Die Stechpalme - Hartmut Lange - E-Book

Die Stechpalme E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

»Lieber Eichbaum, Du wirst jetzt 60, und es kann Dir nicht gleichgültig sein, daß Deine Frau erst 41 ist.« Manfred Eichbaum, Verleger von Kunst- und Fotobänden, erhält anonyme Briefe. Der Verfasser kennt sich sehr gut aus in Eichbaums Leben, privat wie beruflich. Eichbaum, der seit fast einem Jahr an einem gebrochenen Schienbein laboriert, wird zunehmend verunsichert. Wer steckt hinter diesen Briefen? "

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Seitenzahl: 105

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Hartmut Lange

Die Stechpalme

Novelle

Diogenes

Dieses Buch wurde durch den Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert. Besonders bedanke ich mich für die Mitarbeit meiner Frau.

1

Was ist das für ein Brief!«

Manfred Eichbaum war blaß geworden und hielt seiner Frau ein geöffnetes Kuvert entgegen.

»Weißt du, wer das geschrieben hat?«

»Nein«, antwortete Carla, verließ das Zimmer, da sie im Begriff war, das Geschirr wegzuräumen.

Man hatte gefrühstückt, und Eichbaum hatte, während er seinen Kaffee trank, die Post durchgesehen, und plötzlich kamen ihm diese Zeilen vor Augen, diese Zeilen auf trübem, holzigem Papier:

»Lieber Eichbaum,

Du wirst jetzt 60, und es kann Dir nicht gleichgültig sein, daß Deine Frau erst 41 ist.«

Er wendete, während er auf die Geräusche in der Küche hörte, das Kuvert hin und her, suchte nach dem Absender, da war nichts, auch der Poststempel über der Sechzigpfennigmarke war kaum zu entziffern.

›Offenbar in Berlin abgeschickt‹, dachte er, ging in Gedanken die Namen seiner Bekannten durch. ›Unsinn.‹ Er mußte lächeln, und doch steckte er, als Carla das Zimmer wieder betrat, Brief und Kuvert in die Jackentasche.

Er schlug mit dem Handrücken auf den Gips, der das linke Bein bis zum Knie unbeweglich machte, griff nach dem Krückstock, der am Tisch lehnte, erhob sich aber nicht. Wie lange schon mußte er, nachdem er sich das Bein gebrochen hatte, mit dieser Hilflosigkeit fertig werden? Fast ein Vierteljahr. Und wenn man den ersten Unfall mit hinzurechnete, dann war er, Manfred Eichbaum, seit vierzehn Monaten nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte. Zweimal war ihm, den läppischen Anlaß wollte er vergessen, das Schienbein an der gleichen Stelle zersplittert, und er war gezwungen, ein Stück Eisen, wenigstens vorläufig, so hatten es ihm die Ärzte versichert, in dem vernagelten Knochen zu tragen.

Natürlich, er hatte Carla, und Carla verhielt sich fabelhaft. Nie hinderte sie ihn daran, Dinge, die er zwar mit Mühe, aber aus eigener Kraft bewältigen konnte, auch wirklich zu tun, und wenn er wieder einmal überanstrengt und am Ende seiner Geduld war, griff sie ihm wie selbstverständlich unter die Arme. Wie eben jetzt: Sie half ihm, vom Stuhl loszukommen, setzte ihm den Krückstock unter die Achsel, wandte sich wieder ab. Es war eine stille Übereinkunft: Sie sollte ihm nicht, vor allem nicht unter Zeugen, wie eine Krankenschwester zur Seite sein, und so humpelte Eichbaum allein in die Garderobe, während Carla durch den Hintereingang zur Garage ging, um den Wagen vorzufahren.

