Der Elefantentempel - Katja Brandis - E-Book

Der Elefantentempel E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Ein Sommer in Thailand zum Träumen schön. Ein Sommer voller Höhen und Tiefen. Ricarda hat ganz besondere Pläne für die Sommerferien: eine Reise nach Thailand in ein Elefantencamp mit ihrer besten Freundin Sophia. Eigentlich sollte es die schönste Zeit ihres Lebens werden, doch als die beiden angekommen sind, fliegen schon nach kurzer Zeit zwischen den Freundinnen wegen des geheimnisvollen Elefanten-Führers Nuan die Fetzen. Als Ricarda dann auch noch bemerkt, dass eine früher misshandelte Elefantin jede Nacht heimlich das Camp verlässt und zu einem Tempel wandert, versucht sie gemeinsam mit Nuan dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Bis eine Nacht einen gefährlichen Verlauf annimmt … Ein einfühlsamer Reiseroman an real existierende Schauplätze im beliebten Reiseland Thailand geknüpft. Auf mitreißende Art zeigt Katja Brandis, wie wichtig Tier- und Artenschutz ist. Weitere Informationen zur Autorin unter katja-brandis.de Weitere Reise- und Tierromane von Katja Brandis im Arena Verlag: Gepardensommer Koalaträume Delfinteam (1-3)

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Seitenzahl: 316

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Katja Brandis

Der Elefantentempel

Weitere Bücher von Katja Brandis im Arena Verlag:

Woodwalkers (1–6)

Woodwalkers – Die Rückkehr (2. Staffel, 1–5)

Woodwalkers & Friends. Katzige Gefährten

Woodwalkers & Friends. Zwölf Geheimnisse

Woodwalkers & Friends. Wilder Kater, weite Welt

Seawalkers (1–6)

Seawalkers & Friends. Dreizehn Wellen

Khyona (1–2)

Die Jaguargöttin

Der Panthergott

Der Fuchs von Aramir

Gepardensommer

Koalaträume

DelfinTeam (1–3)

Inhalt

FERNER TRAUM

PALÄSTE UND PIÑA COLADA

GROSS UND GRAU

STOLZ

FEUER UND WASSER

IN CHIANG MAI

IM NAMEN DER TRADITION

IN NOT

ZEIT DER WAHRHEIT

UM MITTERNACHT

DER TEMPEL

GOTT DES MONDES

ODYSSEE

DIE TRAUER DER ELEFANTEN

WILDE JAGD

NIRWANA

SCHULD UND BUßE

IM NAMEN EINES GOTTES

EPILOG

DANKSAGUNG

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2024

© 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Dieser Roman erschien erstmals in anderer Ausstattung 2010 im Verlag Carl Ueberreuter, Wien.

Covergrafik: Zero unter Verwendung von Bildmaterial von

Shutterstock (© tdee photo cm, MartinJGruber, paniti Alapon) und GettyImages (© Pakin Songmor, DoctorEgg)

Umschlaggestaltung: Sora Kim unter Verwendung von

Bildmaterial von Shutterstock (© GFXHouse)

Lektorat Neuauflage: Helena Heck

Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin

e-ISBN 978-3-401-81104-8

ISBN 978-3-401-60770-2

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

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»Okay, sie sind weg.« Severin steckte den Kopf durch die Tür, winkte fröhlich mit dem Ersatzkabel seines Computers und verschwand wieder. Ricarda grinste zurück und holte ihren Laptop aus der Schublade ihres Schreibtischs. An den Ecken war die Farbe ein bisschen abgenutzt, aber sonst sah der Laptop immer noch toll aus, golden lackiert mit einem Muster aus verschlungenen Ranken. Sie hatte es sorgfältig vorgezeichnet, damit es am Schluss auch wirklich gut wurde.

Im Zimmer nebenan war Severin vermutlich schon in irgendein Computerspiel abgetaucht. Genau das, was ihr Vater absolut nicht ausstehen konnte. Wie praktisch, dass er und Mama so gerne ins Theater gingen. Und wie naiv, dass sie dachten, sie könnten das Problem lösen, indem sie einfach die Ladekabel ihrer Laptops und ihre Handys beschlagnahmten. Ricarda hatte keine Ahnung, wo sie die Dinger immer hintaten; beim Gedanken, dass ihre Eltern jetzt mit einer Handtasche voller Kabel und ihren Handys im Theater saßen, musste sie wieder grinsen.

Okay, Computerspiele waren manchmal dämlich oder brutal, aber Ricarda war schleierhaft, warum ihr Vater auch etwas gegen Chats hatte. Oder gegen das Browsen. Sie hatte es ihm schon mindestens tausendmal erklärt: Nein, Papa, keine Sorge, ich kopiere keine Informationen aus dem Netz in meine Referate! Ganz ehrlich nicht! Jedenfalls – das musste er ja nicht wissen – nicht mehr seit dem peinlichen Reinfall in Bio, als sich die Wikipedia-Information über das Gewicht einer Fliege als totaler Blödsinn herausgestellt hatte.

Ricarda weckte ihren Laptop aus dem Ruhemodus und nachdem sie sich eingeloggt hatte, öffnete sie ihren Browser. WhatsApp war immer noch geöffnet und sie hatte eine Nachricht von Lilly. Leider stand nicht viel drin, wahrscheinlich hatte sie es gerade eilig gehabt.

Lilly:

Hey, Rica, das hab ich gefunden, du magst doch Elefanten, oder? Kannst ja mal reinschauen, die Fotos sehenrichtig gut aus!

Ja, Elefanten mochte sie. Sehr sogar. Ricarda folgte dem Link … und hielt die Luft an. Mitten in Afrika: eine riesige, zerfurchte Gestalt, wuchtig und schwer wie ein Wesen aus der Urzeit. Aber so kluge Augen. Dunkel und aufmerksam blickten sie Ricarda vom Bildschirm entgegen. Intelligent war dieser Blick. Nein, anders. Nachdenklich. Weise.

