Der etwa vierzigjährige Mann - Hartmut Lange - E-Book

Der etwa vierzigjährige Mann E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

Auf der Suche nach Schönheit begibt sich ein Mann auf eine Reise durch die Jahrhunderte und lernt ihre Schrecken kennen. Ein anderer verliert sich in der Liebe und stößt doch nur auf ihre Unmöglichkeit. Und einen dritten lässt die Frage nach den letzten Dingen in den Abgrund blicken. Wie kaum ein anderer Schriftsteller der Gegenwart vermag Hartmut Lange unsere Nöte zu fassen, zu verdichten und dabei doch so drängend auf den Punkt zu bringen, dass man sich nicht entziehen kann.

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Seitenzahl: 96

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hartmut Lange

Der etwa vierzigjährige Mann

Diogenes

Ich danke Ulrike für ihre Mitarbeit

Der etwa vierzigjährige Mann

Kennt man die Elbe, jenes 1094 Kilometer lange Gewässer, das im tschechischen Riesengebirge entspringt und bei Cuxhaven in die Nordsee mündet? Meist sieht es so aus, als hätte der Fluss, wo er das Flachland passiert und besonders, wenn es regnet, Mühe, seine Ufer zu verteidigen. Dann wirkt alles wie eine überflutete Sumpf‌landschaft. Es gibt aber auch Gebiete, die man, obwohl von Wasser umgeben, betreten kann. Und steht dort nicht ein etwa vierzigjähriger Mann? Er hat den Mantel ausgezogen und über den Arm gelegt, er sieht sich mehrmals um, geht auf das Ufer zu, um hinter dem hohen Schilfgras zu verschwinden. Und während man dies beobachtet, erinnert man sich daran, dass hier, es ist nicht lange her, zwei verfeindete Länder aneinandergrenzten und dass man versucht war zu fliehen und immer in eine Richtung, nämlich von Ost nach West, dorthin, wo die Elbe das Meer erreicht.

Aber mittlerweile hatte sich die politische Landschaft geändert. Der etwa vierzigjährige Mann hatte keinen Grund mehr, an ein anderes Ufer zu fliehen. Er hätte einen Mietwagen oder ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen können. Schließlich hörte man, wie auf der nahen Brücke, auch wenn man sie nicht sah, ein reger Verkehr im Gange war. Und doch warf der Mann plötzlich den Mantel, den er ausgezogen hatte, in hohem Bogen in das Wasser. Dann griff er in das Schilf, um einige Kleidungsstücke herauszuziehen. Genauer: Er wechselte nicht nur den Mantel, sondern auch Hemd und Hose, sodass er zuletzt nicht mehr wie ein Bewohner aus der Gegend, sondern wie jemand aus einer anderen Zeit aussah.

»Ich habe keine Lust mehr, in dieser Ödnis anwesend zu sein«, hörte man ihn sagen. »Eine andere Kleidung, schon eine Tunika, macht die Sache leichter, und falls es möglich ist, werde ich auf der Stelle in jene Landschaft hinüberwechseln, die man uns jahrhundertelang anempfohlen hat.«

Und nun geschah etwas, das den merkwürdigen Anblick dieses Mannes, er war dabei, den Gürtel über der Tunika zu binden, übertraf. Die Bäume ringsherum verschwanden, sodass man plötzlich die Brücke sah, auf der aber keine Autos, sondern eine Carruca auf‌tauchte und direkt in Richtung Ufer, genauer dorthin fuhr, wo der Mann mit der Tunika stand. Sekunden später saß er, und dafür gab es keine Erklärung, auf der mit Tuch überzogenen Bank ebenjener Carruca.

Man kennt das Gefühl, das einen überkommt, wenn man, und auf so bequeme Weise, die Gelegenheit erhält, sich einfach, und als wäre man im Urlaub, in der Vergangenheit umzusehen. Und so kam es, dass die Carruca, die eben noch die Elbbrücke entlangfuhr, in die berühmte Via Appia einbog.

Die Straße war in schlechtem Zustand und das Rattern der mit Eisen beschlagenen Räder über die großen Steinquader unerträglich, und zuletzt lenkte man das Gefährt in Richtung Westen, wo es schließlich vor einer Häuserfront zum Stehen kam. Bedienstete öffneten eilig die Tür der Carruca, und auch den kleinen Koffer, den der etwa vierzigjährige Mann in Händen hielt, trug man und ohne ein Wort der Erklärung in das Gebäude.

Im Erdgeschoss befanden sich Geschäfte mit einem Hof und mehreren Anbauten, die Fenster bildeten eine einheitliche Fassade, und dahinter gab es Wohnungen, die man von der Straße aus erreichen konnte. Sie waren eng. Hier lebten die weniger Begüterten, und der Zustand dieser sogenannten Insulae war nicht sehr robust. Es kam immer wieder vor, dass Häuser wegen baulicher Mängel einstürzten, aber dies konnte der etwa vierzigjährige Mann nicht wissen.

