Der Herr im Café - Hartmut Lange - E-Book

Der Herr im Café E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

Drei brillante Novellen über drei Künstler, hinter denen der große Erfolg liegt und die sich nun nicht einem Publikum, sondern dem Geheimnis der Zeit zu stellen haben. Hartmut Lange beschreibt den Einbruch des Magischen in das alltägliche Leben. Wie unter Zwang streben seine Figuren danach, sich in diesen Abgrund hinter der Realität zu stürzen und ihr als normal definiertes Leben hinter sich zu lassen. "

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Hartmut Lange

Der Herr im Café

Drei Erzählungen

Diogenes

Der Herr im Café

1

Der Herr im Café, das sah Jänicke sofort, hatte merkwürdige Bewegungen. Er führte die Tasse wie jedermann gegen die Lippen, saß aber doch aufrechter als andere, so daß die rechte Hand, mit der er die Tasse hielt, eine umständliche Bewegung machen mußte. Aber dies war es nicht, was Jänickes Aufmerksamkeit erregte, sondern die Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit, mit der jener die Tasse, ja alle Gegenstände, deren er sich bediente, zur Hand nahm. Er trug eine Krawatte, die sorgfältig und in einer Art, die Jänicke nicht kannte, geknotet war, darüber eine bunte Weste aus Satin, deren Knopfreihe übermäßig lang erschien. Die Jacke war dunkelgrau, und es kam Jänicke vor, als hätte der Stoff, obwohl in bestem Zustand, längere Zeit irgendwo gelegen. An der linken Hand sah er einen Ring mit einem sechseckig geschnittenen, blauschwarzen Stein, etwas zu groß für die schmalen Finger. Eine Uhr trug der Fremde nicht, weder als Armband noch an einer Kette. Die Tasche seiner Weste war zugeknöpft.

Der Ober kam, der Herr zahlte. Dabei sah Jänicke, mit welch unwirklicher Gelassenheit er seine Hände bewegte, als wäre das Geld, das er auszugeben genötigt war, nebensächlich oder eine Sache der Höflichkeit und als käme es ausschließlich darauf an, dem Ober, der seine Hast nicht verbergen konnte, freundlich zu begegnen. Da Jänicke eine Verabredung einzuhalten hatte, wollte er sich nach der Zeit erkundigen und fragte den anderen, der, offenbar in der Absicht, das Café zu verlassen, an seinem Tisch vorbeiging, ob er wüßte, wie spät es sei. Er bekam keine Antwort. Als er seine Frage wiederholte, blieb der Fremde stehen, lächelte, aber er tat dies mit Nachsicht, so, als würde er ihm gern behilflich sein, wenn er sich nur verständlich machen könnte. Jänicke war verwirrt und schwieg. Der andere verbeugte sich gegen ihn, und als er das Café verließ, sah er sich an der Tür nochmals um.

Einige Wochen später, Jänicke hatte den Vorgang vergessen, saß der Herr wieder im Café. Er blätterte in einem Buch, hatte das Glas Cognac, das vor ihm stand, noch unberührt gelassen, sah nicht auf, als Jänicke mit dem Stuhl, den er zurechtrücken mußte, etwas zu sehr in seine Nähe geriet.

Jänicke bemerkte, daß es eine Partitur war, in der er blätterte. Kein eigentliches Buch, eher ein Oktavheft, und was auf dem Titelblatt stand, kam ihm irgendwie bekannt vor: Fünf Stücke für Orchester, Op. psth. von Anton Webern. Dies las Jänicke. Dabei hatte er sich, um besser sehen zu können, nach vorn gebeugt.

»Nehmen Sie nur«, sagte der andere und hielt Jänicke die Partitur hin. »Ich bin mit Webern befreundet, und ich schwöre Ihnen, er ist das größte Talent, das Sie in Berlin zur Zeit finden.«

Jänicke konnte nur laienhaft Noten lesen, wußte aber, daß jener, von dem der andere behauptete, er wäre mit ihm befreundet und von dem er so tat, als wäre er in Berlin anwesend, seit langem gestorben war. Auch die Umstände waren ihm bekannt, fielen ihm aber, da ihn die freundliche und völlig unerwartete Geste irritierte, nicht ein.

