Der Fall Paul Kammerer - Klaus Taschwer - E-Book

Der Fall Paul Kammerer E-Book

Klaus Taschwer

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Beschreibung

1926 erklimmt Paul Kammerer einen Hügel im Schneebergmassiv. Dann setzt er sich einen Revolver an die Schläfe und seinem Leben ein Ende. Kurz zuvor ist Kammerer, den man als größten Biologen seit Darwin feierte, die Fälschung von Experimenten vorgeworfen worden. Der Fall erregt weltweit Aufsehen und ist bis heute ungeklärt. Klaus Taschwer rollt das Leben des "Krötenküssers" neu auf. Des Vaters der Epigenetik, der sich nicht nur in der Biologie, sondern auch als Komponist und Liebhaber von Alma Mahler einen Namen machte – und er liefert die erste heiße Spur im „Cold Case Kammerer“, die zu einer antisemitischen Verschwörung führt. Ein wahrer Krimi, der das kreative Milieu Wiens um 1900 zu neuem Leben erweckt.

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Am 23. September 1926 erklimmt Paul Kammerer einen Hügel imSchneebergmassiv. Dann setzt er sich einen Revolver an die Schläfe und seinem Leben ein Ende. Kurz zuvor ist Kammerer, den man als größten Biologen seit Darwin feierte, die Fälschung seiner Experimente zur Vererbung erworbener Eigenschaften vorgeworfen worden. Der Fall erregt weltweit Aufsehen und ist bis heute ungeklärt. 90 Jahre später gilt Kammerer manchen als Vater der Epigenetik, für andere bleibt er ein Fälscher. Wer, wenn nicht er, hätte die Manipulation vornehmen sollen? Warum hätte sich Kammerer, der sich auch als Komponist, Freimaurer und Liebhaber von Alma Mahler einen Namen machte, sonst umgebracht?

Klaus Taschwer rollt Leben und Tod des »Krötenküssers« neu auf – und liefert die erste heiße Spur im »Cold Case Kammerer«, die zu einer antisemitischen Verschwörung führt. Ein wahrer Krimi, der das kreative Milieu Wiens um 1900 und die Krisen der Zwischenkriegszeit zu neuem Leben erweckt.

Hanser E-Book

Klaus Taschwer

Der Fall

Paul Kammerer

Das abenteuerliche Leben

des umstrittensten Biologen

seiner Zeit

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-44941-1

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Foto Mikroskop: © plainpicture /Fancy/John Smith

Foto Paul Kammerer: Mit freundlicher Genehmigung

der Edinburgh University Library

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Kapitel 1    Ein Selbstmord und viele offene Fragen

Kapitel 2    Turbulentes Nachleben

Kapitel 3    Eine Jugend in Wien vor 1900

Kapitel 4    Als Lehrling am Institut der Zauberer

Kapitel 5    Eine Baronesse statt der Kaisertochter

Kapitel 6    Kometenhafter Karrierebeginn

Kapitel 7    Der Kuss der Femme fatale

Kapitel 8    Von der Zoologie zur Sozio-Biologie

Kapitel 9    Als Pazifist im Grosen Krieg

Kapitel 10  Kann das alles Zufall sein?

Kapitel 11  Krisenjahre eines Weltverbesserers

Kapitel 12  Medialer Ruhm und wissenschaftliche Kritik

Kapitel 13  Das verhangnisvolle Jahr 1926

Kapitel 14  So konnte es gewesen sein

Epilog        Ein Fall fur die Epigenetik?

Chronologie

Danksagung

Anmerkungen

Quellen

Verwendete Literatur Paul Kammerers

Bibliographie

Personenregister

Kapitel 1

Ein Selbstmord und viele offene Fragen

Es ist ein idyllischer Ort, an dem das kurze, aber turbulente Leben Paul Kammerers sein tragisches Ende findet. Am 22. September 1926 verlässt der 46-Jährige seine Heimatstadt Wien und fährt mit der Bahn nach Puchberg. Der noch heute beliebte Kurort am Fuße des Schneebergmassivs liegt rund 60 Kilometer südwestlich der Bundeshauptstadt und ist mit dem Zug in gut einer Stunde erreichbar. Nach seiner Ankunft am Bahnhof quartiert sich Kammerer im nahe gelegenen Hotel Rode ein, wo er schon oft zu Gast war. Das Wetter an diesem Mittwoch ist spätsommerlich. Am Morgen des nächsten Tages, der deutlich herbstlicher beginnt, macht sich der Biologe zu einer kleinen Wanderung auf, zwei Hunde des Hotels begleiten ihn.

Kammerer geht in Richtung Himberg, einem steilen Hügel am östlichen Ortsrand. Der Weg führt vom Hotel, das heute Schneeberghof heißt, zunächst über einen Bach und dann im Zickzack steil den Himberg hinauf. Nach rund einer halben Stunde Wanderung durch den Föhrenwald zweigt rechts ein abschüssiger Weg ab, der ein paar Minuten später am Theresienfelsen endet. Von dort hat man einen prächtigen Blick hinüber auf den Schneeberg, den östlichsten Zweitausender der Alpen, und hinunter auf Puchberg.

Paul Kammerers letzte Aussicht: Blick vom Theresienfelsen auf den Schneeberg und den Ort Puchberg. (Abb.: © Klaus Taschwer)

Gegen 14 Uhr hört der pensionierte Eisenbahner Johann Lechner ein lautes Hundebellen aus der Richtung des Theresienfelsens. Der Mann aus dem nahen Ort Neunkirchen ist am Himberg mit Wegausbesserungsarbeiten beschäftigt. Am Aussichtspunkt angekommen, entdeckt Lechner neben den Hunden einen Mann, der leblos an einem der Felsen lehnt. Der schockierte Pensionist eilt hinab ins Dorf, Gemeindearzt Dr. Kerbl und die Gendarmerie werden verständigt, die rund eine Stunde später am Tatort eintreffen.1 Angeblich bewachen die Hunde den toten Körper ihres Begleiters, und zumindest einer von den beiden lässt zunächst niemanden an den Leichnam herantreten.2 In seiner rechten Hand befindet sich ein Revolver. Der Tote hat sich allem Anschein nach links über dem Ohr in den Kopf geschossen, die Kugel ist an der rechten Kopfseite ausgetreten und hat auch einen Teil des Auges zerstört. Gerichtsmedizinisch betrachtet, ist das Szenario mit dem Revolver in der rechten Hand und der Einschussstelle links erklärungsbedürftig. Ein Mord ist dennoch auszuschließen, denn die Einsatzkräfte machen bei der Untersuchung des Leichnams einen Fund, der den Suizid eindeutig bestätigt und die schnelle Identifizierung des Toten ermöglicht – in einer der Rocktaschen befindet sich ein Abschiedsbrief, adressiert an »denjenigen, der meine Leiche findet«:

»Dr. Paul Kammerer ersucht, ihn nicht nach Hause zu überführen, da seiner Familie der Anblick erspart bleiben soll. Am einfachsten und wohlfeilsten wäre vielleicht die Verwertung im Seziersaal eines der akademischen Universitätsinstitute. Mir auch am sympathischesten, weil ich der Wissenschaft wenigstens auf solche Weise einen kleinen Dienst erweise. Vielleicht finden die werten Kollegen in meinem Gehirn eine Spur dessen, was sie an den lebendigen Äußerungen meiner geistigen Tätigkeit vermissten. Was immer mit dem Kadaver geschieht: Eingegraben, verbrannt oder seziert, sein Träger ist konfessionslos gewesen und wünscht, von religiösen Zeremonien verschont zu bleiben, die ihm wahrscheinlich ohnedies verweigert worden wären. Das ist keine Feindseligkeit gegen den individuellen Priester, der ebenso ein Mensch ist wie alle anderen, und oft ein guter und edler Mensch.«3

In einem Nachsatz bittet er seine Frau, weder schwarze Kleider noch sonst irgendwelche Zeichen der Trauer zu tragen.