Er zögerte, blieb stehen, schloss den Gürtel, der sich über der Tunika gelöst hatte, und keine Viertelstunde später stand er auf einem Balkon und versuchte, sich in dem Wirrwarr der Häuser, die er vor Augen hatte, zurechtzufinden. Es war niemand mehr zu sehen, und da man ihm keinerlei Informationen gegeben hatte, überlegte er, ob es sinnvoll wäre, erst einmal in die Innenstadt zu gehen, um sich einige der berühmten Bauten anzusehen.

Als er unterwegs war, bemerkte er, wie sehr er sich überanstrengt hatte. Selbstverständlich war es eine Zumutung, ohne Ruhepause und ohne etwas zu essen, von der Elbe bis in die römische Hauptstadt zu gelangen. Aber schon hörte er wieder das Rattern der Carruca, und tatsächlich öffnete sich, nachdem man ihn eingeholt hatte, die Tür. Jemand schien ihm die Hand zu reichen. Er stieg ein, und man fuhr ihn, was seit Langem sein Wunsch gewesen war, zum Amphitheatrum Novum.

Dieser berühmte Bau wurde zwischen 70 und 80 n. Chr. errichtet, und hier gefiel es dem etwa vierzigjährigen Mann. Er musste kein Ticket kaufen, der Eintritt war frei, und er stieg in der Absicht, von oben eine bessere Übersicht zu gewinnen, sofort in das dritte Stockwerk.

Dort saß er eine Weile. Er war überwältigt von der Größe und der gleichzeitigen Geborgenheit, die die Architektur ausstrahlte. Da waren die vielen Eingänge und überall Treppen aus Marmor, die hierhin und dorthin führten, und dazu die vielen Leute.

›Es müssen Tausende sein‹, dachte er.

Und doch fühlte er sich keineswegs bedrängt, denn er sah den Himmel.

›Keine einzige Wolke. Dafür ein unendliches Blau. Das gibt es nur hier‹, dachte der etwa vierzigjährige Mann. ›Schade, dass man die Zypressen und die Pinien nicht sieht.‹

Aber schon wurde er abgelenkt. Man hörte von irgendwoher Musik. Zuerst sehr leise wie von einer Tibia, diesem filigranen Blasinstrument, das den Eindruck vermittelte, es würde, wenn man es über die Schultern schob, zerbrechen, und als die Musik lauter, ja beinahe unerträglich wurde, betraten festlich gekleidete Männer mit Pauken und Trompeten die von Sträuchern umstandene Plattform, und die Begeisterung des Publikums kannte keine Grenzen. Man sprang von den Sitzen, und auch der etwa vierzigjährige Mann ließ sich von der allgemeinen Stimmung mitreißen. Das heißt, auch er war aufgesprungen, klatschte in die Hände, und die Elbe, an der er vor Kurzem noch gestanden hatte, war vergessen.

Dies ging eine Weile, bis die Musikanten ihre Instrumente absetzten. Eine unheimliche Stille trat ein. Auf der rechten Seite der Arena öffnete sich ein Tor, und Schritt für Schritt wurde ein riesiger Käfig hereingeschoben. Die Musikanten verschwanden, halb nackte Männer, die mit Schwertern und Lanzen bewaffnet waren, tauchten auf. Sie gingen in Stellung, und der etwa vierzigjährige Mann sah, wie der Käfig geöffnet wurde und wie wilde Tiere, darunter Tiger und Löwen, in den Sand der Arena sprangen.

Man kennt die jahrhundertealten Zeichnungen, die zeigen, wie Menschen und Tiere im Kolosseum gezwungen werden, sich gegenseitig zu töten, und wie dies im Einzelnen geschah, das wurde dem etwa vierzigjährigen Mann jetzt vorgeführt.

Ein schreckliches Gemetzel begann. Man hörte das Gebrüll der Tiere, die keinerlei Möglichkeit hatten, sich zu retten. Das heißt, der etwa vierzigjährige Mann sah, wie mehrere Stiere und ein junger Elefant abgestochen wurden und dass dies bei einem der Löwen offensichtlich nicht gelang. Hier schützten weder Schild noch Schwert. Wer verletzt wurde, musste liegen bleiben, und wer tot war, Mensch oder Tier, wurde aus der Arena gezogen.

»Aufhören!«, schrie der etwa vierzigjährige Mann, »aufhören!«

Er sprang von seinem Sitz, hatte Mühe, den berühmten Bau, den er so gern in Augenschein genommen hatte, wieder zu verlassen. Er wurde bedrängt, man versuchte ihn festzuhalten, offensichtlich verstand man nicht, weshalb er die allgemeine Begeisterung nicht teilte, und als man begann, auf ihn einzuschlagen, tauchte plötzlich von hinten ein bewaffneter Liktor auf, der ihn am Arm packte und sicher über mehrere Treppen hinweg zum Ausgang führte. Dort ließ er ihn stehen, und es war unübersehbar, wie fassungslos der etwa vierzigjährige Mann war, das heißt, er drehte sich immer wieder um, sah die prächtige, an Schönheit nicht zu übertreffende Fassade des Kolosseums und bemerkte jetzt erst, dass in jeder der Nischen eine anmutige Skulptur stand.