Und da stand er also bereit, der hellgraue Volvo, die Tür neben dem Fahrersitz geöffnet. Carla sah zu, wie Eichbaum, der sich am Polster festhielt, die Krücke zwischen die Sitze nach hinten schob. Er ließ sich Zeit, kam schließlich mit einer umständlichen Drehung, wobei er das vergipste Bein ins Freie hielt, zum Sitzen. Er schlug die Tür hart zu, und nun fuhren sie über die Betonplatten, zwischen denen Gras gesät worden war, auf die Straße hinaus. Das Wetter war kühl, es regnete, und da Carla die Heizung aufgedreht hatte, beschlug die Windschutzscheibe. Für Augenblicke war Eichbaum ungehalten, weil sie Mühe hatte, mit dem Taschentuch, so rasch dies nötig war, wieder freie Sicht zu gewinnen, und sie fuhr, so kam es ihm jedenfalls vor, zu schnell. Er spürte den Brief in seiner Jackentasche, den Brief, der ihm unter so vielen herzlichen und gutgemeinten Glückwünschen ins Haus geflattert war. Er weigerte sich darüber nachzudenken, beschloß aber, sowie er in seinem Büro sein würde, diese merkwürdige Zuschrift in den Papierkorb zu werfen.

Im Büro hatte man eine kleine Feier vorbereitet. Eichbaums Zimmer lag am Ende des Korridors, es war nicht größer als fünf mal sechs Meter, und eine großblättrige Pflanze gab den kahlen Wänden einen Anschein von Freundlichkeit. Ansonsten waren da nur der mit Büchern überladene Tisch, ein schwarzes Ledersofa, dazu ein, zwei passende Stühle und ein offener Stahlschrank, der ebenfalls mit Büchern, Zeitschriften und Manuskripten vollgestopft war.

»Prost«, sagte Mackatsch und hob sein volles Sektglas. »Prost«, wiederholte er. »Wir hoffen, daß du wieder auf die Beine kommst!«

»Ich danke euch.«

Eichbaum trank sein Glas mit kräftigen Zügen leer. Man hatte ihm einen Stuhl in die Mitte des Zimmers gesetzt, stand respektvoll um ihn herum, achtete auf das vergipste Bein, das er von sich gestreckt hielt, und niemand, auch Carla nicht, hatte ihm die Krücke abgenommen. Er hielt sie wie sinnlos in der linken Hand, griff, nachdem er das Sektglas abgestellt hatte, in die Jackentasche, suchte mit den Augen nach dem Papierkorb. Ja, wollte er jetzt, ausgerechnet jetzt, während man ihn hochleben ließ, darüber nachgrübeln, wer von den Anwesenden ihm diese Provokation zugesteckt haben könnte? Nein. Er schlug dreimal mit dem Krückstock aufs Parkett, verschaffte sich Gehör und begann, in allerbester Laune und mit eben der Ironie, die man von ihm gewohnt war, seine kleine Dankesrede.

Dies geschah gegen Mittag, und am Abend, endlich, zerriß Eichbaum den Brief, den er immer noch in der Jackentasche trug, humpelte ins Bad und sah zu, wie die Papierfetzen von der Spülung erfaßt und zum Verschwinden gebracht wurden. Er spürte die feuchte Wärme unter dem Gips und wie beengt er dadurch war, und er dachte über das Verhalten seiner Frau nach.

Sie war wie immer dominierend und sehr gesprächig gewesen. Und was war außergewöhnlich daran, daß sie sich unter den Gästen wohlgefühlt hatte? Und doch irgendwie, war es nun, weil er so tief, beinahe wie hilflos in seinem Stuhl gesessen hatte oder weil er ständig von neuen Gesichtern in Anspruch genommen worden war, irgendwie kam es ihm vor, als hätte sie sich seinen Blicken entzogen.

Er versuchte, indem er durch die offene Tür in den Korridor sah, zu erkennen, ob in ihrem Schlafzimmer Licht brannte. Carla hatte sich, mit der Bemerkung, sie sei erschöpft, früher als sonst zurückgezogen, und nichts wies darauf hin, daß sie, wie Manfred Eichbaum, immer noch wach war.

›Sie hat einen gesunden Schlaf‹, dachte er. ›Sie ist ja auch jünger als ich.‹ Und indem er dies dachte, kam ein Unbehagen in ihm auf. Nicht, daß er seine Frau des anonymen Briefes wegen nun mit anderen, etwa mißtrauischen Augen betrachtete. Was war schon der Altersunterschied! Sie hatten nie darüber gesprochen. Aber ihm fiel ein … Ja, was fiel ihm letzten Endes ein?