Die Nachricht von Paul Kammerers Tod verbreitet sich in Windeseile. Das enorme Ausmaß der Berichterstattung lässt keinen Zweifel an der Bedeutung des Verstorbenen: Bereits am Morgen des darauffolgenden Tages berichtet die Neue Freie Presse, Österreichs einzige international angesehene Tageszeitung, vom überraschenden und rätselhaften Selbstmord des Wissenschaftlers:

»Eine erschütternde Nachricht kommt uns in später Abendstunde zu. Der hervorragende Biologe Dr. Paul Kammerer, dessen Bücher und Essays biologischen und soziologischen Inhaltes berechtigtes Aufsehen hervorgerufen haben, der in den Wiener Vortragssälen stets ein hundertköpfiges begeistertes Publikum um sich zu scharen verstand, hat durch Selbstmord geendet. […] Die Briefe, die er zurückgelassen hat, geben keinen vollständigen Aufschluss über die Gründe seines verhängnisvollen Entschlusses.«4

Ein ungenannter Wiener Biologe würdigt im Anschluss an diesen Artikel ausführlich die wissenschaftliche Bedeutung Paul Kammerers, die »nicht bloß in seinem geradezu erstaunlichen Wissen auf allen Gebieten der Naturwissenschaft, sondern auch in der Begabung bestand, sein Wissen in einer allgemein verständlichen Weise darzustellen«. An der Biologischen Versuchsanstalt (BVA), wo Kammerer seit deren Gründung im Jahr 1903 gearbeitet hat, sei »eine Reihe von aufsehenerregenden Arbeiten entstanden, die sich zumeist mit der Vererbung erworbener Eigenschaften beschäftigen und die seinen Namen mit einem Schlage in der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt machten«. Es habe ihm nicht an Freunden, aber auch nicht an Feinden gemangelt. Seine Sehnsucht, in Wien einen offiziellen Lehrstuhl zu erhalten, sei zu seinem großen Schmerz nicht in Erfüllung gegangen. Dafür habe er aber erst vor wenigen Monaten eine Professur in der Sowjetunion erhalten.

»In wenigen Tagen hätte er die Reise nach Moskau antreten sollen, um am 1. Oktober seine Lehrtätigkeit zu beginnen. Umso größer war das Erstaunen und der Schmerz aller seiner Freunde, als gestern Abend die Nachricht nach Wien kam, er hätte sich im Schneeberggebiet erschossen.«5

Ein Abschiedsbrief Kammerers sei an die Adresse der Wiener Sowjetvertretung gerichtet gewesen, ein anderes Schreiben an die Gattin:

»In dem Briefe an seine Frau spricht er davon, dass er außerstande sei, der Berufung nach Moskau zu folgen. Er fühle sich zu stark an Wien gebunden, und in diesem Widerstreite der Pflichten bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich das Leben zu nehmen.«6

In die Abendausgabe an diesem Freitag schafft es die Nachricht vom spektakulären Selbstmord sogar als großer Aufmacher auf der Titelseite der Tageszeitung, für die Kammerer selbst etliche Essays verfasst hat: Unter dem Titel »Das österreichische Elend« spekuliert der Kommentator über mögliche Hintergründe der Tat und vermutet, dass Kammerers furchtbarer Entschluss nicht gereift wäre, wenn ihm die Heimat eine Arbeitsmöglichkeit geboten hätte:

»Dr. Kammerer ist in wissenschaftlichen Kreisen eine vielumstrittene Persönlichkeit gewesen, aber die Tatsache ist doch nicht zu leugnen, dass er ein Mann von solchem Wert und von solchen Fähigkeiten war, dass sich die Mühe wohl gelohnt hätte, ihn in Wien zu halten.«

Das sei jedoch nicht geschehen und Kammerer »förmlich in die Fremde gedrängt worden«. Aber er habe sich fern der Heimat nicht wohl gefühlt, »und so ergab sich in ihm die Stimmung, aus der heraus sich schließlich die Tragödie von Puchberg erklärt«.7

Doch nicht nur allen großen österreichischen Zeitungen ist der Selbstmord Kammerers umfangreiche Berichte wert.8 Auch die New York Times, die Kammerer rund drei Jahre zuvor gleich in mehreren Artikeln als »zweiten Darwin« und »Darwins Nachfolger« gewürdigt hat,9 widmet ihm bereits am zweiten Tag nach seinem Freitod einen längeren Nachruf. Der Forscher habe einer unorthodoxen Schule der Wissenschaften angehört, hieß es da, die

»orthodoxen wissenschaftlichen Kreise haben seine Theorien nicht akzeptiert, seinen Sozialismus missbilligend betrachtet, seine Bemühungen bekämpft, wissenschaftliches Wissen zu popularisieren, und verhinderten aus diesen Gründen die Erfüllung seines Traums, Professor in Wien zu werden«.10

Das Rätselraten über die Motive, die den Biologen in den Selbstmord getrieben haben, geht in den nächsten Tagen weiter und beschäftigt etliche Journalisten vor allem in Österreich. Die für gewöhnlich gut informierte Neue Freie Presse wartet mit einigen Mitteilungen aus dem Freundeskreis des Biologen auf, die Licht in die Affäre bringen sollen: »Für den unseligen Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, dürfte das Moment, dass eine seinem Herzen nahe stehende Wiener Künstlerin sich nicht entschließen konnte, mit ihm nach Moskau zu übersiedeln, maßgebend gewesen sein.«11 Der Name der Künstlerin – es ist Grete Wiesenthal, die berühmteste Tänzerin Wiens zu jener Zeit – wird zwar nicht erwähnt, das turbulente Privatleben Kammerers jedoch angedeutet:

»Er liebte die Musik und liebte die Frauen. Seine erste Frau, welche durch ihre Schönheit hervorragte […], gab ihn verständnisvoll frei, als er eine andere interessante Frau zu seiner Gattin machen wollte. Sie blieb ihm aber die treue Freundin, bei der er seine Mahlzeiten einnahm und mit welcher er seine Pläne besprach.«

Bereits tags zuvor hat die Zeitung erwähnt, dass Kammerer zweimal verheiratet war, beide Ehen sind aber geschieden worden. Seine erste Frau, die Tochter des Politikers und Abgeordneten im alten Reichsrat Dr. von Wiedersperg, habe er aus einer aussichtsreichen Schauspielerkarriere herausgeheiratet, seine zweite Frau sei eine bekannte und erfolgreiche Malerin.

War der Selbstmord also tatsächlich privaten Beziehungsproblemen geschuldet? Einer von Kammerers früheren Schülern, der Journalist und Biologe Walter Finkler, weist in der Tageszeitung Neues Wiener Journal die Spekulationen über das Privatleben Kammerers noch am selben Tag zurück: »Lasst die intimen Alkovengeheimnisse, sie waren nicht das Motiv seines Selbstmordes, höchstens wichtiger Anlass. Der Konflikt war tiefer und hehrer, er starb einen Heldentod im vergeblichen Kampf gegen Schutt, Barrikaden und Traditionsungeist.« Kammerers Tierversuche hätten »wie ein Blitz in das Druckerschwärzegebäude theoretisierender Abstammungslehre« eingeschlagen.

Ihm sei nämlich der Nachweis gelungen, »dass die äußeren Faktoren Instinkte und Gestaltung der Lebewesen nachhaltig beeinflussen, dass sich diese neuerworbenen Eigenschaften auch auf die unbeeinflussten Nachkommen vererben«: Blinde Grottenolme hätten dank Kammerers Experimenten sehfähige Augen bekommen, Feuersalamander zusätzliche Flecken und Streifen und die Geburtshelferkröten – wissenschaftlich Alytes obstetricans – sogenannte Brunft- oder Brunstschwielen, die sie sonst nicht besitzen würden. Aus diesen wissenschaftlichen Versuchen Kammerers sei über Nacht ein Politikum geworden, da sie »die Lehre von der Unveränderlichkeit der Rassenmerkmale, von dem absoluten Wert der Rasse, von der Allmacht der Auslese, die These von der Notwendigkeit des Völkermords als Selektionsfaktor« gefährdeten.12 Hatte der Selbstmord Kammerers also womöglich sogar einen politischen Hintergrund?

Nachruffoto Paul Kammerers:

Nach dem Suizid wird tagelang über die Motive spekuliert.

(Abb.: Monistische Monatshefte, November 1926)

Ein weiterer Freund Kammerers meldet sich mit einem Text im Neuen Wiener Tagblatt zu Wort: Der Dichter Peter Sturmbusch – hinter dem Pseudonym verbarg sich der aus Prag stammende Schauspieler und Regisseur Štefan Lux – gedenkt in persönlichen Worten des Verstorbenen und kommt auf Kammerers gescheiterte Karriere an der Universität Wien zu sprechen:

»Paul Kammerer war der freieste Gelehrte in diesen Landen; aber was sollte er mit seiner Freiheit im Krähwinkel anfangen? Unsere Alma mater, die sonst so nachsichtige, wollte von ihrem besten Sohne nichts wissen, der anders geartet war als die anderen, zahmeren Söhne. Es ist eine weise Mutter, die ihr Kind kennt und erkennt. Unsere Alma mater war so weise nicht!«

Allerdings sei Kammerer bei aller Liebe zur Wissenschaft und zur Forschung auch ein spielendes, törichtes Kind gewesen, so Sturmbusch. Doch: »Was kann das Herz eines großen Menschen und Künstlers Schöneres, als töricht sein!« Zwischen dem Text ist ein Gedicht abgedruckt, das Sturmbusch seinem Freund schon ein paar Monate zuvor gewidmet hat:

In diesem Lande genial zu sein,

Ist von der Kirche und dem Staat verboten.

