Der Fall des Erben - Sarah Smith - E-Book
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Der Fall des Erben E-Book

Sarah Smith

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Beschreibung

Ein dunkles Familiengeheimnis: Der atmosphärische Roman »Der Fall des Erben« von Sarah Smith jetzt als eBook bei dotbooks. Ein nie aufgeklärtes Verbrechen, ein verschwundenes Kind und eine Erbschaft, die niemand antreten darf … Neuengland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Als der junge Wissenschaftler Alexander Reisden nach Boston reist, ahnt er nicht, dass er bald in einen Kriminalfall verwickelt wird: Vor 20 Jahren wurde der Fabrikant William Knight brutal ermordet, sein Enkel, der Erbe eines immensen Vermögens, verschwand spurlos – und der Täter wurde nie gefasst. Warum sieht Reisden dem verschwundenen Erben so unheimlich ähnlich? Und was geschah damals wirklich in dem prachtvollen Anwesen am See? Immer tiefer verstrickt sich Reisden in die Geheimnisse dieser Familie – und in die der jungen Pianistin Perdita Halley, die einem Verwandten der Knights versprochen ist und wie eine Gefangene wirkt, wie ein schöner Vogel im eisernen Käfig … »Eine atemberaubende Geschichte mit einem fulminanten Schlussakkord. Die Atmosphäre der Jahrhundertwende wird wunderbar geschildert.« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Der Fall des Erben« von Sarah Smith ist der erste Band ihrer glanzvollen Saga um die Familie Knight und eine gefährliche Liebe. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 580

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Über dieses Buch:

Ein nie aufgeklärtes Verbrechen, ein verschwundenes Kind und eine Erbschaft, die niemand antreten darf … Neuengland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Als der junge Wissenschaftler Alexander Reisden nach Boston reist, ahnt er nicht, dass er bald in einen Kriminalfall verwickelt wird: Vor 20 Jahren wurde der Fabrikant William Knight brutal ermordet, sein Enkel, der Erbe eines immensen Vermögens, verschwand spurlos – und der Täter wurde nie gefasst. Warum sieht Reisden dem verschwundenen Erben so unheimlich ähnlich? Und was geschah damals wirklich in dem prachtvollen Anwesen am See? Immer tiefer verstrickt sich Reisden in die Geheimnisse dieser Familie – und in die der jungen Pianistin Perdita Halley, die einem Verwandten der Knights versprochen ist und wie eine Gefangene wirkt, wie ein schöner Vogel im eisernen Käfig …

»Eine atemberaubende Geschichte mit einem fulminanten Schlussakkord. Die Atmosphäre der Jahrhundertwende wird wunderbar geschildert.« Publishers Weekly

Über die Autorin:

Sarah Smith promovierte an der Harvard University und war Dozentin für Filmwissenschaft und Literatur des 18. Jahrhunderts, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Ihre Romane über die Familie Knight wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und erlangten Bestsellerstatus. Für ihre weiteren Bücher erhielt sie u. a. den »Agatha Christie Award«. Sie lebte längere Zeit in Paris, Japan und London und wohnt heute mit ihrer Familie in Boston.

Die Website der Autorin: www.sarahsmith.com

Bei dotbooks veröffentlichte Sarah Smith ihre große »Knight Saga« mit den Romanen »Der Fall des Erben«, »Die Schatten einer Familie« und »Die Sünde eines Sohnes«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2022

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1992 unter dem Originaltitel »The Vanished Child« bei Ballantine Books, Random House Inc., New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Das dunkle Haus am See« bei dtv.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1992 Sarah Smith

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-565-1

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Sarah Smith

Der Fall des Erben

Die Knights-Saga

Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg-Ciletti

dotbooks.

Für

S. M. B.

M. B. C. P.

J. R. O. P.

in Liebe

omnia mei dona Dei

[Hinter dem Verschwinden von Kindern] stehen Geschichten eines Verlusts, der tiefer geht als der Tod. Der Schmerz über ein endgültiges und abgeschlossenes Unglück läßt mit der Zeit nach; der Schmerz der Ungewißheit wird intensiver, je länger er andauert ... Mit dem Verlust eines Kindes durch Menschenhand gehen Verrat und Grausamkeit einher, die Verzweiflung der Eltern, das Elend des Kindes, sein Heranwachsen in Verbrechen und Schande oder – ein gnädigeres Schicksal – sein früher Tod ... [Dennoch ist das Kind] nicht vergessen im Herzen der unendlichen Liebe; nicht unbehütet von dem, der niemals schläft. Die Hand, die den Schleier ausgebreitet hat, wird ihn lüften.

C. P. Krauth, Einführung zu›Charley Ross the Kidnapped Child‹(1876)

O Gott, der du für die drei Jünglinge im Feuerofen die Flammen löschtest: gib, daß die Flammen der Sünde uns, deine Diener, nicht verzehren.

Baltimore-Katechismus

Kapitel 1

Der Baron Alexander von Reisden wurde wahnsinnig, als seine junge Frau starb, und war auch nach fünf Jahren noch nicht wieder gesund geworden. Seine Freunde waren besorgt um ihn. Er hatte einmal, ziemlich früh, einen Selbstmordversuch unternommen, der fehlgeschlagen war; das war ermutigend bei einem Mann, der im allgemeinen sowohl gut vorbereitet als auch vom Glück begünstigt war; aber selbst im Wahnsinn hatte Reisden mit Fug und Recht annehmen dürfen, daß er sich ins Herz schießen könne, ohne zu fehlen, und wieder zu sich gekommen, hätte er es beim nächstenmal ohne weiteres besser machen können. Die Waffe hatte er noch, in einem Kasten in seiner obersten Schublade, hinter seinen Kragenknöpfen, und auch das Leiden, das ihn zu seiner Tat bewogen hatte, diesen eigentümlichen, unerklärlichen und anscheinend unheilbaren Wahn.

»Glaubst du immer noch, daß du sie getötet hast?« fragte Louis.

Reisden blickte von den Notizen in seinem Laborbuch auf. »Ich habe sie getötet. Das ist nicht die Frage.«

Es war Heiligabend 1905. Sie befanden sich im Kühllabor der chemischen Laboratorien der Universität Lausanne. Reisdens Aufzeichnungen über neuromuskuläre Verbindungen lagen auf dem Labortisch ausgebreitet neben einem Kühlkasten mit Glasdeckel und -wänden, in den das Galvanometer und Reisdens andere Untersuchungsinstrumente hineinpaßten; aber da ungehinderte Sicht und Isolation nicht gleichzeitig zu haben waren, war es im ganzen Labor nicht wärmer als in dem Kasten. Die Kühlschlangen und ein Elektromotor nahmen den größten Teil der hinteren Wand ein; Louis mußte schreien, um das Getöse zu übertönen. Reisden, dem kalt war in seinem Kittel, hielt die Hände über den Bunsenbrenner. In einer Metallwanne in der Nähe lagen in Kälte erstarrt halbausgestreckt drei Frösche. Einer von ihnen rührte sich, vom Schatten seiner Hände aufgestört.

»Aber du weißt, daß es ein Unfall war«, beharrte Louis.

»Natürlich.« Reisden ergriff eine Punktionsnadel und öffnete den Glaskasten. Wie weit, überlegte er, wird das Experiment dadurch beeinträchtigt werden, daß der Experimentator warmblütig ist? Er maß die Temperatur des Frosches und fuhr mit der Hand über den Rücken des Tieres, das erschrokken über den Labortisch sprang, bis es, gelähmt von der Kälte und den Toxinen, die sich in seinen Muskeln ansammelten, wieder liegenblieb. Reisden bog den Hals des Frosches nach vorn, tastete über die glatte Haut und schob die Nadel durch die Schädelbasis aufwärts ins Gehirn. Den Frosch durchlief ein Zittern, dann entspannte er sich in seinen Händen. Die Prozedur war angeblich schmerzlos, was Reisden immer als irrelevant betrachtet hatte: als wäre ein schmerzloser Tod leichter entschuldbar. Tasy war augenblicklich tot gewesen und hatte wahrscheinlich keine Schmerzen gelitten.

Ich weiß, daß es ein Unfall war, dachte Reisden. Ich hatte nie Schwierigkeiten, das zu erkennen.

Der Frosch hing schlaff in seiner Hand. Eben noch Frosch, jetzt Präparat. Rasch durchtrennte Reisden die Haut des Beines, legte Nerv und Muskel frei.

Louis Dalloz spähte ihm über die Schulter und grunzte wie eines seiner Versuchsschweine, wobei er wie ein erzürnter französischer Weihnachtsmann dampfende Atemwölkchen ausstieß. Aus den Ärmeln seines alten Mantels stieg ein strenger Geruch nach großen Tieren und Stallungen auf. Der Schal, den seine Frau ihm gestrickt hatte, beulte den Kragen seines Mantels aus. Er sah aus wie ein Unfall mit Hut, und sogar in seiner eigenen Universität hatte man ihn schon mit dem Hausmeister verwechselt. Nur seine Hände, kurzfingrig und feinnervig und mit Säure befleckt wie Reisdens, sahen wie die eines Chemikers aus.