Ricarda klickte sich durch und war auf einmal bei den Elefanten Asiens. Dort, wo sie dem Menschen schon seit Tausenden von Jahren dienten, als Reittiere und Lastträger, als Helfer bei Waldarbeiten, als lebende Waffen im Krieg. Und wenn in Thailand ein weißer Elefant geboren wird, gehört er dem König, selbst heute noch. Denn weiße Elefanten stehen den Göttern nahe …

Ricarda schaute auf die Uhr und zögerte. Schon spät. Besser, sie schrieb jetzt noch ein bisschen mit Freundinnen und Freunden oder scrollte durch Instagram. Doch als ihre Augen über die Webseite streiften, blieben sie an einem unscheinbaren Banner hängen. Chiang MaiElephantRefuge, Thailand. Was hieß Refuge noch mal? Ach ja, Zuflucht. Und man sprach es Refjudsch aus. Komischer Gedanke, dass selbst die stärksten Wesen der Erde flüchten mussten. Ricarda konnte sich schon denken, vor wem. Vor den kleinen Zweibeinern, die zwar winzige Zähne und keine Klauen hatten, dafür aber jede Menge komische Ideen im Knollenkopf.

Chiang MaiElephantRefuge.

Eine winzige Bewegung mit dem Zeigefinger und Ricarda las, was sich hinter dem Banner verbarg. Im Chiang MaiElephantRefuge wurden misshandelte, überarbeitete und kranke Elefanten gesund gepflegt. Gegründet hatte die Zuflucht ein Mann namens RuangSurapatti, der von Kindheit an mit den Tieren gearbeitet und erlebt hatte, dass manche skrupellosen Mahouts – Elefantenführer – die Tiere wie Sklaven schuften ließen. Sie putschten ihre Tiere sogar mit Drogen auf, um mehr Arbeitsleistung aus ihnen herauszuholen. Schon vor Jahren war Ruang angewidert aus seinem Beruf ausgestiegen und hatte Spenden gesammelt, bis er die Zuflucht gründen konnte. Inzwischen lebten dort fünfzehn Elefanten, vom alten Bullen bis zum neugeborenen Kalb. Geborgen, in Sicherheit.

Schien eine gute Sache zu sein. Vielleicht konnte sie dafür bei ihren Eltern ein paar Euro als Spendengeld bekommen. Ricarda klickte auf Support us. Und fand nicht das, was sie erwartet hatte. Klar, Geld brauchte das Projekt auch. Aber genauso dringend brauchte es Helfende, die vor Ort mit anpackten. Ricarda spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie klickte sich weiter durch die Fotogalerie, die zeigte, wie thailändische Mahouts und Helfende aus aller Welt mit den Elefanten badeten, sie fütterten, sie durch den Dschungel führten.

Der Akku des Laptops war fast leer. Ricarda stand auf und ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie fühlte sich wie nach einem Sprint, wach und lebendig und atemlos. Wie das wohl wäre? In Thailand?

Genial, gab sie sich selbst die Antwort. Das wäre einfach genial.

Severin wühlte gerade im Kühlschrank, anscheinend hatte er mal wieder eine seiner mitternächtlichen Fressattacken. Ricarda sah zu, was er als Beute so alles hervorzog – ein großes Stück Gouda und ein paar Mini-Salamis. Kauend lehnte er sich an die Küchenzeile, seine Augen schätzten sie ab. »Na? Was machst du gerade mit deinem Goldschatz?«

Ricarda mochte es nicht, wenn er sie so ansah. So gönnerhaft, fast herablassend. Und dabei war sie zwei Jahre älter als er! »Ich werde in Thailand bei einem Elefantenprojekt mithelfen«, entfuhr es ihr. Erschrocken lauschte sie den Worten nach, hatte sie das eben wirklich gesagt?

Severin hörte auf zu kauen. Ein kleines Stück Salami hing an seinem Mundwinkel. »Äh, wie bitte?«

»Hab gerade was im Internet entdeckt«, sagte Ricarda und ärgerte sich, weil es so entschuldigend klang. »Ich kann als Helferin mit Elefanten arbeiten. Ist gar nicht so teuer.«

Jetzt sah Severin nicht mehr herablassend aus, sondern einfach nur noch ungläubig. »Prima, das ist schön, aber jetzt mal im Ernst, du?«

Ricarda antwortete nicht, drehte sich einfach um und ging in ihr Zimmer zurück.

Du.

Kurz darauf hörte sie im Erdgeschoss die Haustür öffnen, die tiefe, immer etwas heisere Stimme ihres Vaters mischte sich mit der ihrer Mutter. Severin hatte es auch mitbekommen, denn er rumorte hektisch in seinem Zimmer und fuhr wahrscheinlich schnell den Computer herunter – erst später, wenn alle schliefen, würde er ihn wieder anmachen.

Ricarda horchte in sich hinein. Ja, da war sie, die Sehnsucht. Es fühlte sich an wie ein Ziehen im Bauch. Sie hatte die Bilder in ihrem Kopf, stellte sich vor, wie es wäre, dort in Thailand. Mit diesen gewaltigen, sanften Tieren zusammen zu sein, ganz nah, ganz vertraut. Doch es war auch ein bisschen so, wie von einer Karriere als Popstar oder Model zu träumen. Fern. Unwirklich. Als Traum ganz toll, aber in Wirklichkeit?

Der Gedanke, sich allein in Asien durchschlagen zu müssen, war der pure Horror. Lilly, eine ihrer besten Freundinnen, hatte so was schon mal gemacht. Sie war in den Sommerferien nach Namibia geflogen, um dort vier Wochen lang Geparden zu betreuen. Doch Lilly war ganz anders – total chaotisch, aber mutig, sie fand nichts dabei, sich einfach in so eine Sache reinzustürzen.

Mit Gedanken an Thailand im Kopf schlief Ricarda ein.

Und stellte fest, dass sie noch da waren, als sie aufwachte.

Doch das normale Leben ging weiter. Ricarda übte Querflöte und verzweifelte fast an einer schwierigen Stelle von Bachs C-Dur-Sonate. Severin lieh sich ihren Taschenrechner und schloss sich in seinem Zimmer ein, weil er durch die letzte Mathearbeit durchgefallen war. Jemand ließ in der Schule die Luft aus den Reifen aller Fahrräder und wurde erwischt, als er es am nächsten Tag wieder versuchte. Sofia feierte ihren siebzehnten Geburtstag mit fast vierzig Leuten, einer Discokugel und dröhnenden Bässen. Ricarda fühlte sich ein bisschen eingeschüchtert von der übermütigen Menge – Wahnsinn, wie viele Leute Sofia kannte! – und überreichte ihrer Freundin in einem halbwegs ruhigen Moment ihr Geschenk, ein T-Shirt, das sie selbst am Laptop entworfen hatte. Tagelang hatte sie an dem Design gebastelt und dafür ein Foto von Sofia bei einer ihrer Fahrstunden verfremdet.