Such’ deinem Geist ein anderes Vaterland,

Denn hier verjüngst du doch nur Idioten.

Man hat den »Professor« dir abgelehnt,

Mit höflichen Worten begleitend;

»Sie taugen nicht für unser Kollegium,

Sie sind uns viel zu bedeutend!«

In deinen Werken bebt ein Menschenherz

Und durch dein Denken huscht manchmal ein Liebchen …

Und die Natur fühlt, dass du sie erkennst,

Und stellt dir heimlich Blumen in dein Stübchen.13

Kammerer hat das eine oder andere Gedicht von Sturmbusch vertont, der zehn Jahre später übrigens durch einen noch spektakuläreren, aber heute weitgehend vergessenen Selbstmord aus dem Leben scheiden wird: Er tötet sich am 3. Juli 1936 in Genf während einer Generalversammlung des Völkerbunds vor versammeltem Plenum, um auf die Judenverfolgungen der Nationalsozialisten im Deutschen Reich aufmerksam zu machen.14

Am Sonntag, dem 26. September 1926, um vier Uhr nachmittags wird die Leiche von Paul Kammerer – entgegen den letzten Wünschen des Verstorbenen – von der Totenkammer auf den Friedhof von Puchberg am Schneeberg überstellt. Die Beisetzung findet ohne jeden Prunk statt. Kammerers Grab liegt gleich in der ersten Reihe, rechts vom Eingang, in der Ecke für die Selbstmörder. Außer den Angehörigen haben sich, wie es in einem Bericht heißt, noch eine Reihe von Abordnungen der Wiener Universität, verschiedener wissenschaftlicher Institute und höherer Lehranstalten sowie zahlreiche Freunde des Dahingeschiedenen zum Begräbnis eingefunden. Auch eine sowjetische Delegation erscheint, mit der Kammerers erste Frau Felicitas einige Worte auf Russisch wechselt.15 Am Grab halten die Vertreter der Wiener Universität und mehrere Freunde kurze Nachrufe.16 Einer der Redner ist Kammerers Mentor, der Biologe Hans Przibram, der verspricht, dass die wahre Wissenschaft Kammerers Verdienste stets lebendig halten werde.17

Doch auch mit dem Begräbnis ist die öffentliche Diskussion um Paul Kammerers Selbstmord noch lange nicht beendet – sie geht jetzt vielmehr erst so richtig los: Knapp zwei Wochen später wird nämlich eine überraschende Nachricht aus Moskau übermittelt, die den Suizid plötzlich in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt. Die Prawda druckt jenen Abschiedsbrief ab, den Kammerer an das Präsidium der Kommunistischen Akademie geschickt hat. Das Schriftstück wird für so bedeutsam befunden, dass es als Agenturmeldung des Central News Service bzw. der Internationalen Pressekorrespondenz eine Welle von Berichten selbst in australischen, US-amerikanischen und britischen Zeitungen und Zeitschriften nach sich zieht. In diesem Brief, den Kammerer am Tag vor seinem Freitod für seine Kollegen in Moskau verfasst hat, heißt es:

»Sie alle haben vermutlich Kenntnis von dem Angriff, den Professor Noble in der Nature London vom 7. August 1926 gegen mich gerichtet hat. Der Angriff beruht auf einer Untersuchung meines Belegexemplars von Alytes mit Brunstschwiele, die Dr. Noble in der Wiener biologischen Versuchsanstalt mit Professor Przibrams und meiner Bewilligung ausgeführt hat. Das Hauptmoment dabei ist eine künstliche, wahrscheinlich Tusche-Färbung, wodurch die schwarze Hautverfärbung der schwielentragenden Region vorgetäuscht worden sein sollte. Es würde sich also um eine Fälschung handeln, die vermutlich mir zur Last gelegt werden wird.

Ich fand die Angabe Dr. Nobles vollkommen bestätigt; ja, es fanden sich noch andere Objekte (geschwärzte Salamander), bei denen meine Ergebnisse postmortal offenbar mit Tusche ›verbessert‹ worden sind. Wer außer mir ein Interesse daran hatte, solche Fälschungen vorzunehmen, kann nur ganz entfernt vermutet werden; gewiss ist jedoch, dass so gut wie meine gesamte Lebensarbeit dadurch in Zweifel steht.

Aufgrund dieses Tatbestandes darf ich mich, obwohl ich selbst an diesen Fälschungen meines Belegexemplares unbeteiligt bin, nicht mehr als den geeigneten Mann ansehen, Ihre Berufung anzunehmen. Ich sehe mich aber auch außerstande, diese Vereitelung meiner Lebensarbeit zu ertragen, und hoffentlich werde ich Mut und Kraft aufbringen, meinem verfehlten Leben morgen ein Ende zu bereiten.«18

Die im Gange befindliche Verpackung seines Übersiedlungsgutes wollte er nicht aufhalten: denn erstens »würde dadurch mein Benehmen meiner Familie auffällig werden, die doch von meiner Absicht nichts ahnen darf«; zweitens wünschte er, dass die Kommunistische Akademie in Moskau seine Bibliothek in Empfang nehme »und dadurch schadlos gehalten wird für meine Leistungen, die sie an mich verschwendet hat«.

Aufgrund dieses Briefes beginnen sich die öffentlichen, aber auch die wissenschaftlichen Diskussionen um die Ursachen des Selbstmords von Kammerer plötzlich zu drehen, obwohl das Schreiben keinerlei Schuldbekenntnis enthält oder auch nur Andeutungen in diese Richtung. Dennoch steht Kammerer plötzlich nicht mehr als Opfer von privaten Beziehungsproblemen oder der Missachtung der Wiener Universität da, sondern im Verdacht, ein Fälscher zu sein, der durch seinen Selbstmord seine Schuld eingestand. In US-amerikanischen Boulevardmedien wird der Fall sogar zu effekthascherischen Aufmachern ausgewalzt.19 Ihr Grundtenor: Kammerer muss die Manipulationen selbst durchgeführt haben und hat nach deren Aufdeckung die Konsequenzen gezogen.

In den österreichischen Zeitungen schwankt man. Im Neuen Wiener Tagblatt werden seine von den Manipulationen betroffenen Experimente mit der Geburtshelferkröte sehr wohl zum Selbstmordmotiv. Aus Gründen der Anschaulichkeit rekapituliert man diese Versuche: Kammerer habe die Tiere, die als eine der wenigen Krötenarten sich nicht im Wasser, sondern an Land fortpflanzen, ins Wasser gezwungen. Dadurch hätten sich bei den Männchen Brunftschwielen ausgebildet, wie sie bei anderen Froscharten üblich sind. Diese Schwielen dienen dazu, dass die Männchen die glitschigen Weibchen im Wasser festhalten können und nicht abrutschen. Kammerer habe behauptet, dass ihm nicht nur die Hervorbringung dieser Brunftschwielen gelungen sei, sondern dass diese auch vererbt würden. Um diesen Nachweis der Vererbung erworbener Eigenschaften habe sich ein wissenschaftlicher Streit entsponnen, der schon viele Jahre zurückgeht.

»Namentlich die englischen Biologen leugneten die Richtigkeit der Angaben Kammerers. Bereits ein Jahr vor dem Kriege erschien in einer Nummer der Londoner Nature ein Artikel, in dem behauptet wurde, die von Kammerer angeführten Schwielen seien bloß ein schwarzer Fleck und gewiss keine Brunftschwielen. […] Dass der jetzt gelungene Nachweis, dass es sich hier um eine ganz große Fälschung handle, ihn aufs äußerste zu deprimieren vermochte, ist daher wohl begreiflich.«20

Der Duktus des Artikels legt nahe, dass es Kammerer selbst war, der die Manipulationen vorgenommen hat. Aber es gibt noch ganz andere Hypothesen. So vermutet die Neue Freie Presse »einen geheimnisvollen Fälscher in der Wiener Versuchsanstalt«. Hans Przibram, Leiter der Biologischen Versuchsanstalt und der wohl beste Kenner der Forschungen seines ehemaligen Mitarbeiters, macht gegenüber einem Reporter der Zeitung folgende Andeutungen:

»Es wäre ein krasses Missverständnis, aus dem Abschiedsbriefe Paul Kammerers eine Selbstbeschuldigung herauszulesen. […] Was die von Professor Noble festgestellte künstliche Färbung der Brunstschwielen der Geburtshelferkröte betrifft, so ist es mir vollkommen rätselhaft, wer daran schuldtragend sein könnte. Da die diesbezüglichen Experimente Kammerers um viele Jahre zurückliegen, ist es heute fast unmöglich, den damaligen Schuldtragenden zu eruieren. Da Kammerer einsah, dass die Angelegenheit wahrscheinlich niemals aufgeklärt werden wird, hat er, offenbar der vielen unverdienten Anfeindungen müde, seinem Leben ein Ende gemacht.«21

Wenig später nehmen sich dann auch noch die beiden heute wohl bekanntesten deutschsprachigen Journalisten dieser Zeit des Falls an. Ihre Nachrufe fassen noch einmal jene beiden Positionen zusammen, die zunächst die Diskussion bestimmten – ehe sich im Laufe der Zeit auf eigentümliche Weise der Verdacht festsetzte, dass Kammerer der Fälscher und sein Selbstmord das offensichtliche Schuldeingeständnis war.