»Anton Webern?« fragte Jänicke.

»Ja«, antwortete der andere. »Morgen wird er ein Gastkonzert geben. Wenn Sie Lust haben … Sie finden die Anzeige in jeder besseren Zeitung.«

2

Der Hinweis, den Jänicke in der Zeitung fand, war eindeutig. Unter der Rubrik »Konzertveranstaltungen« waren unter anderem Orchesterstücke von Anton Webern für das Abonnement vorgesehen, und zwar am Freitag der kommenden Woche. Eine Weile blieb er unentschlossen, ließ sich aber eine Karte reservieren.

»Wenn du Lust hast, treffen wir uns anschließend und gehen essen«, sagte er zu seiner Freundin. Dann, als es soweit war, er ging früher als nötig, um die Karte an der Kasse abzuholen, stand er in regnerischem Wetter vor dem Eingang zur Philharmonie.

Es war Ende Februar. Der Tiergarten lag in völliger Dunkelheit, und doch sah man, es konnte um diese Jahreszeit nicht anders sein, wie zurückgenommen alles wirkte, und die nassen Baumstämme glänzten, als wären sie mit Plastik überzogen. Von rechts her war ein ununterbrochener Verkehr im Gange. Scheinwerfer leuchteten auf, bogen ab, offenbar war die Zufahrt zur Tiergartenstraße gesperrt, und die Szenerie schien, obwohl nichts wirklich greifbar war, voller Bewegung. Da waren Schatten, die die Scheinwerfer erzeugten und wieder zum Verschwinden brachten. Neben der Bushaltestelle ragte ein Monument aus Eisen auf. Zwei Flächen, gute drei Meter hoch, fünfzehn Meter lang, waren so zueinander aufgestellt, daß man den Zwischenraum, der entstanden war, bequem betreten konnte. Das Ganze wirkte wie ein Versteck, und Jänicke war versucht, es sich genauer anzusehen. Oder ging er die paar Schritte hinein, weil er glaubte, jener, mit dem er im Café ins Gespräch gekommen war und der ihn veranlaßt hatte, in diesem naßkalten Wetter auszuhalten, weil er glaubte, der Herr mit der Weste aus Satin und der übermäßig langen Knopfreihe wäre auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgetaucht? Und tatsächlich: Da ging jemand rasch auf den Eingang der Philharmonie zu, als hätte er sich verspätet. Jänicke sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor acht, also höchste Zeit, den Mantel an der Garderobe abzugeben, und er wunderte sich, daß der Platz vor der Bushaltestelle immer noch leer war, als wäre da kein Publikum, das, wie sonst, dem Eingang zustrebte. Aber an der Garderobe sah er, daß er sich geirrt hatte. Die Haken waren mit Mänteln und Jacken zugehängt, und als sich die Tür zum Kammermusiksaal hinter seinem Rücken schloß, hatte er Mühe, in dem Gedränge seinen Platz zu finden.

Ein rascher Lichtwechsel, kurzer Beifall für das Orchester. Der Dirigent erschien. Es gab, was ungewöhnlich war, einige Zurufe. Man spielte Haydn. Es war die bekannte Präzision und Heiterkeit. Dies dauerte eine Weile, dann war alles still. Ein merkwürdiges Zögern, bevor der Dirigent den Taktstock hob, und der Wechsel zu Webern wirkte auf Jänicke wie ein Schock. In einer Stimmung, die die Musik Haydns geradezu auslöschte, begann da etwas auf ihn einzuwirken, das ihn an die Schatten erinnerte, die er neben dem Monument aus Eisen beobachtet hatte.

Fünf Stücke für Orchester, Op. psth. (1913), konnte Jänicke im Halbdunkel auf dem Programmheft seiner Nachbarin entziffern, dann wurde er unruhig, begann, obwohl er aufmerksam zuhörte, die Zuschauerreihen vor sich mit den Blicken abzutasten, und es kam ihm vor, als hätte er jenen, der vorhin so eilig und über den nassen Asphalt hinweg den Eingang der Philharmonie betreten hatte, längst entdeckt. Er saß in der ersten Reihe und hielt sich unbeweglich.

