Der ewige Krieg - Joe Haldeman - E-Book

Der ewige Krieg E-Book

Joe Haldeman

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Endloser Kampf

Krieg. In gigantischen Raumschiffen werden die Soldaten mit Lichtgeschwindigkeit von einem Gefecht zu anderen befördert. Doch während es für sie immer nur einige Monate dauert, vergehen auf der Erde Jahrhunderte. Einer der bedeutendsten Antikriegsromane, die je geschrieben wurden - neu übersetzt nach der vom Autor überarbeiteten und erweiterten Fassung. Mit einem Vorwort von Ben Bova.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 410

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Joe HaldemanDer ewige KriegRoman

http://diezukunft.de/

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Das Buch

Ein militärischer Konflikt in ferner Zukunft: Während die Soldaten in riesigen Raumschiffen mit Lichtgeschwindigkeit von einem Kriegsschauplatz zum anderen befördert werden, vergehen auf ihren Heimatbasen durch das Phänomen der Zeitdilatation Jahrhunderte. Immer, wenn sie auf die Erde zurückkehren, stoßen sie auf eine ihnen fremde Welt, in der die Logik des Krieges längst absurde Züge angenommen hat … Der ewige Krieg wurde zwischen 1972 und 1975 in dem renommierten Magazin Analog teilweise vorabgedruckt. Die Texte erregten großes Aufsehen und ernteten heftigen Protest  – nicht nur weil die amerikanische Öffentlichkeit damals den Vietnamkrieg, der den eigentlichen Hintergrund der Handlung bildet, in all seinen Konsequenzen noch längst nicht verarbeitet hatte, sondern weil der Autor auch sexuelle Freizügigkeit und  – durch die militärische Führung geförderten  – Drogenkonsum unter den Soldaten schildert. Haldeman hat damit die künstlerische Bewältigung des Vietnam-Traumas vorweggenommen. 1975/76 mit dem Hugo Award, dem Nebula Award sowie dem Locus Award ausgezeichnet, gilt Der ewige Krieg heute als einer der großen Klassiker der Antikriegsliteratur, der zu Recht mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues verglichen wurde.

Der Autor

Joe Haldeman, 1943 in Oklahoma City geboren, studierte Physik, Astronomie und Informatik an den Universitäten von Maryland und Iowa. 1967 wurde er zum Militär eingezogen und nach Vietnam geschickt. Die Erlebnisse in diesem Krieg, aus dem er schwer verwundet zurückkehrte, haben ihn zutiefst geprägt und sein Schreiben maßgeblich beeinflusst. Mit zahlreichen preisgekrönten Romanen und Erzählungen hat er sich als einer der bekanntesten Science-Fiction-Autoren unserer Zeit etabliert. Joe Haldeman lebt mit seiner Frau Gay in Florida.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorVorbemerkungErster Teil - Soldat Mandella
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15
Zweiter Teil - Feldwebel Mandella 2307–2324 n. Chr.
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11
Dritter Teil - Leutnant Mandella 2324–2689 n. Chr.
Kapitel 1Kapitel 2
Vierter Teil - Major Mandella 2758–3443 n. Chr.
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8
EpilogCopyright

Vorbemerkung

Dies hier ist die endgültige Fassung von Der Ewige Krieg. Es gibt zwei weitere Fassungen dieses Romans, und ich bin dem Verlag dankbar, dass er mir an dieser Stelle die Möglichkeit zu einer Klarstellung einräumt.

Das vorliegende Buch, das die ursprüngliche Version enthält, hat einen reichlich verworrenen Weg hinter sich.

Ironischerweise war Der Ewige Krieg Anfang der Siebzigerjahre nicht leicht an den Mann zu bringen, obwohl er später in den USA den Hugo und Nebula Award gewann und in mehreren anderen Ländern als bester Roman ausgezeichnet wurde. Achtzehn Verlage lehnten das Werk ab, ehe St. Martin’s Press das Risiko der Veröffentlichung auf sich nahm. »Kein schlechtes Buch«, war die allgemeine Reaktion, »aber wer will schon einen Science-Fiction-Roman über Vietnam lesen?« Ein Vierteljahrhundert danach sehen die meisten jungen Leser nicht einmal die Parallelen zwischen Der Ewige Krieg und jenem scheinbar endlosen Konflikt, in den wir damals verwickelt waren, und das geht durchaus in Ordnung. Der Roman handelt von Vietnam, weil das der Krieg war, an dem der Verfasser teilnahm. Aber er handelt in erster Linie vom Krieg als solchem, von Soldaten und von den Gründen, die Kriege und Soldaten unserer Ansicht nach notwendig machen.

Während der Erstling noch von einem Verleger zum anderen wanderte, erschien er Stück für Stück im Magazin Analog, dessen Herausgeber Ben Bova mir nicht nur als Berater, sondern als eine Art Geburtshelfer hilfreich zur Seite stand. Er räumte dem Roman einen hervorstechenden Platz in seinem Magazin ein, und ich verdankte es nicht zuletzt seiner Unterstützung, dass St. Martin’s Press das Wagnis einer Hardcover-Veröffentlichung einging, obwohl der Verlag zur damaligen Zeit noch keine Science Fiction für Erwachsene im Programm hatte.

Allerdings lehnte Ben den mittleren Teil ab, eine Novelle mit dem Titel You Can Never Go Back (Es gibt kein Zurück), nicht weil er sie schlecht fand, sondern weil sie seiner Ansicht nach zu pessimistisch für die Leserschaft des Analog-Magazins war. Also schrieb ich ihm eine positivere Story und versenkte You Can Never Go Back in der Schublade; später brachte Ted White sie im Amazing-Magazin als Schlussteil von Der Ewige Krieg.

Heute weiß ich nicht mehr, weshalb ich den ursprünglichen Mittelteil nicht wieder einsetzte, als das Buch seinen Verleger fand. Vielleicht misstraute ich meinem eigenen Geschmack oder ich wollte die Dinge nicht unnötig komplizieren. Jedenfalls entspricht die erste Buchfassung im Wesentlichen der Analog-Fassung, nur »in Sprache und Situationen mehr an Erwachsene angepasst«, wie es in Hollywood hieß.

Die Taschenbuch-Ausgabe dieser Version wurde etwa sechzehn Jahre lang gedruckt. (Auf dem weißen Umschlag ist ein Raumfahrer mit Schwert abgebildet, umgeben von symbolischen Uhren.)

Schließlich erwarb Avon Books 1991 die Rechte an dem Roman. Der Verlag erklärte sich damit einverstanden, meine ursprüngliche Fassung zu drucken. Leider fiel dabei jedoch ein Teil der Änderungen unter den Tisch, was wiederum der Handlungslogik schadete. (Der Umschlag dieses Bandes zeigt einen futuristischen Soldaten, der irgendwie an Robin Williams mit einer komischen Kopfbedeckung erinnert.)

Bei der jetzigen Fassung sind die ursprünglichen Zusammenhänge wiederhergestellt. Und der Umschlag wirkt weniger komisch. Was lange währt …

Joe Haldeman

Erster Teil

Soldat Mandella

1

»Heute Abend zeigen wir Ihnen acht Methoden des lautlosen Tötens.« Der Typ, der das sagte, war ein Unteroffizier, der aussah, als sei er keine fünf Jahre älter als ich. Mit anderen Worten, wenn er jemals einen Gegner im Kampf getötet hatte, lautlos oder nicht, dann musste er das als Kleinkind getan haben.

Ich kannte bereits achtzig Methoden des Tötens, aber die meisten davon waren ziemlich geräuschvoll. Also setzte ich mich aufrecht hin, gab mir den Anschein höflicher Aufmerksamkeit und schlief mit offenen Augen. Die meisten anderen taten das Gleiche. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass für den Unterricht nach dem Abendessen selten etwas Wichtiges eingeplant war.

Der Projektor weckte mich, und ich ließ einen kurzen Streifen über mich ergehen, der die »acht lautlosen Methoden« zeigte. Einige Schauspieler mussten Hirntote gewesen sein, denn sie wurden tatsächlich umgebracht.

