Der Fall Asmussen - Rob Lampe - E-Book

Der Fall Asmussen E-Book

Rob Lampe

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Beschreibung

Nur er kennt die Wahrheit. Und keiner sein Geheimnis. Mit leichten Blessuren an Kopf und Rippen wird der Anwalt Philipp Asmussen an einem milden Herbsttag aus seiner Kanzlei an der Binnenalster verschleppt. Er wird von dem Entführer in ein Kellergewölbe einer verlassenen Fabrikantenvilla im Hamburger Umland gebracht und dort an ein Bettgestell gekettet. Für seinen Fund verlangt er eine Million Euro Lösegeld. Der Fall schlägt sofort hohe Wellen, selbst die tägliche Corona-Berichterstattung zu Inzidenz und Maßnahmen wird von Seite Eins in den Innenteil verbannt. Der Druck auf die Hamburger Polizei und die Politik steigt mit jeder weiteren Schlagzeile. Doch was wollen die Entführer wirklich? Gibt es eine Verbindung zu den Wójcik-Brüdern, die nach jahrelangen Geschäften im Rotlichtmilieu nun um gesellschaftliches Ansehen bemüht sind? Und warum ist eigentlich der Hamburger Innensenator der Erste, der nach Philipps Verschwinden in der Asmussen-Villa am Harvestehuder Weg auftaucht? Was wie ein Entführungsfall beginnt, entwickelt sich für Hauptkommissar Thoelke als ein regelrechtes Nervenspiel, bei dem die Beteiligten nicht nur von den langen Schatten der eigenen Vergangenheit eingeholt werden. Ein tragisch-persönlicher Krimi über ein Netz aus Schuld und Sühne.

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Seitenzahl: 371

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Rob Lampe

Der Fall Asmussen

 

über den Autor

Der in Hamburg geborene Autor Rob Lampe arbeitete viele Jahre lang in der Medien- und Werbewelt, unter anderem bei Axel Springer und Hubert Burda in Hamburg, Berlin und München. 2017 erschien mit „Unschuldig schuldig“ der erste Band der Hamburg-Krimi-Reihe um den findigen High-Society-Anwalt Adalbert von Gerte, besser bekannt als der schöne Bertie. Nachdem er im dritten Band in die Politik wechselte, verlegte der Autor die Perspektive im vierten Band „Elbmörder“ aus dem Anwaltsbüro zur Mordkommission um Hauptkommissar Thoelke nach Alsterdorf. Allerdings wäre es ein Trugschluss anzunehmen, dass sich der Politiker Bertie nun aus den aktuellen Fällen heraushalte. Rob Lampe ist Mitglied im SYNDIKAT, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.

Bisher erschienen: 

'Unschuldig schuldig' 

'Hamburger Blut' 

'Die Senatorin' 

'Elbmörder' 

‚Krimis sind seine Heimat‘NDR

 

Impressum

© 2022, hansanord Verlag
Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten
Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen - nur nach Absprache und Freigabe durch den Herausgeber.
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Ecken in und um Hamburg, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
ISBN E-Book: 978-3-947145-65-2
ISBN Buch: 978-3-947145-64-5
Für Fragen und Anregungen: [email protected]
hansanord Verlag
Johann-Biersack-Str. 9
D 82340 Feldafing
Tel.:  +49 (0) 8157 9266 280
FAX: +49 (0) 8157 9266 282
www.hansanord-verlag.de

 

Inhalt

ERSTER TEIL
Tag 1, Mittwoch, 16. September 2020
Tag 2, Donnerstag, 17. September 2020
Tag 3, Freitag, 18. September 2020
Tag 4, Samstag, 19. September 2020
Tag 5, Sonntag, 20. September 2020
Tag 6, Montag, 21. September 2020
Tag 7, Dienstag, 22. September 2020
Tag 8, Mittwoch, 23. September 2020
Tag 9, Donnerstag, 24. September 2020
Tag 10, Freitag, 25. September 2020
Tag 11, Samstag, 26. September 2020
Tag 12, Sonntag, 27. September 2020
Tag 13, Montag, 28. September 2020
ZWEITER TEIL
Tag 14, Dienstag, 29. September 2020
Tag 15, Mittwoch, 30. September 2020
Tag 16, Donnerstag, 1. Oktober 2020
Tag 17, Freitag, 2. Oktober 2020
Tag 18, Samstag, 3. Oktober 2020 / Tag der Deutschen Einheit
Tag 19, Sonntag, 4. Oktober 2020
Tag 20, Montag, 5. Oktober 2020
Tag 21, Dienstag, 6. Oktober 2020
Tag 22, Mittwoch, 7. Oktober 2020
Tag 23, Donnerstag, 8. Oktober 2020
Tag 24, Freitag, 9. Oktober 2020
Tag 25, Samstag, 10. Oktober 2020
Tag 26, Sonntag, 11. Oktober 2020
Tag 27, Montag, 12. Oktober 2020
Tag 28, Dienstag, 13. Oktober 2020
Tag 29, Mittwoch, 14. Oktober 2020
Tag 30, Donnerstag, 15. Oktober 2020
Tag 31, Freitag, 16. Oktober 2020
ABSPANN
HAUPTCAST
NEBENROLLEN
Lesen Sie auch

 

Dem Moment Dauer geben!
Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wurden im  
Berichtsjahr 2020 unter »Straftaten insgesamt« bundesweit 
5.310.621 Fälle registriert. Doch ganz egal, um welche Straftat  es ging, die psychologische Grundfrage ist stets dieselbe:  
»So geboren oder so geworden?« Oder wie die Amerikaner es  formulieren: »Born or Made?«

ERSTER TEIL 

Die Dosis macht das Gift. 