»Das hättest du hören sollen«, sagte Jänicke zu seiner Freundin, als sie Stunden später im Bistro beisammensaßen. »Es ist eine Musik, wie soll ich sagen … Nicht unangenehm, wenn man sich darauf einläßt.«

»Und der Herr im Café?«

Darüber wollte Jänicke nicht reden, wollte auch nicht erklären, warum er auf die Empfehlung eines Unbekannten in der Philharmonie gewesen war. Sie bestellten Wein, und da Jänicke Durst hatte, trank er das Glas in wenigen Zügen leer. Ute hatte ihr graues Kostüm angezogen. Der Halsansatz über der Bluse war frei, auch fehlte die Kette mit den Holzperlen, die sie gewöhnlich trug, und Jänicke bemerkte, daß ihre Haut faltig zu werden begann, und die Muskelstränge am Kehlkopf traten stärker hervor als sonst. Nicht, daß ihm dies ein Problem gewesen wäre. Es wäre auch taktlos gewesen, sie auf die ersten Anzeichen des Älterwerdens aufmerksam zu machen, und was konnte man schließlich darüber sagen, außer daß die Zeit verging.

›Ja, so ist es‹, dachte Jänicke. In der rechten Ecke des langgezogenen Raumes, wo ein Podest stand, begann jemand auf einer Mundharmonika zu spielen.

3

Jänicke hatte Lehrer werden wollen, dies entsprach aber nicht seiner Neigung zur Ungebundenheit. Er war in mehreren Berufen tätig, schrieb Satiren über Philosophen und deren Gedankenwelt. Ja, dies war ihm die liebste Beschäftigung: Er konnte die kompliziertesten Sachverhalte seinen Lesern unterhaltsam nahebringen, und er hatte mehrere Bücher verfaßt, darunter einen Bestseller, der ihm ein sorgenfreies Leben sicherte. Ute hatte er vor fünfzehn Jahren kennengelernt. Er liebte sie, das war sicher, verwöhnte sie auch gelegentlich, indem er ihr teure Blusen und Halstücher kaufte, aber er weigerte sich zuzulassen, daß sie zu ihm in die Wohnung zog. Ute akzeptierte seine Gewohnheiten. Sicher, sie stritten oft miteinander, aber so, daß jeder rasch einmal nachgab. Auch gab es keine Laster, die sie einander hätten vorwerfen können. Jänicke trank gern ein gutes Glas Rotwein, sie, Ute, die auf ihre Gesundheit achtete, hatte sich das Rauchen abgewöhnt.

»Du hattest mich nach dem Konzert gefragt. Hör dir das einmal an«, sagte Jänicke eines Tages und hielt Ute zwei Kopfhörer hin.

Er hatte seinen CD-Player mitgebracht, den er umständlich in Gang setzte, und nun sah er Ute zu, wie sie auf die Fünf Stücke für Orchester, Op. psth. von Anton Webern lauschte. Sie machte zunächst ein ungläubiges Gesicht, als wäre da nichts, was sich anzuhören lohnte, dann schien sie amüsiert zu sein.

»Sehr modern«, sagte sie und setzte die Kopfhörer wieder ab.

Jänicke wollte noch etwas sagen, wollte ihr mitteilen, was für Empfindungen diese Musik bei ihm hervorrief …

»Als wäre man auf der Suche«, sagte er, »oder würde durch menschenleere Säle gehen, irgendwie unbehaglich.«

»Wie kommst du darauf?« fragte Ute, nahm, ohne die Antwort abzuwarten, ihre Handtasche vom Stuhl, kramte darin herum.

Sie zog einen Lippenstift hervor, konnte aber offensichtlich den Spiegel nicht finden, so daß sie ins Bad ging, und es dauerte eine Weile, ehe sie in den Flur zurücktrat.

Ob er sie vor dem Hotel absetzen könne, wollte sie wissen.

»Aber ja doch«, sagte Jänicke, der schon den Autoschlüssel in der Hand hielt.