Nach der Filmvorführung hob ein Mädchen die Hand. Der Unteroffizier nickte ihr zu, und sie stand auf, ohne Haltung anzunehmen. Ganz passabel, wenn auch etwas wuchtig um Nacken und Schultern. Jeder wird so, wenn er ein paar Monate lang das schwere Marschgepäck herumgeschleppt hat.

»Sir …«  – wir mussten alle Unteroffiziere mit »Sir« anreden, solange wir in der Ausbildung waren  –, »die meisten dieser Methoden sahen doch irgendwie … schwachsinnig aus.«

»Könnten Sie das näher erläutern?«

»Zum Beispiel, wenn Sie jemanden durch einen Nierenhieb mit dem Feldspaten töten sollen. Ich meine, wann kommt man echt in die Lage, dass man keine Knarre und kein Messer, aber einen Feldspaten zur Hand hat? Und warum schlägt man dann dem Gegner das Ding nicht einfach über den Schädel?«

»Er könnte einen Helm aufhaben.« Eine logische Antwort.

»Außerdem wissen wir überhaupt nicht, ob Taurier Nieren besitzen!«

Er zuckte die Achseln. »Das nicht.« Wir schrieben das Jahr 2297, und bis jetzt hatte kein Mensch je einen Taurier  – oder auch nur ein Fitzelchen von einem Taurier, das größer als ein versengtes Chromosom gewesen wäre  – zu Gesicht bekommen.»Aber ihr biochemischer Aufbau ist dem des Menschen ähnlich, und wir müssen davon ausgehen, dass sie ähnlich komplexe Geschöpfe wie wir sind. Sie haben garantiert irgendwelche Schwachstellen. Es liegt an Ihnen, diese Stellen zu finden. Darauf kommt es an.« Sein Zeigefinger stach in Richtung Bildschirm. »Diese acht Sträflinge wurden Ihretwegen eingeschläfert! Sie sollen lernen, wie man einem Taurier zu Leibe rückt, egal, ob Sie nun einen Megawatt-Laser oder eine Nagelfeile zur Hand haben.«

Das Mädchen setzte sich wieder; es sah nicht sonderlich überzeugt aus.

»Noch irgendwelche Fragen?«

Niemand meldete sich.

»Na schön. Haaabt acht!«

Wir taumelten auf die Beine, und er blickte uns erwartungsvoll an.

»Sie uns auch, Sir«, erklang es müde im Chor.

»Lauter!«

»Sie uns auch, Sir!« Eine der weniger geistreichen Methoden zur Hebung der Truppenmoral.

»Das klingt schon besser. Und denkt daran, morgen haben wir Frühmanöver. Essen fassen drei Uhr dreißig, Abmarsch vier Uhr. Wer nach drei Uhr vierzig noch im Bett angetroffen wird, kommt zur Meldung. Wegtreten.«

Ich zog den Reißverschluss meines Coveralls zu und stapfte durch den Schnee zur Mannschaftsmesse, um mir eine Tasse Soja und einen Joint zu besorgen. Ich war immer mit fünf bis sechs Stunden Schlaf ausgekommen, und abends war für mich die einzige Gelegenheit, eine Weile allein zu sein. Ein paar Minuten sah ich mir die Kurznachrichten an. Draußen im Sektor Aldebaran war wieder ein Schiff hopsgegangen. Das lag jetzt vier Jahre zurück. Wir stellten gerade eine Vergeltungsflotte zusammen, aber bis die dort draußen ankam, würden weitere vier Jahre vergehen. Bis dahin hatten die Taurier aller Voraussicht nach jeden unserer Stützpunkt-Planeten eingesackt.

Als ich ins Quartier zurückkehrte, lag alles in den Betten, und die Hauptbeleuchtung war ausgeschaltet. Unsere Kompanie hatte sich immer noch nicht richtig von dem zweiwöchigen Training auf dem Mond erholt. Ich hängte meine Sachen in den Spind, sah auf dem Dienstplan nach und fand, dass ich Koje 31 hatte. Verdammt, genau unter der Heizung.

Ich schlüpfte so leise wie möglich durch den Vorhang und an der Nachbarkoje vorbei. Ich konnte nicht sehen, wer neben mir schlief, aber es war mir auch ziemlich egal. Müde zog ich die Decke bis ans Kinn.

»Du kommst spät, Mandella«, murmelte Rogers und gähnte.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, flüsterte ich.

»Schon gut.« Sie kroch zu mir unter die Decke und schmiegte sich an meinen Rücken. Ihr Körper war warm und einigermaßen weich.

Ich tätschelte ihr kameradschaftlich die Hüfte. »Nacht, Rogers.«

Sie erwiderte die Geste etwas deutlicher. »Gute Nacht, Hengst.«

Warum kriegt man immer die Müden, wenn man gut drauf ist, und die Scharfen, wenn man müde ist? Ich beugte mich dem Unvermeidlichen.

2

»Aalsogut, nun legt euch mal ins Zeug, Herrschaften! Wo bleiben die Träger? Beeilung, ihr Lahmärsche!«

Gegen Mitternacht war eine Warmfront gekommen, und der Schneefall hatte sich in Graupelregen verwandelt. Der Permaplast-Träger wog zweihundertfünfundzwanzig Kilo und war ein sperriges Aas, selbst wenn ihn keine Eisschicht überzog. Wir waren zu viert, zwei an jedem Ende, und umklammerten das Ding mit halb erfrorenen Fingern. Rogers war meine Partnerin.

»Vorsicht!«, schrie einer hinter mir, was nur bedeuten konnte, dass ihm der Träger aus den Händen rutschte. Das gute Teil war zwar nicht aus Stahl, aber schwer genug, um einem den Fuß zu brechen. Alle ließen los und sprangen zur Seite. Gleich darauf hüllte uns eine Fontäne aus Schneematsch und Schlamm ein.

»Herrgott noch mal, Petrow!«, fluchte Rogers los. »Warum hast du dich nicht zum Roten Kreuz gemeldet? So schwer ist dieses Scheißding nun auch wieder nicht!« Die meisten Mädchen drückten sich nicht ganz so salopp aus. Aber Rogers hatte nun mal eine betont männliche Art.

»Aalsogut, nun macht schon mit dem blöden Träger! Wo ist das Kleber-Team? Dranbleiben, Leute, dranbleiben!«

Die Kleber-Crew rückte uns mit ihren Kunstharz-Eimern auf die Pelle. »Auf geht’s, Mandella! Ich friere mir hier die Eier ab.«

»Ich auch«, sagte seine Partnerin mit mehr Gefühl als Logik.

»Eins  – zwei  – und hopp!« Wir hievten den Träger wieder auf die Schultern und wankten auf die Brücke zu. Wir hatten ungefähr drei Viertel von dem Bau geschafft. Sah ganz so aus, als sollte uns der zweite Zug zuvorkommen. Im Normalfall wäre mir das scheißegal gewesen, aber der Trupp, der seine Brücke zuerst fertig hatte, durfte mit den Lastwagen zurückfahren. Die anderen mussten sechs Kilometer durch den Matsch marschieren und konnten sich vor dem Essen nicht mehr ausruhen.

Wir brachten den Träger an die vorgesehene Stelle, setzten ihn ab und befestigten ihn mit Klammern an den Querverstrebungen. Die weibliche Hälfte des Kleber-Teams begann Kunstharz auf die Enden zu klatschen, noch ehe wir mit unserer Arbeit fertig waren. Ihr Partner erwartete auf der anderen Seite den zweiten Längsträger. Die Bodenverleger standen unterdessen am Fuß der Brücke, jeder eine leichte, vorgespannte Permaplast-Platte wie einen Schirm über dem Kopf. Sie waren trocken und sauber. Ich dachte laut darüber nach, womit sie das verdient hätten, und Rogers wartete mit ein paar drastischen, aber eher unwahrscheinlichen Vermutungen auf.