Tag 1 

Mittwoch, 16. September 2020

Andreas schleppte seine Fracht in das Kellergeschoss, wo ihm dumpfe, abgestandene Luft entgegenschlug. Er durchschritt das Gewölbe bis zur hinteren Wand, legte die Beute im schwachen Licht der verdreckten Glühbirnen auf dem Bett ab und setzte sich daneben. Dann zündete er sich genüsslich eine Zigarette an und verfolgte, wie sich der Rauch im Raum verflüchtigte.
Der Typ ist schwerer als angenommen, dachte er, drehte sich zu ihm um und sah, wie sich der Brustkorb auf und ab bewegte. Ruhig und gleichmäßig. Zufrieden mit sich und der Welt wandte er den Blick Richtung Kopfverletzung. Sie hatte aufgehört zu bluten. Der liebe Gott, wenn es ihn denn gab, hatte es gut gemeint mit ihm. Er zog erneut an der Zigarette, während sich ein Lächeln auf Andreas’ Gesicht abzeichnete. Er war erschöpft, aber glücklich. Nun lag der Anwalt Philipp Asmussen in seinem Revier. Er griff nach dessen linkem Arm, bog ihn sanft zum Kopfteil hoch und befestigte eine Kette um das Handgelenk. Es folgte der rechte Arm, dann die Beine. Dann ging er ins kleine Bad, hielt ein Frotteehandtuch unter den laufenden Wasserhahn und säuberte anschließend Asmussens blutbeflecktes Gesicht.
Die Beute erwachte. 
»Was ist los? Wer sind Sie?« schrie der Anwalt panisch, während er seine Muskeln anspannte, um sich aufzurichten. Doch die straff gespannten und massiven Ketten hinderten ihn und rasselten stattdessen nur müde. Erschrocken schaute er auf seine Glieder. Gekreuzigt wie 
Jesus. »Was soll der Scheiß? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
Andreas kramte seine Skimaske aus der Jackentasche und stülpte sie sich hastig über den kahlen Kopf.
»Das können Sie sich schenken. Hab Sie doch längst gesehen«, schrie die Beute weiter und stoppte abrupt. – Wenn das mal kein Fehler gewesen war! Er sollte besser die Klappe halten. Abwarten. Begreifen, was passiert ist. Er versuchte sich neu auszurichten, doch die aufkommenden Schmerzen durchkreuzten den gut gemeinten Vorsatz. Nicht nur die Kopfverletzung, auch die Rippen buhlten nun um seine Aufmerksamkeit. Reflexartig wollte er mit seiner rechten Hand den Kopf erfühlen und wurde ruckartig rasselnd ausgebremst. Schlimmer noch. Mit jeder weiteren Bewegung schnitt er sich den kantigen Kettenverschluss tiefer in sein schmales Bürohandgelenk. »Was ist mit meinem Schädel?«, fragte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Hast du dir gestoßen.«
»Und meine Rippen? Habe ich mir die auch gestoßen?«
Doch Andreas zuckte nur ausdruckslos mit den Schultern, während Philipps Erinnerung zurückkam. Es war kurz nach fünf gewesen, seine Sekretärin hatte bereits die Kanzlei verlassen, als eine Mandantin an der Tür geklingelt hatte. Sie hatten einen Termin. Vorgespräch zu einer geplanten Firmenübertragung stand in seinem Kalender. Er öffnete die Tür, empfing die Mandantin, ging voraus in sein Büro und wurde dort niedergestreckt, fiel mit dem Kopf auf die Tischkante. Natürlich! Das musste die Komplizin gewesen sein. Er schloss die Augen, versuchte sich weiter zu erinnern. Groß war sie gewesen, dunkle lange Haare, Pony, Brille und Mund-Nasen-Schutzmaske. Unmöglich, sie wiederzuerkennen. Sie waren also zu zweit. Mindestens. Plötzlich gesellte sich zu seinem Erinnerungsvermögen Angst. Angst ums nackte Überleben. Er wollte etwas Beschwichtigendes sagen, doch seine Gedanken zitterten – ebenso wie sein gesamter Körper.
Dann durchbrach ein Motorengeräusch die Stille. Andreas sprang auf und rannte wortlos nach oben. Vor dem Gebäude war ein Auto vorgefahren.
Zurück blieb ein verängstigter Philipp Asmussen, der versuchte zu erkennen, wo er war. Die normale Sicht in diesem düster leuchtenden Licht kehrte nur langsam zurück. Er war in ein großes Kellergewölbe gebracht worden, das nach feuchter Kälte roch. In früheren Zeiten musste das ein Vorratsareal gewesen sein. Im vorderen Teil, bei der Treppe, verwitterten alte Weinfässer und Kisten in Holzregalen. Fenster gab es keine. Oder zumindest keine mehr. Die Wände im hinteren Teil, wo er festgekettet lag, waren merkwürdig vertäfelt. Lärmschutz Marke Eigenbau, wie Philipp vermutete. Und er zählte drei, nein vier Steckdosen. Neben seinem Bett stand ein kleiner Holztisch aus Kiefernholz, davor ein halb vergammelter Plastikstuhl mit abgeschrubbten Fußballaufklebern. Er meinte Müller, Breitner und Beckenbauer darauf erkennen zu können. Dahinter eine Kiste Wasser. Rechts ging ein gekacheltes Zimmer ab. Ohne Tür. Von der Decke baumelten zwei verwaiste Glühbirnen, die über ein verdrilltes Kabelpaar provisorisch mit einem kleinen Stromgenerator verbunden waren und so zu neuem Leben erweckt wurden. Dann stierte er wieder auf die Kellertreppe am anderen Ende des Raumes. Um Hilfe zu schreien erschien ihm aussichtslos. Die Fahrerin des Autos, wohl ohnehin der 17-Uhr-Termin, würde ihm ohnehin nicht helfen wollen.
Irgendwann später kam Andreas mit silberfarbenem Alukoffer und Skimaske zurück, doch sein Gesicht hatte sich bereits bei Asmussen eingebrannt. Schmale braune Augen, Schnurrbart und eine silberne Creole im linken Ohrläppchen. Andreas setzte sich erneut zu ihm aufs Bett, öffnete wortlos den schmalen Koffer und ließ seinen Blick über die glänzenden Folterwerkzeuge schweifen. Zangen in allen erdenklichen Formen, zwei Skalpelle, eine Präzisionsdaumenschraube, Handsäge samt Ersatzblättern, Schere sowie ein mit seinen Initialen gravierter Hammer für den finalen Schlag. Doch das Skalpell in Größe vier mit dem geschwungenen Handgriff war sein Lieblingsspielzeug. Schon als Kind hatte er es geliebt, Mäuse und Vögel zu sezieren, doch damals konnte er noch nicht einmal von solch einer Sammlung träumen. Er nahm jedes Instrument aus dem grauen Schaumstoffeinsatz heraus und hielt es hoch, als präsentiere er eine Trophäe. 
Immer noch sprach er kein einziges Wort. Musste er auch nicht. Auch so begriff der Anwalt, was sich gerade abspielte. Und er konnte seine Augen nicht von Andreas’ Parade lösen, während sein Unterbewusstsein das, was diese Spielzeuge mit ihm anstellen würden, vorwegnahm. Es sog sie regelrecht in sich auf, ließ ihn schon spüren, wie jedes einzelne Teil seinen Körper durchbohrte. Er sackte innerlich zusammen, sein Blick trübte sich, alles verstummte. Dann schrie er mit letzter Kraft den Entführer an:
»Es reicht! Hören Sie auf damit! Meine Frau wird Ihnen jeden Preis bezahlen. Das versichere ich Ihnen. Sie müssen das nicht tun. Packen Sie das Zeug weg und rufen Sie meine Frau einfach nur an.« Philipps Mund war staubtrocken, er schluckte schwer. »Ich flehe Sie an. Lassen Sie den Unfug und rufen Sie sie an.« Erneut schluckte Asmussen. »Bitte.«
Doch Andreas schüttelte den Kopf.
»Nicht?«, fragte Asmussen erschrocken. Sein Schreien war längst zum Wimmern verkommen. »Was wollen Sie dann von mir?«