»Wie hältst du nur diese Kälte aus?«

»Wie hältst du nur die Schweine aus? – Die Kälte verzögert die Erholungsreaktion.«

»Deine auch. Das ist kein Experiment, das ist eine Strafe«, sagte Louis schniefend. Er musterte mit zusammengekniffenen Augen das Galvanometer. »Was ist mit deinem Laborassistenten?«

»Der ist über Weihnachten nach Zürich gefahren.«

»Und du bleibst hier und machst die Arbeit, die jeder Laborant erledigen könnte. Wenn du in Paris wärst ... Berthet würde nicht zulassen, daß ein Siebenundzwanzigjähriger wie ein Mönch lebt. Nicht in Paris.«

Reisden schaltete den Kühlmotor aus. Im ersten Moment war die Stille ohrenbetäubend.

»Ich gehe nicht nach Paris.«

Louis grunzte und sah ihn zornig an.

»Hör mir zu, Louis.« Reisden bewahrte einen neutralen Ton. »Berthets Leute gefallen mir. Ja, ich wäre dort wahrscheinlich gut aufgehoben. Ja, es würde mir gefallen, in Paris zu leben. Wir haben das alles schon durchgesprochen. Ich gehe nicht.«

»Du hältst dich nicht für gut genug.«

»Gib auf, Louis. Ich kenne deine Köder.«

»Du magst die Schweiz. Du möchtest hierbleiben und Geld verdienen.« Louis spielte mit Reisdens großem Mikroskop, drehte es hoch und zwirbelte es wieder auf Scharfeinstellung herunter. »Von wem?«

»Ramón y Cajal.«

»Hübsch.«

»Ich bin hier nicht von der Welt abgeschnitten«, sagte Reisden.

Louis sah ihn an. »Nein«, erwiderte er, »nur von dir selbst. Du kapselst dich schon so lange ab, daß du nicht mehr weißt, wie man einen Raum betritt, in dem sich Menschen aufhalten. Oder wie man einen Witz ohne Schärfe erzählt. Du bist wie ein wildes Tier im Käfig, das immer nur grrr macht –« Louis fletschte die Zähne und knurrte überzeugend –, »weil es nicht weiß, was es sonst tun soll. Es denkt bei sich, je suis la bête sauvage, ich bin wahnsinnig. Aber hat es nicht einfach Angst davor, was als nächstes geschehen wird? Spiel mir jetzt nicht den hochnäsigen Baron von Reisden vor, Sacha. Ich kenne dich seit deinem neunzehnten Lebensjahr.«

Reisden legte seufzend den Frosch nieder. »Wie wär’s, wenn du dich nützlich machst? Du kannst mitschreiben, während ich die Messungen vornehme.«

Louis griff mit einem lauten Stöhnen zum Federhalter. Reisden verband einen schimmernden Faden vom Froschpräparat, einst Frosch, mit dem Galvanometer. Der Strom bewirkte kaum ein Zucken des Muskels. Reisden bewegte den Drehknopf in winzigen Schritten und las die Zahlen laut vor.

»Komm doch mit nach Genua. Nur für ein paar Tage«, sagte Louis. »Es ist Weihnachten. Es ist nicht gut für dich, ganz allein hierzubleiben. Jeanne wird dich ein bißchen betüteln. Wir essen einen schönen Schweinebraten. Alle vom Labor kommen. Du kannst mit Verachtung auf unsere Forschungsmethoden herabsehen.«

»Nein, ich werde Weihnachten damit verbringen, daß ich unschuldige kleine Frösche in Stücke schneide.«

Louis öffnete den Mund und schloß ihn wieder.

Jetzt, dachte Reisden, wird es gleich brenzlig. Louis würde fragen, ob er wisse, daß die meisten Selbstmorde an Feiertagen verübt wurden. Louis, dachte er, glaub mir, Louis, man erschießt sich nicht, weil Weihnachten ist.

»Du warst mein bester Student«, sagte Louis energisch und hob eine Hand, als wollte er einen Eid leisten. »Jetzt bist du ...« Er wackelte mit den Fingern, während er nach den Worten suchte. »Jetzt kannst du wählen, ob du mit Berthet oder mit Sherrington arbeiten willst. Aber du läßt deine Möglichkeiten ungenutzt, du treibst nicht Chemie, du bemitleidest dich nur selbst und nennst es Schuldgefühl. Ich bin einzig aus Interesse an dir hier, ich friere mir hier in diesem Kühlschrank, den du Labor nennst, einen Tag vor Weihnachten den Arsch ab, um dir zu sagen, daß du dich töricht benimmst. Du wolltest sie doch nicht töten. Du hattest einen Nervenzusammenbruch und hast es dir eingebildet. Das war vor fünf Jahren!«

Ach, wirklich? »Und ›in einem anderen Land, und außerdem, das Weib ist tot‹. Und es wird nie wieder vorkommen. Aber ich gehe nicht nach Paris.«

Louis sah ihn zornig an. Sein Gesicht rötete sich. »Manchmal würde ich dir am liebsten eine Bombe unter den Hintern setzen. Nimm die Stelle an und spiel nicht den Heiligen Alexander im Eisschrank. Das tut dir nicht gut.«

Reisden sagte nichts. Er beobachtete die Handbewegung. Sie war Louis’ typische Geste, die man als erstes übernehmen würde, wollte man ihn darstellen: die erhobene Hand, die wackelnden Finger. Dies ist meine Hand. Warum bewegt sie sich? Reisden hatte mit neunzehn das Chemieseminar bei Louis belegt, weil die Schauspielerei seine größte Leidenschaft war und er sich diese Gesten des französischen Bauern aneignen wollte. Statt dessen war er auf eine Frage gestoßen, die er nicht hatte beantworten können.

Und die hatte sie für immer zusammengeschmiedet: diese Frage und Louis’ Beharrlichkeit. Manchmal war Reisden dankbar für Louis. Keineswegs immer.

»Hör mal«, sagte Reisden, »wann geht eigentlich der nächste Zug nach Genua?«

»In zwei Stunden«, antwortete Louis sofort und fügte hinzu: »Kommst du mit?«

»Ich bringe dich zum Bahnhof. Du willst doch Weihnachten nicht fern von Jeanne verbringen, hm? Wir fahren in deinem Hotel vorbei und holen dein Gepäck.«

»Um vier Uhr morgens bekommen wir keine Droschke. Ich werde bleiben müssen.«

Reisden sah zur dunklen Straße hinaus; sein Atem beschlug die Eiskristalle an der Fensterscheibe. »Ich fahre dich«, erbot er sich.

»Mit dem Automobil!« sagte Louis leise und riß sarkastisch die Augen auf. »Mit dem heiligen verfluchten Automobil Sankt Alexanders von Reisden! Vierge Marie!«

Ich bringe nicht jeden um, den ich mitnehme, dachte Reisden, plötzlich sehr müde. Er sah nach den noch lebenden Fröschen und nahm einen hoch. Der Frosch bewegte sich ein wenig in der Wärme seiner Hand. »Lebe!« sagte er zu dem Frosch und setzte ihn wieder zu den anderen.

Am frühen Morgen war der Bahnhof ein verwischtes Bild in Schwarz und Grau. Reisdens Automobil im Schein der elektrischen Laternen davor hatte zwei oder drei Gepäckträger auf die Straße gelockt. Seine Farben waren Bronze und Kupfergrün, die einzigen Spuren von Farbe in der Kälte. Louis ging zur Gepäckaufbewahrung und erschien mit einem Karren wieder, auf dem eine riesige Kiste stand. »Merde alors«, murmelte Reisden, »merde absolue.« Aus der Kiste quiekte es verzweifelt, und Louis kniete vor den Luftlöchern an ihrem einen Ende nieder und murmelte in unsichtbare große, behaarte Ohren: »Ach, mein kleines Schweinchen, mon petit chou, nur eine kurze scheußliche Bahnfahrt, dann bist du auf einem herrlichen großen Hof bei Genua, wo deine Schönheit gewürdigt wird.« Wo hatte Louis mitten im Dezember in Lausanne ein Schwein aufgetrieben?

Hinter Louis’ bäuerlicher Erscheinung verbarg sich ein echter Bauer. Als Junge war er barfuß über Frankreichs Erde gestapft und hatte alles über die Fütterung, die Aufzucht und die Abstammung von Schweinen gelernt. Er hatte sich, ein landwirtschaftlicher Arbeiter, der kaum des Lesens und Schreibens kundig war, in Paris durch einen Chemiekurs gequält, als die 1870er Revolution ausgebrochen war. Nach der Niederwerfung der Kommune hatten Freunde ihn nach Deutschland gebracht, zu dem einzigen Mann, der ihres Wissens dieselben Fragen über Nutztiere stellte wie Louis. Und von fernen professoralen Höhen aus hatte Rudolf Maty Louis gelehrt, daß die Frage nach dem Wachstum der Schweine nur Teil eines großen Ganzen aus Molekülen und Atomen war, die miteinander Eingeweide und Muskeln und Fett und Knochen bildeten; daß Moleküle sich trennten und neue Verbindungen eingingen, sich von der Nahrung in das verwandelten, was die Nahrung aufnahm, daß alles in einem großen Kreislauf wuchs und lebte, Mais und Schwein und Bauer. »Die Chemie des Lebens« hatte Louis seine Vorlesungen genannt, und von Reisden, dem Aristokraten, hatte man erwartet, daß er sich bestenfalls über sie amüsieren würde. Man weiß doch, daß Leute wie Louis nichts zu sagen haben.