›Warum dann dieses Gemetzel‹, dachte er. ›Hier könnte man doch Konzerte, Theaterauf‌führungen oder sonst etwas Erbauliches veranstalten.‹

Aber für den Augenblick wollte er nur noch weg, und es war ihm nicht unangenehm, dass die Carruca wieder in seiner Nähe stand und dass ihm jemand, wie es schien, durch die offene Tür die Hand entgegenstreckte, sodass er Sekunden später wieder auf der mit Tuch überzogenen Bank saß.

Die Pferde setzten sich in Bewegung. Sie überquerten die Via Cellio Vibenna, und nachdem offensichtlich war, dass die Carruca auf das Forum Romanum einbog, konnte man vermuten, dass der etwa vierzigjährige Mann nach seinen Erfahrungen im Kolosseum keine Lust mehr hatte, sich sofort anderen Sehenswürdigkeiten zuzuwenden.

Die Fahrt durch das Forum Romanum verlief reibungslos, und nachdem sie den steilen Weg zum Palatin hinter sich hatten und die Carruca anhielt, wohl in der Absicht, den etwa vierzigjährigen Mann aussteigen zu lassen, blieb dieser einfach sitzen, und wenig später rollte die Carruca wieder in die Ebene hinunter, dorthin, wo es zum Tiber nicht mehr weit war.

›Der würde mich interessieren‹, dachte der etwa vierzigjährige Mann.

Diesmal stieg er aus, ging zu Fuß weiter, und schon nach wenigen Metern sah er auf beiden Seiten der Straße Blumen und Sträucher von überwältigender Schönheit. Es waren Bougainvilleen und Oleander in vielen Farben, Violett, Rot, Gelb, Weiß, die miteinander zu konkurrieren schienen.

›Hier würde ich verweilen‹, dachte der etwa vierzigjährige Mann, ›wenn ich nicht wüsste, dass es am Tiber noch schöner ist. Also nichts wie hin.‹

Er beeilte sich, durch den hohen Wildwuchs hindurch zu der glitzernden Wasserfläche zu gelangen. Aber je näher er kam, desto weniger konnte er erkennen. Die Sonne war von solcher Strahlkraft, dass er sich die Hand an die Stirn halten musste, und plötzlich glaubte er etwas zu sehen, was er noch nie gesehen hatte. Der Fluss hatte eine merkwürdige Färbung, weder grau noch grün, sondern irgendwie rot.

›Warum das‹, dachte er, doch schon entdeckte er zwei nackte Körper, die auf der Wasseroberfläche trieben und einige Meter entfernt noch einmal dasselbe …

›Es scheint, als gäbe es dort noch mehr Leichen‹, dachte der etwa vierzigjährige Mann und erschrak.

Er wandte sich ab, wollte jemanden fragen, aber keiner wollte ihm antworten, und so war er froh, als von Weitem die Carruca wieder auf‌tauchte. Er lief die Böschung hinauf, wusste nicht, ob ihm jemand die Hand entgegenstreckte. Er wusste nur, dass er kurz darauf auf der mit Tuch überzogenen Bank saß.

Die Fahrt, die folgte, dauerte etwas länger, und das war offenbar einem Wetterwechsel geschuldet. Wo eben noch ein blauer Himmel zu sehen war, erschien am Horizont plötzlich eine mehrfach überlagerte Wolkenwand, und der Wind, der durch die Straßen fegte, rüttelte an den Baumkronen. Zuletzt flogen Sand und Abfallfetzen durch die Luft, und die Einwohner hatten Mühe, sich in Sicherheit zu bringen. Man hörte Kindergeschrei, überall wurden im Laufschritt Sänften in die Hauseingänge getragen, aber was merkwürdig war: Die Pferde, die vor die Carruca gespannt waren, blieben ruhig, sodass sie keinerlei Mühe hatten, ihr Ziel außerhalb der Stadt zu erreichen. Es war die Villa des überaus berühmten Lucius Annaeus Seneca.

»Ich habe Sie erwartet«, sagte er, gab dem etwa vierzigjährigen Mann die Hand, und keine Minute später saßen die beiden in einer Ecke des Atriums, und was Seneca zu sagen hatte, war alles andere als erfreulich.

»Wundern Sie sich nicht, wenn ich Sie mit einem Problem belästige, das Sie nichts angeht«, sagte er. »Aber Sie haben ja nun, aus welchem Grund auch immer, einen großen Sprung in die Vergangenheit gemacht, immerhin zweitausend Jahre, und vielleicht könnten Sie mir dabei behilf‌lich sein, einen ebenso großen Sprung in die Zukunft zu unternehmen.«

Für Augenblicke herrschte Schweigen. Der etwa vierzigjährige Mann hatte offenbar Mühe, die Situation, in die er so plötzlich geraten war, zu begreifen.