»Deine f*cking Aufmerksamkeit«, antwortete Andreas und streichelte sanft über den Koffer. »Und ich glaube dir gerade dafür die allerbesten Gründe gezeigt zu haben.«
»Die haben Sie doch schon. Zu einhundert Prozent.«
»Gut so. – Und nun, Anwalt, wirst du deine Frau anrufen. Du wirst sie davon überzeugen, eine Million Euro in 50er- und 100erScheinen zu besorgen. Und zwar für mich. Alles klar?«
Der Entführer zauberte ein Einweghandy aus der Jackentasche und durchdrang ihn mit einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass er sich durchzusetzen wusste und auf eine Bestätigung wartete. Philipp war trotz Todesangst erleichtert. Denn nun wusste er, was der Plan war. Er wurde entführt, man wollte Geld und er würde hier herauskommen. Allerdings verunsicherte ihn die Ansage, dass das Geld für ihn sei. Arbeitete der Maskierte etwa doch allein? Was war mit der Frau? War sie tot? Hatte er sie eben oben getötet? Philipp hatte jedenfalls kein Motorengeräusch eines wegfahrenden Autos gehört. Er war kurz vorm Durchdrehen. Doch nun ging es darum, seine Frau anzurufen. Er brauchte einen kühlen Kopf.
»Geben Sie mir das Handy«, erwiderte er nickend.
Zufrieden fuhr Andreas fort:
»Deine Frau hat 48 Stunden. Übermorgen um dieselbe Zeit meldest du dich erneut. Dann wegen der Übergabe. Alles klar?« Philipp nickte weiter.
»Und sollte sie auf die idiotische Idee kommen, die Polizei zu informieren, werde ich meine Werkzeuge walten lassen. Alle. Erst bei dir, später bei deiner hübschen Frau Julia. 
Das saß! Philipp Asmussen traf der Vorname seiner Frau wie eine Pfeilspitze mitten ins Herz. Er durfte den Entführer nicht unterschätzen, während ihm der kalte Angstschweiß von der Stirn tropfte.
Dann machte der Entführer Asmussens Handgelenke und Fußknöchel von den Bettpfosten los, ließ ihn Wasser trinken und reichte ihm das Handy.
»Und mach bloß keinen Fehler!«
Asmussens Hände waren klitschnass und seine Finger zitterten wie Espenlaub. Er vertippte sich. Einmal, zweimal. Andreas riss ihm das Telefon aus der Hand, zog einen Zettel aus der Hosentasche, tippte Julias Nummer und drückte auf Lautsprecher. Freizeichen. Er gab das Handy zurück und flüsterte:
»Reiß dich zusammen, Anwalt! Sprich langsam, sprich deutlich. Du hast 30 Sekunden. Wir wollen doch beide, dass das hier gut ausgeht. Alles klar?«
Asmussen schloss die Augen und hielt sich das Handy ans Ohr.
Das Freizeichen wiederholte sich.
Nichts passierte.
Das Freizeichen wiederholte sich erneut.
»Komm schon, geh endlich ran!«, flehte er.
Freizeichen, das vierte.
Philipps Flehen wurde lauter. Dann endlich hörte er die warm klingende Stimme seiner Frau und wusste, dass er sie nun, mit diesem Anruf, aus ihrer heilen Welt für immer herausreißen würde. Es war für ihn kaum auszuhalten, als er sie sagen hörte:
»Julia Asmussen.«
Philipp wollte etwas erwidern, ihr so viel sagen, doch er bekam kein einziges Wort heraus.
»Hallo? Wer ist da?«
Philipp räusperte sich und unternahm einen zweiten Anlauf.
»Schatz, äh … ich bin es. Philipp. Es ist wichtig, dass du mir jetzt ganz genau zuhörst.«
»Wieso rufst du mit unterdrückter Nummer an?«
»Das ist doch jetzt ganz egal. Schatz, du musst mir jetzt zuhören. Es ist wichtig. Kannst du das bitte machen?«
»Du machst mir Angst, Philipp. – Was ist los?«
»Deshalb rufe ich dich ja an. Kannst du mir bitte 30 Sekunden zuhören!? Mehr habe ich nicht.«
»Wieso hast du nicht mehr Zeit? Was ist passiert?«
»Ich bin entführt worden, aber man wird mir nichts tun.« Philipp hätte am liebsten losgeschrien, musste sich aber beherrschen. Er wollte Sicherheit ausstrahlen. Stark sein. Der berühmte Fels in der Brandung eben.
»Waaas???«, brüllte Julia hysterisch ins Telefon. »Du bist entführt worden? Wo bist du? Bist du verletzt? Geht es dir gut?«
»Bitte, Schatz. Hör mir bitte aufmerksam zu. Ich habe nur 30, jetzt nur noch 20 Sekunden. Okay?«
»Okay, Philipp. Okay.«
»Und beruhige dich. Bitte.«
»Ich soll mich beruhigen? Wie stellst du dir das vor? Rufst mich an und sagst mir, dass du entführt worden bist. – Und jetzt sagst du, ich soll mich beruhigen …«
»Ich bitte dich. Ich habe nur noch ein paar Sekunden.«
 »Okay, okay Philipp. Schon gut. Ich versuche es.«
»Du musst eine Million Euro besorgen. Und zwar bis übermorgen. Wenn du das machst, wird mir nichts geschehen und ich komme wieder nach Hause. Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Die wollen nur Geld. Und wir werden es ihnen geben. Hast du das verstanden, Schatz? WIR WERDEN ES IHNEN GEBEN!«
Sie hatte verstanden und fragte:
»Was kann ich noch tun?«
»Ich melde mich in zwei Tagen um die gleiche Zeit. Wichtig ist, dass du bis dahin das Geld in 50ern und 100ern besorgt hast und auf keinen Fall die Polizei alarmierst. Die wollen wir da rauslassen.«
»Aber …«
»Ich muss auflegen. Bis übermorgen. Ich liebe dich.«
Philipp reichte Andreas das Handy. Es bedeutete ihm viel, Julias Stimme gehört zu haben. Sie waren ein Team. Waren sie schon immer gewesen. Seitdem er damals die Kanzlei übernommen hatte, hielt sie ihm den Rücken frei. Auf sie konnte er zählen. Ein leichtes Lächeln überzog sein Gesicht. Und sie hatte blitzschnell geschaltet. Er liebte sie immer noch wie am ersten Tag und fühlte sich plötzlich wieder unbesiegbar. Dieses Gefühl galt es zu bewahren. Er schaute zur Ski maske rüber und sprach mit festem Blick:
»Sie werden Ihr Geld bekommen!«
* * *
Kaum hatte Philipp aufgelegt, rief Julia die 110 an. Ungeduldig lauschte sie dem monotonen Freizeichen. Es dauerte. Es dauerte lange. Es dauerte endlos. Müsste die Notrufstelle nicht dauerhaft besetzt sein? Fehlte nur noch, dass sie von einer Computerstimme in die Warteschleife weitergereicht wurde. Absurde Vorstellung! Ihr Mann entführt und sie musste sich bei Siri ausheulen. Tuuut – Tuuut – Tuuut … Dann die Erlösung.
»Notrufzentrale, mein Name ist Sebastian Fischer. Wie kann ich helfen?«
Weitere unzählige Gedanken rasten durch Julias Hirn, doch ihr Kopf glich einem Sieb, ohne Chance, einen Gedanken festzuhalten, und legte auf.
»Jetzt nur keinen Fehler machen«, flüsterte sie in die Leere, als ihr Handy plötzlich brummte. Sie schaute aufs Display. Unbekannte Nummer. Das musste ihr Mann erneut sein, der wohl etwas vergessen hatte. Sie wischte nach rechts und sagte:
 »Philipp! Ich stehe total neben mir, mein Herz rast und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll …«
»Guten Abend, Frau Asmussen. Hier ist nicht Philipp. Sie sprechen mit Sebastian Fischer von der Polizei-Notrufstelle. Sie hatten bei uns angerufen, doch das Gespräch wurde getrennt. Ich wollte sichergehen, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist. – Ist bei Ihnen alles okay?«
»Ja, ja. Alles in Ordnung bei mir. Ich hatte mich verwählt. Entschuldigen Sie bitte«, antwortete Julia, beendete das Gespräch und verharrte reglos auf dem Sessel. Es war immer noch derselbe Sessel, auf dem sie vor etwa einer halben Stunde erschöpft eingenickt war und von Philipps Anruf in die Realität zurückkatapultiert wurde.