Reisdens Familie war von Karl dem Großen in den Adelsstand erhoben worden. Vom dreizehnten Jahrhundert an hatten Reisdens auf Schloß Rezény gelebt, bis vor fünfzehn Jahren die letzten Dachbalken in Trümmer gegangen waren und Reisdens zwei altersschwache Tanten in möblierten Zimmern in Salzburg hatten Zuflucht nehmen müssen. Für einen Aristokraten war Reisden bedauerlich modern: Er hatte einen Beruf und er verdiente Geld. Es sei vulgär, sich mit ernsthafter Arbeit oder Geldverdienen zu befassen, hatte Reisdens Vormund ihm erklärt; er werde dank seines Namens eine gute Partie machen. Statt dessen hatte Reisden etwa zur gleichen Zeit, als er begonnen hatte, sich für biochemische Forschung zu interessieren, die Börse entdeckt; und vulgärerweise hatte er es seitdem verstanden, das Labor durch Börsengeschäfte zu finanzieren.

»Er braucht Ablenkung«, sagte Louis zu dem Schwein. »Er sollte es machen wie du, hm, mein Kleiner?«

Sich für Experimente hergeben, sich der Wissenschaft opfern lassen, oder mit Schweinen kopulieren? »Gib dir keine Mühe, Louis«, murmelte Reisden. Er zündete sich gegen den Schweinegeruch eine Zigarette an und ging ein Stück den Bahnsteig hinunter. Louis fand, er solle wieder heiraten. Jeanne pflegte geeignete Frauen auszusuchen und beim Essen neben ihn zu setzen, wenn er nach Genua kam. Aber niemand, das wußte Reisden, halluziniert ohne Grund über längere Zeit. Biochemie oder Vererbung? Graf Leo und die Tanten waren lange tot, und es gab niemanden, den er nach negativen Erbanlagen hätte fragen können. Aber er hatte sowieso kein sonderliches Interesse daran, sich fortzupflanzen; es würde keine Reisdens mehr geben.

Die elektrischen Lichter waren dunstverhangen; es hatte wieder zu schneien begonnen, in scharfen, halb durchscheinenden kleinen Nadeln. Wie zufällig folgte Louis ihm den Bahnsteig hinunter.

»Steig in den Zug. In ein paar Stunden kannst du in Paris sein. Probier es aus.«

Reisden zuckte die Achseln. »Ich arbeite gern allein.«

»Nein«, widersprach Louis. Reisden sah ihn erstaunt an. »Belüg dich nicht. Sacha, du lebst hier wie ein Toter. Du sprichst vielleicht ab und zu mal ein Wort mit deinem Laboranten? Und vielleicht mit deinem Barbier und dem Kellner des Restaurants, in dem du gerade ißt? Sacha, ißt du eigentlich immer allein? Du schreibst mir die schönsten Laborberichte und am Ende einen kurzen Satz, ›Hier ist alles in Ordnung, es schneit immer noch‹. Du bist meistens nachts im Labor, weil niemand da ist, der die Kühlung überwacht. Nur morgen, am Weihnachtstag, da ist überhaupt niemand da, und deshalb wirst du auch während des Tages arbeiten. Hältst du dich für glücklich? Glaubst du, es wird sich etwas ändern, wenn du dich nicht veränderst? Richte dich nicht behaglich ein in deiner Misere. Ich habe zwölf Jahre lang in Deutschland unterrichtet, und jeden Morgen habe ich auf den Knien gebetet: ›Laß mich nicht vergessen, daß ich hier weg will.‹«

Der Gepäckträger kam. »Monsieur, Ihr Zug fährt gleich ab.«

Die beiden Männer traten auf den Perron hinaus. Es war ein grauer Morgen. Der Wind war stärker geworden, und der Schnee nadelte auf ihren Gesichtern. Jenseits der Stadt hingen Schneewolken, die rasch näherkamen, ragten die schwarzen Schatten der Hochalpen auf, die den Wind einfingen und das Tageslicht abschnitten. Sie waren höher als irgend etwas sein sollte. Sie füllten den halben Himmel aus, düster und bedrohlich wie böse Träume.

Ich würde gern im flachen Land leben, dachte Reisden.

Der Wind war bissig. Bald würden die Bergpässe für den Winter geschlossen werden. Der Simplon-Tunnel würde dieses Jahr nicht fertiggestellt werden; es würde schwierig sein, nach Paris oder Genua zu gelangen, oder sonstwohin.

»Grüß Jeanne von mir«, sagte Reisden.

»Sie läßt dich auch grüßen, Reisden.« Louis setzte einen Fuß auf das Trittbrett und drehte sich um. »Fröhliche Weihnachten.«

»Fröhliche Weihnachten, Louis.« Louis würde sich Sorgen um ihn machen, das ließ sich nicht ändern.

Louis’ Mantel glitt verschwommen hinter den Fenstern des Eisenbahnwaggons vorüber; dann erschien sein Gesicht. Verrückt sein, das ist, als verlöre man einen seiner Sinne, oder was sonst es ist, das andere bei Verstand hält. Man kann den Verlust nicht erklären. Man kann sich nur unrund fühlen, nicht richtig. Reisden seufzte unter der Last ungenauer Gefühle, nicht unbedingt erheitert und nicht unbedingt verzweifelt.

Natürlich konnte man nach Paris gehen. Man war kein richtiger Chemiker, wenn man es nicht tat. Und praktisch genommen war er ja durchaus bei Verstand.

Louis schob klappernd das Fenster herunter. »Du könntest uns zu Neujahr besuchen –«

»Ich schicke dir zu Neujahr die Ergebnisse dieser Serie. Der Paß wird geschlossen sein.«

»Noch nicht ganz. Wir könnten –« Louis beugte sich plötzlich weit vor, hing halb aus dem Fenster und spähte blinzelnd durch das Schneetreiben.

»Sacha, wer ist das?«

Vom Bahnsteig auf der anderen Seite beobachtete sie ein Mann. Ein alter Mann, ungefähr sechzig – ein kleiner, heruntergekommen wirkender Mann mit einem schlechtgeschnittenen Anzug und einem komischen kleinen Hut, den er nach Ausländerart auf dem Hinterkopf trug. Es war nichts Ungewöhnliches an ihm, nichts Auffallendes, aber Reisden fühlte sich von der Intensität dieses Blicks gebannt. Es war, als sähe der Alte den Tod oder ein Gespenst oder Gott; etwas, das vertraut und schön und schrecklich war. Es war ein Blick wie der Moment vor dem Tod, etwas, das man unbedingt meiden mußte.

»Er kennt dich«, sagte Louis.

»Nein.« Doch der Fremde hob zaghaft die Hand, halb grüßend, halb nicht, wie jemand, der nicht sicher ist, ob er den Richtigen grüßt, und Reisden zuckte erschrocken zurück. Der Mann setzte sich stolpernd in Bewegung, ohne auf seinen Weg zu achten, und Reisden wünschte, er wäre woanders und müßte nicht miterleben, was immer sich nun ereignen würde.

Die Bahnsteige befanden sich ungefähr einen Meter über den Gleisen, die wie in einem Schacht zwischen ihnen lagen. Eine Frau packte den Alten am Ellbogen, als er den Rand des Perrons erreichte. Er sagte etwas zu ihr und ging mit arthritischer Schwerfälligkeit in die Knie, um sich auf der Kante niederzusetzen. Langsam ließ er sich in den Schacht hinunter und bewegte sich vorsichtig über Schienen und Schwellen.

Auf den Gleisen rollte, eines Melodramas würdig, ein Zug in den Bahnhof. Die Räder quietschten hoch und klagend, das schrille Todesgekreisch von Rädern auf Schnee; die Lokomotive glitt vorwärts, gellte eine Warnung und schien überhaupt nicht langsamer zu werden. Auf dem anderen Bahnsteig schrie jemand.

Reisden hätte zu den Gleisen hinunterspringen und den alten Mann wegziehen können. Zeit dazu war, aber er tat es nicht, er stand ganz still, fast ohne zu atmen, während zwei Bahnhofswärter an ihm vorbeirannten, den alten Ausländer an den Ellbogen packten und auf den nahen Bahnsteig hinaufstießen. Der Alte rappelte sich mühsam auf und kam unbeirrt auf ihn zu.

»Richard, kennst du mich?«

Ich hätte ihn unter den Zug stürzen lassen, dachte Reisden.

»Ich bin Alexander Reisden«, sagte er heftig. »Ich habe Sie nie in meinem Leben gesehen.« Das Schlimmste war, daß es, soweit er wußte, die Wahrheit war.

»Sacha, qu’est-ce qu’il dit?« rief Louis aus dem Zug.

»Er sagt, ich wäre jemand namens Richard.« Reisdens Stimme zitterte plötzlich. Er beherrschte sie.

»Dann hat Jay ihn wirklich getötet«, sagte der Alte. Er wurde plötzlich so blaß, daß seine Lippen sich bläulich verfärbten, und seine Augen verdrehten sich. Seine Beine gaben nach, und er brach zwischen den beiden Bahnbeamten zusammen. Sie legten ihn auf den Bahnsteig, in den Matsch, unter den fallenden Schnee.

Louis drängte sich zwischen den Menschen durch, die sich zu sammeln begannen.

»Du wirst deinen Zug verpassen.« Reisden stand an eine der Plattformsäulen gelehnt und starrte zu dem Alten hinunter.

»Wer ist Richard?« fragte Louis. Reisden schüttelte den Kopf.

