Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Für mich gibt es kein Gut und Böse. Das sind nur zwei Seiten desselben Menschen", sagt Werner Platz und öffnet seine Akten für den Journalisten Rolf Kremming, der 18 der faszinierendsten Fälle des Gerichtspsychiaters mitreißend nacherzählt. Wie wird ein vermeintlich braver und fleißiger Schüler zum achtfachen Mörder? Warum bringt ein Bruder den anderen um wie in der Bibelgeschichte von Kain und Abel? Erlaubt die geistige und körperliche Verfassung dem ehemaligen DDR-Agenten Günter Guillaume eine Reise zu einer gerichtlichen Vernehmung nach Düsseldorf? Warum führt der Kaufhauserpresser Dagobert die Polizei an der Nase herum? Und wie viel Dagobert steckt in uns allen? Können wir auch zu Mördern werden? Existentielle Fragen, auf die Werner Platz in seinen Gerichtsgutachten aufschlussreiche Antworten gibt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 129
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rolf Kremming
Der ewige Dagobert
Große Fälle des Berliner Gerichtspsychiaters Werner Platz
Bild und Heimat
eISBN 978-3-95958-789-1
1. Auflage
© 2020 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: picture alliance / dpa / Carmen Jaspersen
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Prolog
Gutachten sind ein wichtiger Teil vieler Gerichtsverfahren. Gutachter haben großen Einfluss auf die Verurteilung des Angeklagten. Für die Beantwortung der Frage, ob ein Täter zur Tatzeit in der Lage war, das Unrecht seines Handelns zu erkennen und nach dieser Einsicht auch zu agieren, wird oft ein Gutachter, meist ein forensischer Psychiater, hinzugezogen. Es geht um Schuld, verminderte Schuldfähigkeit oder sogar um Schuldunfähigkeit. Es geht um das Wohl und Wehe des Angeklagten. Für Dr. Werner Platz empfinde ich tiefe Bewunderung. Er ist gradlinig, besitzt Charisma, urteilt unabhängig und lässt sich nicht instrumentalisieren.
Ich sehe ihn noch vor mir. Freundliches Gesicht, Aktentasche, grauer Anzug, rote Krawatte. Das ist jetzt rund 25 Jahre her und unsere Begegnung fand in einem Moabiter Gerichtssaal statt. Dr. Werner Platz hatte im Auftrag des Gerichts ein Gutachten über eine Mandantin von mir erstellt. Sein Vortrag beeindruckte mich. Sachlich, korrekt und präzise.
Seitdem habe ich Werner Platz immer wieder als einen Gutachter mit Herzenswärme kennengelernt. Einen forensischen Psychiater, für den ein Angeklagter zwar Verfehlungen begangen hat, aber trotzdem ein Mensch ist. Ob es um die diebische Oma oder den straffälligen Jugendlichen geht, um einen Bankräuber oder einen mehrfachen Mörder – seine Gutachten verlieren nie den Bezug zu dem Menschen, der hinter den Taten steht. Er blickt stets in seinen Kern hinein.
Werner Platz ist ein Mann der leisen Töne. Wenn er ruhig, aber bestimmt seine fachliche Einschätzung äußert, gibt es keine Zweifel am Gesagten. Wird auf den Gerichtsfluren manchmal über »Gefälligkeitsgutachten« gemunkelt, ist der Name Werner Platz noch nie gefallen. Für ihn zählt einzig und allein die Frage: kriminell oder krank? Denn wir handeln nicht mit Gebrauchtwagen, sondern es geht um Menschen mit Verfehlungen und Schuld. Und genau diese Menschen sieht Werner Platz, wenn er ihnen als Gutachter gegenübersitzt. Er ist neutral, hört zu und verurteilt nicht. Werner Platz der Mediziner. Werner Platz der Primus inter pares.
Ein paar Mal trafen wir uns auch außerhalb des Moabiter Kriminalgerichts. Auf einen Kaffee gegenüber des Gerichts oder zu Spaghetti Carbonara bei einem Italiener auf dem Ku’damm. Selten redeten wir dann über Fachliches. Meist ging es um das Leben im Allgemeinen, um Philosophie, um Religionsfreiheit und um den Antifaschismus, der uns beiden sehr am Herzen liegt.