Sie stand auf und stolperte in die Küche, griff sich ein Glas, trocknete es abwesend mit einem Küchentuch ab und füllte es mit Leitungswasser. Immer noch befand sie sich zwischen zwei Polen. Polizei rufen oder nicht? Eigentlich sprach alles dafür, doch plötzlich kamen Zweifel auf. Und das Geld musste ohnehin bis morgen warten. Es war 19:20 Uhr, die Banken hatten längst geschlossen. Sie trank das Glas in einem Zug aus. Das kalte Wasser tat ihr gut, erfrischte ihre Sinne. Sie dachte wieder an Bertie, Philipps ehemaligen Mentor, ebenfalls Jurist und jetziger Innensenator von Hamburg. Ja, natürlich! Das ist die Lösung. Wieso nur, war sie nicht gleich auf ihn gekommen? Ihm vertraute sie, er würde sie nicht im Stich lassen. Sie holte ihr Handy vom Sessel und scrollte sich durch die Kontakte.
Keine zweieinhalb Stunden darauf klingelte Bertie an der Haustür. Braungebrannt, als komme er direkt aus dem Urlaub. Dabei arbeitete er seit seinem Wechsel in die Politik härter als zuvor. Tageslicht und Sonnenstrahlen waren Mangelware. Da musste die Steckdose im Rathaus ausgeholfen haben. 
Julia pfiff auf die Corona-Inzidenzen, die in Hamburg nach dem Ferienreiseverkehr im Sommerurlaub wieder Richtung 20 stiegen, und umarmte Bertie.
»Danke, dass du so schnell gekommen bist.«
Bertie lächelte aufmunternd und erkannte sofort, dass Julia am Abgrund stand. Ihre Nerven lagen blank und er wusste nicht, wie lange sie das durchhalten würde. Auch schien sie sich in den letzten Stunden regelrecht die Seele aus dem Leib geweint zu haben. Mehr noch, es schien in reißenden Bächen aus ihr geweint zu haben. Hemmungslos, wie er vermutete. Ihr Lidschatten war verlaufen, die Augen und Nase gerötet. Er gab seinem Fahrer ein Zeichen, dass er Feierabend machen könne. Dann folgte er ihr durch den Flur ins Wohnzimmer, setzte sich auf das cremefarbene Sofa und erkundigte sich:
»Also, Liebes, was ist nun mit Philipp?«
Erst stockend, dann verzweifelt und schließlich völlig aufgelöst erzählte Julia in der nächsten Dreiviertelstunde von dem Telefonat, der Million und davon, dass sich Philipp in zwei Tagen um dieselbe Zeit erneut melden würde. 
»Also Punkt 19 Uhr?«
»Ja.«
»Kannst du das Geld bis dahin beschaffen? Oder darf ich dir aushelfen?«
»Denke schon. 600.000 Euro haben wir im Haus. Den Rest hole ich morgen von der Bank.«
Bertie staunte nicht schlecht.
»Wieso habt ihr so viel Geld im Haus?«
»Kennst doch Philipp. Er braucht seinen Notgroschen unterm 
Kissen, sonst kann er nicht entspannen.«
»Schon richtig. Aber gleich 600?«
Julia zuckte mit den Achseln und nahm sich ein Taschentuch aus der Box neben ihr auf dem Sofa.
»Gut. Ich werde ein paar Anrufe machen. Du musst das nicht alleine durchstehen.«
»Danke, Bertie.« Julia fasste nach seiner rechten Hand und drückte sie. »Aber lass deine Kollegen da raus. Bitte. Philipp hat extra darum gebeten.«
Bertie war als Chef der Innenbehörde auch der Vorgesetzte des gesamten Hamburger Polizeiapparats, das wusste Julia. Doch Bertie war noch nicht überzeugt, die Polizei herauszulassen.
»Lass uns eine Nacht darüber schlafen«, sagte er, um Zeit zu gewinnen, stand auf und ging in die großräumige offene Küche. »Kannst du dir vorstellen, wer ihn entführt haben könnte? Arbeitet Philipp gerade an einem brisanten Fall?«
»Das weiß ich nicht. Er hat nie über seine Mandantschaft gesprochen«, schluchzte sie. »Um mich zu schützen. Das hast du ihm doch beigebracht.«
»Leider richtig. Auch wenn es uns jetzt möglicherweise geholfen hätte. – Hast du Sahne im Haus?« »Nee, ist alle.«
Was hatte er bloß getrieben, dass es so weit kommen musste? Entführung mit einer Millionenforderung? Steckte das Milieu dahinter? Immer wieder hatte Philipp in den vergangenen Jahren zwielichtige Gestalten vor Gericht vertreten.
»Hast du sonst einen Verdacht? Wurdet ihr bedroht?«
»Das Übliche.«
Bertie legte seinen Kopf zur Seite, schaute ins Wohnzimmer, sein Nacken knackte. Irgendwie passend, das Knacken, dachte er, denn es fühlte sich an, als würde er in eine Schlacht mit ungewissem Ende ziehen müssen. Er massierte mit der linken Hand die verspannte Muskulatur.
»Das Übliche?«, fragte er. »Was meinst du?«
»Immer mal wieder anonyme Anrufe und so was. Aber die sind bestimmt auch schon wieder ein Jahr her.«
»Verstehe.«
Bertie kam mit einem Tablett Kaffee zurück, reichte Julia eine Tasse und ließ sich zurück auf den Dreisitzer fallen.
»Da wir heute Nacht ohnehin kein Auge zutun werden, können wir auch noch einen Kaffee trinken.«
Julia verstand und war sichtlich erleichtert. Das erste Mal seit Stunden.
* * * 
In den fensterlosen Ziegelwänden hauste der Schwamm und seit wenigen Stunden auch der Anwalt Philipp Asmussen. 
»Gut gemacht, Anwalt«, sagte der Entführer und nahm das Handy entgegen. »Dann solltest du in wenigen Tagen zu Hause sein.«
»Sie Mistkerl. Was tun Sie nur meiner Frau an?«
»Bleib mal locker, Alter. Und schöööön durch die Nase atmen. Alles klar? – Hat doch alles gut geklappt. Bis jetzt.«
Doch Philipp, vollgepumpt mit Adrenalin, hatte keine Lust auf lockeres Durchatmen und sah, da Hände und Füße nicht mehr festgekettet waren, seine Chance gekommen. Er sprang auf, rannte durch das Gewölbe Richtung Treppe und eilte sie hinauf. Dort griff er nach der Türklinke und drückte sie herunter. Keine Chance! Sie war verschlossen. Verzweifelt und fluchend rüttelte er immer wieder an der schweren Klinke, bis er Andreas hinter sich spürte. Philipp drehte sich um und schaute direkt in eine Pistolenmündung.
»Mensch, Asmussen«, knurrte der Entführer genervt in seine Richtung. »Was soll denn der Scheiß jetzt? Ich dachte, das liefe ganz gut mit uns. Was soll ich jetzt denn nur mit dir machen? Dich gleich hier erschießen?«
»Ich will hier raus und zwar sofort!«, schnaubte Philipp. Dann sank er an der Tür zusammen. »Warum ich? Warum ausgerechnet ich?«
»Nicht so viele Fragen stellen, habt ihr drüben auch nicht gemacht. Einfach die Lauscher aufsperren und machen, was ich sage. Mehr erwarte ich nicht von dir. Und nun: Hopp, hopp. Zurück ins Körbchen!«
Frustriert schlich Philipp die Stufen hinunter, ging die endlosen Schritte zurück, legte sich ohne Gegenwehr aufs Bett und ließ sich anketten.
»Haben Sie was gegen die Schmerzen? Mein Kopf und meine Rippen!«
Doch Andreas reagierte nicht und band seinen Millionenfang fest, verließ das Kellergeschoss und löschte das Licht. Zukünftig musste er dringend umsichtiger agieren. Fehler wie eben durften ihm nicht noch einmal unterlaufen.
* * *
Eine halbe Ewigkeit später vernahm Philipp erneut Schritte auf der Treppe und die zwei Glühbirnen blitzten auf. Der Entführer war zurückgekommen. Von der Frau fehlte weiter jede Spur.