Es war stockender Verkehr. Die Fahrt im Wagen dauerte eine Viertelstunde, obwohl das Hotel, in dem Ute arbeitete, keine fünf Querstraßen entfernt lag. Er faßte den kleinen Finger ihrer Hand, während er die Gangschaltung bediente, eine Geste, die ihr vertraut war und die sie sich gern gefallen ließ. Vor dem Hotel meinte sie, es sei nicht nötig, sie ins Büro zu begleiten. Jänicke gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn. Sie stieg aus, und bevor sie die Rezeption erreicht hatte, ging jemand auf sie zu.

›Sie ist wieder unentbehrlich‹, dachte Jänicke, sah auf die Uhr, die den Benzinvorrat anzeigte, und beschloß, da die Nadel im roten Bereich war, zur nächstbesten Tankstelle zu fahren.

4

Vier Wochen später bekam Ute eine Postkarte.

»Ich hoffe, es geht Ihnen gut«, schrieb jemand, »und ich hoffe, daß Herrn Jänicke der Webern gefallen hat. Ich bin hier in einer Gegend …«

Der Rest war unleserlich, ebenso die Unterschrift. Die Karte kam aus Israel. Man sah antike Ruinen. ›Samaria/Sebastije, Cisjordania‹, dies war die Beschriftung, und Ute ließ die Karte irgendwo liegen, vergaß sie wohl auch, bis sie eines Tages sah, daß Jänicke damit beschäftigt war. Das heißt, er zog die Karte, während sie frühstückten, aus seiner Jackentasche.

»Der Gruß war für mich bestimmt«, sagte Ute, und er, als müsse er sich vergewissern, musterte die Adresse.

»Entschuldige, sie lag in der Garderobe. Ich habe nie behauptet, daß sie mir gehört.«

Während sie aßen, gab es so etwas wie eine Verstimmung.

»Warum sagst du mir nicht, daß ihr Kontakt miteinander habt?« fragte Jänicke.

»Du irrst dich. Wir haben keinen Kontakt miteinander. Ich kenne nicht einmal seinen Namen.«

»Dann würde er dir nicht schreiben.«

»Offensichtlich doch«, antwortete Ute gereizt und schob ihm die Karte über den Tisch hinweg zu.

Es war ein merkwürdiger Anblick: Zwischen Teetassen, Marmeladegläsern und aufgeschnittenem Brot drängte sich ihnen ein Stück Glanzpapier aus einer völlig abwegigen Gegend auf. Man sah Steinblöcke, zu einem Halbkreis geformt, dahinter Zypressen, ein freies, unbewachsenes Feld, einem Hippodrom ähnlich, und weiter weg, im Hintergrund, ragte etwas Größeres auf, das schwer zu erkennen war. Dort war alles sonnenüberflutet, hier, in Jänickes Küche, die auf den Hinterhof hinausging und in der er gewöhnlich mit Ute frühstückte, war alles in ein Dämmerlicht getaucht.

5

Irgendwann frühstückte Jänicke allein, hatte aber ein zusätzliches Gedeck bereitgestellt. Es war nicht ungewöhnlich, daß Ute, obwohl sie die Nacht bei ihm verbringen wollte, erst gegen Morgen kam. Meist hatte sie sich um Gäste kümmern müssen oder war übermüdet auf dem Sofa in ihrem Büro eingeschlafen. Es konnte aber auch vorkommen, daß sie sich, und völlig unabgesprochen, eine Woche überhaupt nicht sahen.

›Ich werde ihr Blumen bringen‹, dachte Jänicke, und gegen Mittag sortierte er in Utes Wohnzimmer einen Strauß Rosen, suchte nach der Porzellanvase. Da er sie nicht fand, ging er ins Bad, legte die Rosen ins Waschbecken, achtete darauf, daß das Wasser, das er einlaufen ließ, nicht zu kalt war.

Gegen Abend saß er vor seinem Computer, ertappte sich dabei, daß er unkonzentriert war. Er stand ständig auf, um in Utes Wohnung oder im Hotel anzurufen – ohne Erfolg.

›Dann eben nicht‹, dachte Jänicke, überließ sich einem Gefühl der Verärgerung, beschloß, nicht weiter daran zu denken.