Einen Beitrag dazu liefert der rasende Star-Reporter Egon Erwin Kisch in der Berliner Montagspost. Unter dem Titel »Fälschung des wissenschaftlichen Beweises – Der Fall Kammerer« fasst er den Wissensstand um die Affäre der manipulierten Geburtshelferkröte erstaunlich schlampig zusammen und verbreitet dann auch noch eine völlig falsche Information: Kammerer habe erklärt, »diese Tuschfärbung könne nur während des Krieges von einem Assistenten gemacht worden sein, damit das Resultat der Versuche deutlicher hervorgehoben werde. Da jedoch auf ihn, Kammerer, der Schatten eines Verdachts falle, scheide er aus dem Leben.«22 Dass die Tuschfärbung während des Kriegs von einem Assistenten vorgenommen wurde, hat sich freilich einzig und allein Kisch ausgedacht, der diesen erfundenen Angaben überdies nur bedingt Glauben schenkt und Kammerer als Fälscher denunziert:

»Es handelt sich also um eine Tragödie des wissenschaftlichen Ehrgeizes, der sich vielleicht durch Misserfolg und Zweifel ins Verbrecherische gesteigert hatte. Kammerer, ohne Zweifel ein hochbedeutender Biologe, litt darunter, dass er wegen der auch populärwissenschaftlichen Wirkungen seiner Forschungen in Wien nicht Professor werden konnte, wie es auch dem Psychoanalytiker Sigmund Freud, dem Historiker Ludo Hartmann, dem Individualpsychologen Alfred Adler und vielen anderen in Wien ergangen war oder ergeht. Kammerers Schuld: Er hatte eine synthetisch erkannte Theorie empirisch beweisen wollen, und da dies nicht glückte, als Stimmen des Widerspruchs laut wurden, sein Forschername gefährdet war, half er nach – durch Fälschung.«23

Weitere Zeitungsartikel schlagen in eine ähnliche Kerbe, so etwa auch ein Text im angesehenen Prager Tagblatt mit dem Titel »Verführung durch das Experiment«, in dem ebenfalls darüber spekuliert wird, wie Kammerer zum Fälscher wurde:

»So lässt sich auch das Experiment durch den Wunsch des Forschers leise ins Unexakte, aber Gewünschte leiten, ohne dass es der Forscher selbst merkt. Aber auch die Versuchung zur bewussten Fälschung ist beim Experiment groß. Eine kleine Änderung der Zahlen einer Analyse, eine kleine Umzeichnung des mikroskopischen Bildes – mit einem Schlage ist die Qual des Forschens beseitigt, Ruhm, Macht gewonnen.«24

Schließlich kann auch der Wiener Publizist Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel nicht umhin, sich dem Selbstmord Kammerers zu widmen, der sich zu einem unlösbaren Kriminalfall ausgewachsen hat. In einem verrätselten Text gibt Kraus – und damit sind wir wieder am Anfang der Geschichte – dem akademischen Establishment eine Mitschuld am Tod Kammerers:

»Für die Philosophie genügt das Lessingsche Wort ›Der Jude wird verbrannt‹, für die Jurisprudenz das Recht der Inquisition […]. Die Kammerer sterben nicht allein an den Absperrungsvorrichtungen der Nachteulen der Gelehrsamkeit, sondern auch an der Gleichgültigkeit der Taghellen, welche die Uhus den Adlern vorziehen […]. Die zünftige Wissenschaft verachtet Leute wie Kammerer, weil sie zu rasch sind, weil sie vor einem Wunder davonlaufen müssen, ehe sie dieses noch bis zum letzten Zipfelchen bewiesen haben. Diese Wissenschaft versteht nicht, dass die Besten ihrer Söhne heißes Brot essen müssen, dass sie nicht warten können, bis es alt-gebacken wird, dass sie ihre Zähne brauchen, um sie vor Wut zusammenzubeißen, aber nicht, um sie an bejahrten Erkenntnissen auszubrechen.«25

Mit der zweiten Flut an Zeitungsberichten im In- und Ausland ist der Selbstmord Kammerers endgültig zum internationalen Thema geworden. Doch die Stimmung hat sich eindeutig gegen ihn gewendet – wenngleich fast alle Fragen offen bleiben.

Der vielleicht größte bis heute ungelöste Wissenschaftsskandal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte aber nicht nur zeitgenössische Journalisten und Forscherkollegen beschäftigen, sondern auch noch einen viel mächtigeren Mann: den sowjetischen Volkskommissar für Aufklärung, Anatoli Lunatscharski, der Kammerer im Frühjahr 1926 persönlich in Moskau getroffen und ihn zum Professor ernannt hatte. Der Kulturpolitiker, der seit 1919 unter Lenin für die Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsagenden des größten Landes der Erde mitverantwortlich ist, findet Kammerers Selbstmord wichtig genug, um sogleich ein Theaterstück darüber zu verfassen.

Bereits sieben Wochen nach Kammerers Freitod hat Lunatscharski – als ob ein sowjetischer Volkskommissar nichts anderes und Besseres zu tun hätte – die buchstäbliche Dramatisierung des Falls abgeschlossen, wie die Tageszeitung Neue Freie Presse am 11. November 1926 vermeldet: In dem Stück mit dem Titel Der Salamander verfolge Lunatscharski »die Tendenz, die angeblich reaktionäre Geistesverfassung der europäischen Gelehrten nachzuweisen, die Kammerer in den Tod getrieben hätten«.26 Tatsächlich wird der Wiener Biologe in diesem recht komplexen Machwerk als Opfer einer großangelegten politisch-religiösen Verschwörung dargestellt. Der Grund dafür liegt für den mächtigen sowjetischen Kulturpolitiker und Intellektuellen auf der Hand: Kammerers experimentelle Beweise der Vererbung erworbener Eigenschaften hätten auch die Richtigkeit des dialektischen Materialismus gezeigt und damit der kommunistischen Ideologie vom »neuen Menschen« gleichsam eine biologische Grundlage gegeben: Allein dadurch, dass man die Lebensbedingungen zum Wohle der Menschen verändert, kann man ganze Gesellschaften »verbessern« und die überkommene Herrschaft des Adels und der Kirche endgültig hinter sich lassen.27

Lunatscharski arbeitet sein siebenaktiges Drama in der Folge zu einem Drehbuch um, das in einer aufwendigen deutsch-sowjetischen Koproduktion 1928 unter dem Titel Salamandra vor allem an deutschen Schauplätzen verfilmt wird.28 Paul Kammerer, dargestellt vom damaligen deutschen Stummfilmstar Bernhard Goetzke, der ihm auch recht ähnlich sieht, heißt im Film Karl Zange und ist Zoologie-Professor an einer Universität in einer nicht genannten mittelalterlich-faschistischen Stadt, die aus den Drehorten Berlin, München, Leipzig und Erfurt zusammengesetzt ist. Lunatscharski hat in der umstrittenen Produktion einen Kurzauftritt und spielt sich dabei selbst. Seine Frau, die Schauspielerin Natalja Rosenel, verkörpert Felicia, die unglückliche Gattin von Zange.

Der Inhalt in aller Kürze: Karl Zange ist ein bei seinen Studenten beliebter Professor, sein Rivale ist der Zoologie-Professor und Pater Brzeschinski, der ihn zu einer öffentlichen Disputation herausfordert. Parallel dazu wollen ihn Baron Petixius, ein Bankier und Geograph, sowie Prinz Ruprecht Karlstein mundtot machen, da sie in Zanges experimentellen Beweisen für die Vererbung erworbener Eigenschaften letztlich eine Gefährdung der Religion und der Vormachtstellung des Adels erkennen.