»Klogang und Essen fassen!«, rief die Skimaske Asmussen entgegen, als er ihn erblickte. Dann stellte er die mitgebrachten Sachen auf dem kleinen Holztisch ab und löste behutsam die Fesseln. »Wenn du nochmal versuchst zu türmen, schneide ich dir ohne Wenn und Aber den kleinen Finger ab, schicke diesen deinem Frauchen und erhöhe die Summe auf 1,5 Millionen Euro. Alles klar?«
Philipp nickte und war froh, auf Toilette gehen zu können. Doch trotz randvoller Blase blieb er noch einen Moment sitzen, suchte Blickkontakt.
»Was denn noch?«, fragte der Entführer.
Philipp rollte demonstrativ mit den Augen und reckte den Kopf zum gekachelten Raum. Er hoffte, dass sein Peiniger genug Taktgefühl hatte, um ihm etwas Privatsphäre zu gönnen, doch dieser zischte nur ungeduldig:
»Musste jetzt oder nicht?«
»Doch schon. Es ist nur so …«
Nun endlich war auch bei der Maske der Groschen gefallen.
»Neee, Alter. Das kannst du getrost vergessen. Du bist ja unberechenbar.«
Als Philipp kurze Zeit später aus dem Raum ohne Tür zurückkehrte und sich aufs Bett setzte, empfing ihn Andreas bereits mit einem stolzen Lächeln.
»Hoffe, du magst Erbsensuppe. Habe mir auf jeden Fall Mühe gegeben. Sollst ja bei Kräften bleiben.«
Philipp hätte ihm den Fraß am liebsten vor die Füße geschüttet und ihm mit den Spielzeugen aus dem Alukoffer die Kehle aufgeschlitzt. Doch das war keine Option. Er hatte unerträgliche Schmerzen und sowieso keine Chance. Diese Lektion hatte er gelernt. Stattdessen schaute er auf den Holztisch, den ihm die Skimaske ans Bett schob.
»Was ist das?«, fragte Philipp, zeigte auf das seltsame Konstrukt neben der Suppe und merkte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Dort lag ein Golfball, eingefasst in einen Ledergürtel. 
»Das wird uns helfen, besser miteinander auszukommen«, antwortete Andreas trocken.
Spätestens jetzt war für Philipp Asmussen klar, dass der Entführer alleine arbeitete. Der Irre hatte die Frau, die ihn in der Kanzlei überwältigt hatte, wohl wirklich ermordet. Er nahm den Löffel und aß den Suppentopf leer. Die Erbsensuppe schmeckte besser, als es die äußeren Umstände erwarten ließen. Dann wischte er sich mangels Serviette mit dem Handrücken den Mund ab und zeigte auf die Spritze, die er neben dem Golfball entdeckte.
»Was ist da drin?«
»Ich dachte, du hast Schmerzen.«
Philipp wurde angst und bange bei dem Gedanken, dass der Typ ihm gleich eine Spritze in die Vene jagen würde.
»Haben Sie keine Tabletten?«
»Bin ich eine Scheiß-Apotheke?«
»Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur …«
»Was dachtest du, Anwalt?«
»Ibu 400 zum Beispiel. Oder Aspirin. Das würde mir schon reichen.«
»Nee. Führen wir nicht. Und nun leg dich wieder hin. Ich will dich festmachen.«
»Darf ich Sie noch etwas fragen?«
Der Entführer nickte und ließ ihn gewähren, denn auch er war neugierig auf sein Gegenüber und wollte eigentlich mehr von ihm erfahren.
»Was denn noch?«
»Sind Sie verheiratet?«
Andreas stockte kurz bei dieser Frage. In der Tat war er so weit weg von einer Heirat wie der Teufel vom Weihwasser.
»Nein, bin ich nicht. Sonst noch was?«
»Werden Sie mich auch sicher freilassen, wenn Sie das Geld haben?«
»Natürlich. Meinst du etwa, ich will dich bis zum Ende meines 
Lebens um mich haben?«
»Immerhin habe ich Ihr Gesicht gesehen.«
»Na und?«, antwortete Andreas gelassen und lächelte schief. »Hast ja auch meinen silberfarbenen Koffer gesehen. Und wenn du nach der Freilassung aufmuckst, wird Julia den Koffer auch noch aus der Nähe bewundern können. Kommt da noch was Produktives rüber oder haben wir es jetzt?«
Philipp schluckte schwer und überlegte, was Julia tun würde. Sie würde wahrscheinlich versuchen Kontakt herzustellen, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Opfer-Täter-Beziehung oder wie so etwas heißt. Jedenfalls alles tun, was ihm die Umsetzung seines Vorhabens so schwer wie möglich machte. 
Er bohrte weiter.
»Was wollen Sie mit dem Geld machen?«
»Mit dem Geld machen?«, wiederholte der Maskierte verwundert. »Spenden will ich das beschissene Geld. Was sonst?« Andreas schüttelte den Kopf und griff nach dem eilig zusammengebastelten Mund-Knebel-Konstrukt. 
»Ich bin nicht naiv genug anzunehmen, dass ich der Erste bin.« Philipp Asmussen sagte das nicht als Frage und irritierte sein Gegenüber mit dieser Aussage.
»Häh? Was meinst du?«, fragte der Entführer und ließ vom Ledergürtel ab.
»Na, bin ich der Erste?«, versuchte Asmussen zu konkretisieren.
»Der Erste?«
»Der Erste, den Sie entführt haben?«
Der Maskierte beäugte Philipp durch die Augenschlitze seiner schwarzen Skimaske.
»Macht das ’n Unterschied?«
»Ich denke schon.«
»Für wen?«, fragte Andreas, der sich auf den Plastikstuhl neben dem Bett setzte und damit seine Bereitschaft signalisierte, sich weiter unterhalten zu wollen.
»Im Prinzip, tja, für uns beide.«
»Für uns beide? Interessant.« Der Maskierte kratzte sich am 
Kinn. »Was haben wir denn miteinander zu tun?«
»Nun ja«, setzte Philipp fort. »Wenn ich das erste Entführungsopfer bin, dann ist das für uns beide etwas Neues. Denn ich wurde noch nie entführt. Also bis heute. Und sollten Sie schon vor mir jemanden entführt haben …«, Philipp suchte nach den richtigen Worten, »dann folgt diese Entführung aller Wahrscheinlichkeit nach gewissen routinierten Abläufen. Gewissermaßen. Oder?«
»Könnte man meinen.«
»Und?«
»Müsst ihr Anwälte immer alles wissen?«
»Es würde mich beruhigen.«
»Es gibt da einen Witz. Worin unterscheidet sich die BRD von der DDR?«
Philipp Asmussen verstand weder, was er damit sagen wollte, noch kannte er die Antwort. Er zuckte mit den Schultern.
»Beide hätten dem jeweils anderen alles verkauft. Doch nur die DDR hat geliefert.« Andreas lachte dumpf, stand auf und griff erneut nach der Mund-Knebel-Konstruktion.
»Bitte nicht«, flehte ihn Philipp an. »Bitte nicht den Golfball. Ich bitte Sie.«
»Willst du auch artig sein?«
»Unbedingt. Ja!«
»Artig sein, bis sich unsere Wege wieder trennen?«
»Das verspreche ich Ihnen!«
Die Skimaske ließ vom Konstrukt ab und kettete Philipps Arme und Beine an die Bettpfosten.
»Einverstanden. Und jetzt geb ich dir ohne Theater die Injektion gegen die Schmerzen. Das Angebot kann ich gerne machen. Doch solltest du wieder aufmucken, dann Gnade dir Gott. Alles klar?« Der Maskierte ließ seine Fingerspitzen theatralisch vor dem Hals hin und her wandern und verabreichte ihm nach einer kurzen Sprühdesinfektion den Inhalt der Spritze. 
Philipps Arm kribbelte und er spürte, wie sich die Flüssigkeit in seinem Blutkreislauf verteilte. Es fühlte sich angenehm warm an. Dann verschwand die Skimaske aus dem Keller und löschte das Deckenlicht. Und während Philipp im Dunkeln so dahindöste, inständig hoffte, dass er nicht der Erste sei, und immer müder wurde, hörte er oben einen Motor aufheulen. Der Entführer schien das Haus verlassen zu haben. Er war wieder allein. Irgendwo im Nirgendwo.