Kurz gesagt: Werner Platz ist ein Menschenfreund.
Mirko Röder
Rechtsanwalt in Berlin und ehemaliger
Hauptgeschäftsführer des Berliner Anwaltsvereins
Einleitung
Als ich Privatdozent Dr. med. hab. Werner Platz vor über zehn Jahren kennenlernte, recherchierte ich über Spielsucht. Im Laufe des Interviews kamen wir auch auf das Thema Aggressionen und Mord zu sprechen. Dazu sagte Dr. Platz: »Jeder Mensch kann zum Mörder werden.« Ein Satz, der mich verblüffte, der mich über Jahre hinaus begleitete und den ich bis heute nicht vergessen habe. Mein netter Nachbar, der täglich fröhlich pfeifend sein 3.000 Euro teures Carbonrad die Treppe hinauf- und hinunterträgt? Die hübsche Kellnerin aus meinem Lieblingscafé? Unvorstellbar. Doch wie ich heute weiß, ist es nicht unmöglich.
Werner Platz und ich sind uns in den letzten Jahren immer wieder begegnet und jede Begegnung ließ mich an den bewussten Satz denken. Bis ich ihn vor einiger Zeit fragte, ob er mir nicht ein paar seiner Fälle erzählen wolle. Daraus ist eine Serie für den Berliner Kurier geworden, die auch hier ins Buch einfließt.
»Jeder Mensch kann zum Mörder werden«
Werner Platz ist Arzt für Nervenheilkunde. Hunderte von Tätern haben ihm gegenübergesessen. Haben geredet oder geschwiegen. Er hat sie beobachtet, ihnen zugehört, ihre Taten nie gewertet. »Für mich gibt es kein Gut und kein Böse. Das sind nur zwei Seiten desselben Menschen.«
Ich besuche ihn in seiner Praxis in Berlin und er spricht mit mir über seine interessantesten Fälle. Einen Banker, der seinem Vermieter den Schädel spaltete. Einen achtfachen Mörder. Auch politische Täter haben sich ihm offenbart – wie Willi Stoph und Erich Mielke. Es ist ein tiefer Einblick in die Abgründe verirrter Seelen.
»Jeder Mensch kann zum Mörder werden. In jedem schläft ein Tier, das unerwartet ausbrechen kann. Niemand ist nur gut und niemand nur böse. Das sind lediglich zwei Seiten desselben Menschen.«
Privatdozent Dr. med. habil. Werner Platz ist forensischer Psychiater am Vivantes Humboldt-Klinikum Berlin und Gutachter in zahllosen Mordprozessen. Seit mehr als 30 Jahren lebt er mit dem Grauen menschlicher Tiefen. Er sitzt hinter einem Schreibtisch voller Akten, das Telefon in der linken Hand. Er lächelt, macht sich Notizen. Ein ruhiger Mann, er strahlt Verständnis und Nachsicht aus. In mindestens 3000 Seelen hat er bisher geblickt, Seelen, die mörderischer nicht hätten ticken können. Er ist einer, der nie den Überblick verliert. Er erkundet die Abgründe menschlichen Elends, unvorstellbare Fantasien und Gehirne voller Abscheulichkeiten.
Zum Beispiel der unauffällige Bankangestellte. Der freundlich und korrekt die Kunden bediente. Der ein beliebter Kollege war. Der nie Anlass zu Klagen gab. Bis er eines Tages seinem Vermieter mit einem Beil den Schädel spaltete, weil der mit der Renovierung der Wohnung nicht einverstanden war. »Immer wieder hatte der Hauswirt etwas auszusetzen. Einmal war es die Decke im Wohnzimmer, später die Scheuerleisten im Flur und als er beim dritten Mal an der Küchenwand rummäkelte, nahm der Mieter das Beil und schlug zu. So viel zu dem Thema: In jedem Menschen steckt ein Mörder. Es kommt immer darauf an, wo seine Reizschwelle liegt.«
Bei der Frage nach seinem ersten Fall muss Werner Platz glatt schmunzeln. Es war Wolfgang Neuss, einer der berühmtesten Kabarettisten Deutschlands. »Als ich ihn persönlich kennenlernte, war er kaum noch mit dem Mann auf der Bühne zu vergleichen. Der Haschischkonsum hatte seine Spuren hinterlassen. Im Gesicht und auch in seinem Geist.« Die meisten seiner Fälle allerdings sind weniger zum Schmunzeln. Er saß einem achtfachen Mörder gegenüber, sprach mit Spielsüchtigen, die Haus und Hof verloren und in die Firmenkasse gegriffen hatten. Er redete stundenlang mit einem Elternmörder, der ihm noch Jahre nach der Verurteilung Briefe schrieb und beteuerte, wie sehr er ihn schätze.