Die Bahnbeamten breiteten eine Decke über den Alten, jedoch nicht über sein Gesicht. »Nicht tot«, stellte Louis fest.

Der komische Hut war dem Mann vom Kopf gefallen; Reisden hob ihn auf und las das Etikett im Inneren. »Dr. Charles Adair, Boston.«

Der Name sagte ihm nichts. Er kniete sich in den Schnee und legte dem Alten die Hand an den Hals, um den Puls zu suchen. Er flatterte schwach unter seinen Fingern. Hastig stand er wieder auf und wischte sich die Hand an seinem Mantel ab.

»Richard?« sagte er. »Ich weiß es nicht. Keine Ahnung.«

Kapitel 2

»Dr. Charles Adair«, sagte Victor Wills und beugte sich fasziniert über den Cafétisch. »Charlie Adair hier und heute, in diesem wunderbaren neuen Jahr 1906. So was aber auch, daß du seinen Namen in dem Hut gesehen hast! Er wird inzwischen auch nicht mehr der Jüngste sein – Himmel, es ist jetzt achtzehn Jahre her, daß die Knights umgebracht worden sind. Im August 1887 war das. Er ist doch hoffentlich nicht gestorben«, sagte Victor.

»Nein.« Reisden zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. »Aber es ging ihm nicht gut; ich glaube, er ist in seine Heimat zurückgekehrt. Victor, Dr. Charles Adair lebt in Boston, Massachusetts, und Louis hat mich zu einem Vortrag bei einer Konferenz verpflichtet, die dieses Frühjahr in Harvard, in der Nähe von Boston, stattfindet. Ich überlege, ob ich nicht lieber absagen soll. Ich möchte nicht anderen das gleiche antun wie diesem Adair.«

»Er hat dich für Jay French gehalten?«

»Nein, für jemanden namens Richard.«

»Ein kleiner Junge«, sagte Victor geistesabwesend. »Ja, ich kenne die Geschichte von Jay und Richard und dem Mordfall Knight, und ich denke, du, lieber Junge, solltest sie besser auch kennenlernen.«

Victor Wills und Alexander Reisden saßen in einem der kleinen Cafés an der Piazza San Marco. Die Glaswände waren geschlossen; draußen peitschte der Regen des neuen Jahres über den Platz, und Tauben und Touristen hatten sich verkrochen. Auf dem Simplon würde es schneien, dachte Reisden und fragte sich, warum er das Risiko eingegangen war, nach Italien hinüberzureisen. Drinnen wurde das Winterwetter von Wärme und vergoldeter Pracht abgewehrt. Der weißhaarige Victor hielt seine Tasse mit caffè latte in beiden Händen und sah sich vergnügt um.

Reisdens Freundschaft mit Victor, einem Klatschmaul vom Britischen Museum, das sich jetzt nach Italien zurückgezogen hatte, reichte beinahe so weit zurück wie seine frühesten Erinnerungen. Reisden war auf einem englischen Nobelinternat gewesen, als Victor, der Londoner Literat, der gerade zum Katholizismus übergetreten war, ihn in einer Theateraufführung der Schule gesehen und in seine Wohnung eingeladen hatte, um mit ihm über die Trinität zu diskutieren. Victor hatte sich recht eigenartig über den Katholizismus geäußert und mit einer gewissen Kennerschaft über Havelock Ellis, Frank Harris und Wilde gesprochen. Reisden war zu unschuldig gewesen, um gleich zu erkennen, daß Victor ihn verführen wollte; aber als er es, kurz bevor Victors Absichten unmißverständlich geworden wären, begriff, lenkte er Victor irgendwie von seinem ursprünglichen Vorhaben ab und brachte ihn dazu, von Wilde zu erzählen, von seinem eigenen Leben als Schriftsteller und schließlich über die Dichtung Mallarmés und die Zukunft der britischen Liberalen zu sprechen, Themen, über die Einigung möglich war. Victor war ein Freund geblieben, der zu Reisdens innerer Belustigung ständig von Histörchen überquoll, in denen es um italienische Kellner, verlorene Manuskripte und die Behörde ging, bei der Victor zumindest dem Namen nach beschäftigt gewesen war. Während der Nachwehen der Wilde-Affäre hatte er sich nach Italien zurückgezogen. Victors schriftstellerische Liebe galt der Lyrik – privat verlegt, getönte Tinte auf getöntem Papier, Beardsleyeske Illustrationen –, aber seit er sich im Ruhestand befand, war er zum Auftragsautor geworden, »um die Wölfe, wenn ich sie schon nicht aus dem Haus jagen kann, wenigstens daran zu hindern, daß sie zu mir unter die Decke kriechen«. Sein Brot verdiente er sich mit »Wahren Criminal-Fällen«.

Victor schrieb als pensionierter Sergeant Thomas Butcher, dessen spannende Schilderungen berühmter Verbrechen jede Woche im ›Pink ’Un‹ erschienen. Er war der Autor dreier Bände ›Große amerikanische Verbrechen – Berichte eines New Yorker Detektivs‹, sowie etwa dreißig weiterer Werke, darunter ›Blut und Diamanten – Der Bericht einer Spionin‹. (»Ein solcher Spaß, mein Junge.«) In seinem Fach, soweit man es als solches bezeichnen konnte, gehörte er zur Spitze.

»Der berüchtigte Fall Knight. Ich warne dich, mein Lieber, dir wird die Geschichte möglicherweise nicht gefallen. Jay French war ein Mörder, mein Junge – ein mehrfacher Mörder, der guten Lizzie Borden durchaus ebenbürtig. Jay French, der Kindermörder. Ich habe die Knights aus den ›Amerikanischen Verbrechen‹ herausgelassen, weißt du. Mein Verleger wollte das Material mit hineinnehmen, und ich hatte Photographien. Aber ich habe es abgelehnt.«

»Ach?«

»Ich habe ihm gesagt, es würde einem guten Freund Ungelegenheiten bereiten. Ich will dir das Schlimmste zuerst erzählen. Es ist seltsam«, sagte Victor vorsichtig, »daß Adair dich für Richard hielt.« Er schob eine Photographie über den Tisch. »John Jay French«, sagte er. »Er und Richard waren Vettern.«

Das Bild war klein, etwa von der Größe einer Visitenkarte. Reisden erkannte einzelne Gesichtszüge: Stirn, Nase, einen Unterkiefer, wie er ihn sich jeden Morgen rasierte. Plötzlich bildeten die Züge ein Gesicht, und das Gesicht war seins. Mit einem heftigen Schauder reichte er das Bild zurück.

»Willst du die Geschichte immer noch hören, mein Freund?«

»Ja. Erzähl weiter.«

»Sicher? Weißt du, nach zehn Jahren Schreiberei mit blutgetränkter Feder ist ›schockierend‹ für mich ein Fremdwort. Aber gut, dann werde ich in meiner gewohnt bissigen Art loslegen, ohne Rücksicht auf Verluste. Also, das mit den Knights war so.«

»Zunächst einmal«, sagte Victor, »mußt du dir darüber im klaren sein, daß die Verbrechen der Reichen im wesentlichen immer mit Geld zu tun haben. Zumal in Amerika, wo es Moral und Tradition nicht gibt, sondern nur Profit. William Knight hat sich durch Geld erschaffen. Der Mann, der ihn nicht beerben durfte, hat ihn schließlich getötet.«

William Knight war der Sohn eines armen irischen Einwanderers, auf dem Schiff geboren, das ihn nach Amerika brachte. Mit zehn brannte er durch und ging zur See, und mit zwanzig hatte er sein erstes eigenes Segelschiff. Er handelte vor allem mit Baumwolle. Zu Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs war er bereits ein reicher Mann.

Dann machte er Geschäfte mit den Konföderierten.

Obwohl schon über sechzig, reiste er nach England und in die Staaten der Konföderation, um den Baumwollhandel in Schwung zu halten. Er wurde geächtet. Mit dem Süden Handel zu treiben, das gehörte sich einfach nicht, und drei seiner eigenen Söhne kämpften für den Norden.

Aber er wurde steinreich.

Auf den Photographien sieht er richtig wahnsinnig aus: ein böser alter Lincoln mit gemein verzogenem Mund und Augen so groß und dunkel wie Höhlen voller Spinnen. Er ließ sein Haar wachsen, weil die Bibel es ihm befahl. Er baute Kirchen, hielt in seiner Firma öffentliche Gebetsversammlungen ab und verklagte seine Nachbarn wegen Lappalien. Er war an sechsunddreißig Geschäftsunternehmen beteiligt, aber er aß immer das gleiche, Hackbraten mit Toast und brauner Soße im nächsten billigen Restaurant. Er war mit drei Frauen verheiratet – die alle den Geist aufgaben, wie du dir vorstellen kannst – und zeugte Massen von Kindern, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten.

Und alsbald starben.

Von den sieben verloren William Knight junior und Alphonsus ihr Leben im Bürgerkrieg, ohne Kinder zu hinterlassen. Isabella starb an irgendeiner Frauenkrankheit, unverheiratet, keine Kinder. Clement Knight verübte Selbstmord, unverheiratet, ohne Kinder. Williams fünfter Sohn, Gilbert Howard Knight, wollte weder heiraten noch ins Geschäft eintreten. Er wurde enterbt und vergessen, und als William Knight starb, fristete Gilbert sein Leben als Hausierer, der mit Büchern aus zweiter Hand handelte.