»Das ist total cool geworden«, sagte Sofia und drückte Ricarda so fest, dass ihr fast die Luft wegblieb. »Ziehe ich gleich morgen in der Schule an!«

Das vergaß sie zwar, aber dafür hatte sie das T-Shirt an, als sie sich am Tag danach bei Ricarda zum Pizzabacken und einem Filmabend trafen. Zusammen kneteten sie Teigfladen und erfanden wilde Rezepte für den Belag.

»Kein Zweifel, ich bin die schrecklichste Köchin der Welt«, stöhnte Sofia und schob ihr Stück mit dem Kokos-Rosinen-Tomaten-Belag weg.

»Bist du gar nicht.« Sofort schnitt Ricarda ihre eigene Pizza in der Mitte durch und reichte Sofia die eine Hälfte rüber. »Hier, du kannst was von mir abhaben. Äh, wenn dir Basilikum-Mozzarella mit Pinienkernen schmeckt.«

»Klingt toll, von der wollte ich sowieso probieren.«

»Alles, was sich als nicht essbar erweist, dient einem guten Zweck, ich nehme es für Hermine mit«, verkündete Lilly fröhlich. Ihr Vater hatte in seiner Tierarztpraxis gerade ein junges, immer hungriges Schwein in Pflege. »Sind alle satt? Wie wär’s jetzt mit ›Tribute von Panem‹?«

Spät in der Nacht, als Sofia und Lilly wieder weg waren – das Haus roch immer noch nach warmem Teig und Tomatensoße –, las Ricarda ihre ungelesenen Nachrichten. Und klickte wieder auf die Webseite des Elefantenprojekts. Nachdem sie ihren Traum ein paar Tage mit sich herumgetragen und gehütet hatte, erschien er ihr nun wirklicher, ein bisschen weniger verrückt.

Vielleicht könnte Lilly mitkommen nach Thailand, fiel es Ricarda ein. Oder Sofia. Bestimmt kann sie Sofia überreden, dass sie mitkommt! Dann wäre Ricarda nicht allein und es wäre auch viel lustiger. Warum hatte sie nicht schon viel früher daran gedacht? Sie entschied sich, es gleich morgen anzusprechen. Auf einmal war die Aufregung zurück, das kribbelige Gefühl in ihrem Magen. Konnte es sein, dass ihr Traum keiner war? Sondern ein richtiges Projekt, eins, das man verwirklichen konnte?

In der Schule lief alles wie sonst. Doppelstunde Französisch, das war ein Heimspiel; Ricarda konnte in Ruhe überlegen, wie sie Sofia und Lilly den Trip schmackhaft machen konnte. Aufgerufen wurde sie schon längst nicht mehr, Frau Schneider-Thäles wusste, dass Ricardas Französisch besser war als ihr eigenes. Dafür hatten die vielen Nachmittage früher bei Oma Hélène gesorgt. Papa sprach zu Hause selten Französisch, aber dafür wurde jeder Urlaub gnadenlos bei der Verwandtschaft in Frankreich verbracht.

»Alles klar mit dir?« In der Pause legte Sofia ihr den Arm um die Schultern und drückte sie. »Ich dachte, in Französisch schläfst du jeden Moment ein.«

»Einschlafen? Nee, ich hab nachgedacht.« Ricarda ergriff die Gelegenheit. »Sagt mal, wart ihr schon in Thailand?«

»Meine Eltern waren vorletztes Jahr in Vietnam, das ist quasi nebenan.« Lilly zog die Mundwinkel nach unten. »Leider wurde ich währenddessen im Zeltlager geparkt!«

Sofia schloss genießerisch die Augen. »Tolle Strände, Palmen … hm, ja. Nach Thailand würd ich schon gern mal fliegen.«

»Da, wo ich hinwill, gibt’s leider keinen Strand, aber dafür … äh, Teakwälder und Tempel …«

Na toll. Das hatte sie versaut. Warum hatte sie nicht gleich noch erwähnt, dass es auch keine Palmen gab im Norden Thailands, dort wo das ElephantRefuge war?

»Klingt auch gut. Warum willst du gerade da hin? Und hat das vielleicht was mit dem Link zu tun, den ich dir letztens geschickt habe?« Lilly ließ die Augen durch die Pausenhalle schweifen, schaute sich wahrscheinlich nach einer leeren Sitzecke um. »Ach übrigens, die Pizzareste haben Hermine sehr geschmeckt. Jetzt hat sie leider keine Lust mehr auf die üblichen Kartoffelschalen. Sag mal, kann ich deine Physik-Hausaufgaben abschreiben, Sofia?«

Sofia strich sich die dunklen Locken zurück und kramte in ihrer blauen Stofftasche, die mit Dutzenden von Buttons dekoriert war. »Ja, klar. Mensch, das war doch gar nicht schwer, das hättest du selber hingekriegt.«

»Haha, das sagst du! Ich hätte bis Mitternacht an diesem Mist herumgeknobelt.«

Sie hörten gar nicht richtig zu. Ricarda merkte, dass ihre Stimme noch leiser wurde als sonst. »Es gibt da ein Elefantenprojekt … bei dem ich gerne mitmachen würde. In den Sommerferien … meine Mutter arbeitet ja für Lufthansa, die könnte bestimmt günstige Flüge besorgen … es wird also nicht so teuer …«

Doch, sie hatten sehr wohl zugehört. Und jetzt tauschten sie einen schnellen Blick. Aha, ihnen ging wohl etwas Ähnliches durch den Kopf wie Severin vor ein paar Tagen. Immerhin waren sie so nett und sprachen es nicht aus.