Ganz entgegen der allgemeinen Erwartungen hat Werner Platz einen geruhsamen Schlaf. Meistens jedenfalls. »Es gibt natürlich Fälle, die gehen an meine Grenzen. Aber niemals darüber hinaus. Alles andere wäre unprofessionell. In solchen Fällen habe ich immer die Möglichkeit, mich mit Kollegen auszutauschen und mir Rat und Unterstützung zu holen.«
Sein Büro in der Psychiatrischen Institutsambulanz II liegt inmitten eines riesigen Parks, zwischen Maßregelvollzug und Flüchtlingsunterkünften in der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Im Volksmund »Bonnies Ranch« genannt. Die erste Irrenanstalt im Großraum Berlin wurde am 6. Februar 1880 eingeweiht und die Patienten mit Pferdewagen aus den umliegenden Krankenhäusern eingeliefert.
In der psychiatrischen Ambulanz war es heute mal wieder besonders voll. Russen, Griechen und Türken sind es, die Dr. Platz in der interkulturellen Institutsambulanz aufsuchen. Sein Team, bestehend aus fünf Ärzten und sieben Psychologen, und er kümmern sich im Haus 20 um Migranten, die oft nicht einmal die deutsche Sprache ausreichend beherrschen.
Werner Platz ist ein Mann, der selten schweigt. Der lieber den Mund aufmacht, als Gefahren unter den Teppich zu kehren. Platz will nicht nur Täter begutachten, er will auch vorbeugen und warnen. Zum Beispiel vor der immer häufiger auftretenden Spiel- und Internetsucht und dass sich Kinder und Jugendliche regelrecht »blöd« kiffen.
Er ist ein unkonventioneller Mann, der in erster Linie an das seelische Wohl der Patienten denkt und Bürokratie schon mal Bürokratie sein lässt. So ließ er auch eine »Schummelei« durchgehen, damit ein 85-Jähriger aus Russland die Prüfung für seinen Angelschein bestand. »Angeln war sein Hobby und nur weil er nicht genug Deutsch sprach, sollte er nicht mehr am See sitzen dürfen? Das Angeln hat seinen seelischen Zustand merklich verbessert. Mehr als es jedes Medikament gekonnt hätte.«
Auch zum Fall der 15-jährigen Josi, die mit ihrem 33 Jahre älteren Onkel Gerrit H. durchbrannte, hatte Werner Platz etwas zu sagen. »Ich sehe pädophile Neigungen. Er wendet sich einem Kind ohne jegliche Schuldgefühle zu. Wir nennen das identifikatorische Wunscherfüllung. Es ist eine Art Midlife-Crisis, in der Männer so ab 45 wieder jung sein wollen und glauben, durch die Beziehung zu einem jungen Mädchen ihr eigenes Alter aufhalten zu können. Sie hält es für die große Liebe, während er sie in Wirklichkeit nur benutzt.«
Mit zwölf wusste der Berliner Kaufmannssohn, dass er Arzt werden wollte. Doch nach dem Abitur lernte Werner Platz erst einmal Drogist. Danach ein Medizinstudium. Anschließend ging er für fünf Jahre nach England und erforschte neue Anwendungsgebiete von Antibiotika. Dann die Doktorarbeit über Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. »Für mich war es immer wichtig, auch über den Tellerrand des eigenen Fachs zu schauen. Wer ein breites Wissen hat, versteht Zusammenhänge besser. Doch mein Herz schlug damals schon für die Psychiatrie.« Später Facharztausbildung zum Psychiater und Neurologen und Weiterbildung zum Forensiker.