Spät in seinem Leben zeugte William einen sechsten Sohn, Thomas Robert Knight. Mein lieber Alexander, nach allem, was über ihn berichtet wird, hätte dir Thomas Robert gefallen. Er kam mit seiner Frau Sophie bei einem Bootsunglück im Jahr 1883 ums Leben und hinterließ einen Sohn, Richard Knight.

Das war der Richard, mein Junge, den Charles Adair in dir sah.

Ich mag diesen Richard Knight, und nach allem, was man hört, hatte er bei William kein angenehmes Leben. Ich habe Bilder gesehen; er war ein gutaussehender Junge, dunkelhaarig wie du, lebhaft, stolz, mit wunderbaren Augen. Man spürt eine große Wißbegier bei ihm: so ein Junge, der genau weiß, wo jedes einzelne Vogelnest ist, aber die Gelege lieber beobachtet als sie zerstört. Vom ersten Tag an begann William den Jungen auf ein Leben als Millionär vorzubereiten. Er bekam Privatlehrer, die ihn in Mathematik und Finanzwesen und gutem Benehmen unterrichteten. William wollte aus Richard einen gesellschaftlich anerkannten Mann machen, verstehst du; kraft Richards Charme sein schmutziges Geld reinwaschen.

Und Richard hätte das sicher irgendwie geschafft – wenn es sein Anliegen geworden wäre.

Dann erschien Jay French auf der Bildfläche.

Jay French kam aus dem Süden. Kein Geburtsdatum, kein Geburtsort, keine Angehörigen. Er mußte unmittelbar nach dem Krieg oder noch während des Krieges geboren sein, da er 1887 Mitte Zwanzig war. Er könnte also ein Sohn eines der Knight-Söhne gewesen sein, die im Krieg gefallen waren, oder sogar ein Sohn William Knights selbst. Er sah jedenfalls aus wie ein Knight, dunkelhaarig, markantes Gesicht. Wie du.

Zum erstenmal taucht er im Jahr 1884 als Schreiber und Sekretär in den Büchern der Firma Knight auf, doch Anfang 1885 war er bereits William Knights Privatsekretär. Er war klein und mager, und hatte auf eine stille Art etwas von einem Dandy. Ein kleiner, magerer junger Mann, kühl und tüchtig und immer zur Stelle. Nach allem, was man hört, hatte er einen ausgezeichneten Geschäftssinn, und war beinahe der einzige, der mit William Knight gut auskam.

Alexander, kannst du sie dir zusammen vorstellen? William brauchte einen erwachsenen, verantwortungsbewußten Erben. Richard war noch ein Junge. Aber Jay war illegitim, und Bastarde können nach amerikanischem Gesetz nicht erben.

Nach Jays Ankunft scheint Richard mehr Zeit fern von Boston verbracht zu haben, im Haus der Familie in New Hampshire. Es war ein Haus an einem See. Oft begleitete Jay ihn. Richard scheint ganz plötzlich kränklich geworden zu sein; 1886 jedenfalls engagierte William einen Arzt für ihn. Du bist ihm auf dem Bahnhof begegnet. Sein Name war Charles Adair.

So, und jetzt, mein lieber Junge, wird es interessant.

Da haben wir Jay, den Bastard, und Richard, den rechtmäßigen Erben. Und wir haben einen See, der sich zum Ertränken eignet. Oder hättest du nicht an so was gedacht, wenn du der Bösewicht des Stücks wärst? Es wäre so einfach gewesen. Ein sanfter Stoß, ein bedauerlicher kleiner Unfall mit einem Boot, und der arme Junge wäre hinüber gewesen. Und an Willliams finsterer, hagerer Seite hätte man unweigerlich den trauernden, ach so verdienstvollen Jay angetroffen. Das mit der Erbschaft hätte man schon irgendwie regeln können, wenn kein anderer Erbe da gewesen wäre.

Aber natürlich ermordete Jay zuerst William.

In der Nacht des 6. August 1887 hielten sich William Knight und Jay French in dem Haus am Matatonic-See auf. Sie aßen in Gesellschaft von Dr. Charles Adair zu Abend. Er sagt, es habe keine Verstimmung zwischen William Knight und Jay gegeben. Richard war nicht bei Tisch; er fühlte sich nicht wohl und war zu Bett geschickt worden. Nach dem Abendessen ging Jay French in sein Arbeitszimmer hinauf, das Richards Schlafzimmer gegenüberlag, um die Kontobücher durchzusehen. William Knight unterhielt sich mit Adair und ging daran, einige Pistolen und Revolver zu reinigen, die auf ein Brett montiert im Salon hingen. Er saß in einem großen Schaukelstuhl, neben sich auf einem Tisch die Waffen, die Fenster waren geöffnet.

Dr. Adair hatte das Haus verlassen und befand sich auf der Straße, die am See entlang zum Dorf führte. Wenn er über die Schulter zurückblickte, konnte er die Lichter des Knightschen Hauses auf der anderen Seite des Wassers sehen. Er hörte einen lauten Knall, berichtete er, ein Geräusch, wie wenn jemand ein Diktionär fallen läßt. Ein Mann schrie etwas. Dr. Adair machte kehrt und lief zum Haus zurück. Wo immer die Bäume licht waren, spähte er durch sie hindurch zum Haus. Er sah Licht und Schatten an den Fensterscheiben. Dann stieß Jay die Haustür auf und rannte taumelnd vom Haus weg. »Das wirst du mir büßen!« schrie Jay French; wirklich, man sollte meinen, die Leute hätten ein bißchen mehr Phantasie. Er schoß auf das Haus, ein Fenster zersprang. Jay rannte davon, zum Wald hinter der Scheune. Stille, Stille, Stille. Der Doktor lief den Weg hinunter, erreichte das Haus. Dienstboten stürzten schreiend die Treppe herunter. William Knight war tot, lag erschossen im Salon. Ein Blutbad, ein Bild der Verwüstung. Jay war verschwunden. Richard Knight war unten, neben der Leiche seines Großvaters, tief im Schock. (Mach dich auf eine Überraschung gefaßt, mein Lieber.) Der Doktor fragte den Jungen: »Richard, hast du gesehen, was geschehen ist?« Und was antwortete Richard?

»Ich sag nichts«, antwortete Richard. »Niemals.«

Der Graupelregen prasselte gegen das Glas. Victor lehnte sich zurück, ohne Reisden aus den Augen zu lassen.

»Und er hat es auch nie gesagt. Drei Tage später wurde Richard Knight unter nahezu unmöglichen Umständen entführt. Er war mit dem Doktor und seinem Onkel Gilbert in völliger Zurückgezogenheit im Hotel des Städtchens. Wachen im Korridor, Wachen unten im Foyer. Um ein Uhr nachmittags verließen Dr. Adair und Gilbert Knight gemeinsam das Zimmer. Der Junge war allein. Keine fünf Minuten später sah der Wachposten im Zimmer nach dem Rechten.

Richard war verschwunden.

Man fand ihn nie.«

Die Espressomaschine hinter der Bar zischte. Reisden sagte nichts. Sein Gesicht war unbewegt. Victors Blick schweifte über Reisdens Schulter zu einem anderen Gast, einem sehr jungen blonden Knaben, der ganz ungeniert dem Ende der Geschichte gelauscht hatte. Victor lächelte gewinnend. Der Junge errötete und sah weg. Victor richtete seinen Blick wieder auf Reisden, der immer noch still und bleich dasaß.

»Mein lieber Junge«, sagte Victor reuig, »ich hätte dir das nicht erzählen sollen.«

»Es hat nichts mit mir zu tun.«

Victor hatte lange überlegt, ob er Alexander das Bild von Jay French überhaupt zeigen sollte. Alexander und Mord, da stand man auf so fatal unsicherem Boden. Aber man mußte sich nun mal seinen Lebensunterhalt damit verdienen, daß man Mord zur Unterhaltung machte. Man konnte sich ja in diesem Alter nicht einfach auf der Straße prostituieren, nicht wahr?

Reisden zündete sich eine neue Zigarette an. Seine Hand wirkte ruhig, aber die Streichholzflamme flackerte. Victor wartete.

»Warum hat der Junge das gesagt?« fragte Reisden.

»Ach, mein Lieber, wenn das alles wäre! Warum hat Jay William ermordet, wenn sie doch allem Anschein nach so gut miteinander auskamen? Warum hat Jay Richard entführt? Wie hat er den Jungen an den Wachen vorbei aus dem Hotel gebracht? Hat er ihn getötet? Warum hat er ihn nicht einfach dort, an Ort und Stelle, getötet? Der Fall Knight ist so wunderbar unerklärlich.«

»Der Junge sagte ›Ich sage nichts‹, nicht ›Ich weiß nichts‹.«

»Ist es möglich, daß er Jays Komplize war oder etwas gesehen hat, was Jays Tat erklärt? frage ich mich.« Victor spitzte die Lippen und preßte seinen Zeigefinger dagegen. »Laß mich überlegen: Jay ist vom anderen Ufer. Er verführt den braven kleinen Richard. William entdeckt die beiden. Jay tötet William, um nicht entlarvt zu werden. Richard weigert sich, den Freund zu verraten. Jay rettet ihn aus dem Hotel. Und jetzt leben sie in Kanada in traulicher Zweisamkeit, kaum gestört von bösen Träumen.« Victor schüttelte den Kopf. »Ich könnte es schreiben, aber ich könnte es nicht verkaufen, daher hoffe ich, daß es nicht wahr ist.«

Reisden lächelte. »Wer ist Adair?«

»Ein sonderbarer Mensch. Ein sehr schlichter Mensch. Recht fromm – im Dritten Säkularorden des Heiligen Franziskus oder so. Er leitet ein Armenkrankenhaus für Kinder; er leitet es nicht nur, er lebt dort mit den Kindern. Du siehst natürlich, wie sehr alles an seiner Geschichte hängt. Aber er hätte Richard nichts angetan.«

»Denn kein Mensch verletzt das, was er liebt.« Reisdens Stimme war tonlos. Victor griff nach seiner Hand und nahm sie mit einer Gebärde, die er von aller Koketterie reinzuhalten suchte. Denn der Mensch tötet, was er liebt. Der arme Oscar hatte in vielem so recht gehabt.