Wir gingen zurück und wollten gerade neben dem nächsten Träger Aufstellung nehmen, als der diensthabende Unteroffizier (der Mann hieß Dougelstein, aber wir nannten ihn»Aalsogut«) auf seiner Trillerpfeife blies und brüllte: »Aalsogut, Leute, zehn Minuten Pause. Ihr könnt meinetwegen eine rauchen.« Er griff in die Tasche und schaltete per Fernsteuerung die Heizung unserer Coveralls ein.

Rogers und ich nahmen auf unserem Trägerende Platz, und ich kramte meine Schachtel mit Gras hervor. Ich hatte zwar jede Menge Joints, aber die waren vor dem Abendessen verboten. Der einzige normale Tabak, den ich noch besaß, war ein etwa sieben Zentimeter langer Zigarrenstummel. Ich zündete ihn an, und nach den ersten paar Zügen fand ich ihn gar nicht mehr so schlecht. Rogers probierte kurz, schnitt eine Grimasse und verzichtete.

»Warst du noch in der Ausbildung, als sie dich zum Militär holten?«, fragte sie.

»Ja. Ich hatte eben die erste Physikprüfung hinter mir. Wollte Lehrer werden.«

Sie nickte kurz. »Ich habe Biologie studiert …«

»Das erklärt manches.« Ich wich einer Handvoll Schneematsch aus. »Wie weit?«

»Sechs Jahre. Vor- und Hauptdiplom.« Sie fuhr mit dem Stiefel im Dreck hin und her, bis ein kleiner Wall aus Schlamm und Schneematsch entstand, der die Konsistenz von halb zerlaufenem Milcheis hatte. »Warum, zum Teufel, musste das passieren?«

Ich zuckte die Achseln. Die Frage erforderte keine Antwort, und schon gar nicht die Antwort, welche die UNAS für uns bereithielt: Die geistige und körperliche Elite der Erde hat die Pflicht, die Menschheit vor der taurischen Bedrohung zu schützen. Sojaschleimscheiße. Es war alles nur ein großes Experiment. Mal sehen, ob es uns gelang, die Taurier in einen Landkrieg zu verwickeln.

Wie gewohnt setzte Aalsogut die Trillerpfeife zwei Minuten zu früh an die Lippen, aber Rogers und ich sowie die beiden anderen Träger mussten noch eine Weile warten, während die Kleber und Bodenverleger ihre Arbeit taten. Es wurde rasch kalt, wenn man mit abgeschalteter Heizung herumsaß, aber wir rührten uns aus Prinzip nicht von der Stelle.

Es hatte wirklich keinen Sinn, uns in der Kälte zu trainieren. Typische Halblogik der Armee. Sicher, an unserem Einsatzort würde es kalt sein, aber weder eiskalt noch schneekalt. Die Planeten eines Schwarzen Lochs oder Kollapsars, die als Stützpunkte infrage kamen, hatten  – da ein Kollapsar kein wärmendes Licht verbreitet  – in der Regel eine Oberflächentemperatur, die nur knapp über dem absoluten Nullpunkt lag, und das erste Frösteln, das man dort verspürte, hieß, dass man ein toter Mann war.

Vor zwölf Jahren, als ich gerade mal zehn war, hatte man das Phänomen des Kollapsar-Sprungs entdeckt. Wenn sich ein Gegenstand mit hinlänglicher Geschwindigkeit einem Schwarzen Loch näherte, so kam er in einem anderen Teil der Galaxis wieder zum Vorschein. Es dauerte nicht lang, bis die Formel entwickelt war, mit der sich vorherberechnen ließ, wo genau das geschehen würde: Er bewegt sich entlang der gleichen»Linie« (eigentlich eine Einsteinsche Geodätische), die er beschrieben hätte, wenn der Kollapsar nicht im Weg gewesen wäre  – bis er das Schwerefeld eines weiteren Kollapsars erreicht, worauf er wieder auftaucht, abgestoßen mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der er sich dem ersten Kollapsar genähert hatte. Reisedauer zwischen den zwei Kollapsaren … exakt null.

Es gab viel Arbeit für die theoretischen Physiker, die den Begriff der Gleichzeitigkeit neu definieren und die allgemeine Relativitätstheorie auseinandernehmen mussten, um sie dann wieder zusammenzubauen. Die Politiker aber waren selig, denn nun konnten sie für weniger Geld, als es bisher gekostet hatte, ein paar Leute zum Mond zu befördern, eine ganze Schiffsladung Kolonisten nach Fomalhaut schicken. Und es gab viele Menschen, welche die Politiker liebend gern auf Fomalhaut gesehen hätten, wo sie glorreiche Abenteuer bestehen konnten, anstatt zu Hause Unruhe zu stiften.

Die Schiffe wurden immer von automatischen Sonden begleitet, die ihnen im Abstand von einigen Millionen Kilometern folgten. Wir wussten von diesen Planeten, die wie Treibgut-Trümmer im Strudel der Kollapsare kreisten. Der Zweck der Sonden war es, zurückzukehren und Meldung zu machen, falls eines der Schiffe mit 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit gegen den Stützpunkt-Planeten eines Kollapsars krachen und dabei zerschellen sollte.

Zu einer solchen Katastrophe kam es nie, doch eines Tages kehrte eine angeschlagene Begleitsonde tatsächlich alleine zurück. Ihre Daten wurden analysiert, und es stellte sich heraus, dass das Schiff der Kolonisten von einem anderen Raumfahrzeug verfolgt und schließlich zerstört worden war. Dies geschah in der Nähe von Aldebaran im Sternbild Taurus, des Stiers, aber da »Aldebaranier« ein ziemliches Stolperwort ist, nannte man den Feind der Einfachheit halber »Taurier«.

Kolonistenschiffe erhielten hinfort bewaffneten Begleitschutz. Außerdem führte man bewaffnete Erkundungsflüge durch, deren Häufigkeit im Laufe der Zeit zunahm, und daraus entwickelte sich schließlich eine militärische Organisation mit der offiziellen Bezeichnung UNAS für »UN-Aufklärungs-Streitmacht«  – wobei die Betonung auf Streitmacht lag.

Dann kam irgendein heller Kopf in der Vollversammlung auf die Idee, dass wir eine ständige Infanterie-Schutztruppe für die Stützpunkt-Planeten der näheren Kollapsare einrichten sollten. Dieser Vorschlag führte zur Neufassung des Wehrpflichtgesetzes von 2296 und der Entstehung des elitärsten Pflichtheers in der Geschichte der Kriegführung.

Und da waren wir nun, hundert Männer und Frauen mit Intelligenzquotienten über 130 und ausnehmend gesunden und kräftigen Körpern, die elitär durch den Dreck und Schneematsch im Herzen von Missouri schlurften und darüber nachdachten, was uns unsere Kenntnisse im Brückenbau auf Welten nutzten, die bestenfalls über ein paar stehende Pfützen flüssigen Heliums verfügten.

3

Ungefähr einen Monat später verließen wir die Erde, um als Krönung unserer Ausbildung ein paar Manöver auf dem Planeten Charon durchzuführen. Obgleich er sich seinem Perihel näherte, war er von der Sonne noch immer doppelt so weit entfernt wie Pluto selbst.

Der Transporter war ein umgebauter »Viehwaggon«, wie sie zur Beförderung von zweihundert Kolonisten samt einem Sortiment von Tieren und Pflanzen verwendet wurden. Das hieß noch lange nicht, dass wir es bequem hatten, weil wir nur halb so viele waren. Der größte Teil des Platzes wurde für zusätzliche Reaktionsmasse und Geschütze benötigt.

Die ganze Reise dauerte drei Wochen. Während der ersten Hälfte dieser Zeit beschleunigte das Schiff mit zwei Ge, während der zweiten verlangsamte es. Als wir am Pluto-Orbit vorbeidüsten, hatten wir mit etwa einem Zwanzigstel der Lichtgeschwindigkeit unser Spitzentempo erreicht  – etwas zu wenig, als dass die Relativität ihre Kapriolen schlagen konnte.