»Hey, das klingt richtig cool.« Lillys blaue Augen blitzten, ihr breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »In Thailand? Ich glaube, da gibt es noch ziemlich viele Elefanten. Wilde und zahme. Hab mal gelesen, dass manche Familien die wie Haustiere halten.«

Sofia musste lachen. »So ein Riesenvieh frisst mehr als ’ne Katze. Die thailändischen Kinder müssen ihre Eltern bestimmt lange nerven, bis irgendwann ein Elefant mit einer roten Schleife um den Bauch vor dem Haus steht.«

Ricarda gab sich einen Ruck. »Hättet ihr Lust mitzukommen?«

»Nee, du, ich würde ja gerne.« Lilly schüttelte den Kopf. »Aber wahrscheinlich kommt Erik mich im Sommer besuchen, da will ich natürlich nicht irgendwo in Asien rumhängen …«

Ricarda versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht sie war. Klar, Lilly konnte nicht weg – sie hatte Erik in Namibia kennengelernt und sie schrieben sich seither täglich. Wenn er um die halbe Welt reiste, um sie zu sehen, dann hatte es anscheinend auch ihn schwer erwischt.

Sofia sagte nichts, ihr Blick war nach innen gewandt. Ricarda wartete schweigend und hütete sich, sie zu stören. Solange sie nachdachte, gab es Hoffnung!

»Wie lange hilft man denn da mit?«, fragte Sofia schließlich zögernd. »Ich glaube, meine Eltern haben schon ein Ferienhaus an der Nordsee gebucht.«

Immerhin hatte sie nicht gleich Nein gesagt! »Man kann so lange hinfahren, wie man möchte, aber ich glaube, zwei Wochen wären mir am liebsten. Oder so.«

Abwesend händigte Sofia Lilly ihr Physikheft aus. »Muss mal meine Eltern fragen. Lust hätte ich schon. Bis wann brauchst du Bescheid?«

»Ruf mich einfach an – irgendwann demnächst«, murmelte Ricarda. Oje, ihre Eltern. Die wussten auch von nichts. Außer Severin hatte gepetzt. Nein, eher nicht, für den waren Eltern gerade Der Feind. Und dem Feind gab man freiwillig keine Informationen preis.

Vielleicht hatte er ohnehin gedacht, seine große Schwester würde nur herumspinnen.

Und vielleicht hatte er damit recht.

Am Abend rief Fabian an. Er hatte irgendwie den Trick raus, sich immer zur ungünstigsten Zeit zu melden. Ricarda war gerade dabei, das dreckige Geschirr vom Tisch abzuräumen – das war in dieser Woche ihr Job –, und ihre Mutter warf ihr einen düsteren Blick zu, als sie die gestapelten Teller im Stich ließ.

»Wie läuft’s?«, fragte Fabian. »Stör ich?«

»Nein, nein, geht schon«, log Ricarda. Sie wusste selbst nicht genau, warum.

Fabian fing an, etwas von dem Indie-Konzert zu erzählen, auf dem er gestern gewesen war. »Übermorgen treten die Magic Bicycles auf, magst du mitkommen?«

Ricarda musste lächeln. Magische Fahrräder, o Mann! Fabian schien grundsätzlich zu Bands zu gehen, die einen bescheuerten Namen hatten. »Äh, keine Ahnung, was machen die denn für Musik?«

»Ich schick dir den Link zum Album, dann kannst du ja mal reinhören. Und was gibt’s bei dir Neues?«

Ricarda warf einen schnellen Blick auf ihre Mutter, die in Hörweite herumwerkelte. Nein, so sollte sie es nicht erfahren, das würde unter Garantie nicht gut ankommen. »Ach, nicht so viel. Sag mal, wie findest du eigentlich Elefanten?«

»Elefanten? Wie soll ich die finden? Na ja, sie sind halt groß und grau.«

Ricarda versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Was Elefanten wohl über Menschen sagen würden? Sie sind klein und rosa?«

Fabian lachte. »Wahrscheinlich. Aber wenn sie sprechen könnten, würden sie wahrscheinlich erst mal andere Sachen sagen. Zum Beispiel Hey, wie wär’s mit einem größeren Gehege? oder Wann gibt’s endlich Futter?.

Sie verabredeten sich zum Eisessen und Ricarda eilte zu den Tellern zurück. Es würde bestimmt wieder lustig werden, mit Fabian war es immer lustig. Sie fragte sich, ob sie in ihn verliebt war. Aber so was war manchmal schwer zu sagen. Verdammt schwer.

Gerade als sie den Tellerstapel wieder hochnehmen wollte, klingelte das Telefon noch einmal. Ricarda schnappte sich den Hörer.

Es war Sofia. »Ich komm mit!«, brüllte sie so laut, dass Ricarda Angst um ihr Trommelfell bekam. »Freunde meiner Eltern sind schon in Thailand gewesen und waren begeistert, das hat sehr geholfen. Ist ja auch wirklich ein praktisches Land. Schön warm, keine Haie, keine Malaria, Volksaufstände nur hin und wieder. Kannst du mir den Link zu dieser Organisation mal geben?«

»Äh, ja, mach ich«, versprach Ricarda und dann kroch auf einmal Panik in ihr hoch. Sie kam aus dem Nirgendwo und packte sie mit eisigen Klauen. Kalter Schweiß auf ihrem Körper. »Aber äh, ich weiß noch gar nicht, ob ich wirklich fahre …«

»Wie? Was? Wieso nicht?«

»Du, ich muss auflegen, ich ruf dich später noch mal an.«

Ricarda rannte die Treppe hoch und warf sich auf ihr grünes Cordsofa. Sie fühlte ihren Puls, ihr Herz klang ganz stolperig, aber nach und nach beruhigte es sich. Atmen. Ganz tief atmen. Wo war diese Panik auf einmal hergekommen? Gerade jetzt, wo alles klappte?

Jemand klopfte an die Tür ihres Zimmers.

»Alles in Ordnung, mon bijou?«, fragte ihr Vater. »Darf ich mal kurz reinkommen?«

»Okay«, sagte Ricarda und setzte sich langsam auf. Ihr Kreislauf schien wieder in Ordnung zu sein, ihr war nur ein bisschen schwindelig.