»Mein lieber Junge, quäl dich nicht ewig. Das hätte sie wirklich nicht gewollt.«

»Ja. Keine Sorge.« Reisden drückte kurz seine Hand und ließ sie los. »Was geschah nach Richards Verschwinden?«

»Gilbert Knight bekam schließlich das Geld«, antwortete Victor. »Hatte ich erwähnt, daß sein Vater ihn enterbt hatte? Jetzt gehört ihm alles. Millionen und Abermillionen von Dollar.«

»Macht ihn das zum Hauptschurken?«

»Ach, so langweilig. Ihn hätte man als ersten verdächtigt. Ich möchte, daß Jay French es getan hat. Er hatte kein Motiv, es war unmöglich für ihn, Richard aus dem Hotel herauszubringen. Er muß es getan haben.«

»Man kann etwas auch ohne Motiv tun«, wandte Reisden ein.

Victor nickte. Sie befanden sich schon wieder auf unsicherem Boden. »Aber im allgemeinen gibt es für einen Mord einen Grund. Jay French hätte einen Groll gegen William hegen oder von ihm entlassen worden sein müssen. Aber es lag nichts dergleichen vor. Jay ging einfach nach oben, kam wieder herunter, erschoß William und entführte später Richard.«

»Keine Erklärung.«

»Nein, keine.«

»Könnte es passieren, daß in Harvard, bei der Konferenz, oder in Boston jemand eine Ähnlichkeit zwischen mir und den Knights sieht? Abgesehen von Adair, meine ich.«

»Oh, nein, nein, mein Junge. Du mußt fahren, wenn du das möchtest. Selbst die reizende Lizzie Borden wird auf der Straße nicht erkannt. Und du bist der Baron von Reisden, ganz und gar nicht Richard.«

»Dann fahre ich«, sagte Reisden.

Victor sah ihn scharf an. Reisden zog beide Augenbrauen hoch.

»Fahr nicht, mein lieber Junge. Du mußt ja nicht.«

»Ich halte bei der Konferenz in Harvard einen Vortrag.« Reisden lächelte. »Und fahre danach nach New York. Um Türen zu öffnen, wie Louis sagt.«

»Er könnte deinen Vortrag verlesen.«

»Das könnte er.« Reisden tat so, als stieße er eine unsichtbare, ziemlich schwere Tür auf, und fuhr zurück, als hätte sie ihn im Rückschwung getroffen. Gut gemacht, dachte Victor, wie von einem Schauspieler. Unbehagen so gut gespielt, daß es gar nicht von Alexander zu kommen schien. »Ich muß nicht nach Harvard oder nach Paris. Nur hat Louis eben recht. Es heißt, fahren oder aufgeben.«

»Dann, mein Junge, finde heraus, was Richard zugestoßen ist. Ich gebe dir vierzig Prozent der Einnahmen aus dem Buch, ohne daß du eine einzige Zeile zu schreiben brauchst. Nein, ich gebe dir die Hälfte und lade dich zum Essen ins Bauer-Grünwald ein. Ausnahmsweise könnte ich es mir leisten, dich einzuladen.«

Reisden lachte und schüttelte den Kopf.

»O bitte«, schnurrte Victor. »Ich würde allein schon dreihundert Pfund Vorschuß bekommen.«

Kapitel 3

Es war ein Haus, in dem Musik nichts Ungewöhnliches war, aber niemals hatte man in diesem gediegenen Viertel Bostons die Art von Musik vernommen, deren flotte Rhythmen an diesem Abend durch die Commonwealth Avenue schallten. Harry Boulding hatte sich eine richtige Tanzkapelle gewünscht, und man hatte die beste Band von Boston auf der Empore der ersten Etage zusammengepfercht, wo sie steifleinene Bostoner Ragtimeversionen spielte. Den ganzen Nachmittag waren die Fuhrwerke der Lieferanten durch die Avenue gerollt, und das Buffet war auf dem wuchtigen altmodischen Tisch im Speisezimmer angerichtet, auf dem schweren alten Leinen, das der betagte Butler aus den verstecktesten Winkeln der Schränke hervorgeholt hatte. Die Floristen hatten die dunkle Wandtäfelung mit den geschnitzten Fratzen grotesker Fabelwesen unter winterlichem Blumenschmuck verborgen: Weihnachtssterne, immergrüne Zweige, Rosetten aus roten Bändern. Harry hatte gemurrt: »Sie haben ihren ganzen übriggebliebenen Weihnachtskrempel bei uns abgeladen«, aber nun, da das Fest begonnen hatte, schien das niemanden zu stören. Was hätte auch schiefgehen, was weniger als vollkommen sein können auf der Feier des einundzwanzigsten Geburtstags von Gilbert Knights Adoptivsohn und Erben?

Die Kolonne der Wagen, vor denen die Pferde stampfend im Schnee standen, zog sich die ganze Commonwealth Avenue hinauf und hinunter. Ein paar junge Männer vom Iroquois Club waren in einem Schlitten gekommen und kutschierten mit einigen Mädchen vom Wellesley College durch die Avenue und den öffentlichen Park. Der Schlitten sauste schlingernd durch den Schnee, die Iroquois-Burschen grölten zu fremden Fenstern hinauf und warfen mit Schneebällen, und die Passanten sprangen geduckt zur Seite.

Im Erdgeschoß drängten sich die Gäste. Große, kräftige Mannschaftskameraden von Harry scharten sich um das Buffet im Speisezimmer und rissen ihre Hühnchen mit den Fingern auseinander. Sie unterhielten sich ernsthaft über die Sportveranstaltungen von Yale, über das Frühjahrstraining, über gute Theaterstücke. Im kleinen Salon öffnete Harry Scherzgeschenke, die er zum Geburtstag bekommen hatte; und die Mädchen riefen in schockiertem Chor: »Oh, du Schlimmer! Wie kannst du so was einem Mädchen zeigen?«

»Harry, was kriegst du von deinem alten Herrn zum Geburtstag?« rief jemand. »Den Hafen von Boston zum Segeln?«

»Er gibt nachher was bekannt«, antwortete Harry, nach mehreren Bieren und vielleicht etwas zuviel Gin besonders sorgfältig artikulierend. Er war nicht betrunken, nur unglaublich glücklich. Alle seine Freunde waren hier, es war sein Geburtstag, und endlich einmal war Leben in diesen öden alten Hallen. Er hielt das anstößige Geschenk mit zwei Fingern hoch. »Das, meine Freunde, ist –« Er schüttelte den Kopf, ließ das Geschenk mit Trauermiene fallen und legte einen Finger auf den Mund. »Pscht! Leise! Das, liebe Freunde, ist das, was Pferde auf der Straße hinterlassen. Mein guter Freund Joseph hier hat mir da was ganz Freches und Ungehöriges geschenkt. Also, was tun wir?«

»Was tun wir?« schrie die Bande.

Harry grinste wie ein Irrer. »Gehen wir tanzen.«

Dabei war der große Salon sowieso schon zum Brechen voll. Alle Möbel waren an die Wände geschoben und die Teppiche für diesen Abend aufgerollt worden, aber die Bostoner Häuser waren alle nicht für große Tanzvergnügen konzipiert. Man tanzte Wange an Wange, Ellbogen an Ellbogen, in dichtem Gewoge; Smokings wurden zerdrückt, Ansteckblumen an Busen plattgepreßt, die der gestärkten Hemdbrust des Partners weit näher waren als Etikette und Tanzschule verlangten. Harry, groß und muskulös, stürzte sich ins Gewühl wie ein Halfback ins Spiel. »Pet! Pet! Perdita! Ich möchte tanzen. Wo ist mein Mädchen?«

»Oh, Onkel Gilbert, ist das ein Fest!«

Perdita Halley war fünf Minuten zuvor die Treppe hinauf und hinter der Tanzkapelle vorbei in die Bibliothek im ersten Stockwerk geflüchtet.

Hinter der dicken Tür, in der dunklen Stille seiner Bibliothek, saß Gilbert Knight in ängstlicher Klausur. Er hatte an diesem Abend nur eine Rolle zu spielen, nur fünfzehn Worte zu sagen, die auszusprechen er sich zehn Jahre lang gewehrt hatte. Perdita huschte ins Zimmer und lauschte nach ihm. Im Dunkeln war sie völlig blind; sie hörte das Knistern des Feuers und das Rascheln von Gilberts Bewegungen in seinem gewohnten Sessel. Sie setzte sich neben ihn und griff schweigend nach seiner Hand.