Drei Wochen lang das Doppelte des normalen Gewichts mit sich herumzuschleppen  – das ist kein Honiglecken. Dreimal täglich machten wir vorsichtige Leibesübungen nach Programm, den Rest der Zeit verbrachten wir vorwiegend in der Horizontalen. Dennoch gab es mehrere Knochenbrüche und schmerzhafte Verrenkungen. Die Männer mussten Suspensorien tragen, damit diverse Teile nicht am Boden schleiften. An Schlaf war kaum zu denken. Alle litten unter Albträumen, in denen sie zu ersticken glaubten oder plattgewalzt wurden. Und man musste sich in regelmäßigen Abständen umdrehen, um Wundliegen und Blutansammlungen zu verhindern. Ein Mädchen war schließlich so erschöpft, dass sie es verschlief und nicht mitbekam, wie sich eine Rippe durch die Haut bohrte.

Ich war zuvor schon mehrmals im Raum gewesen, und so empfand ich pure Erleichterung, als der Bremsvorgang endlich stoppte und wir in den freien Fall übergingen. Aber manche der Leute befanden sich zum ersten Mal draußen  – wenn man das Mondtraining nicht mitzählte  – und litten unter Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Wir anderen schwebten mit Schwämmen und Flüssigkeitssaugern durch die Quartiere, um die teilverdauten Brocken »Konzentrat, proteinreich, Rindfleischgeschmack auf Sojabasis« einzufangen.

Wir hatten einen guten Blick auf Charon, als wir den Orbit verließen und tiefer gingen, doch gab es nicht allzu viel zu sehen, nur eine düstere, trübweiße Scheibe mit ein paar dunklen Streifen und Flecken. Wir landeten etwa zweihundert Meter neben der Basis. Ein Raupenfahrzeug mit Druckkabine kam auf die Fähre zugekrochen und koppelte an die Schleuse, sodass wir keine Schutzanzüge brauchten. Scheppernd und quietschend rollte es zum Hauptgebäude, einem fantasielosen Kasten aus grauem Kunststoff.

Die Wände im Innern hatten die gleiche triste Farbe. Der Rest der Kompanie lungerte an Schreibtischen herum und unterhielt sich. Ich sah, dass neben Freeland ein Platz frei war.

»Na, Jeff  – geht’s wieder?« Er wirkte immer noch ein wenig käsig.

»Wäre den Göttern dran gelegen gewesen, dass der Mensch den freien Fall überlebt, dann hätten sie ihm einen Schlund aus Gusseisen verpasst.« Er seufzte schwer. »Das Schlimmste ist vorbei. Aber ich sehne mich nach einer Zigarette.«

»Kann ich verstehen.«

»Dir scheint es wenig ausgemacht zu haben. Warst wohl schon mal draußen, wie?«

»Ja. Für meine Examensarbeit über das Vakuumschweißen. Drei Wochen in der Erdumlaufbahn.« Ich lehnte mich zurück und griff zum tausendsten Mal nach meiner Schachtel mit den Joints. Sie war immer noch nicht da. Das Lebenserhaltungssystem sollte nicht mit Nikotin, Haschisch und dergleichen belastet werden.

»Die Ausbildung war schlimm genug«, nörgelte Jeff, »aber der Scheiß hier …«

»Haaabt acht!« Wir standen ziemlich lahm auf, in Zweier- oder Dreiergruppen. Die Tür ging auf, und ein echter Major kam herein. Meine Haltung straffte sich unwillkürlich. Er war der höchste Offizier, den ich bisher zu Gesicht bekommen hatte. In seinen Coverall waren eine Reihe von Ordensbändern eingestickt, darunter ein purpurrotes Verwundeten-Abzeichen. Das hieß, dass er noch in der alten amerikanischen Armee gekämpft hatte, wahrscheinlich in einem dieser Kriege, die schon vor meiner Geburt schiefgelaufen waren. So alt sah er eigentlich nicht aus.

»Rühren, rühren.« Er gab uns mit einer lässigen Geste zu verstehen, dass wir uns setzen sollten. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und musterte die Kompanie mit einem schwachen Lächeln. »Willkommen auf Charon. Ihr habt euch einen schönen Tag zur Landung ausgesucht. Die Außentemperatur liegt bei sommerlichen 8,15 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Für die nächsten zweihundert Jahre oder so erwarten wir wenig Veränderung.« Einige von uns lachten halbherzig.

»Genießt das tropische Klima auf dem Stützpunkt Miami, solange ihr Gelegenheit dazu habt. Wir befinden uns hier im Zentrum der Sonnenseite, und der größte Teil eures Trainings wird auf der Nachtseite stattfinden. Dort beträgt die Temperatur schattige 2,08 Grad.

Gewöhnt euch am besten gleich an den Gedanken, dass euer gesamtes Training auf der Erde und auf Luna eine Art Elementarstufe war, die den einzigen Zweck hatte, euch auf Charon eine faire Überlebenschance zu geben. Ihr werdet hier euer gesamtes Repertoire brauchen  – Werkzeuge, Waffen, Manöver. Und ihr werdet die Entdeckung machen, dass Werkzeuge bei diesen Temperaturen nicht so funktionieren, wie sie es sollten. Das Gleiche gilt für die Waffen. Und dass sich die Leute hier s-e-h-r vorsichtig bewegen.«

Er warf einen Blick auf die Notizen, die an seiner Schreibunterlage festgeklemmt waren. »Eure Kompanie besteht gegenwärtig aus neunundvierzig Frauen und achtundvierzig Männern. Zwei Tote auf der Erde, eine Entlassung wegen psychischer Probleme, zwölf Ausfälle durch Krankheit. Nach einem Blick auf euer Ausbildungsprogramm bin ich ehrlich gestanden überrascht, dass es so viele von euch geschafft haben.

Aber ihr solltet wissen, dass ich durchaus zufrieden bin, wenn nicht mehr als die Hälfte von euch, also etwa fünfzig, diese letzte Phase der Ausbildung erfolgreich beenden. Leider ist die einzige Alternative zu einem erfolgreichen Abschluss der Tod. Hier. Von Charon kehrt niemand  – und das gilt auch für mich  – zur Erde zurück, es sei denn nach erfülltem Kampfauftrag.

Ihr werdet euer Training in einem Monat abschließen. Danach verlegen wir euch zum Sterntor-Kollapsar, ein halbes Lichtjahr von hier entfernt. Ihr bleibt in der Siedlung von Sterntor 1, dem größten Durchgangsplaneten des Systems, bis Ersatz eintrifft. Das wird nicht länger als einen Monat dauern. Sobald ihr aufbrecht, soll die nächste Gruppe hier eintreffen.

Von Sterntor aus begebt ihr euch zu einem strategisch wichtigen Kollapsar, errichtet dort einen Militärstützpunkt und verteidigt ihn, falls der Feind angreifen sollte. Falls nicht, haltet ihr die Basis, bis weitere Befehle eintreffen.

In den letzten beiden Wochen eurer Ausbildung hier werdet ihr lernen, genau so einen Stützpunkt anzulegen. Auf der Nachtseite. Ihr werdet dort völlig isoliert sein: keine Kommunikation mit Miami, keine Evakuierung von Kranken, kein Nachschub. Irgendwann im Lauf dieser zwei Wochen werden wir die Verteidigungsfähigkeit des neuen Stützpunkts durch einen Drohnen-Angriff testen. Die Dinger werden wie im Ernstfall bestückt sein.«

Die hatten doch nicht all das Geld in unsere Ausbildung gesteckt, um uns schon im Manöver umzubringen?

»Das gesamte Stammpersonal hier auf Charon besteht aus Leuten mit Kampferfahrung. Alle so zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Aber ich denke, wir können es mit euch aufnehmen. Zwei von uns werden ständig bei euch bleiben und euch zumindest bis Sterntor begleiten. Hauptmann Sherman Stott, euer Kompaniechef, und Feldwebel Octavio Cortez. Meine Herren?«

Zwei Männer in der ersten Reihe waren lässig aufgestanden und wandten sich zu uns um. Hauptmann Stott war etwas kleiner als der Major, aber aus dem gleichen Holz geschnitzt: das Gesicht hart und glatt wie Porzellan, die Andeutung eines zynischen Lächelns um die Mundwinkel, ein exakt auf einen Zentimeter Breite gestutzter Bart, der das massige Kinn umrahmte, der äußeren Erscheinung nach höchstens dreißig. Eine schwere, altmodische Pistole baumelte an seiner Hüfte.