Ihr Vater setzte sich auf eine Armlehne des Sofas. »Das eben war Sofia, oder? Was genau meinte sie mit: ›Ich komme mit.‹? Will sie mit nach Arles? Das ist natürlich kein Problem, aber ich muss es rechtzeitig wissen, damit sich Jacques und Marie-Claire darauf einstellen können.«

Jetzt war es also so weit. Vielleicht war es besser so. Wer wusste, wie lange sie sonst gebraucht hätte, um es ihren Eltern zu gestehen.

»Ich würde in diesen Sommerferien lieber etwas anderes machen …«

»Sprich bitte nicht so leise, du weißt, dass das unhöflich ist.«

Ricarda zwang sich, lauter zu sprechen. »Es gibt da so ein Elefantenprojekt in Thailand, bei dem Helfende mitmachen können … ich würde gerne für zwei Wochen hinfahren …«

Auf der Stirn ihres Vaters bildete sich eine steile Falte. »Du willst nicht mit nach Arles? Warum denn das? Kannst du mir mal sagen, wie ich das Onkel Jacques beibringen soll?«

»Papa, ich kenne Arles, Paris und den Rest von Frankreich schon in- und auswendig … es gibt in der Welt noch viel mehr zu sehen!« Ricarda war erstaunt über sich selbst. Es war in der Familie nicht üblich, Papas Gebote infrage zu stellen.

»Habe ich überhaupt richtig gehört, du willst irgendwas mit Elefanten machen?«

»Ja. Ich finde sie toll. Und es ist so schade, dass man sie hier in Deutschland nicht richtig kennenlernen kann.«

Sein Blick sagte klar und deutlich, dass er diese Idee für ausgemachten Blödsinn hielt. »Reichen dir nicht ein paar Pferde, so wie anderen Mädchen auch? Du könntest Reitstunden nehmen, wir geben dir ein bisschen Geld dazu.«

»Das ist doch was ganz anderes.« Ricarda stand auf; sie hielt es nicht mehr aus, neben ihrem Vater zu sitzen. Allerdings fühlte es sich auch seltsam an, jetzt mitten im Raum zu stehen. Sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen, und es fiel ihr schwer, dem Blick ihres Vaters zu begegnen. Aber dann hob sie doch die Augen, sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich will es gerne machen. Das mit den Elefanten. Warum geht das nicht? Es sind doch nur zwei Wochen und ich bezahle alles selber. Genug gespart habe ich.«

»Du kommst mit nach Arles. Punkt.« Ihr Vater erhob sich, ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.

So schnell geht das, dachte Ricarda wütend. Man tritt auf den Traum drauf und dreht den Schuh ein paarmal, dann bleibt nur bunter Matsch übrig.

Doch sie war nicht nur sauer und traurig, da war noch ein anderes Gefühl. Erleichterung? Es wäre schwierig geworden. Anstrengend. Teuer. Riskant. Vielleicht war es besser so. Aber sie würde es Sofia sagen müssen. Immerhin, jetzt hatte sie eine gute Entschuldigung für den Rückzieher. Vielleicht würde Sofia die Fahrt jetzt einfach allein durchziehen, sie hatte so begeistert geklungen am Telefon.

Der Gedanke schmeckte gallenbitter.

Ricarda suchte in ihrer Musik-App nach ihrem aktuellen Lieblingsalbum, drehte die Lautstärke auf und legte sich wieder auf die Couch.

Etwa eine Stunde später öffnete sich die Tür ihres Zimmers. Diesmal war es ihre Mutter. Sie schrie ein paar Worte, merkte, dass sie nicht verstanden wurde, und ging zur Anlage, um die Musik leiser zu drehen.

»Rica? Was genau hast du vor, kannst du mir das auch mal erklären?«

Ricarda seufzte und erzählte ihr Vorhaben erneut. Es hörte sich noch ferner, noch unwirklicher an als zuvor. Und was viel schlimmer war – er hörte sich albern an. Elefanten retten, haha.

Doch ihre Mutter lachte nicht. »Klingt toll«, sagte sie. »Und es ist eine Schande, dass wir meine günstigen Flugtickets nicht nutzen. Wir könnten uns so viele interessante Länder anschauen und fahren immer an die gleichen Orte. So ganz recht ist mir das auch nicht. Deshalb habe ich eben mal ernsthaft mit Pierre geredet.«

Langsam setzte Ricarda sich auf und starrte ihre schmale blonde Mutter an. Seit wann setzte sich ihre Mutter gegen Papas Regeln zur Wehr? Es geschahen doch noch Wunder!

»Es hat eine Weile gedauert. Aber jetzt ist er einverstanden, dass du diesen Sommer mal etwas anderes machst. Es sind ja nur zwei Wochen. Wenn du magst, kannst du anschließend nachkommen nach Arles.«

»Ich glaube nicht«, sagte Ricarda und einen herrlichen Moment lang lächelten sie und ihre Mutter sich an.

Wilde Freude quoll in Ricarda hoch. Sie spürte, dass etwas in ihr sich entschieden hatte, Ja sagte zu Thailand und den Elefanten. Sie würde es schon irgendwie schaffen. Mit Sofia zusammen konnte sie alles schaffen! Sie kannten sich seit der Grundschule; Sofia hatte als Einzige zu ihr gehalten, als die anderen Kinder gemein zu ihr gewesen waren. Jahre danach hatte Ricarda zum ersten Mal den Begriff »Mobbing« gehört und verstanden, was damals geschehen war. Später hatten sie zusammen Drachen steigen lassen, sich beim Einradfahren die Knie aufgeschrammt, nächtelang miteinander geschrieben, im Auftrag des Direktors ein riesiges Wandgemälde an die Schulwand gepinselt, das heute noch bewundert wurde. Einmal hatten sie sogar eine Nacht wild gecampt, mitten im Odenwald. Und jetzt – Thailand. Das war eine Nummer größer. Nein, gleich ein paar Nummern.

Das wird schön, entschied Ricarda. Und die Stimme in ihrem Inneren, die sonst immer zweifelte, zog sich zurück und gab ausnahmsweise Ruhe.