2

Keine Woche später erhielt Eichbaum wieder einen Brief, und wieder war es das trübe, holzige Papier und die fast bis ins Unleserliche gehaltene Handschrift, die ihm, als er die Post sortierte, auffiel.

»Lieber Eichbaum«, las er, »bilde Dir nicht ein, die Liebe Deiner Frau wäre, auch wenn es den Anschein hat, unerschöpflich. Wer sich zweimal nacheinander das Bein bricht und anderthalb Jahre pflegebedürftig bleibt, der stellt den Allernächsten auf eine harte Probe. Neulich hätte sie Dir die Krücke, statt unter die Achsel, am liebsten ins Kreuz gestoßen. Und verdenken kann es ihr niemand. Du bist einfach zu lange krank!«

Die Unterschrift war nicht zu entziffern, auch war die Mitteilung ohne Datum. ›Was soll das‹, dachte Eichbaum, starrte auf die blaue, hier und da auseinandergelaufene Tinte, dann rief er seine Sekretärin. Woher dieser Brief sei, wollte er wissen, überhörte ihre Antwort, bat statt dessen um den großen Leitzordner, und nun war er für die nächste Viertelstunde damit beschäftigt, die Unterschriften seiner Angestellten mit der Handschrift des Briefes zu vergleichen, gab es schließlich, da ihm dies unwürdig vorkam, auf.

Am Abend zeigte er den Brief seiner Frau. Sie überflog die Zeilen, schien aber nicht sonderlich beeindruckt, schob ihm das Papier mit einem fragenden Blick wieder zu.

»Wenn dir meine Krankheit zu lange dauert, warum reden wir nicht darüber?«

»Aber ich bitte dich, wie kommst du darauf!«

»Außerdem sind es keine anderthalb Jahre, es sind kaum elf Monate.«

»Ja, und?«

»Ich werde die Krücke jedenfalls nicht mehr aus der Hand geben«, sagte er, und sie, als würde sie endlich begreifen, worauf er hinauswollte, faßte seine Hand und sagte:

»Du wirst doch diese Albernheit nicht etwa ernst nehmen.«

Eichbaum sah, daß sie ihr Haar frisch gewaschen hatte, und daß die untergehende Sonne, die durch das Gartenfenster ins Zimmer schien, ihrem Gesicht eine überaus klare Kontur gab. Er sah das helle Grün ihrer Augen und daß sie immer noch, auch um den Mund herum, keinerlei Falten hatte. Auch sah er, daß die Sonne, die dies sichtbar machte, vom Horizont des Gartens durch die hohen Scheiben über den Vorraum hinweg bis zu dem Tisch, an dem sie saßen, einen sehr langen Weg nahm.

›Was für ein merkwürdiger Eindruck‹, dachte er. ›Er wäre wert, fotografiert zu werden.‹ Und er beschloß, für alle Fälle und falls die schönen Abende anhielten, das Stativ bereitzustellen.

3

Carla Eichbaum, geborene Schmittchen, hatte keine besonderen Neigungen, sie versuchte sich aber, und dies schon seit Jahren, in der Malerei, und besonders gelangen ihr, so war die allgemeine Meinung, Tuschzeichnungen. Aber was war schon die allgemeine Meinung! Sie verkaufte kaum etwas, und hätte Eichbaum sie nicht überredet, eine kleine Galerie aufzumachen, sie hätte in dem Milieu, von dem sie sich angezogen fühlte, keine Rolle gespielt. So aber konnte sie, und immer unterstützt durch den Verlag, dessen Eigentümer Eichbaum war, hin und wieder interessante Namen gewinnen.