Feldwebel Cortez dagegen sah aus, als sei er einem Horrorfilm entsprungen. Sein Kopf war kahl rasiert und irgendwie deformiert. Offenbar hatte man ein größeres Stück der Schädeldecke entfernt, sodass eine Seite abgeflacht wirkte. Sein Gesicht war sehr dunkel und von Runzeln und Narben durchzogen. Vom linken Ohr fehlte die Hälfte, und seine Augen waren so seelenvoll wie Knöpfe an einer Maschine. Er trug eine Kombination aus Schnurr- und Kinnbart, die so aussah, als habe sich eine dünne weiße Raupe um seinen Mund gewickelt. Bei einem anderen hätte sein jungenhaftes Lächeln vielleicht nett gewirkt, aber er war hässlicher und guckte fieser drein als jedes Lebewesen, das mir je untergekommen war. Wenn man allerdings den Schädel abzog und nur die unteren Einsachtzig oder so betrachtete, musste man unwillkürlich an die »Nachher«-Werbung eines Bodybuilder-Centers denken. Weder Stott noch Cortez trugen irgendwelches Lametta. Cortez hatte eine kleine Laserpistole in einem Magnethalfter unter der linken Achsel befestigt. Die Waffe hatte einen Holzgriff, der vom häufigen Gebrauch dunkel glänzte.

»Bevor ich euch nun in die rauen Hände dieser beiden Herren entlasse, möchte ich euch noch einmal eindringlich warnen:

Vor zwei Monaten gab es auf diesem Planeten keine Menschenseele  – nichts außer dem Ausrüstungsschrott, den die Expedition von 2291 zurückgelassen hatte. Ein Arbeitstrupp von fünfundvierzig Mann quälte sich einen Monat lang ab, diesen Stützpunkt zu errichten. Mehr als die Hälfte der Leute  – vierundzwanzig, um genau zu sein  – kamen dabei ums Leben. Das hier ist die gefährlichste Welt, auf der Menschen sich je niederließen, aber die Orte, die ihr im Laufe eures Einsatzes kennenlernen werdet, sind eher noch schlimmer. Eure Führungsoffiziere werden sich alle Mühe geben, um euch heil durch den nächsten Monat zu bringen. Gehorcht ihnen … und nehmt sie euch zum Vorbild! Sie alle haben hier viel länger durchgehalten, als man es von euch verlangt. Hauptmann?« Stott erhob sich, als der Major zur Tür ging.

»Haaabt acht!« Das zweite Wort war wie eine Explosion, die uns in die Höhe riss.

»Ich werde alles nur einmal sagen, also hören Sie genau zu«, knurrte er. »Wir befinden uns hier im Kriegszustand, und im Kriegszustand gibt es nur eine Strafe für Befehlsverweigerung.« Er zog die Pistole und hielt sie wie eine Keule am Lauf.»Das hier ist eine Automatik, Armee-Modell 1911, Kaliber elf Millimeter  – eine primitive, aber äußerst wirksame Waffe. Der Feldwebel und ich sind befugt, die Disziplin notfalls mit Waffengewalt zu erzwingen. Fordern Sie uns nicht heraus, denn wir werden es tun. Wir werden es tun, verlassen Sie sich drauf!« Er schob die Pistole ins Halfter zurück. Der Druckknopfverschluss knackte laut in der Totenstille.

»Feldwebel Cortez und ich haben mehr Menschen getötet, als in diesem Raum versammelt sind. Wir kämpften beide im asiatischen Krieg und traten beide vor mehr als zehn Jahren in die Internationale Schutztruppe der Vereinten Nationen ein. Ich ließ mich vom Major zum Hauptmann zurückstufen, um das Kommando über diese Kompanie zu erhalten, und Feldwebel Cortez gab seinen Rang als Stabsfeldwebel auf, weil wir beide Frontsoldaten sind und weil dies der erste Krieg seit 2287 ist.

Prägen Sie sich gut ein, was ich gesagt habe, während Feldwebel Cortez Sie genauer instruiert, was Sie unter seinem Kommando erwartet. Bitte, Feldwebel, übernehmen Sie!« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Raum. Während der langen Ansprache hatte er kein einziges Mal die Miene verzogen.

Der Feldwebel bewegte sich wie eine schwere Maschine, die auf jeder Menge von Kugellagern läuft. Als die Tür sich mit einem Zischen schloss, drehte er sich schwerfällig zu uns um und sagte mit überraschend sanfter Stimme: »Rühren! Nehmen Sie Platz!« Er selbst setzte sich auf einen der vorderen Tische. Die Platte knarrte, hielt ihn aber aus.

»Also, der Hauptmann redet zum Fürchten, und ich sehe zum Fürchten aus, aber wir meinen es beide gut. Sie werden ziemlich eng mit mir zusammenarbeiten, und je schneller Sie sich an das Ding gewöhnen, das über meinem Gehirn sitzt, desto besser. Den Hauptmann werden Sie vermutlich nicht so oft zu sehen bekommen, außer bei Manövern.«

Er berührte den abgeflachten Teil seines Schädels. »Apropos Gehirn  – es ist noch ziemlich vollständig, trotz gegenteiliger Anstrengungen der Chinesen. Die Veteranen, die zur UNAS gingen, mussten die gleichen Kriterien erfüllen, die Ihrer Einberufung zur Elitetruppe zugrunde lagen. Ich gehe davon aus, dass Sie alle klug und enorm tüchtig sind  – aber vergessen Sie nicht, dass der Hauptmann und ich klug, enorm tüchtig und erfahren sind.«

Er blätterte im Dienstplan, ohne ihn richtig anzusehen.»Nun, wie der Hauptmann bereits sagte, gibt es während der Manöver nur eine Disziplinarstrafe. Tod durch Erschießen. Aber im Normalfall müssen wir keinen Finger krumm machen; Charon erspart uns diese Mühe.

In Ihren Quartieren können Sie dagegen tun und lassen, was Sie wollen. Ob Sie tagsüber Hintern betatschen oder die ganze Nacht durchficken, ist uns egal  – aber sobald Sie in die Anzüge steigen und sich ins Freie begeben, erwarten wir von Ihnen eine Disziplin, die jedem römischen Zenturio zur Ehre gereichen würde. Es kann draußen Situationen geben, in denen eine einzige unbedachte Handlung der Tod für uns alle wäre.

Wie auch immer, als Erstes werden wir Ihnen Ihre Kampfanzüge verpassen. Der Waffenmeister erwartet Sie im Mannschaftsquartier; er nimmt Sie der Reihe nach dran. Folgen Sie mir!«

4

»Ich weiß, dass man Ihnen daheim auf der Erde Vorträge darüber gehalten hat, was so ein Kampfanzug alles kann.« Der Waffenmeister war ein kleiner Mann mit einer Stirnglatze, auf dessen Coverall keine Rangabzeichen auszumachen waren. Feldwebel Cortez hatte uns den Tipp gegeben, ihn mit »Sir« anzureden, da er Leutnant sei.

»Aber ich möchte den einen oder anderen Punkt vertiefen und vielleicht ein paar Details hinzufügen, die Ihre Ausbilder nicht wissen konnten oder nicht klar genug rüberbrachten. Ihr Feldwebel war so freundlich, sich zu einer Demonstration zur Verfügung zu stellen. Feldwebel?«

Cortez schlüpfte aus seinem Coverall und erklomm das niedrige Podest, auf dem ein Kampfanzug bereitstand, auseinandergeklappt wie eine Muschel in Menschengestalt. Er nahm vor dem Ding Aufstellung, trat einen Schritt nach hinten und schob die Arme in die steifen Ärmel. Ein Klicken, und der Anzug schloss sich mit einem seufzenden Geräusch. Er war von einem kräftigen Grün und trug in weißer Schablonenschrift den Namen Cortez auf dem Helm.