Die Türen ihres Kleiderschranks standen weit offen. T-Shirts. Tops. Fleece-Pullis. Shorts. Jeans. Rein damit in den Koffer. Wieso hatte sie eigentlich so verdammt viele schwarze Sachen? Die würden die Sonne aufsaugen. Schwitzgarantie. Außerdem passte es nicht zu dieser Reise, etwas in ihr sträubte sich dagegen. Hatte sie nicht auch irgendwo ein hellblaues T-Shirt und eins in Orange? Ricarda wühlte sich tief in ihren Schrank hinein … und ihre Finger stießen auf etwas Hartes, einen Lederkasten.

Obwohl sie es geschafft hatte, ihn und seinen Inhalt zeitweise völlig zu vergessen, wusste sie sofort, was sie gefunden hatte. Ihre Finger zuckten zurück, als hätte sie sich verbrannt, und ihr Magen zog sich zusammen wie eine Faust. Wieso hatte sie das Ding noch nicht weggeschmissen? Besser, sie schmuggelte es in den Müll und wurde es endlich los. Nie wieder sollte es sie daran erinnern, was geschehen war, was sie getan hatte …

Weg damit, weg damit!

Doch gerade als sie es hervorgezogen hatte, kam ihre Mutter herein. Angeklopft hatte sie eine Sekunde vorher, viel zu kurz, um darauf zu reagieren. Ricarda stand in der Bewegung erstarrt, sprachlos vor Schreck. Der lederne Halteriemen war noch um ihre Hand geschlungen.

»Ach, dein Fernglas, das habe ich lange nicht mehr gesehen«, sagte ihre Mutter und lächelte. »Das nimmst du bestimmt mit, oder? Es gibt eine Menge Tiere zu beobachten in Thailand.«

»Ja«, krächzte Ricarda und legte den Lederkasten in ihren Koffer. Als ihre Mutter weg war, nahm sie ihn wieder heraus und stellte ihn zurück in den Schrank.

Das war also Bangkok! Auf der Straße knatterten Scharen von bunten Mopeds, Taxis, Bussen und Tuk-Tuks – motorisierten Rikschas – an Ricarda vorbei und hinterließen Qualmwolken. Das ständige Gehupe vermischte sich mit Musik aller Art, die aus Autoradios, Läden und tragbaren Anlagen drang. Ricarda rümpfte die Nase. Wenn es ausnahmsweise mal nicht nach Abgas stank, dann aus den Garküchen am Straßenrand nach heißem Öl und Fischsoße oder aus dem Rinnstein modrig. Immerhin war das Wasser, das vor einer Stunde die Straßen in Flüsse verwandelt hatte, schon wieder abgelaufen. Wahrscheinlich direkt in den Fluss Chao Praya.

»Das war keine besonders tolle Planung von uns, in der Regenzeit herzukommen«, stöhnte Sofia und wischte mit einem Taschentuch an ihrem Schuh herum.

Ricarda atmete tief durch. Wie ging das noch mal mit dem positiven Denken? »Im Reiseführer stand, dass es nur einmal am Tag regnet und es dafür immerhin sechs Stunden Sonne am Tag gibt.« Skeptisch kniff sie die Augen zusammen und musterte den Himmel. Der sah grau aus, die Luft war schwer und feucht und warm.

»Okay, es regnet vielleicht nur einmal am Tag, dann aber richtig!« Sofia seufzte. »Wenn wir draußen gewesen wären, wären wir wahrscheinlich einfach ersoffen.«

Ricarda warf noch mal einen kurzen Blick in ihren Reiseführer, zuckte dann die Schultern und verstaute ihn in ihrem Rucksack. »Wusstest du, dass Krung Thep, der thailändische Name von Bangkok, ›Stadt der Engel‹ bedeutet? Dabei würden die Engel während der Regenzeit glatt vom Himmel gespült werden.«

»Ich glaub auch.« Sofia lachte. »Egal. Wir lassen uns den Tag in Bangkok nicht vermiesen, bevor wir nach Chiang Mai weiterfahren. Meinst du, wir finden hier irgendwo ein Café, in das wir uns kurz setzen können? Ich habe meinen Eltern versprochen, dass ich mich gleich melde, wenn wir angekommen sind.«

»Meinen Eltern soll ich eine Nachricht schreiben.« Ricarda tippte auf ihrem Handy herum und stellte fest, dass sie keinen Empfang bekam und außerdem der Akku leer war. »Ja, lass uns eins suchen. Vielleicht kann ich da mein Handy aufladen.«

Cafés gab es überall hier in Bangkok. Nachdem Sofia und Ricarda mit geladenen Handyakkus Nachrichten an ihre Eltern geschrieben hatten, drängten sie sich unternehmungslustig durch das Touristengewimme in der Khao SanRoad.

»Komm, wir schauen uns mal an den Straßenständen um«, schlug Sofia vor. »Brauchst du nicht zufällig eine unechte Rolex?«

Auch gefälschte Ausweise gab es an den vielen Ständen zu kaufen. Ricarda sah sogar Personalausweise aus Deutschland. Nein, so was brauchte sie nicht und zum Glück gab es auch Dinge, die sie mehr interessierten, zum Beispiel Schmuck, bunte Tücher und Sandalen. Alles enorm billig, ein T-Shirt kostete umgerechnet nur zwei Euro.

Allmählich besserte sich Ricardas Stimmung. Wie schön, dass jeder ihr zulächelte. Die Menschen schienen hier viel freundlicher zu sein, nicht so verkniffen wie in Deutschland. Und es gefiel Ricarda auch, dass die Thais Buddhisten waren. Es war ein Glaube, der etwas tief in ihr zum Klingen brachte, weil er Gewalt ablehnte und für Toleranz und Weisheit stand.

»Schade, ausgerechnet eine Buddhafigur sehe ich nirgendwo – so eine hätte ich gerne gehabt«, meinte Ricarda.

»Frag doch einfach!«

Ricarda ging lieber weiter, so wichtig war es schließlich auch nicht. Aber da hatte Sofia die Sache schon in die Hand genommen; mit einem strahlenden Lächeln wandte sie sich an einen der Verkäufer. »Do you have a Buddha statue?«

»I’m very sorry«, sagte der junge Mann mit einem entschuldigenden Lächeln. »No Buddha.«

»Why?« Sofia ließ nicht locker.