Die Handlung des Stummfilms hat einiges an Dramatik zu bieten. So wird etwa eine der Nebenfiguren vom Bankier mit einem Messer getötet, in das ein Hakenkreuz eingraviert ist. Zudem gibt es Geldfälschungen in großem Stil. Die Manipulationen an den Amphibien-Exponaten werden in Lunatscharskis Version von Prinz Karlstein vorgenommen, der sich als Zanges Assistent andient und ihm danach sogar noch Felicia ausspannt. Und als wäre das noch nicht genug, wird der Biologe öffentlich als Kinderschänder denunziert und aufgrund der angeblichen Fälschungen entlassen. Völlig verarmt und von seiner Frau verstoßen kämpft er ums Überleben und die Fortführung seines Salamander-Experiments, während ausgerechnet der Priester-Zoologe Brzeschinski Felicia vergiftet, die, wie die echte Felicitas, dem Katholizismus doch eigentlich zugeneigt ist.

Schließlich kommt es zum dramatischen Showdown, der für den Biologen ein Happy End vorsieht: Bevor Zange in die Enge getrieben wird und letztlich als Opfer einer katholisch-kapitalistisch-adeligen Verschwörung sich mit der Pistole in der Hand selbst richtet, rettet ihn in letzter Sekunde eine sowjetische Delegation im Auftrag Lunatscharskis. Die angereisten Forscher erleben zusammen mit dem durch einen Schuss verwundeten Biologen, wie Salamander, die dieser mit letzter Anstrengung durchgebracht hat, schwarz gefärbten Nachwuchs auf die Welt bringen und damit seine Theorie bestätigen. In den finalen Einstellungen des Films sitzt Professor Karl Zange alias Paul Kammerer in einem Zug nach Moskau, wo man seine »schöpferischen Ideen zu schätzen weiß«.

Ein solches Happy End blieb dem echten Paul Kammerer verwehrt. Für ihn war die Reise in das fremde Moskau, wie auch die Zeitungsberichte nach seinem Selbstmord nahelegen, eher ein Grund, sich das Leben zu nehmen. Und zur Klärung des Kriminalfalls, der bis heute ungelöst ist, können Lunatscharskis allzu phantasievolle Verschwörungstheorien keinen plausiblen Beitrag leisten. Doch wenn es tatsächlich nicht Kammerer gewesen sein sollte, der die Kröte manipuliert hat, wer könnte es dann gewesen sein? Und warum hat diese Person diese Tat begangen?

Karl Zange alias Paul Kammerer beim dramatischen Showdown des Films Salamandra. (Abb.: Still aus dem Film Salamandra, 1929; https://www.youtube.com/watch?v=6Au0lh7BuK4)

Kapitel 2

Turbulentes Nachleben

Wenn jemand – neben dem Täter selbst und dem möglichen Auftraggeber – wissen konnte, wer Kammerers Geburtshelferkröte manipuliert hat, dann war das Hans Leo Przibram. Der angesehene Biologe war fast 20 Jahre lang Paul Kammerers unmittelbarer Vorgesetzter an der Biologischen Versuchsanstalt, die Przibram 1902 mitbegründet hatte. Der langjährige Institutsdirektor galt als überaus integrer und seriöser Wissenschaftler und verfolgte die Karriere seines über viele Jahre engsten Mitarbeiters aus nächster Nähe. Zudem sind alle großen experimentellen Arbeiten Kammerers, die insgesamt allein mehr als 1000 Seiten umfassen, als Berichte der Biologischen Versuchsanstalt erschienen. Aus diesen Gründen hatte Przibram, der sechs Jahre älter war als Kammerer, durch den Fälschungsskandal einiges zu verlieren. Schließlich war die Tat, die gemeinsam mit dem Selbstmord weltweites Aufsehen erregte, an seinem Institut begangen worden. War Kammerer selbst der Fälscher gewesen, dann stand auch der Ruf seiner Versuchsanstalt auf dem Spiel. War es ein Mitarbeiter gewesen, sah dies auch nicht viel besser aus.

Przibram war auch einer der Adressaten der sechs bekannten Abschiedsbriefe Kammerers.1 In diesem erst spät wieder aufgetauchten Schriftstück vermittelte der lebensmüde Forscher den Eindruck, dass er durch die 1926 erhaltene Professur in Moskau in eine Art Midlife-Crisis geschlittert sei: Er sei zu alt, alle Versuchsreihen noch einmal von neuem zu beginnen und zu wiederholen, bekannte Kammerer: »Ich könnte mich nicht damit abfinden und kein Glück mehr darin sehen zu wiederholen, was mir durch die Umstände zum Ekel wurde.« Er deutete auch noch eine private Angelegenheit als Tatmotiv an:

»Der andere Grund ist der, dass mir gerade in diesen Tagen eine persönliche Unwahrhaftigkeit nachgewiesen wurde, in der ich nicht so unschuldig bin wie in der wissenschaftlichen. Ich habe es aber nie vermocht, den Forscher und den Menschen vollständig zu trennen. Wo der eine strauchelt, da tut es auch der andere.«2

Doch Kammerer, der mit Przibram bis zuletzt per Sie blieb und dessen Verhältnis zum Institutsleiter eher ein freundlich-distanziertes war, stellt in dem Brief klar, dass er keinesfalls der Täter gewesen sei:

»Im Begriffe, das verfehlte Leben wegzuwerfen, will ich Ihnen nochmals danken und erklären, dass ich meine Versuche, wie sie beschrieben wurden, auch wirklich gemacht habe. Im Einzelnen mag manches versehen worden sein, in Situationen, denen ich bei meiner durch das harte Leben verursachten Nervosität nicht gewachsen war. […] Aber ein Fälscher bin ich nicht gewesen.«3

Als drei Wochen nach dem Selbstmord der Verdacht ausgesprochen wurde, dass Kammerer selbst mit Tusche seine Ergebnisse verbessert hätte, berief man an der Akademie der Wissenschaften in Wien eine Sitzung ein. Der Gelehrtengesellschaft war an einer dringenden Aufklärung des Falls gelegen, da die Biologische Versuchsanstalt seit 1914 unter ihrer Aufsicht stand. Zudem war der Akademie und der Universität in den russischen Zeitungsberichten eine gewisse Mitschuld an Kammerers tragischem Schicksal gegeben worden. Nach dieser Sitzung am 21. Oktober 1926 forderte Richard von Wettstein, der Vorstand des BVA-Kuratoriums, Przibram auf, zu den Geschehnissen Stellung zu nehmen, was postwendend geschah.4

In seinem Schreiben legte der BVA-Leiter und Vorstand der zoologischen Abteilung seine Sicht der Vorfälle offen dar, musste aufgrund der unklaren Verdachtslage jedoch viele Fragen unbeantwortet lassen: Er könne schon deshalb keinen »bestimmten Verdacht wegen der Tatenschaft an einer Fälschung« aussprechen, weil weder der Zeitpunkt noch die Absicht, in der die Veränderung des Präparates geschehen sein mochte, sich hätten ermitteln lassen.

»Zugänglich war das Alytespräparat während des Aufenthalts in der Anstalt, wie andere Präparate, den Leitern, Assistenten und zeitweise den Dienern, sofern ihnen der Schlüssel zu den Museumskästchen anvertraut war. Außerhalb der Anstalt befand sich das Objekt zu Zwecken der Photographie, zu Demonstrationen, im Jahr 1923 14 Tage oder länger in England. Dazu kommt, dass mehrere Personen, welche hätten vielleicht Aufschlüsse geben können, schon verstorben sind.«5

Leider sei die ganze Angelegenheit zu mysteriös, um sich rasch erledigen zu lassen, resümierte Przibram, der zugleich versicherte, alle seine Angaben durch entsprechende Nachweise und Dokumentationen bestätigen zu können. Falls sich von Wettstein für die Belege interessiere, so wollte Przibram mit denselben zu ihm kommen, »da ich ohnehin noch gerne darüber sprechen möchte. Mündlich lässt sich erörtern, was man schriftlich nicht niederlegen kann […]«.6

Die Akademieleitung war von Przibrams Erklärungen enttäuscht. Das wusste auch Przibram selbst, der in den folgenden Wochen und Monaten nichts unversucht ließ, den Fall zu klären, der ihn und sein Institut so schwer belastete. Er reiste auf den Spuren der Präparate sogar nach England und Frankreich, um Anhaltspunkte zu finden. Doch alle Recherchen erwiesen sich als fruchtlos, wie aus einem Brief hervorgeht, den der BVA-Leiter mehr als drei Jahre nach Kammerers Selbstmord an den Botaniker Hugo Iltis schickte.7 Der Gründer und Leiter der Masaryk-Volkshochschule in Brünn, der 1924 die erste Biographie Gregor Mendels verfasst hatte, war mit Kammerer eng befreundet gewesen, teilte die meisten seiner (bio-)politischen, aber keineswegs alle wissenschaftlichen Ansichten, und trug sich mit der Absicht, auch seinen verstorbenen Kollegen mit einer Biographie zu würdigen.8