Tag 2 

Donnerstag, 17. September 2020

Sie hatten viel geredet, noch mehr geweint, waren in gemeinsame Erinnerungen abgeschweift und hatten auch etwas schlafen können. Sie fühlten sich einander vertraut. Noch immer. Auch wenn der Anlass des Wiedersehens kein schöner war. Morgens gegen halb fünf rief Bertie ein Taxi und verabschiedete sich.
»Wenn etwas ist, ruf mich sofort an.«
»Danke, dass du da warst. Und gut zu wissen, dass du nicht gleich wieder für Jahre in der Versenkung verschwindest.« Julia hielt kurz inne und ergänzte: »Philipp und ich sind für deine Hilfe so unendlich dankbar.«
Ein vertrautes Grinsen überzog Berties attraktive Züge, dann ging er durch den Flur Richtung Haustür.
»Gegen 21 Uhr bin ich wieder zurück«, rief er ihr zu. »Versuch dich noch etwas auszuruhen, aber vergiss die Bank nicht. Vermutlich wird, wenn sich Philipp morgen Abend meldet, alles ganz schnell gehen. Hoffe ich zumindest. Wahrscheinlich ist er in zwei oder drei Tagen schon wieder bei dir und wir können zu dritt anstoßen.«
Müde sah Julia ihm vom Sofa aus nach, bis die Tür ins Schloss gefallen war.
* * *
Hinter einer verschlossenen Tür lag auch Julias Ehemann Philipp, als er gegen halb acht von einem Ruckeln an der Schulter unsanft geweckt wurde. Auch er hatte nur wenig geschlafen. Doch er schaute in ein maskiertes Gesicht – keine zehn Zentimeter von ihm entfernt.
»Dachte schon, du seist krepiert. Mach dich ja nicht vom Acker, bevor ich mein Geld bekommen habe. Hörst du?«
Doch Philipp war nicht nach Scherzen zumute. Sein Mund war trocken und er hatte Schwierigkeiten zu sprechen. Was hatte die Skimaske ihm gestern nur gespritzt?
»Übrigens«, setzte der Maskierte weiter fort, »du bist der Erste!«
»Darf ich etwas zu trinken bekommen?«, krächzte es aus Philipp heraus.
Andreas löste die Ketten und reichte ihm eine Flasche Wasser.
»Und aufs Klo kannst du auch gleich gehen. Danach gibt’s Frühstück.«
»Was war das eigentlich für ein Zeug gestern? Morphium?«, fragte Philipp und rieb sich die Augen wach. »Ich bin vollkommen benebelt, als wäre ich unter eine Dampfwalze gekommen.«
»Jetzt mach mal halblang und entspann dich. Wenn alles gut läuft, ist morgen Abend um sieben dein großer Auftritt und Sonntag bist du wieder bei Mutti. So sagt man doch bei euch. ›Bei Mutti sein‹.«
»Mutti? Halblang?«, fragte Philipp und öffnete die Flasche. »Was faseln Sie da?« 
Die Miene hinter der dunklen Skimaske verzog sich vor so viel Undankbarkeit. Sie hatten doch einen Deal gehabt. Keinen Mundknebel, dafür Ruhe! Andreas schnappte sich den Alukoffer, den er als Warnung neben dem Bett stehen gelassen hatte, öffnete ihn langsam und ließ seine Finger über die Werkzeuge fahren, bis er das Skalpell Größe 4 herausfischte.
»Kann es sein, dass ich hier irgendwas nicht richtig mitbekommen habe, Anwalt?«, fragte Andreas in einem deutlich strengerem Ton, griff sich Philipps linke Hand und setzte das Skalpell an. »Ich will ja nicht davon anfangen, dass wir die beste Bros geworden wären, wenn wir uns unter, ich sag mal, normaleren Umständen kennengelernt hätten, aber eigentlich lief das doch bis jetzt ganz gut mit uns. Abgesehen von deinem kleinen Aussetzer gestern und deiner Unfreundlichkeit jetzt. Willst du mir schon wieder auf den Sack gehen? Ist es das, was du willst?«
Philipp erstarrte zu einer sitzenden Salzsäule und verfolgte, wie sich das glänzende Werkzeug über seiner Hand hin und her bewegte. 
»Mit neun Fingerchen bist du nicht weniger wert für mich, vergiss das bloß nicht in deiner Überheblichkeit.« Dann ließ der Maskierte von ihm ab. »Willst du jetzt wieder artig sein?« Philipp hob den schweißbedeckten Kopf.
»Ja, will ich!«
Andreas steckte das Skalpell zurück in den grauen Schaumstoffeinsatz und nahm den ursprünglichen Faden wieder auf.
»Und nun mach dich frisch und iss dein Frühstück. Hopp, hopp!«
* * *
Zur gleichen Zeit setzte sich Julia in ihren Wagen und fuhr im milden Licht der Septembersonne zur HASPA-Filiale am Mühlenkamp. Wie in dieser beliebten Wohngegend üblich, plante sie einen großzügigen Puffer für die Parkplatzsuche ein und fand heute, wie sollte es anders sein, wenn man mal Zeit mitbrachte, sofort und direkt vor der Filiale eine freie Lücke. Nun war sie viel zu früh da. Sie ließ die Rückenlehne des Fahrersitzes herunterfahren und schloss die Augen.
Irgendwann klopfte es an der Beifahrerscheibe. Drei Mal. Julia erwachte, drehte den Kopf Richtung Lärmbelästigung und schaute in die Augen eines Fremden, der sie mitleidig anlächelte und ihr etwas mitteilen wollte. Sie ließ den Sitz hoch und die Scheibe herunter fahren.
»Gute Frau, Sie dürfen hier nicht im Wagen nächtigen. Es handelt sich um einen öffentlichen, gebührenpflichtigen Parkplatz.«
»Nein, nein, so ist es nicht.« Julia hüstelte und strich sich die Haare aus ihrem Gesicht. »Ich warte, bis die Sparkasse öffnet.«
Erst jetzt erkannte der Fremde in Julia die Ehefrau eines seiner besten Kunden.
»Oh, mein Gott. Entschuldigen Sie bitte, Frau Asmussen. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe. Mein Name ist Michels, ich bin der Leiter dieser HASPA-Filiale, und Sie müssen nicht mehr warten. Ich bin jetzt da. Für Sie da. Kommen Sie bitte herein.«
Julia zuckte überrascht mit den Mundwinkeln, stieg aus, warf ein Zwei-Euro-Stück in den Parkautomaten und legte den Parkschein hinter die Windschutzscheibe. Nun hatte sie eine Stunde, das sollte reichen.
Drinnen angekommen, geleitete Dr. Michels sie in sein Büro, bot ihr einen Stuhl an und kochte Kaffee. Dann setzte er sich zu ihr an den Besprechungstisch, schob ihr Tasse, Milch und Zucker hinüber und ließ Julia von ihrem Anliegen berichten. Zwei Tassen später kam er schließlich zu Wort: »400.000 Euro in kleinen Scheinen?« Julia nickte.