»Wir beginnen mit der Tarnung, Feldwebel.« Das Grün verblasste zu Weiß, und das Weiß verwandelte sich in ein schmutziges Grau. »Das hier ist eine gute Tarnfarbe für Charon und die meisten Ihrer Durchgangsplaneten.« Die Stimme von Cortez schien aus einem tiefen Brunnen zu kommen.»Aber es gibt noch andere Kombinationen.« Das Grau wich einem Fleckenmuster in Grün und Braun. »Dschungel.« Ein gleißender Ocker. »Wüste.« Braun, Dunkelbraun und schließlich ein tiefes, mattes Schwarz. »Nacht oder Weltraum.«

»Ausgezeichnet, Feldwebel. Meines Wissens nach ist das die einzige Neuerung, die nach Ihrer Ausbildung eingeführt wurde. Die Steuerung befindet sich am linken Handgelenk, und ich gebe zu, dass sie nicht ganz leicht zu bedienen ist. Aber sobald Sie die richtige Kombination gefunden haben, lässt sie sich leicht arretieren.

Ich weiß, dass Sie auf der Erde nicht viel Gelegenheit hatten, im Kampfanzug zu trainieren. Damit wollten wir vermeiden, dass Sie sich daran gewöhnen, das Ding in einer ungefährlichen Umgebung zu tragen. Der Kampfanzug ist die tödlichste Waffe, die je ersonnen wurde  – aber sie verzeiht dem Benutzer nicht die geringste Unachtsamkeit. Drehen Sie sich um, Feldwebel!«

Er zeigte auf einen großen, eckigen Höcker zwischen den Schulterblättern. »Entlüftungsschlitze. Wie Sie wissen, bietet Ihnen der Anzug eine angenehme Innentemperatur, egal, wie das Wetter draußen ist. Das Material des Anzugs isoliert nahezu vollkommen, wie perfekt, soweit sich das mit den mechanischen Erfordernissen in Einklang bringen lässt. Deshalb werden diese Schlitze heiß  – sehr heiß sogar, verglichen mit der Außentemperatur auf der Nachtseite  –, wenn sie überschüssige Körperwärme abgeben.

Sie brauchen sich nur gegen einen Brocken aus gefrorenem Gas zu lehnen; davon liegen hier jede Menge rum. Das Gas wird im Umkreis der Wärmequelle seinen Aggregatzustand ändern  – und zwar in Sekundenbruchteilen. Das wirkt sich in der Praxis so aus, als explodierte in Ihrem Nacken eine Sprengladung von der Stärke einer Handgranate. Sie werden tot sein, ehe Sie etwas spüren.

Bei solchen und ähnlichen Unfällen sind in den letzten zwei Monaten elf Menschen umgekommen. Und sie wollten nur ein paar Hütten bauen.

Ich nehme an, Sie wissen, wie leicht die Waldos, die Kraftverstärker des Anzugs Sie oder Ihre Kameraden töten können. Möchte jemand dem Feldwebel die Hand schütteln?« Er wartete einen Moment, dann trat er auf Cortez zu und umfasste seinen Handschuh. »Er hat jede Menge Übung. Solange Sie diese Übung nicht haben, seien Sie äußerst vorsichtig! Es ist schon vorgekommen, dass sich jemand am Rücken kratzen wollte und dabei die Wirbelsäule zu Bruch ging. Denken Sie immer daran, dass Sie es mit einer Exponentialfunktion zu tun haben: Ein Druck von zwei Pfund entspricht einer Kraft von fünf Pfund. Bei drei Pfund steigt die Kraft auf zehn, bei vier Pfund auf dreiundzwanzig, und bei fünf Pfund bereits auf siebenundvierzig Pfund. Die meisten von Ihnen können beim Händeschütteln einen Druck von mehr als hundert Pfund ausüben. Entsprechend verstärkt lässt sich damit ein Stahlträger in Stücke reißen. Theoretisch. In der Praxis würden Sie dabei das Material Ihrer Handschuhe zerstören und sehr rasch sterben, zumindest hier auf Charon. Es wäre ein Wettlauf zwischen Dekompression und Schockfrosten.

Gefährlich sind auch die Beinwaldos, obwohl die Steigerung hier weniger extrem ausfällt. Versuchen Sie aber keinesfalls, mit Ihrem Anzug zu rennen oder gar zu springen, solange Sie keine Übung darin haben. Sie würden wahrscheinlich stolpern und ebenso wahrscheinlich dabei umkommen.

Da Charons Schwerkraft drei Viertel Ge beträgt, dürfte Ihnen zumindest diese Umstellung nicht schwerfallen. Auf einer echt kleinen Welt wie Luna könnte es Ihnen passieren, dass Sie mit Anlauf losspringen und zwanzig Minuten über die Landschaft segeln, ehe Sie wieder landen, und zwar jenseits des Horizonts. Es sei denn, Sie sind irgendwo unterwegs mit achtzig Metern pro Sekunde gegen eine Bergwand gedonnert. Auf einem kleinen Asteroiden könnten Sie mit einem entsprechenden Anlauf sogar die Anziehungskraft überwinden und einen unfreiwilligen Ausflug in den interstellaren Raum unternehmen. Es ist eine langsame Art zu reisen  – und zu sterben.

Morgen früh werden wir Ihnen beibringen, wie man in dieser Höllenmaschine am Leben bleibt. Den Rest des heutigen Tages brauche ich, um Ihnen einem nach dem anderen die Anzüge anzupassen. Danke, Feldwebel, das war alles.«

Cortez ging zur Tür und öffnete den Hahn, um Luft in die Schleuse einströmen zu lassen. Gleichzeitig schaltete sich eine Reihe von Infrarotlichtern an. Sie sollten verhindern, dass die Luft im Innern gefror. Als der Druckausgleich hergestellt war, drehte Cortez den Hahn zu, löste die Türverriegelung, betrat die Kammer und schloss die Tür von der anderen Seite. Eine Pumpe begann zu arbeiten. Nach etwa einer Minute öffnete Cortez die äußere Tür und ging hinaus.

Das System war das gleiche wie auf Luna.

»Ich fange mit Omar Almizar an. Die anderen können sich in ihre Kojen hauen. Ich rufe Sie per Lautsprecher auf.«

»Alphabetische Reihenfolge, Sir?«

»Ja. Zirka zehn Minuten pro Nase. Wenn Ihr Nachname mit Z beginnt, können Sie schon mal ’ne Runde pennen.«

Die letzte auf der Liste war Rogers. Sie sah so aus, als würde sie den Vorschlag annehmen.

5

Die Sonne war ein harter weißer Punkt direkt über uns. Sie war viel heller, als ich erwartet hatte; da wir achtzig AEs von ihr entfernt waren, betrug ihre Helligkeit nur knapp ein Sechstausendstel des Wertes, den sie auf der Erde erreicht. Dennoch verbreitete sie immer noch so viel Licht wie eine starke Straßenlaterne.

»Das ist erheblich mehr Licht, als Sie auf einem Durchgangsplaneten haben werden.« Hauptmann Stotts Stimme drang knisternd in unsere Helmlautsprecher. »Seien Sie froh, dass Sie sehen können, wohin Sie treten.«

Wir standen in einer langen Reihe auf dem Permaplast-Weg, der die Wohnquartiere mit der Magazin-Baracke verband. Wir hatten drinnen das Gehen geübt, den ganzen Vormittag, und das hier war kaum anders, mit Ausnahme der exotischen Szenerie. Obgleich das Licht ziemlich trübe war, konnte man, da es keine Atmosphäre gab, klar bis zum Horizont sehen. Eine schwarze Klippe, fast zu gleichmäßig, um natürlichen Ursprungs zu sein, erstreckte sich einen Kilometer vom Stützpunkt entfernt von Horizont zu Horizont. Der Boden war schwarz wie Obsidian, gefleckt mit weißem und bläulichem Eis. Neben dem Magazin stand ein großer offener Behälter mit der Aufschrift Sauerstoff. Er enthielt einen kleineren Haufen Schnee.