Przibram erklärte in dem Schreiben an Iltis, dass ihn »diese Fälschungsangelegenheit und die falschen Angaben« sehr aufregten. Leider sei es ihm bisher trotz aller Bemühungen nicht gelungen, Licht in die Sache zu bringen. Die Aufklärung der entscheidenden Frage, wer die Tusche injiziert habe, schien ihm unmöglich: »Dieser Kernpunkt ist es, welchen ich und andere bisher vergeblich klarzustellen versucht haben. So kann man vorläufig nur wiederholen: Es ist nicht erwiesen, dass Kammerer selbst es getan hat und umso weniger, dass er es als absichtliche Fälschung getan hat.« Logische Schlussfolgerung Przibrams: »Solange keine Aufklärung der Schwärzung der Präparate vorliegt, halte ich eine Kammerer-Biographie oder einen sonstigen Schritt zu seiner Ehrung für ausgeschlossen.«9

Dieser Brief von Przibram muss alle Wissenschaftshistoriker, die an der Aufklärung des Falls interessiert sind, zur Verzweiflung treiben. Denn wenn selbst der Mentor und unmittelbare Vorgesetzte Kammerers trotz aller Nachforschungen vor einem bleibenden Rätsel stand, wie sollte sich der Fall dann je klären lassen? Es gibt allerdings auch einen Hoffnungsschimmer, der mit Hans Przibram verbunden ist. Angeblich hat der Zoologe in privaten Gesprächen wiederholt versichert, dass er zu wissen glaube, wer die Manipulation vorgenommen haben könnte. Daran erinnerte sich zumindest sein Bruder, der Physiker Karl Przibram, der ein ebenso angesehener Forscher war. Hans habe mit seinem Verdacht aber nicht an die Öffentlichkeit gehen können, da ihm eindeutige Beweise fehlten, so Karl Przibram.10 Die Diskretion innerhalb der Familie ging so weit, dass der Physiker selbst viele Jahrzehnte nach dem Vorfall und nach Hans Przibrams tragischem Tod im KZ/Ghetto Theresienstadt keine Andeutungen machen konnte oder wollte.11

Weniger Zurückhaltung und Skrupel, einen (fiktiven) Täter zu nennen, der Kammerers Forschungen diskreditierte, hatte – wie bereits geschildert – der sowjetische Volkskommissar für Aufklärung, Anatoli Lunatscharski. Mit seinem Drama über Kammerer stehen wir zugleich am Beginn eines höchst turbulenten Nachlebens: Kammerers Werk wurde posthum zu einem Spielball inmitten der großen ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Zugleich prägte Kammerer durch seinen Selbstmord die Biologiegeschichte mit – im Grunde bis in die jüngste Gegenwart, in der insbesondere die Erkenntnisse der Epigenetik die mehr als 100 Jahre alten Experimente in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Auch wenn der 86 Minuten lange Spielfilm in der Sowjetunion eher ambivalente Kritiken erhielt, kam Salamandra beim russischen Publikum allem Anschein nach recht gut an.12 In Deutschland allerdings wurde der hochpolemische Streifen, der von der Berliner Firma Prometheus Film koproduziert wurde und in der deutschen Fassung den Titel Falschmünzer tragen sollte, noch vor seinem Kinostart Anfang 1929 prompt verboten.13 Die Begründung der Filmprüfstelle lautete wie folgt:

»Wegen der Herabsetzung deutscher Verhältnisse in Staat, Kirche und Wissenschaft erblickte die Kammer […] den Verbotsgrund der Gefährdung des deutschen Ansehens als gegeben. Sie betrachtete den Bildstreifen als ein gegen Deutschland gerichtetes Pamphlet, in dem das Problem ›Wissen und Glaube‹ überhaupt nicht behandelt wird, sondern die übelsten Mächte sich verbünden, um gegen die freie Forschung anzustürmen. Dass ein Vertreter der Kirche in diesem Bündnis als Führer scheint, hielt sie für geeignet, das religiöse Empfinden zu verletzen.«14

Sowjetisches Plakat zu Salamandra, oben auf:

Zange alias Kammerer, darunter seine sowjetische Assistentin

und unten die Verschwörer.

(Abb.: Russische Staatsbibliothek, Moskau)

Das Verbot bewirkte wie so oft das Gegenteil und erregte internationales Aufsehen, war es doch eines der ersten in der Weimarer Republik. Selbst die New York Times widmete dem Urteil eine längere Meldung.15 Abgesehen davon nahm der Film auch Einfluss auf das weitere wissenschaftliche Nachleben Kammerers. Als der seinerzeit noch völlig unbekannte spätere Stalinliebling Trofim Lyssenko 1929 im damaligen Leningrad auf dem Allrussischen Genetikkongress einen wenig beachteten Vortrag hielt, lief Salamandra gerade in den Kinos. Diese Gelegenheit ließen sich einige Forscher aus dem Westen nicht entgehen: Die beiden deutschen Genetiker Richard Goldschmidt und Fritz Lenz sowie ihr finnischer Kollege Harry Federley sahen sich den Film an. Das wiederum hatte zur Folge, dass die posthumen Polemiken um Kammerer noch einmal angeheizt wurden. Die Urteile von Fritz Lenz und Harry Federley, die in ihren Ländern führende Vertreter der Rassenhygiene und der Eugenik waren, fielen vernichtend aus – sowohl für den Film als auch für Kammerer und für seine Behauptung der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften.

So schrieb etwa Federley im gleichen Jahr in einem wissenschaftlichen Artikel: »Kammerer hatte ein tragisches Ende, und es wäre mir am angenehmsten, wenn ich mit den alten Römern sagen könnte: de mortuis nil nisi bene« – nur Gutes über die Verstorbenen. Da er, Federley, nun aber diesen Film gesehen habe, »in dem Kammerer als ein Märtyrer der Wissenschaft dargestellt wird, seine Gegner dagegen als Mörder, Falschmünzer und Betrüger, scheint es mir, dass die Gegner auch das Recht haben, die rücksichtslose Wahrheit zu verlangen«. Und diese Wahrheit sah für Federley wie folgt aus: Nach dem Bekanntwerden erster Fälschungen »schien es berechtigt, an allen Arbeiten Kammerers überhaupt zu zweifeln und ihn selbst als einen schwer belasteten Psychopathen anzusehen«. Die konsequente Schlussfolgerung des finnischen Forschers: »Kammerer ist auch als Biologe tot, kein ernster Forscher wird sich auf seine Untersuchungen berufen und seine Arbeiten zitieren.«16

Etwas anders, aber nicht minder abschätzig, fiel das Urteil von Fritz Lenz aus, der seit 1923 den ersten deutschen Lehrstuhl für Rassenhygiene an der Universität München innehatte. 1921 hatte er mit seinen Kollegen Erwin Baur und Eugen Fischer das Werk Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene verfasst, dessen Inhalte Adolf Hitler in sein Machwerk Mein Kampf einarbeitete. Lenz kritisierte, dass bei Kammerer stets »der politische bzw. demagogische Zweck« an erster Stelle gestanden habe. »Dann erst kam die Wissenschaft bzw. das, was er darunter verstand.«17 Lenz war allerdings alles andere als frei von Ideologie, in seinem Fall: von Antisemitismus und Rassismus. So wies er in seinem Artikel über den Film darauf hin, dass die Anhänger der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften zum allergrößten Teil Juden seien. Ihre »Hinneigung […] zum Lamarckismus ist offenbar aus dem Wunsche geboren, dass es keine unüberbrückbaren Rassenunterschiede geben möge«. Wenn es eine Vererbung erworbener Eigenschaften gäbe, so könnten die Juden durch ihr Leben in der germanischen Umwelt und durch die Aneignung der germanischen Kultur aber zu echten Germanen werden. Dass Kammerer ein »Halbjude« war, was Lenz wusste, ändere an diesem Zusammenhang nichts.