»Heute noch?«
»Unbedingt. Es ist wirklich dringend.«
»Eigentlich unmöglich. So viel haben wir nicht hier. Das kann schon zwei bis drei Tage dauern, Frau Asmussen.«
»Und uneigentlich?«
Michels lächelte angestrengt.
»Ich müsste beim Firmenkunden-Center am Adolphsplatz in der Innenstadt nachfragen, wie der tagesaktuelle Barbestand bei den Kollegen ist. Eventuell könnte sich das bei dieser Summe ausgehen.«
»Das wäre sehr freundlich. Tun Sie das bitte!«
»Sind Sie sicher, dass wir keine Polizei verständigen wollen?«
»Das bin ich, Herr Dr. Michels«, antwortete Julia und drehte nervös ihren Ehering am Finger.
»Nun gut. Es ist schließlich Ihr Geld.«
»Wie lange, meinen Sie, wird das dauern, also mit den Kollegen vom Adolphsplatz?«
»Wenn Frau Brahms aus dem Kassenbereich gleich im Hause ist, Sie verstehen, hier gilt das Vier-Augen-Prinzip, können wir das Geld mit etwas Glück bis halb, vielleicht um vier vor Ort haben. – Würde Ihnen das reichen?«
»Auf jeden Fall. Vielen Dank, Herr Dr. Michels.«
»Wollen Sie hier warten, bis Frau Brahms alles geklärt hat? Ich könnte Ihnen zwei halbe belegte Brötchen von der Bäckerei Junge bringen lassen. Gleich nebenan.«
»Sehr aufmerksam von Ihnen. Da sage ich nicht nein.«
Michels, der noch nicht gefrühstückt hatte, würde sich auch gleich drei halbe mitbestellen und alle fünf unter »Kundenbindungsmaßnahme« auf dem Spesenkonto #2020 verbuchen lassen. 
Er nickte zufrieden und fragte:
»Doch bezüglich Polizei bleibt es bei Ihrem Nein?«
* * *
Für Philipp gab es keine belegten Brötchen vom Bäcker. Dafür 20 Minuten kettenfreie Zeit, in der er drei Schalen Früchte-Müsli mit lauwarmer Milch hinunterschlang. Der Maskierte saß auf dem beklebten Plastikstuhl und beobachtete Philipp. Viel gesprochen hatte er auch heute nicht. Bis jetzt. 
»Leben deine Eltern noch?«
Philipp verschluckte sich fast und war dennoch froh über das Interesse. Bedeutete das doch, dass sich eine erste Verbindung zwischen den beiden aufbaute. Er dachte an Julia. Sie hätte sich sicherlich ebenso über diesen Fortschritt gefreut.
»Nein, meine Eltern leben nicht mehr, sie sind vor wenigen Jahren gestorben.«
»Habt ihr euch gut verstanden?«
»Hm, gute Frage«, murmelte Philipp und ergänzte nach einer kleinen Pause: »Ich denke, ganz normal. Mit allen Höhen und Tiefen, die eine Kindheit im Laufe der Jahre mit sich bringt.« Philipp legte den Löffel in die Schale. »Ich erinnere mich, dass ich als kleiner Steppke jeden Nachmittag mit meinem besten Freund aus der Nachbarschaft draußen rumgestreunt und oft erst spät und meist mit Schürfwunden vom Klettern oder vom Fußballspielen zurückgekommen bin. Heute wäre das undenkbar, wo sich Kinder jede Stunde zu Hause melden müssen. Aber meine Eltern haben sich nie Sorgen gemacht, haben mir vertraut und es gab nur selten Ärger. Also wenn wir richtig spät nach Hause kamen. Vielleicht hätten sie anders reagiert, wenn ich ein Mädchen gewesen wäre.« Ein leichtes Grienen zog sich über sein Gesicht. »Doch das änderte sich, als ich in der fünften Klasse aufs Gymnasium wechselte, genau das, wo auch meine Mutter als Lehrerin arbeitete. Nichts, was ich tat oder eben nicht tat, blieb ihr verborgen. Immer gab es jemanden, einen Lehrer, einen Schüler, der es meiner Mutter brühwarm steckte. Der reinste Horror. Und dann bekam ich meist Stubenarrest.«
»Stehst wohl auf Geheimnisse? – Solche Typen kenn ich zur Genüge. Sind immer der Ansicht, sie seien etwas Besseres, und mogeln sich so durchs Leben.«
Philipp wurde hellhörig und fragte irritiert:
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, egal.« Andreas machte eine wegwerfende Handbewegung, stand auf und ging ein paar Schritte durch den Keller. Es schien, als überlege er etwas. Philipp hätte alles dafür gegeben herauszufinden, was das war. Dann kam die Skimaske zurück und setzte sich wieder zu ihm.
»Was ist mit Julia? Wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Über einen guten Freund. Es war bei der Abschlussfeier des Studiums. Dort habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Es war Liebe auf den ersten Blick.«
»Gibt es so was wirklich? Liebe auf den ersten Blick? Oder ist das nur eine Erfindung aus Hollywood?«
»Bei Julia schon! So viel kann ich Ihnen bestätigen. Bei ihr war ich schockverliebt.«
Andreas schaute ihn kalt durch die Augenschlitze an, während sich Philipps Herz erwärmte. Ihm tat dieses Gespräch gut.
»Und … wird sie dich jetzt verraten?«
Häh? Was redet der da?, dachte Philipp und biss sich auf die Lippen. Er wollte nicht mit einer unüberlegten Äußerung die zarte Blüte der Annäherung zertreten. Doch vielleicht hatte er sich auch nur verhört? Der Nebel und so!
»Was meinen Sie?«, fragte er mit gepresster Stimme.
»Hast mich schon richtig verstanden, Anwalt«, erwiderte Andreas im betont rüden Ton. »Da bin ich mir sicher.«
Rumms! 
Von einer Sekunde zur nächsten fiel Philipps Hoffnung auf Annäherung, vielleicht sogar etwas wie Solidarität, zusammen. Angst durchströmte seinen Körper. Philipp war zurück im Hier und Jetzt, in der düsteren Realität. Im kalten, vom Schwamm durchzogenen Kellergewölbe, in der Gewalt eines brutalen Irren, wahrscheinlich sogar Mörders. Schmallippig fragte er:
»Wie? Mich verraten?«
»Mensch, Anwalt. Stehst doch sonst nicht auf der Leitung! Ich will von dir wissen, ob du glaubst, dass deine ach so tolle Julia den Bullen Bescheid gibt! Oder schon getan hat? Alles klar?«
»Nein. Nein. Nein.« Philipp schüttelte wild den Kopf, als wolle er beim Transport der Worte behilflich sein. »Auf keinen Fall würde sie das tun! Niemals!«
»Was macht dich da so sicher?«
»Ich habe es ihr gesagt. Sie waren doch gestern Abend bei dem 
Gespräch dabei.«