»No Buddha forFarang.Foreigners.They take Buddha home, maybe not respect him, maybe treat him bad.«

Ach, so war das. Nein, sie hätte die Statue bestimmt nicht schlecht behandelt, aber es war verständlich, dass die Thais dieses Risiko mit einem so heiligen Gegenstand nicht eingehen wollten. Schließlich wurden die meisten Reiseandenken bald vergessen und staubten irgendwo ein, landeten vielleicht sogar im Keller oder auf dem Flohmarkt.

Ricarda beschloss, zum Abschied mal den traditionellen Wai auszuprobieren, von dem sie im Reiseführer gelesen hatte. Sie legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich leicht. »Danke für die Auskunft!«

Jetzt wirkte das Lächeln des Verkäufers überrascht, er erwiderte den Wai und sah ihnen hinterher, als sie weiterschlenderten. Bedeutete das, dass sie es richtig gemacht hatte oder dass die Verbeugung übertrieben tief gewesen war?

»Was meinst du, wollen wir uns noch den Königspalast anschauen?«, meinte Sofia. »Ich glaube, dann sollten wir uns eins dieser Tuk-Tuks schnappen, zu Fuß ist es zu weit.«

»Gute Idee«, antwortete Ricarda, ihre rechte Sandale war nämlich gerade dabei, ihren kleinen Zeh wund zu reiben. Er hatte schon die Farbe einer reifen Kirsche.

Sofia einigte sich mit dem Tuk-Tuk-Fahrer auf einen Preis von zweihundert Baht, dann kletterten sie in den offenen Fahrgastraum und klammerten sich an einer Metallstange fest, damit sie während der rasanten Fahrt nicht hin- und hergeworfen wurden oder einfach hinten aus der dreirädrigen Höllenmaschine herausfielen. Sofias große silberne Ohrringe pendelten wild.

»Wieso habe ich gerade das Gefühl, dass wir beim Preis übers Ohr gehauen wurden?«, überlegte Sofia; sie musste fast schreien, damit Ricarda sie über den Verkehrslärm verstand.

»Wahrscheinlich, weil es so ist!«, brüllte Ricarda zurück. »Aber es sind ja nur drei Euro, egal.« Der Fahrtwind wehte ihr die langen dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht, was ganz praktisch war, weil sie dadurch mehr sah. Sie hatte sich vor ein paar Wochen einen neuen Haarschnitt zugelegt, in einer weichen Schwinge wie der eines Vogels fiel ihr der Pony über die Stirn. Seither musste sie sich das Haar ständig aus den Augen streichen. Das nervte ein bisschen, wirkte aber hoffentlich elegant.

Sie sahen den Königspalast schon von Weitem, mächtig und golden erhoben sich die Tempeldächer und -türme über der Stadt. Kein Hochhaus in ihrer Nähe machte ihnen die Herrschaft streitig, die gläsernen Fassaden der Wolkenkratzer ragten in einem anderen Bezirk der Stadt auf. Der Palast und die Tempelanlagen ließen Ricarda verstummen, sie waren unfassbar prächtig. Manche Gebäude wirkten edel und schlicht, andere bunt und verspielt, steingewordene Lebensfreude. Wie viele Menschen wohl daran gearbeitet hatten, diese Millionen von pastellfarbenen Porzellankacheln anzufertigen und festzukleben?

»Schau mal, manche Tempel werden bewacht«, sagte Sofia und deutete auf mannshohe, bunt kostümierte Dämonenstatuen mit Fratzengesichtern.

»Die sollen bestimmt böse Geister fernhalten«, meinte Ricarda und gähnte. Was nicht an den Dämonen lag, sondern am schrecklich langen Flug. Zum Glück nahmen es ihr die Dämonen nicht übel, dass sie angegähnt wurden, oder ließen es sich zumindest nicht anmerken.

»Ich glaube eher, die sollen schamlose Touristinnen mit Shorts verjagen.« Sofia grinste. Obwohl es ganz schön heiß war, trugen sie lange Hosen – sonst wären sie nicht reingelassen worden.

Sie teilten sich eine Limo und ruhten sich an einem Teich aus, in dem Lotusblüten die Oberfläche bedeckten. Die rosa-weißen Knospen waren geformt wie Regentropfen und größer als ein Hühnerei. Neugierig beobachtete Ricarda, wie zwei Mönche in orangefarbenen Roben und Sandalen über das Gelände gingen. Ernst und würdig sahen sie aus mit ihren kahl geschorenen Köpfen …

Der Nachtzug nach Chiang Mai ging erst am Abend. Ihr Gepäck hatten sie schon zum Bahnhof gebracht und dort deponiert. Am liebsten hätte sich Ricarda bis zur Abfahrt auf irgendeine Parkbank gelegt und die Augen geschlossen. Doch erstens trug die Bank, die sie sich ausgeguckt hatte, bei näherem Hinsehen ein kleines Schild mit dem Hinweis »For Monks only« – nur für Mönche – und zweitens kam eine solche Freizeitplanung für Sofia nicht infrage.

»Vergiss es, wir gehen jetzt noch einen Cocktail trinken«, sagte sie.

»Einen Cocktail?« Ricarda dachte kurz darüber nach, was ihr Vater dazu sagen würde, wenn sie jetzt gleich ein eisgekühltes alkoholisches Getränk schlürfte. Wahrscheinlich nicht viel, was druckreif wäre. Aber praktischerweise befand sich ihr Vater gerade mehrere Tausend Kilometer entfernt. Ricarda lächelte selig. »Okay.«

»Und wehe, du überlegst es dir anders und bestellst mal wieder Johannisbeerschorle.«

»Gibt’s doch hier eh nicht.«

Kurz darauf stießen sie in einem Restaurant an: Ricarda mit einer riesigen, mit Ananasstücken und lila Blüte verzierten Piña Colada – der Kellner hatte nicht nach ihrem Ausweis gefragt –, Sofia mit einem alkoholfreien Mai Tai aus Mandelsirup, Orangen-, Zitronen- und Limettensaft. Ricarda probierte – hm, lecker. So einen würde sie sich auch noch bestellen.