Platz’ Spezialgebiet ist die transkulturelle Psychiatrie. »Neben den ererbten Eigenschaften hat die Umwelt einen großen Anteil an der Entwicklung eines Menschen. Ein Moslem hat andere Ansichten über die Ehe und über Frauen als ein Deutscher«, sagt er. »Das soll auf keinen Fall Ehrenmorde entschuldigen. Aber vielleicht zu besserem Verständnis beitragen. Die russische Seele tickt anders als die skandinavische, die griechische wieder anders als die afghanische. Mir ist es wichtig, den Menschen in seinem kulturellen Umfeld zu sehen und zu verstehen. Vietnamesen fühlen sich schneller allein und suchen Gruppenkontakt. Deshalb neigen Täter aus dieser Volksgruppe auch eher zur Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bande heißt für sie Schutz. Und Schutz bedeutet ein angstfreieres Leben.«
Es ist kurz nach 21 Uhr. Werner Platz hat sich die Krawatte abgebunden und auf einen Bügel in den Schrank gehängt. Er ist der Letzte, der das Haus verlässt. Wie so oft.
Der ewige Dagobert
Es war ein ungemütlicher Novembertag im Jahr 1994. Ein Tag, den man am liebsten mit einem guten Buch im Bett verbringen möchte. Dr. Werner Platz machte sich schon früh auf den Weg von seinem Büro in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik zum Haus V. Hundert Meter Fußweg durch Nässe und Nebel. Hundert Meter, in denen er noch einmal den Fall des Patienten durchging, der ihn erwartete. Laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft des Landgerichts Berlin war der zu Begutachtende wegen Erpressung und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion angeklagt. Arno F. hieß der Mann, 44 Jahre alt, von Beruf Plakatmaler. Viermal hatte er Arno F. schon in der Untersuchungshaftanstalt Moabit besucht und drei weitere Male würden es noch werden.
»An diesem Morgen war ein leistungsorientiertes testpsychologisches Untersuchungsverfahren angesetzt. Um eine störungsfreie Atmosphäre zu gewährleisten und äußere Beeinflussungsfaktoren so gering wie möglich zu halten, fand das Gespräch in der Klinik statt.«
Kurzer Rückblick. Arno F., besser bekannt als Dagobert, war der Liebling der Berliner. Seine Art, die Polizei an der Nase herumzuführen, gefiel den Menschen. Er war zwar kein moderner Robin Hood, aber was er tat, löste Hochachtung und Bewunderung in der Bevölkerung aus. Dabei waren seine Taten ziemlich kriminell. Dass bei den Sprengstoffanschlägen keine Menschen zu Schaden kamen, war mehr dem Zufall zu verdanken. Er selbst versicherte vor Gericht und bei der psychiatrischen Begutachtung, dass er immer darauf geachtet habe, dass niemand verletzt würde. »Seine Beteuerungen erschienen mir glaubhaft«, erklärt Dr. Werner Platz.
Es war der 1. November 1994, zehn Uhr morgens, als Werner Platz dem gelernten Plakatmaler Arno F. in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin-Reinickendorf gegenübersaß. Der Blick aus dem Fenster war nicht eben erheiternd. Aber im Gegensatz zu den Gesprächen in der U-Haftanstalt Moabit gab es hier wenigstens Kaffee. Guten Kaffee sogar, wie sich Werner Platz erinnert.
»Ich wartete im ersten Stock, als Herr F. von zwei Sicherheitsbeamten hereingebracht wurde. Soweit ich mich entsinne, trug er Jeans, Pullover und eine Jacke. Er sah aus wie die Hälfte aller Berliner Männer. Wäre ich ihm auf der Straße begegnet, es hätte der nette Nachbar von nebenan sein können.« Dass er genau dies nicht war, stand in der Anklageschrift des Landgerichts.