»Tut sie alles, was du von ihr verlangst?«
Philipp hatte keinen blassen Schimmer, wohin das Gespräch führen würde. Doch der Verlauf gefiel ihm nicht. Die Maske hatte einen Weg eingeschlagen, dessen Richtung er nicht mehr überblicken konnte. Er war von den Gerichtssälen in Sachen Psychospielchen einiges gewohnt, aber das war einfach nur schräg. Fast wünschte er sich, wieder am Bettgestell festgekettet zu sein und in Ruhe gelassen zu werden. Allerdings wartete der Peiniger immer noch auf Antwort. 
»Und?«, hakte er nach, während seine Augen unverändert starr und ausdruckslos auf Asmussen ruhten. Würde er wirklich wieder seinen Alukoffer bemühen müssen, begann er zu überlegen, als Philipp erneut ansetzte:
»Was wollen Sie noch?«, fragte er und begann aufzuzählen. »Sie haben mich entführt, erhalten die nächsten Tage eine Million Euro, wie gewünscht in kleinen Scheinen, und werden ein reicher Mann sein. Reicht das nicht? Was sollen die Spielchen?«
Doch die Skimaske wollte nicht mehr. Ohne seinen Blick zu lösen, erhob sich Andreas und legte Philipp die Ketten an. Dann verabreichte er ihm eine weitere Spritze in den Arm und verließ wortlos das Gewölbe.
* * *
Julia hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie viel Platz 400.000 Euro in kleinen Scheinen in Anspruch nehmen würden, als sie kurz nach vier vollbepackt nach Hause kam. Sie hatte auch nicht gewusst, dass sie so viel wogen. Das waren gut und gerne fünf, vielleicht sechs Kilo. Nur wohin damit? Der Safe war mit Schmuck und Philipps »Notgroschen« bis oben gefüllt. Sie eilte die Stufen zum Keller hinab und schnappte sich ein großes, orangeweißes Zalando-Paket, legte die Geldbündel hinein und verstaute es im Schlafzimmerschrank unter Philipps Infrarotlampe. Sie hatte ihre Hausaufgabe gemacht und setzte sich abgekämpft aufs große Doppelbett. Nun galt es abzuwarten. Oder gab es noch etwas, was sie tun musste? 
Die Gedanken rasten unbeirrt durch ihren Kopf und klapperten sämtliche Bereiche ab. Es wird schon gut ausgehen, sagte die eine Stimme in ihr. Es wird genauso laufen wie geplant. Ganz sicher. Du hast nichts Falsches gemacht. Doch leider meldete sich auch die andere Stimme. Die war nicht so guter Laune und zeigte ihr akribisch auf, was alles schief gehen konnte. Und während Engelchen und Teufelchen weiter auf sie einhämmerten, hob sie ihre Beine aufs Bett, legte sich hin, zog das Kissen unter ihrem Kopf zurecht und schloss übermüdet die Augen. Heute würde sie wohl nicht mehr richtig wach werden. Doch das war ein Trugschluss.
* * *
Philipp wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Oder war es nur ein nebulöses Dösen gewesen? Er wusste auch nicht, wie lange er insgesamt schon hier unten ausgeharrt hatte. Er war der Zeit entwischt und wünschte sich, dass sie ihn wiederfand. Ausgerechnet ihm musste das passieren. Ausgerechnet ihm, der jede angebrochene Stunde mit 350 Euro abrechnete. Dieser Kontrollverlust machte ihn rasend und er ging in Gedanken die vergangenen Mahlzeiten durch. Abendessen, Frühstück, Mittag. Es musste Nachmittag oder Abend von Tag zwei sein. Er erschrak. Erst Tag zwei und bereits ein seelisches Wrack? 
Er spürte die Schwere in seinen Beinen und Verspannungen in seinem Rücken, die sich zu den anderen Schmerzen hinzugesellt hatten. Nicht mehr so schlimm wie vor zwei Tagen, dafür hatten die Spritzen gesorgt, aber noch spürbar. Er brauchte einen Plan B und begann gerade sich darüber Gedanken zu machen, als er vor dem Haus ein Motorengeräusch vernahm. Klang irgendwie anders als beim letzten Mal! Die Polizei? Hatten sie ihn gefunden? Hatte Julia sie doch informiert? Hoffnung stieg in ihm auf. War das die Antwort auf seine Frage nach Plan B? Andererseits hatte er Julia ausdrücklich gesagt, sie solle die Polizei aus dem Spiel lassen, und das ursprünglich auch so gemeint. 
Als dann Minuten später die schwere Kellertür geöffnet wurde und die beiden Glühbirnen an der Decke zu flackerndem Leben erwachten, hob Philipp den Kopf, soweit es die Ketten zuließen, und starrte gebannt zur Treppe. Doch die Hoffnung, dass jetzt das SEK hereinstürmte, verflog in dem Moment, als er eine einzelne Skimaske mit gewohntem Gangbild sah. Ernüchtert rief Philipp dem Entführer entgegen:
»Wie spät ist es?«
Doch Andreas war mit dem Ausbalancieren des Tabletts vollends beschäftigt und antwortete nicht. Am Holztisch angekommen, stellte er das Abendessen ab und Philipp sagte:
»Sie haben meine Armbanduhr!«
»Na und?«
»Darf ich sie wiederbekommen?«
»Was willst du denn damit? Hast du heute noch ’n Date?«
Philipps Augen blinzelten hektisch, mussten sich erst an das Licht gewöhnen, während sein vernebelter Verstand versuchte nachzudenken. Würde er dem Entführer zu verstehen geben, dass er seine Uhr brauchte, um ein wenig Struktur und Halt zu finden, würde er ihm signalisieren, dass er bereits nach einem Tag Macht über seine Ohnmacht besitzen würde. Das wollte er um jeden Preis vermeiden. Auch würde der Maskierte bei dieser Antwort vermutlich ohnehin verneinen. Wahrscheinlich war das auch der Grund dafür, dass er ihm die Uhr abgenommen hatte. Denn besonders wertvoll war das Stück nicht. Er brauchte etwas anderes, Profaneres und antwortete bemüht:
»Es fühlt sich einfach komisch an. So ganz ohne Uhr am Handgelenk. Als ob etwas fehlt.«
»Dafür hast du doch jetzt die Ketten«, erwiderte Andreas und wunderte sich über seine Schlagfertigkeit.
»Darüber wollte ich auch noch mit Ihnen sprechen.«
»Worüber?«
»Über die Ketten.«
»Was ist mit denen?«
»Wäre es möglich, mich davon zu befreien? Was kann ich schon anstellen? Allein in diesem Keller?«
»Was ist denn bei dir schief gelaufen, Anwalt?« Philipp rasselte mit den Händen.
»Oder zumindest etwas weiter stellen?«