Lenz machte aber noch einen zweiten Grund für den speziellen Inhalt des Films aus: Durch die bolschewistische Revolution sei die geistige Führerschicht des russischen Volkes zum größten Teil vernichtet worden. »Die Revolutionäre glaubten ja nicht daran, dass die Begabung für geistige Führung in der Erbmasse begründet liege«, so Lenz weiter. »Sie hofften vielmehr, dass man aus der Schicht der Arbeiter und Bauern massenhaft hohe Begabungen hervorholen könne, wenn man ihnen nur die entsprechende Gelegenheit zur Bildung gebe.« Unter diesen Umständen sei es nur verständlich, dass der Volkskommissar Kammerer zum Märtyrer zu stempeln suche.18

Im Westen wurden Kammerer und seine Experimente nicht nur aufgrund solcher Polemiken tabuisiert. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse in der Genetik selbst ließen die Behauptung von der Vererbung erworbener Eigenschaften in einem neuen Licht erscheinen. So beobachtete der US-amerikanische Genetiker Hermann Joseph Muller in den Jahren 1926 und 1927 die Veränderung des Erbguts durch Röntgenstrahlen und konnte bei Taufliegen durch Bestrahlung Mutationen herbeiführen. Damit war einerseits der Beweis erbracht, dass Gene nicht nur theoretische Konzepte, sondern physikalische Objekte sind, die sich verändern lassen, was einen Durchbruch für die genetische Forschung bedeutete. Andererseits konnte der damals mit den Kommunisten sympathisierende Muller nun die spontane Mutation belegen. Das war für Kammerers Behauptungen eine entscheidende Schwächung: Zwar wurde dadurch offensichtlich, dass durch Umwelteinflüsse herbeigeführte Veränderungen die Keimzellen modifizieren und gegebenenfalls auch vererbt werden. Aber diese Veränderungen waren augenscheinlich keine funktionalen Anpassungen an die Umwelt und waren nicht über die Körperzellen in die Keimzellen gelangt.

In der Sowjetunion diskutierte man Mitte der 1920er Jahre noch heftig und mit vergleichsweise viel Zustimmung neolamarckistische Lehrmeinungen. Doch nach Kammerers Tod und der Entdeckung Mullers schwenkten auch bisherige Neolamarckisten und Anhänger Kammerers um,19 weshalb Lunatscharski für seine filmische Verteidigung Kammerers von den Forschern heftige Kritik einstecken musste.20 Wissenschaftlich schien sich in der Sowjetunion die westliche Genetik durchgesetzt zu haben: 1933 übersiedelte Hermann Muller sogar nach Leningrad, um dort seine Forschungen fortzuführen, ehe er 1936 das Land tief enttäuscht wieder verließ und zum Anti-Kommunisten wurde.

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre kam es zur schrittweisen »Stalinisierung« der sowjetischen Wissenschaft, insbesondere der Biologie. Dafür verantwortlich war ein seit 1935 von Stalin protegierter Pflanzenforscher, der bereits kurz erwähnte Trofim Lyssenko. Dieser verwarf die neuen Erkenntnisse der westlichen Genetik wieder, da er davon ausging, dass es Gene gar nicht gäbe. In radikaler Weise hielt er an der Vererbung erworbener Eigenschaften fest. So könne man verschiedene Getreidesorten durch geeignete Kultur- und Umweltbedingungen ineinander verwandeln, also beispielsweise Weizen in Roggen. 1938 stieg Lyssenko zum Präsidenten der Akademie für Landwirtschaftswissenschaften auf, wodurch seine umstrittenen, zum Teil lamarckistischen Thesen in der Sowjetunion bald allgemeine Gültigkeit erlangten. Seine Gegenspieler – einige am westlichen Forschungsstand orientierte Genetiker wie Nikolai Wawilow – wurden verfolgt, einige von ihnen sogar umgebracht.21

1948 organisierte Lyssenko die berüchtigte Augustsitzung der von ihm geleiteten Akademie. Sein Vortrag »Über die Situation der Biologie« wurde durch die persönliche Initiative Stalins zum Bannfluch gegen die westliche Genetik eines August Weismann oder Thomas Hunt Morgan. Zwar bezog sich Lyssenko selbst nicht auf Paul Kammerer und seine Erkenntnisse. Das besorgte auf dieser Tagung allerdings sein Kollege N.G. Belenkij, der Kammerers Forschungen zustimmend referierte.22 Die Reaktionen im Westen ließen nicht lange auf sich warten: Richard Goldschmidt, der 1935 aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Nazi-Deutschland flüchten und in die USA auswandern musste, verband in einem längeren Grundsatztext seine negativen Erinnerungen an Kammerers umstrittene Experimente und an den Film Salamandra mit der Unterdrückung der Genetik durch Lyssenko.23 Spätestens mit diesem Text, der 1949 unter dem Titel »Research and Politics« (also »Forschung und Politik«) in der US-Fachzeitschrift Science erschien, war Paul Kammerer mitten in den Kalten Krieg um die Genetik geraten. Und er wurde im Osten wie im Westen den Kommunisten zugerechnet.

Dazu kam einige Zeit später noch ein autobiographischer Erinnerungsband Goldschmidts, der Kammerer selbst noch begegnet war. Der Genetiker ging Kammerers Versuche – wieder in Verbindung mit Lunatscharskis Film – noch einmal kritisch durch und kam zu einem eindeutig negativen Resümee: Es spreche »alles dafür, dass sich Kammerer der eigenartigen und nur schwer zu begreifenden Gruppe der großen und weltberühmten Fälscher zugesellt hat«.24 In eine ganz ähnliche Kerbe wie Goldschmidt schlugen damals einige weitere Autoren wie etwa der US-Botaniker Conway Zirkle, der in mehreren Publikationen den Tod der Genetik in der Sowjetunion mit Kammerers angeblichen Fälschungen und Lunatscharskis Film in Verbindung brachte und quasi einen doppelten Zusammenhang zwischen Kammerer und Lyssenko herstellte – als Lamarckisten und Betrüger. Zudem solle man endlich aufhören, Kammerers »betrügerische Daten« zu zitieren.25 Schließlich halfen auch noch damals populäre Wissenschaftspublizisten in den USA mit, Kammerers ohnehin ruinierten Ruf vollends zu zerstören. Der Science-Fiction-Bestsellerautor Robert Silverberg etwa rechnet in seinem 1965 erschienenen Buch Scientists and Scoundrels (»Wissenschaftler und Schurken«) Kammerer eindeutig den Schurken zu, weil er sich schlechterdings von der Theorie habe leiten lassen, dafür »Tatsachen zurechtgebogen« und die Brunftschwielen selbst angefertigt habe.26

War Kammerer in den ersten Nachkriegsjahren im Westen erledigt, so hatte er um diese Zeit immerhin noch einige mehr oder weniger prominente Anhänger in der Literatur, die ihn nicht nur zitierten, sondern auch über ihn schrieben. Der österreichische Journalist und Schriftsteller Friedrich Lorenz verfasste Anfang der 1950er Jahre einen Roman über die Geschichte der Biologie unter besonderer Berücksichtigung Paul Kammerers und der Geschichte des Lamarckismus.27 Das der Form nach außergewöhnliche und gut recherchierte Buch spannt den Bogen von Lamarck über Kammerer und die Biologische Versuchsanstalt bis zu Lyssenko. In den »Erfolgen« des sowjetischen Forschers und seines Lehrers Iwan Wladimirowitsch Mitschurin erkannte Lorenz den späten Sieg der Verfemten – so der Titel seines im kommunistischen Globus Verlag erschienenen Buchs. Lorenz’ verdienstvolle Würdigung der Arbeiten von Kammerer und seinen BVA-Kollegen, die den Hauptteil des Romans ausmachen, gerät jedoch durch die Verbindung zu Lyssenko – dem »Diktator der sowjetischen Biologie«, der erst Anfang der 1960er Jahre endgültig abdanken sollte, nachdem Lyssenkoismus zum Synonym für »schlechte Wissenschaft« im Rahmen einer totalitären Diktatur geworden war – in ein unglückliches politisches Licht.

Vom Kalten Krieg um die Genetik eher unbeeindruckt war der deutsche Großschriftsteller Thomas Mann, der sich für seine Arbeiten immer wieder bei Paul Kammerers umfangreichem Werk Allgemeine Biologie bediente. Passagen des Buchs, das 1915 in der Reihe »Das Weltbild der Gegenwart« der Deutschen Verlagsanstalt erschienen war, hatte Mann bereits in seinen Roman Doktor Faustus zum Teil wortidentisch eingearbeitet.28 Am 8. November 1951 vertraute Mann seinem Tagebuch an: »Wiederheranziehung von Kammerers ›Allgem. Biologie‹, in der ich tagsüber begierig las.«29 Im Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, der Mann über viele Jahrzehnte beschäftigt hatte und der in mehreren überarbeiteten Ausgaben erschien, lässt er im sogenannten »Eisenbahnkapitel« Professor Kuckuck über Urzeugungen philosophieren. Dabei zitiert Mann abermals aus Kammerers Buch jenen Abschnitt, wo »glasig-schleimige Klümpchen der Urwesen« als basale Form organischen Lebens beschrieben werden, die jenen Zellen und Elementarorganismen ähneln würden, »die zu Tausenden und Abertausenden die größeren Lebewesen aufbauen«.30

Fand Kammerer also immerhin – wenn auch anonym – Eingang in die Hochliteratur, so verschwand er nach 1945 allmählich aus den Lexika und Nachschlagewerken. In der 15. Auflage des Großen Brockhaus von 1931 hatte es immerhin noch den folgenden Eintrag gegeben:

Kammerer, Paul, Biologe, *Wien, 17. Aug. 1880, †23. Sept. 1926, suchte durch (z.T. angezweifelte) Experimente die Vererbung erworbener Eigenschaften zu beweisen. K. schrieb zahlreiche Aufsätze im »Archiv für Entwicklungsmechanik«, ferner »Allgemeine Biologie« (1915), »Das Gesetz der Serie« (1919).