Sie lehnte sich in ihrem Rattanstuhl zurück, genoss den kühlen Luftzug der Deckenventilatoren und fühlte sich so unbeschwert, so glücklich wie lange nicht. Wie ungewohnt, ohne ihre Familie in einem Restaurant zu sitzen. Deutschland? Miefiges Spießerland! Wie hatte sie es nur so lange dort ausgehalten? Vielleicht sollte sie auswandern. Sie würde Buddhistin werden und in einen Tempel eintreten. Ging das überhaupt? Bisher hatte sie keine einzige Frau im orangefarbenen Gewand gesehen, nur Männer.

Ricarda blinzelte. Sie hatte zu viel getrunken. Ja, die mittlerweile zwei Cocktails waren eindeutig übertrieben gewesen. Schließlich konnte es nicht sein, dass da vorne ein Elefantenrüssel durch die jetzt offen stehende gläserne Eingangstür mitten ins Restaurant hineinragte. Aber trotzdem, es sah einem Elefantenrüssel wirklich täuschend ähnlich: lang, grau, beweglich wie eine Schlange.

Ricarda kniff die Augen zusammen und schaute noch mal ganz genau hin.

Es sah immer noch genauso aus. Gab es in Thailand eigentlich Riesenschlangen?

Sofia saß mit dem Rücken zur Tür. In Zeitlupe beugte sich Ricarda über den Tisch und flüsterte ihr zu: »Dreh dich mal vorsichtig um und sag mir, was du siehst.«

Sofia drehte sich um – und schrie auf. »O Mann, ich glaub’s nicht! Der Mann da hat einen Elefanten dabei. Aber sieht so aus, als ob das Vieh nicht durch die Tür passt.«

Sie ließen ihre Drinks im Stich und drängten sich durch zum Ausgang. Ein paar andere Touristen scharten sich schon um den ungewöhnlichen Besucher. Andächtig blieb Sofia ein paar Schritte von dem Elefanten entfernt stehen. Es war schon fast dunkel draußen und nur das kühle Licht der Straßenlaternen beschien den massigen Körper des Tiers. Es trug seinen eigenen Proviant mit sich herum, auf seinem Rücken waren zwei Leinensäcke festgebunden, aus denen Bananenstauden und Pflanzenstängel – wahrscheinlich Zuckerrohrstücke – hervorragten. Bedächtig fächelte der Elefant mit den großen Ohren, streckte den Rüssel aus und nahm einer älteren Frau eine Banane ab. »Schau mal, jetzt stopft er sich das Ding in den Mund – mit Schale«, staunte die Frau. »Mal schauen, ob ihm auch eine Ananas schmeckt. Was meinst du, Klaus, frisst er die Blätter auch mit? Die sind doch ganz schön hart …«

Ricarda musste lächeln. In der Wildnis ernährten sich Elefanten unter anderem von Baumrinde, die war noch um einiges härter. Und sie hatte mal in der Zeitung gelesen, dass die Elefanten im Münchner Zoo in der Adventszeit übrig gebliebene Weihnachtsbäume verputzen durften. Nicht mal den Stamm ließen sie übrig.

»Komm, wir füttern ihn auch!« Sofia streckte dem Mahout einen Fünfzig-Baht-Schein entgegen und bekam ein halbes Dutzend Bananen ausgehändigt. Der Elefant beobachtete es aufmerksam, das Neonlicht spiegelte sich in seinen dunklen Augen.

»Los, gib mir auch eine.« Ricarda schnappte sich eine der Bananen.

Eine feuchte Rüsselspitze mit zwei rosafarbenen Nasenlöchern und einem Greiffinger an der Spitze tastete danach, nahm die Frucht behutsam aus ihrer Hand. Ricarda klopfte den Rüssel, der sich wie raues, hartes Leder anfühlte. Der Elefant ragte hoch über ihr auf, war eine dunkle Silhouette vor dem Nachthimmel … doch sie hatte keine Angst vor ihm. Er wirkte gelassen, nicht bedrohlich.

Sein Mahout redete in schnellem Thai auf ihn ein, dann lächelte er Ricarda und Sofia an. »Feed some more?«

Aus der Nähe betrachtet wirkte der Elefant sehr mager, Ricarda konnte seine Rippen erkennen. Nach und nach gefror ihre Aufregung zu Mitleid. Bestimmt war es kein sonderlich schönes Leben, durch die Stadt zu ziehen: Abgasgestank statt reiner Luft, Lärm statt Dschungelstille. Auf einmal war in Ricardas Mund ein schaler Geschmack. »Wir hätten dem Kerl kein Geld geben dürfen«, zischte sie Sofia zu. »Das führt nur dazu, dass noch mehr Elefanten in der Stadt betteln müssen.«

Sofia verzog das Gesicht. »Stimmt. Außerdem sehen wir ab morgen noch genug Dickhäuter. Komm, wir gehen wieder rein. Sonst denken die, wir wollten, ohne zu zahlen, abhauen.«

Eine junge thailändische Frau unterhielt sich mit dem Mahout und drückte ihm Geld in die Hand. Ricarda wunderte sich: Die Frau hatte gar kein Futter für den Elefanten erhalten. Stattdessen bückte sie sich … und kroch unter dem Bauch des Tiers durch!

»Wozu soll das denn gut sein?«, wunderte sich Ricarda und ein anderer Tourist meinte daraufhin: »Viele Thais glauben, dass das Glück bringt und Frauen eine leichte Geburt haben, wenn sie später mal Kinder bekommen.«

Ein paar Minuten später beobachteten sie, wie der Mahout mit seinem Tier weiterzog. Jetzt konnte Ricarda sehen, dass der Elefant Reflektorbänder an den Hinterbeinen trug, und das brachte sie aus irgendeinem Grund zum Kichern. Solche Dinger hatte sie zuletzt an den Beinen ihres Vaters gesehen, als er sich bereit machte, zur Schule zu radeln …

Trotz seiner Größe schritt der Elefant völlig lautlos über den Asphalt. Er hatte einen sanften, wiegenden Gang, wie in Zeitlupe setzte er einen Fuß vor den anderen und kam doch schnell voran. Keiner der Bewohner Bangkoks schien etwas dabei zu finden, dass er sich mit ihnen die Straße teilte – kaum jemand wandte den Kopf.

Nach wenigen Minuten war das seltsame Duo im Menschengewimmel verschwunden.