»Geht tatsächlich alles gut, Kind?« Gilbert Knight schüttelte den Kopf. »Haben wir ihn wirklich endlich zum Erwachsenen erzogen?«

»Wir haben ein Rind und zwei Truthähne gegessen. Lothrop Ames hat sich im Garten mit seinem Vetter geprügelt, und sie sind jetzt beide zum Trocknen in der Küche. Einer von den Football-Spielern hat das Serviermädchen gegen den Knöchel getreten, und sie ist auch in der Küche, mit Eis auf dem Knöchel. Miss Lucy Blackstone hat ihren Diener herübergeschickt, um sich zu beschweren; ich habe Mr. Phillips gebeten, ihr ein paar Erfrischungen hinüberschicken zu lassen, und wir heben ihr ein Stück von der Geburtstagstorte auf. Miss Emma Blackstone ist hier. Die Polizei war da und wollte wissen, ob sie die Iroquois-Jungs mit dem Schlitten festnehmen sollen. Ich habe ihnen gesagt, wenn sie das täten, müßten sie die Mädchen auch gleich mitnehmen, weil sonst nicht mehr genug Tänzer da wären.« Zerstreut strich sie sich mit der freien Hand das Haar zurück. In der Feuchtigkeit und der Hitze hatte es sich wie immer zu einer krausen Wolke aufgebauscht. »Cousine Efnie sagt zu jedem Mädchen hier, es sei das schickste von Boston. Phillips sagt, sie sehen alle aus wie eine Horde Gibson Girls. Ich bin furchtbar neidisch.«

Sie war erst siebzehn. Die Bostoner Gesellschaft mochte nichts dagegen haben, wenn ihre jungen Männer durch die Commonwealth Avenue tobten, aber für die Mädchen galten strenge Regeln. Sollten die Verkäuferinnen bei Filene’s ruhig schon mit sechzehn ihr Haar hochstecken und enge lange Gibson-Röcke tragen, die nur den Schimmer eines eleganten hochhackigen Pumps zeigten: Kein Mädchen aus guter Familie steckte vor achtzehn sein Haar auf oder zeigte sich im bodenlangen Rock. Perdita trug schlichte Kleider mit weiten Röcken, flache Schuhe und Florstrümpfe. Ihr Haar fiel ihr offen über den Rücken, und zwischen Rock und Schuh war ein schmachvolles Stück bestrumpften Beins zu sehen. Heute abend, auf Harrys Fest, unter all den modisch herausgeputzten älteren Mädchen, hatte sie es sich einen Moment erlaubt, damit zu hadern, daß sie acht Monate zu jung war. Wenn sie schon blind wie ein Maulwurf war, wofür das Schicksal ja vielleicht seine Gründe hatte, warum konnte sie dann nicht wenigstens alt genug sein, um sich auf der Geburtstagsfeier ihres Freundes wie eine Erwachsene zu kleiden? Na ja. Verzweiflung und Rebellion trugen einem nur Spottgelächter ein. Und Onkel Gilbert brauchte sie heute abend.

»Tja«, sagte Gilbert. »Jetzt ist nur noch eines zu tun, mein Kind, dann, denke ich, haben wir alles getan, was in unserer Macht steht.«

»Wann tust du es?« Sie kam sich vor wie der Henker.

»Könnten wir es vielleicht eine halbe Stunde vorziehen, Kind? Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt noch fertigbringe, wenn ich bis Mitternacht warten muß.«

Sie nickte. »Das wird Harry auch lieber sein. Er hat immer noch Angst, daß du es doch nicht tun wirst, weißt du.«

»Ich habe mich entschlossen.« Gilberts Stimme war voller Zweifel, als zählte sein bloßer Entschluß nicht viel. Er bewegte sich unruhig in seinem Sessel hin und her. »Ich glaube, ich nehme ein kleines Glas Sherry, Liebes.«

»Natürlich, Onkel Gilbert, ich hole es dir.« Onkel Gilbert trank vielleicht vier Gläser Sherry im Jahr. Sie ging zum Getränkeschrank und tastete über die Flaschen, strich mit den Fingern über die erhabenen Lettern der kleinen silbernen Schildchen jeder einzelnen, bis sie das Etikett mit der Aufschrift »Sherry« fand. Sie goß vorsichtig ein, schätzte nach Gewicht und Geräusch, wie weit das Glas gefüllt war.

»Danke dir, mein Kind.«

Sie setzte sich wieder neben ihn in einen der alten, gebrechlichen Sessel.

»Mein Kind ...« sagte er nach einer Weile und räusperte sich. »Ich nehme an, du weißt, daß es nicht unbedingt mein Wunsch ist, Richard für tot zu erklären.«

»Ja, ich weiß«, antwortete sie ruhig. Bucky Pelham, ihr richtiger, wenn auch nicht ihr Lieblingsonkel, war Gilbert Knights Anwalt. Onkel B. hatte ihr ausführlich erklärt, wie wichtig es war, Richard für tot erklären zu lassen, und Harry hatte in ihren vertraulichen Gesprächen miteinander das gleiche gesagt.

»Ich muß Harry zum Alleinerben machen«, sagte Gilbert, und seine alte Stimme zitterte ein wenig. »Ich habe nie ordnungsgemäß von Richard geerbt. Das Geld steht mir nicht zur freien Verfügung, solange Richard nicht für – tot erklärt ist.«

»Onkel Gilbert, wenn Richard gekonnt hätte, wäre er zurückgekommen.« Sie preßte unwillkürlich die Lippen aufeinander; das waren Onkel Buckys Worte. Sie hatte Verständnis für Onkel Gilbert, ob das nun angebracht war oder nicht.

Seine Stimme fiel plötzlich eine Oktave ab, bebte heftig und klang einen Moment lang metallisch. »Wenn er tot wäre, dann, denke ich, wüßte ich es, verstehst du. Er war das einzige Kind meines Bruders.« Er stand auf, ein verschwommener Schatten vor dem Feuer, und flüsterte, fast stimmlos im leisen Knistern des Feuers: »Ich habe nie das Gefühl gehabt, daß er wirklich tot ist. Gott gebe, daß ich heute abend nicht ein Unrecht begehe.«

Eine Zeitlang schwieg er. Dann kam er zurück, setzte sich wieder neben sie und ergriff ihre Hand. »Nun, mein Kind, wie dem auch sei, vielleicht werden wir uns nach dieser einen Bekanntmachung, wenn Harry Erbe der Knight Company geworden ist, über eine zweite freuen können? Und vielleicht werden in diesem Haus bald noch mehr Feste stattfinden? Eine Hochzeitsfeier und eines Tages eine Taufe? Du bist mein wahres Kind, weißt du, und ich sehne den Tag herbei, an dem du und Harry heiraten werdet.«

»Ach, Onkel Gilbert.« Sie schüttelte den Kopf. »Harry hat mich doch noch gar nicht gefragt. Und wer weiß, ob ich ihn nehmen werde, wenn er es tut.«

Die Tür wurde geöffnet, und der Festlärm brach explosionsartig zu ihnen herein.

»Du weißt nicht, ob du Harry heiraten willst?« fragte Gilbert. »Oh, Charlie! Charlie, wir haben dich frühestens in einigen Wochen erwartet! Lieber Freund! Komm herein.«

»Onkel Charlie!« rief Perdita erfreut.

»Ich konnte nicht länger wegbleiben.« Seine Stimme, fand sie, klang müde. Warum war er so schnell aus Europa zurückgekehrt?

»Ist unser Fest nicht großartig, Charlie? Glaubst du, Harry wird nun erwachsen werden?«

»Nach heute abend«, stimmte Charlie zu, »werden wir aufhören, den Jungen zu bemuttern, es ist auch höchste Zeit. Perdita, mein Liebling, du bist hübscher denn je, und so elegant. Laß uns alte Knaben ein Weilchen allein miteinander reden, ja?«

»Natürlich. Ich sollte sowieso auf der Feier sein.«

»Charlie, tue ich das Richtige?«

Charlie Adair streckte seine schmerzenden Beine zum Feuer aus. Es wärmte sie und linderte die Reisemüdigkeit, aber es linderte nicht den anderen Schmerz, den in seinem Herzen. Das ist das Schlimmste am Alter, dachte er, du weißt nicht, ob dein Herz gebrochen ist oder du nur einmal gründlich ausschlafen mußt. Nein, das Schlimmste ist, daß alles, was auch immer, mit einer ruhigen Nacht zu kurieren ist. Der Arzt verschreibt alten Männern keinen ewigen Kummer. Er wollte zur Messe gehen und seinen Schmerz wiederfinden, oder ihn bei einem Glas guten Whisky vergessen.

»Es ist das einzig Richtige«, sagte er beinahe automatisch. »Harry ist dein Sohn.«

»Aber nicht so wie Richard. Charlie, es gibt so viele verlassene Kinder, die meine Liebe brauchen, und ich habe eines der besten und habe es adoptiert. Aber ich kann den Jungen nicht so lieben, als wäre er Richard, nicht so sehr wie du die Kinder in deiner Klinik liebst, die Kinder von der Straße. Ich wollte, ich hätte dein Herz, Charlie.«

»Iwo, doch nicht meine alte Pumpe!« Charlie liebte alles Junge: die Kinder aus der Klinik, seine Nichte und ihren Freund, alles, was grün und im Wachstum war. Bert Knights Schmerz, so sehr er ihn lähmte, erhielt ihn jung. Charlie Adair jedoch fühlte sich seit der Nacht auf dem Bahnhof in Lausanne so alt wie totes Laub. Der Anblick dieses Mannes hatte ihm etwas genommen. Er konnte nicht mehr an Richard denken, nur noch daran, daß Richard Dinge aufrühren konnte, die man besser ruhen und sterben lassen sollte.