Der Anzug war leidlich bequem, aber er vermittelte einem das komische Gefühl, gleichzeitig Marionette und Puppenspieler zu sein: Der Impuls zur Bewegung der Beine geht von dir aus, aber der Anzug nimmt ihn auf, verstärkt ihn und bewegt das Bein für dich.

»Heute üben wir nur auf dem Stützpunkt, und keiner verlässt das Gelände.« Der Hauptmann hatte seine Automatik nicht dabei  – es sei denn, er trug sie als Talisman unter dem Anzug  –, aber er besaß eine Laserpistole wie wir alle. Und seine war vermutlich angeschlossen.

Sorgfältig darauf bedacht, einen Abstand von mindestens zwei Metern zu unserem Vordermann zu wahren, verließen wir den Permaplast-Streifen und folgten dem Hauptmann über glanzgeschliffenen Fels. Wir umrundeten die Gebäude des Stützpunkts in immer größeren Spiralen und machten nach etwa einer Stunde am äußeren Perimeter halt.

»Nun passen Sie gut auf! Ich gehe jetzt zu dieser blauen Eisplatte hinüber …«  – er deutete auf eine große, ungefähr zwanzig Meter entfernte Fläche – »und zeige Ihnen etwas, das Sie unbedingt wissen sollten, wenn Sie am Leben bleiben wollen.«

Er marschierte mit sicheren Schritten los und blieb kurz vor der Platte stehen. »Zuerst muss ich einen Felsbrocken erhitzen. Filter runter!« Ich drückte den Knopf in der rechten Achselhöhle nach unten, und der Filter glitt über mein Helmvisier. Der Hauptmann zeigte mit dem Finger auf einen schwarzen Felsen von der Größe eines Basketballs und drückte den Laser kurz ab. Einen Moment lang umhüllte ein greller Schein den Hauptmann. Sein langer Schatten legte sich über uns und die Ebene dahinter. Der Felsbrocken zerbarst in einen Haufen verschwommener Splitter.

»Es dauert nicht lange, bis die Dinger abkühlen.« Er bückte sich und hob eines der Bruchstücke auf. »Der hier dürfte zwanzig bis fünfundzwanzig Grad haben. Achtung!« Er warf den»warmen« Stein auf die Eisplatte, wo er in verrückten Kapriolen herumsauste und schließlich über die Kante hinausschoss. Der Hauptmann warf einen zweiten Splitter aufs Eis, und das Schauspiel wiederholte sich.

»Wie Sie wissen, sind Sie nicht vollständig isoliert. Diese Steine haben ungefähr die Temperatur Ihrer Stiefelsohlen. Wenn Sie also versuchen, eine Wasserstoff-Platte zu betreten, wird es Ihnen ähnlich ergehen. Mit dem Unterschied, dass die Steine von Anfang an tote Materie sind.

Der Grund für dieses Verhalten ist, dass der Stein durch seine Wärme eine schlüpfrige Grenzschicht erzeugt, eine kleine Pfütze aus flüssigem Wasserstoff, und ein paar Moleküle über der Flüssigkeit auf einem Kissen aus gasförmigem Wasserstoff dahingleitet. Das führt zur Aufhebung jeglichen Reibungswiderstandes zwischen dem Stein – oder Ihnen – und dem Eis, und ohne Reibung unter den Stiefelsohlen können Sie nicht stehen.

Wenn Sie erst mal einen Monat in Ihrem Anzug gelebt haben, müssten Sie eigentlich in der Lage sein, einen Sturz zu überleben, aber zum jetzigen Zeitpunkt fehlt Ihnen einfach die Erfahrung. Sehen Sie her!«

Der Hauptmann beugte die Knie und sprang auf die Eisplatte. Sofort rutschten die Füße unter ihm weg, aber er warf sich im Fallen geschickt herum und landete auf Händen und Knien, schlitterte von der Platte und stand auf.

»Wichtig ist, dass die Abwärme-Schlitze Ihres Anzugs auf keinen Fall in Berührung mit dem Gas kommen. Im Verhältnis zum Eis strahlen Sie nämlich die Hitze eines Hochofens aus, und jeder Kontakt, verstärkt durch den Druck eines Sturzes, würde unweigerlich zu einer Explosion führen.«

Nach dieser Demonstration marschierten wir eine weitere Stunde durch das Stützpunkt-Gelände und kehrten dann in unsere Quartiere zurück. Wir passierten die Luftschleuse und hingen noch eine Weile herum, bis die Anzüge so etwas wie Raumtemperatur angenommen hatten. Jemand trat neben mich, und unsere Helme berührten sich.

»William?« Auf ihrem Helm stand mit Schablonenschrift McCOY.

»Hi, Sean. Was gibt’s?«

»Ich dachte nur  – ob du für heute Nacht schon was vereinbart hast …«

Richtig. Ich hatte völlig vergessen, dass es hier keine festen Partnerpläne gab. Jeder konnte selbst bestimmen, mit wem er schlief. »Sicher, ich meine  – äh … nein … nein, ich habe noch niemanden gefragt. Klar, wenn du möchtest …«

»Danke, William. Bis später.« Ich sah ihr nach und dachte, wenn es jemand fertiggebracht hätte, in einem Kampfanzug sexy auszusehen, dann garantiert Sean. Aber nicht mal sie schaffte das.

Cortez entschied, dass unsere Anzüge warm genug waren, und führte uns zum Umkleideraum, wo wir die Dinger im Rückwärtsgang an ihre Plätze manövrierten und an die Aufladekontakte anschlossen. (Jeder Anzug war mit einer kleinen Plutoniumquelle ausgestattet, die ihn mehrere Jahre lang mit der nötigen Energie versorgte, aber wir hatten Anweisung, nach Möglichkeit vorhandene Energieanschlüsse auszunutzen.) Nach langem Geschiebe waren endlich alle eingerastet, und wir durften sie verlassen  – siebenundneunzig nackte Küken, die mühsam aus knallgrünen Eiern krochen. Es war kalt – die Luft, der Boden und ganz besonders die Anzüge  –, und wir drängten ziemlich ungeordnet hinaus zu den Kleiderspinden.

Ich fuhr in Jacke, Hose und Sandalen und fror noch immer erbärmlich. Also nahm ich meine Tasse und stellte mich in die Schlange, um mir ein heißes Sojagetränk zu holen. Alle hüpften auf und ab, um warm zu werden.

»W-was glaubst du, wie k-kalt es hier ist, M-M-andella?«, fragte McCoy.

»Ich mag es mir lieber nicht vorstellen.« Ich hörte mit der Hopserei auf und knetete mit der freien Hand meine Haut.»Mindestens so kalt wie daheim in Missouri.«

»Warum wird in diesem Scheißladen nicht richtig geheizt?« Die zierlichen Frauen litten immer am meisten unter der Kälte. McCoy war die Kleinste in der Kompanie, ein Püppchen mit Wespentaille, kaum einen Meter sechzig groß.

»Die Klimaanlage ist eingeschaltet. Es kann nicht mehr lange dauern.«

»Ich gäb was drum, wenn ich so viel Fleisch auf den Rippen hätte wie du.«

Ich war ganz froh, dass in diesem Fall Wunsch und Wirklichkeit nicht übereinstimmten.

6

Den ersten Unfall hatten wir am dritten Tag, als wir gerade übten, wie man Löcher aushebt.

Ein Soldat, der mit jeder Menge leistungsfähigen Energiewaffen ausgerüstet ist, greift natürlich nicht zu Pickel und Spaten, um sich in den steinhart gefrorenen Boden zu buddeln. Andererseits kann man den ganzen Tag lang Handgranaten durch die Gegend schmeißen und erreicht damit gar nichts  – außer ein paar flachen Dellen. Also zeigten sie uns, wie man mit der Laserpistole ein Loch in den Boden bohrt, nach dem Abkühlen eine Zeitzünderladung anbringt und das Ganze im Idealfall mit losem Geröll auffüllt. Natürlich gibt es auf Charon nicht allzu viel Geröll, es sei denn, man hätte bereits ganz in der Nähe ein Loch gesprengt.