1988 habe Arno F. vom Berliner Kaufhaus des Westens (KaDeWe) 500.000 D-Mark erpresst. Als das Geld verbraucht war, habe er dann als Dagobert zwischen 1992 und 1994 einen Brand- und fünf Sprengstoffanschläge verübt und 1,4 Millionen D-Mark vom Karstadt-Konzern gefordert. Mehrmals habe er sich erfolglos mit der Polizei zur Geldübergabe verabredet.
»Ich habe ihn von Beginn an als sehr kooperativ erlebt. Allerdings benötigte er für die Beantwortung der standardisierten Fragen länger als normal«, erzählt Werner Platz. »Während des Leistungstests wirkte F. angespannt und schien unter Leistungsstress zu stehen.«
Obwohl er hätte rauchen dürfen, tat er es nicht. Er wolle den Zigarettenkonsum einschränken und auch in seiner Zelle rauche er grundsätzlich nicht. Höchstens einmal beim Freigang auf dem Hof, wenn ihm jemand eine Kippe anbieten würde, erklärt er dem Gutachter und der anwesenden Psychologin.
»Seine Erinnerungen an die Kindheit beschränken sich auf Kinderkrankheiten wie Ziegenpeter und Masern. Und darauf, dass er sich oft vorgestellt hatte, wie es wäre, tot zu sein und nichts mehr zu hören und zu sehen. Vor acht Jahren habe er einen Hörsturz gehabt und fast zur selben Zeit auch Magenbluten bekommen. Als er seine Frau kennengelernt und die Ernährung umgestellt habe, wäre es ihm besser gegangen.« Im Untersuchungsgefängnis bekäme er nur Weißbrot und leide unter Sodbrennen. »Er schilderte, dass er in der Haft einen Gesichtsfeldausfall hatte. Plötzlich sei rechts was weg gewesen. Buchstaben habe er nur noch löchrig wahrgenommen und nicht mehr erkennen können. Das habe ihm Angst gemacht. Ganz schlimm war es, als der halbe Tisch aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war und die Tasse, die auf dem Tisch gestanden hatte, mit einem Mal nicht mehr da war.« Die ärztliche Untersuchung ergab keinen organischen Befund.
Nach einer Pause von 20 Minuten, in denen F. mit seinen beiden Bewachern vor das Haus ging, sich die Füße vertrat und frische Luft atmete, setzte Werner Platz die Exploration fort. »Er schilderte mir, dass er vor 1988 psychisch sehr kaputt gewesen sei und viel Alkohol getrunken habe. Oft eine ganze Flasche am Abend. Sein Leben war damals aus den Fugen geraten. Er habe oft daran gedacht, mit einer Pistole russisches Roulette zu spielen, weil seine Kräfte immer mehr schwanden. Und er habe Angst gehabt, kein Geld mehr zu haben und zum Sozialfall zu werden.«
Das war der Augenblick, in dem Arno F. die Idee entwickelte, das KaDeWe mit einer Bombendrohung zu erpressen. Nachdem er die Sache erfolgreich durchgezogen hatte, stellte er allerdings fest, dass es ihm in keiner Weise besser ging. »Ich war nun um eine halbe Million reicher, aber ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Ich war in einem Zustand, in dem ich keine Gefühle mehr hatte. Mein räumliches Vorstellungsvermögen war so gut wie weg und mein Gedächtnis ließ mich oft im Stich. Ich konnte mir noch nicht einmal mehr die einfachsten Sätze aus der Zeitung merken. Ich wurde depressiv, alle Emotionen waren gekappt.« Es fiel F. sichtlich schwer, über seine Schwierigkeiten zu sprechen.
»An dieser Stelle habe ich ihm noch einmal klargemacht, dass ich als Gutachter nicht über Schuld oder Unschuld zu entscheiden habe. Meine Aufgabe ist die Begutachtung seiner Persönlichkeit und ob er für seine Taten aus medizinischer Sicht verantwortlich sei.«
F. stützte den Kopf in seine Hände und schwieg. Er war erschöpft.
»Das erlebe ich bei vielen meiner Patienten. Sind sie erst einmal so weit, über ihr Leben zu reden, stellen sich Erschöpfung und Erleichterung gleichermaßen ein.«