Charlie Adair griff in seine prallen Taschen, zog ein Stück Schnur heraus, Lutscher für die Kinder, und seinen franziskanischen Rosenkranz. Er knetete ihn in seiner Hand, als könnte er Trost direkt aus den Perlen ziehen. Es ging soviel um Kinder im Rosenkranz: Die Verkündigung, die Heimsuchung, die Geburt Christi. Marias erste Begegnung mit ihrem Sohn nach seinem Tod und die Auferstehung. Die Auferstehung war ihre größte Freude, aber das konnte Charlie nicht nachempfinden. Für ihn hieß jedes »Gegrüßet seist du, Maria« jetzt »Gott sei Dank, daß der Mann am Zug nicht Richard war«.

Erbarme dich, Vater im Himmel, denn ich habe gesündigt. Ich möchte meine Ruhe. Ich möchte meinen Morgenschwatz mit dir, der beinahe so schön ist wie schlafend in meinem Bett zu liegen, und mein kleines Stückchen Brot, das mir sagt, daß du für meine Sünden gestorben bist und ich es nicht selbst zu tun brauche. Ich möchte meinen Frieden, ich möchte, ich möchte. Ich möchte, daß sich nichts ändert. »Ach, Bert, ich bin zu alt für die große Oper. Ich wäre glücklich und zufrieden, wenn Harry der Erbe der Knight Company wäre und meine Nichte mit ihm verheiratet.«

»So wird es sein«, sagte Gilbert Knight bedrückt.

»Und warum sollten wir darüber traurig sein?«

Über dem Kaminsims hing sanft erleuchtet ein Porträt. Es wirkte ein wenig unwirklich, wie die meisten Porträts, die einer Photographie nachempfunden sind. Ein kleiner Junge saß im hohen Gras vor einem Rosenbusch. Die Hand des Jungen lag auf dem Kopf eines schwarz-weißen Mischlingshundes, und das Kinn des Hundes ruhte zufrieden auf dem Knie des Jungen. Eine Vase mit Rosen stand unter dem Porträt; sie verströmte ihren Duft in der Wärme des Feuers, so daß Charlie Adair Rosen roch wie damals, als er vor achtzehn Jahren den kleinen Jungen photographiert hatte. Trotz all seiner Worte schloß er die Augen in dem Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts. Gott segne dich, Richard, auf immer und ewig.

»Weißt du noch, wie viele Menschen in den ersten ein, zwei Jahren glaubten, ihn gesehen zu haben?« fragte Charlie. »Sie irrten sich alle.«

»Ja, sie haben mir geschrieben, sind zu mir gekommen«, sagte Gilbert. »Sie hatten Bilder von Kindern, die ihm ähnlich sahen, oder sie brachten die Kinder gleich mit.«

»Erinnerst du dich an die alte Frau aus New Jersey? Bert, sie brachte den Jungen, den sie adoptiert hatte, eigens aus Montclair mit der Eisenbahn zu uns herauf. Sie hatte ihn herausgeputzt wie für die Kirche am Sonntag, mit lauter neuen Kleidern, und sie selbst saß in ihrer Schürze da, die nur noch aus Flicken und Fetzen bestand. Ohne ihn im Arm zu halten, ohne ihn zu berühren. Sie war überzeugt, er sei unser Junge, verstehst du, weil sie selbst ihn mehr als alles in der Welt wollte.«

»Aber er war nicht unser Junge.«

Charlie sah immer noch zu dem Bild hinauf. Seine Finger schlossen sich um die Perlen. »Es war so, als wäre er’s. Aber sie hatte ihn, nicht wir. Ich weiß nicht, ob du dich noch erinnerst, was du danach an diesem Tag getan hast. Mich hatte die alte Frau ganz aus dem Tritt geworfen. Ich wollte eigentlich ins Krankenhaus zurück, aber ich bin nie dort angekommen. Auf halbem Weg, das weiß ich noch, bin ich die nächste Kirchentreppe hinaufgestiegen – es war nicht einmal eine katholische Kirche, Gott verzeih mir – und habe den ganzen Nachmittag damit zugebracht, mir Schwielen an den Knien zu holen und immer wieder das Gebet des Heiligen Franziskus aufzusagen. ›Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens ... hilf mir zu lieben.‹ Die Alte hatte mich beschämt, sie war so voller Liebe. Lehre mich lieben, habe ich gebetet. Zeige mir, was tun. Lehre mich, so sehr zu lieben, daß nichts sonst zählt.« Charlie lächelte. »An diesem Abend war ich unten im Bostoner Städtischen Krankenhaus, in der Notaufnahme. Ein kleines taubes Mädchen wurde hereingebracht. Es war von einem Pferd getreten worden. Vier Jahre alt, das arme Ding. Und drei Tage später stand ich mit dem Hut in der Hand vor deiner Tür und bat dich um hundert Dollar für die Familie. Die Leute hatten vier Kinder, drei von ihnen taub. Ja, Gott hatte Kinder für mich, als es mir einfiel, ihn zu bitten.«

Gott sei Dank, daß der junge Mann in der Schweiz nicht Richard war. Dank dir, Herr, daß du mir diese Kinder gegeben hast. Und Bert hatte Harry, und was würde aus Harry werden, wenn Richard am Leben wäre? »Bert, du hast Harry vor fast zehn Jahren bei dir aufgenommen. Du hast ihn adoptiert. Du kannst ihn nicht länger hinhalten. Das ist dem Jungen gegenüber nicht fair. Gib ihm endlich dein Herz.«

Gilbert stellte sein Sherryglas auf einen alten, spindelbeinigen Tisch. Er krümmte die Schultern und faltete geduckt die Hände wie zum Gebet. Er saß da, als erwartete er, ausgepeitscht zu werden. Plötzlich zog er seine Hände auseinander und legte sie flach auf seine Knie.

»Ich würde Gott belügen, Charlie, wenn ich darum beten würde, daß Richard tot ist.«

Aber ich nicht, dachte Charlie Adair bekümmert. Ich nicht. Unten brandete Perdita der Lärm entgegen wie eine Flutwelle. Im allgemeinen verließ sie sich zur Orientierung auf ihr Gehör und die ihr bekannten Standorte von Möbelstücken und Beleuchtungskörpern. An diesem Abend jedoch war alles unter Blumen versteckt, verräumt oder umgestellt; sie stand blind inmitten eines Chaos von Farben. Sie wurde von der letzten Treppenstufe mitten hinein in die Menge gewirbelt. Ellbogen pufften sie, jemand stieß sie in die Seite. »Passen Sie doch auf! Sind Sie blind?«

Ja, du – sie schluckte die zornigen Worte des Aufbegehrens unausgesprochen hinunter.

»Ach, da ist ja die kleine Perdita!«

»Guten Abend, Miss Blackstone«, sagte Perdita seufzend.

Ein massiger, warmer, nach Puder riechender Berg zückte ein blitzendes Lorgnon. »Spielen Sie uns etwas auf dem Klavier? Ihr kleiner Vortrag bei Mrs. Beach hat mir so gefallen. Sie sagt, Sie seien eine vielversprechende junge Künstlerin – so hohes Lob von einer Frau ihres hervorragenden Formats.«

Um an diesem Abend irgend jemandes Aufmerksamkeit mit dem Klavier zu erringen, hätte Perdita damit zuschlagen müssen.

»Miss Emma, haben Sie Harry gesehen?«

»Aber ja, Kind, er schwirrt überall herum.« Miss Blackstone senkte die Stimme. »Wie ich höre, wird er bald ein junger Mann mit einer glänzenden Zukunft sein ...?«

»Oh, Miss Emma, darüber weiß ich gar nichts.« Manchmal war es gut, erst siebzehn zu sein.

»Aber nein, natürlich nicht, mein Kind. Solche Dinge sind nicht Sache einer jungen Dame. Aber was ist denn mit Ihrem Onkel? Ihr Onkel Charlie kam vorhin hereingestürmt, als müßte er ein Feuer löschen. Ich hoffe, er denkt an seine Gesundheit; er ist doch gerade erst aus Europa zurückgekehrt, und man weiß ja, daß man sich im Ausland die schlimmsten Krankheiten holen kann. Ich bin schon so gespannt darauf, alles zu hören, was er auf seiner Reise erlebt hat – wird er ein kleines collazione in der Kinderklinik geben, einen Vortrag vielleicht mit Bildern?«

»Das Buffet ist im Speisezimmer«, sagte Perdita ein wenig spitz, aber Miss Emma Blackstone gurrte nur und rauschte in Richtung zum hinteren Teil des Hauses davon. Perdita hoffte, daß alle, die gern Eclairs aßen, schon eines genommen hatten. Miss Blackstone nämlich vertilgte Eclairs, wie Teddy Roosevelt Büffel schoß – zu Hunderten.

Ein lauter Ruf schallte über die Köpfe der Menge; Harrys Stimme. »Wo ist mein Mädchen?«

»Oh, Harry!«

Er schloß sie in seine kräftigen Arme. »Pet«, sagte er. »Pet, das ist der schönste Abend meines Lebens. Ich liebe dich, weißt du. Ich möchte tanzen. Komm, tanz mit mir.«