Die einzige Schwierigkeit bei dieser Prozedur besteht darin, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Entweder, so hieß es, sollten wir hinter einem Felsen oder sonst einer echt soliden Barriere in Deckung gehen oder uns mindestens hundert Meter vom Ort der Sprengung entfernen. Dafür blieben uns nach Anbringen der Sprengladung etwa drei Minuten Zeit  – aber das hieß nicht, dass wir einfach lossprinten konnten … Nicht auf Charon.

Der Unfall ereignete sich, als wir ein richtig tiefes Loch machten, etwa die Kategorie, die man für den Bau eines unterirdischen Bunkers benötigt. Zu diesem Zweck mussten wir ein Loch sprengen, dann in den Krater hinunterklettern und die Prozedur so oft wiederholen, bis die Grube tief und breit genug war. Im Innern des Kraters verwendeten wir Sprengsätze, die erst nach fünf Minuten hochgingen, doch selbst diese Verzögerung reichte kaum aus, um sich mit dem unförmigen Anzug zum Kraterrand hochzuarbeiten.

Die meisten hatten bereits ihre zweite Ladung gezündet; alle bis auf mich und drei andere. Ich schätze, wir waren die Einzigen, die überhaupt mitkriegten, dass Bowanowitsch in Schwierigkeiten geriet. Wir befanden uns gut zweihundert Meter von ihr entfernt. Ich hatte mein Restlichtgerät auf vierzigfache Verstärkung gedreht und sah, wie sie über den Rand in den Sprengkrater hinabkletterte. Danach konnte ich nur noch ihren Funksprechverkehr mit Cortez abhören.

»Ich bin unten, Sir.« Bei Manövern wie diesem war für den Rest der Kompanie Funkstille vorgeschrieben; nur der Ausbilder und sein jeweiliger Schützling durften senden.

»Gut, gehen Sie bis zur Mitte, und räumen Sie das Geröll weg! Lassen Sie sich Zeit! Kein Grund zur Eile, solange die Zünduhr nicht läuft.«

»In Ordnung, Sir.« Wir hörten das schwache Poltern von Geröll. Der Schall wurde durch ihre Stiefel weitergeleitet. Ein paar Minuten lang sagte sie nichts mehr.

»Ich stoße auf festen Untergrund.« Sie schien ein wenig außer Atem.

»Eis oder Fels?«

»Alles Fels, Sir. Von der grünlichen Sorte.«

»Dann wählen Sie eine schwache Laser-Einstellung. Eins Komma zwei, Streuung vier.«

»Verdammt, das kann dauern, Sir!«

»Sicher, aber dieses Zeug enthält Hydratkristalle. Wenn Sie es zu schnell erhitzen, kann es zu einer Detonation kommen. Und wir müssten Sie da unten liegen lassen, Mädchen. Zerfetzt und tot.«

»Okay, eins Komma zwei, Streuung vier.« Am Innenrand des Kraters flackerte der Widerschein von rotem Laserlicht.

»Wenn Sie einen halben Meter geschafft haben, verengen Sie den Strahl auf Streuung zwei.«

»Verstanden.« Sie brauchte genau siebzehn Minuten, drei davon mit Streuung zwei. Ich konnte mir die Schmerzen in ihrem Laser-Arm vorstellen.

»Jetzt ruhen Sie ein paar Minuten lang aus. Wenn der Boden der Grube abgekühlt ist, bereiten Sie den Sprengsatz vor und lassen ihn hineinfallen. Dann verlassen Sie den Krater, aber ohne unnötige Hast, verstanden? Sie haben reichlich Zeit.«

»In Ordnung, Sir. Ohne Hast.« Ihre Stimme klang nervös. Nun ja, man schleicht sich nicht oft auf Zehenspitzen von einer Tachyonenbombe weg. Wir hörten ein paar Minuten lang ihr angestrengtes Atmen.

»So  – jetzt.« Ein schwaches Schlittergeräusch, als die Bombe nach unten rollte.

»Jetzt ganz ruhig und locker! Sie haben fünf Minuten Zeit.«

»J-ja. Fünf Minuten.« Ich hörte ihre Schritte, zuerst langsam und gleichmäßig. Dann, als sie den Kraterhang erklomm, wurden die Geräusche hektischer, nervöser. Dabei hatte sie noch vier Minuten …

»Scheiße!« Ein lautes Scharren, dann ein dumpfes Gepolter.»Verdammte Scheiße!«

»Was ist los, Bowanowitsch?«

»Ach, Scheiße.« Stille.

»Verdammt noch mal, wenn Sie nicht wollen, dass ich Sie erschieße, dann sagen Sie jetzt endlich, was los ist!«

»Ich … ich stecke fest, zum Henker! Dieses verfluchte Geröll ist abgerutscht … nun tut doch endlich was! Ich kann mich nicht bewegen, kapiert ihr das, ich kann mich nicht bewegen, ich, ich …«

»Schluss jetzt! Wie tief stecken Sie drin?«

»Ich kann mich nicht bewegen, die verdammten Beine sind zugeschüttet. Scheiße, so helft mir doch …!«

»Dann setzen Sie endlich Ihre Arme ein, zum Teufel! Räumen Sie das Zeug beiseite! Sie können mit jeder Hand eine Tonne bewegen.« Noch drei Minuten.

Sie hörte zu fluchen auf und begann unverständliches Zeug zu murmeln, monoton und leise, auf Russisch, schätze ich. Man hörte ihr angestrengtes Atmen und das Kollern von Felsbrocken.

»Ich bin frei.« Zwei Minuten.

»Gehen Sie, so schnell Sie können!«, befahl Cortez mit ruhiger, ausdrucksloser Stimme.

Nach neunzig Sekunden kam sie auf allen vieren über den Kraterand. »Laufen Sie, Mädchen … jetzt müssen Sie laufen!«

Sie rannte fünf oder sechs Schritte, fiel hin, schlitterte ein paar Meter weit und kam keuchend wieder auf die Füße. Sie rannte weiter, stürzte ein zweites Mal, kam wieder hoch …

Es sah so aus, als käme sie ziemlich schnell vom Fleck, aber sie hatte erst etwa dreißig Meter hinter sich gebracht, als Cortez sagte: »Schluss jetzt, Bowanowitsch! Legen Sie sich flach hin, und rühren Sie sich nicht vom Fleck!« Noch zehn Sekunden, aber sie hörte nicht oder wollte noch ein paar Meter zwischen sich und den Krater bringen, jedenfalls rannte sie weiter, mit langen Sätzen, ohne auf die Anweisungen von Cortez zu achten. Und dann gab es einen Blitz und ein dumpfes Krachen, und etwas Großes traf sie im Nacken, und ihr Körper segelte ohne Kopf durch die Gegend, überschlug sich in der Luft und zog eine schwärzlichrote Spirale aus gefriergetrocknetem Blut hinter sich her, die anmutig zu Boden sank, eine dunkle Spur aus Kristallstaub, der wir alle auswichen, als wir Steine sammelten, um sie über das saftlose Ding am Ende der Fährte zu häufen.

An diesem Abend ließ Cortez den Unterricht ausfallen und erschien nicht mal zum Essen. Wir waren alle sehr höflich zueinander, und niemand mochte von dem Vorfall sprechen.

Ich ging mit Rogers ins Bett  – jeder ging mit einem guten Freund oder einer guten Freundin ins Bett  –, aber sie wollte sich nur ausheulen, und sie heulte so lange und so heftig, dass ich schließlich auch anfing.

7

»Schützenteam A  – vorwärts!« Zu zwölft rückten wir gegen den simulierten Bunker vor. Er war ungefähr einen Kilometer entfernt, jenseits eines sorgfältig präparierten Hinderniskurses. Wir konnten uns locker bewegen, weil alles Eis entfernt worden war, aber selbst nach zehntägigem Training schafften wir nicht mehr als einen schwachen Trimmtrab.

Ich trug einen Granatwerfer mit Übungsgranaten. Alle hatten ihre Laserstrahlen auf null Komma acht eingestellt – kaum mehr als die Intensität einer Taschenlampe. Schließlich war es nur ein simulierter