Die Wände der Ladenräume, die sie in der Nähe des Zentrums gemietet hatte, waren mit weißer Tapete beklebt, der Parkettboden abgezogen und neu versiegelt, und ein rechteckiges Tuch über der Tür zeigte in schwarzen Buchstaben auf rotem Grund, welches Talent man in der GALERIE SCHMITTCHEN jeweils besichtigen konnte. Die Vernissage begann gewöhnlich mit einem kleinen Vortrag, den Mackatsch oder Eichbaum persönlich verfaßt hatten, dann wurden petit fours, Sekt und Orangensaft gereicht. Die Preisliste blieb meist unbeachtet, aber es kam vor, daß Carla schon am ersten Tag Erfolg hatte, und dann wurden die verkauften Bilder mit einem roten Punkt beklebt. Es waren drei Zimmer, die sie als Refugium betrachten konnte, wovon das größte auch als Büro genutzt wurde, und die Kellerluke, die man vergrößert und mit einer Holztreppe versehen hatte, führte zu einem Abstellraum.

Hier hatte Carla seit einiger Zeit ihre Arbeiten aufbewahrt, und sie überlegte, ob sie es wagen sollte, selbst wieder einmal an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie hatte für ihre Zeichnungen weiße und blaue Rahmen bestellt, aber die Motive, die sie in letzter Zeit bevorzugte, schienen ihr doch bedenklich zu sein. Jetzt erst fiel ihr auf, daß sie von der Hilflosigkeit Eichbaums und wie dieser mit der Krücke und dem eingegipsten Bein durch die Wohnung humpelte, wie sie von seinem Zustand offenbar inspiriert gewesen war. Denn sie hatte, in der nötigen Verwischtheit versteht sich, Figuren gemalt, die körperliche Gebrechen hatten und die sich nur mit Hilfsmitteln fortbewegen konnten.

›Er könnte es falsch verstehen‹, dachte sie, während sie die einzelnen Blätter durchging, ›und der Brief …‹ Ja, dies war nun allerdings etwas, das ihr die Unbefangenheit nahm. ›Wer könnte den Unsinn geschrieben haben‹, dachte sie, spürte, wie gleichgültig ihr die anonyme Dreistigkeit war, aber sie fürchtete, Eichbaum, der den Brief vernichtet hatte, könnte empfindlicher geworden sein und er würde dies hier, sie berührte die hellen Farben mit den Fingerspitzen, nicht mit dem nötigen Humor aufnehmen. Sie schob die Blätter in den Schrank zurück und beschloß, auch die Rahmen, sowie sie geliefert sein würden, zu verstecken. Überhaupt wollte sie sich erst wieder der Öffentlichkeit stellen, nachdem Eichbaum den leidigen Gips losgeworden war.

Eine Weile noch gab es Irritationen. Sie zeigte sich in Eichbaums Nähe besonders herzlich und unbefangen, um ja nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, der Brief könnte einen Schein von Wahrheit enthalten, und wenn sie ihm die Krücke reichte oder unter die Achsel schob, war sie versucht, es mit einer ironischen Bemerkung zu tun. Etwa, daß er gut daran täte, ihr nicht den Rücken zuzuwenden.

»Ihr bekommt anonyme Briefe?« sagte Makkatsch, den sie ins Vertrauen gezogen hatte. »Macht euch keine Sorgen, das haben wir bald«, und er meinte, Schmierereien dieser Art würden sich früher oder später verraten.

Mackatsch war ein untersetzter, gutmütig wirkender Mann mit starken, schwarzen Augenbrauen, auch der Schnauzbart zeigte kein einziges graues Haar, obwohl Mackatsch knapp unter fünfzig war. Er war die eigentliche Stütze im Verlagsgeschäft, hatte einen sicheren Instinkt für die Aufmachung der Titel und welche Themen, in Kunstbände verpackt, verkäuflich waren. Sicher, auch er hatte Ladenhüter zu verantworten, aber Eichbaum vertraute ihm, und besonders Mackatschs Vorliebe für die Moderne und daß er dieser Epoche beinahe schwärmerisch ausgeliefert schien, dies machte ihn fähig, Altbekanntes, etwa von Kirchner, Hodler oder Max Ernst, neu einzuordnen, und die Kommentare, die er dazu schrieb, fand man sogar in den Katalogen großer Ausstellungen wieder. Mackatsch war es auch zu verdanken, daß das Arbeitsklima im Verlag ohne jede Zweideutigkeit, ohne Empfindlichkeiten blieb, und wo Eichbaum manchmal ungerecht entschied, war er fähig, es rückgängig zu machen.