiden. Aber Hauptsache, die Hofgärtnerin bekam, was sie verdiente, dafür ließ sie sich gerne als Saboteurin entlarven. Sie wusste nur noch nicht, was sie sabotieren könnte, aber da würde sich schon etwas finden. Aber jetzt musste sie zunächst hart bleiben und hungern. Obwohl es höchstwahrscheinlich erst am Abend etwas zu essen geben würde, denn die Ankunftszeit war gewiss mit Absicht so gewählt worden, dass sie gerade eben nach dem Mittagsmahl lag.