Aus der völlig neu bearbeiteten 16. Auflage hingegen, die im Jahr 1955 erschien, war der Eintrag »Kammerer, Paul« getilgt worden. In so gut wie allen anderen Lexika dieser Zeit fehlt er ebenfalls.

Kammerer aber war nicht nur ein Spielball der ideologischen Auseinandersetzungen um die Genetik und die Evolutionstheorie, sondern auch ein Opfer ihrer Fortschritte geworden: Mit der Anfang der 1940er Jahre formulierten sogenannten Synthetischen Evolutionstheorie schufen Biologen wie Theodosius Dobzhansky, George G. Simpson, Julian Huxley und Ernst Mayr ein Modell der Evolution, das die Genetik Mendels mit Darwins Selektionstheorie auf Basis neuer populationsgenetischer Erkenntnisse und Konzepte versöhnte, was zu Kammerers Lebenszeit noch unmöglich gewesen war. Umwelteinflüsse oder entwicklungsbiologische Fragen spielten dabei eine untergeordnete Rolle, zur zentralen Einheit der Evolution wurden die Gene. 1953 schließlich gelang es dem US-Amerikaner James Watson und dem Briten Francis Crick an der Universität Cambridge, die Struktur der DNA zu entschlüsseln und sie als Doppelhelix darzustellen, wofür sie 1962 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Mit dieser Entdeckung wanderte das Interesse der Biologie noch weiter weg von der Umwelt und stattdessen noch tiefer hinein in die Zelle, wo der »Code des Lebens« vermutet wurde. Über welches Selbstbewusstsein die Genetiker in dieser Zeit verfügten, lässt sich daraus ableiten, dass Crick und Watson 1958 ihre Behauptungen über die Informationsweitergabe in der Zelle als »zentrales Dogma der Molekularbiologie« formulierten: Demnach gäbe es einen Informationsfluss ausschließlich von der DNA zur RNA und von ihr zu den Proteinen. Heute weiß man, dass die Informationswege weitaus komplexer sind und sich nicht nur an das »Dogma« halten. Damals hingegen wurden Kammerer und seine Forschung dadurch unter einer noch dickeren Schicht evolutions- und molekularbiologischer Erkenntnisse begraben.

Angesichts der Triumphe der Synthetischen Evolutionstheorie brauchte es jemanden mit gehörigem Widerspruchsgeist, um sich wieder ernsthaft mit dem verfemten Biologen Kammerer zu beschäftigen oder ihn gar rehabilitieren zu wollen. Dieser Mann war der ungarisch-britische Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftsautor Arthur Koestler, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sich mit dem wissenschaftlichen Establishment anzulegen und es herauszufordern: »Der liebe Gott weiß alles, doch Arthur Koestler weiß alles besser«, soll Albert Einstein einmal über den notorischen Besserwisser gesagt haben.

Der berühmte Intellektuelle war in einer eigentümlichen Position. Er hatte zwar in den 1920er Jahren kurz in Wien studiert, ohne Universitätsabschluss aber bald als Journalist und Schriftsteller international Karriere gemacht. Politisch war Koestler jedenfalls unverdächtig: Bereits Ende der 1930er Jahre hatte er sich vom Kommunismus losgesagt und mit dem Roman Sonnenfinsternis (1940) eine schonungslose Kritik am Stalinismus und den Moskauer Schauprozessen verfasst. Ende der 1950er Jahre wandte er sich dann von politischen Fragen ab und wieder der Wissenschaft zu – mit Büchern, die von der richtigen Forschung eher belächelt wurden. Er trug sich mit dem Gedanken, einen der tragischen medizinischen oder wissenschaftlichen Außenseiter zu »rächen«, und dachte dabei zunächst an Franz Anton Mesmer und dessen umstrittene Magnetismus-Therapie oder Ignaz Semmelweis, den zu Lebzeiten geächteten Entdeckter des Kindbettfiebers. Schließlich aber entschied er sich für Paul Kammerer, der ihm aus seiner Studentenzeit noch ein Begriff war. Zudem war Koestler neolamarckistischen Ideen alles andere als abgeneigt und meldete bereits im Laufe der 1960er Jahre Kritik »am totalitären Anspruch der neodarwinistischen Orthodoxie« an.31

Arthur Koestler gelang mit seinem Buch

The Case of the Midwife Toad eine erste

Ehrenrettung Kammerers.

(Abb.: Vintage, Cover der Taschenbuchausgabe, April 12, 1973)

Bis heute ist Koestlers Buch Der Krötenküsser, das 1971 unter dem englischen Originaltitel The Case of the Midwife Toad erschien, die einzige buchlange Studie über Paul Kammerer. Sie bietet nach wie vor über weite Strecken verlässliche Informationen über den Skandal und seine komplexe Vorgeschichte. Koestler nahm dafür mit etlichen Zeitzeugen Kontakt auf, die mehr als 40 Jahre zuvor Kammerer begegnet waren. Ferner korrespondierte er mit Kammerers 1907 geborener Tochter Lacerta, die nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 in letzter Minute nach Australien flüchten konnte, dort unter dem Namen Maria Finton lebte und Koestler mit vielen erstaunlich genauen Details über ihren Vater und die Familie versorgte.

Koestler konzentrierte sich in seinem internationalen Bestseller auf die Diskussionen um Kammerers Experimente mit der Geburtshelferkröte und sammelte alle möglichen entlastenden Belege, die es unwahrscheinlich erscheinen ließen, dass der Wiener Biologe selbst der Fälscher gewesen war. Und er macht den Genetiker William Bateson, der 1906 überhaupt erst den Begriff »Genetik« geprägt hatte, zum mächtigen Gegenspieler Kammerers. Bateson habe Kammerers Versuchen von Anfang an skeptisch gegenübergestanden und nichts unversucht gelassen, dessen Behauptungen in Zweifel zu ziehen. Für Koestler kam Bateson als möglicher Drahtzieher für die Manipulationen aber eher nicht in Frage, da er praktisch zeitgleich mit der Aufdeckung im Februar 1926 starb.

Wer aber konnte es sonst gewesen sein? Wie und wann sind die Manipulationen vorgenommen worden? Koestler ließ wenig unversucht und beauftragte sogar zwei seiner Freunde – den schwedischen Biologen Holger Hydén und dessen US-Kollegen Paul Weiss, der 1926 vor seiner Emigration in der Biologischen Versuchsanstalt gearbeitet hatte –, die Manipulation mit konservierten Krötenexemplaren nachzustellen. Zumindest Hydén kam zu dem Ergebnis, dass die Tinte nach einigen Wochen im Gewebe verschwimme und keine oder umgekehrt: allzu eindeutige Spuren hinterlasse.

Als Tatmotive kamen laut Koestler entweder persönliche Eifersucht oder politische Motive in Frage. Womöglich könnte aber auch eine unglücklich verliebte Mitarbeiterin verantwortlich gewesen sein. All das blieb in seinem Buch aber sehr vage, da auch nicht wirklich klar war, um welche politischen Motive es sich gehandelt haben könnte.

Koestlers Buch, das auch in deutschen, französischen und italienischen Ausgaben erschien, wurde von den Feuilletons dennoch begeistert aufgenommen. Und auch einige Biologen, die das Buch rezensierten – wie etwa Stephen Jay Gould –, konnten sich mit der These anfreunden, dass jemand anderes als Kammerer die Manipulationen verursacht haben dürfte. Doch mit seinem Anliegen, die Orthodoxie der Synthetischen Evolutionstheorie aufzubrechen und wenigstens einen »Mini-Lamarckismus« zuzulassen, erlitt Koestler unmittelbar nach dem Buch nahezu vollständig Schiffbruch und wurde mehr oder weniger deutlich der Lächerlichkeit preisgegeben. Denn Kammerers Experimente, so sie tatsächlich authentisch gewesen sein sollten, wurden als Ergebnisse von extremen Züchtungen interpretiert, die sich mit Darwin und Mendel leicht erklären lassen würden. Allenfalls käme bei den Geburtshelferkröten noch Atavismus hinzu, also eine Rückentwicklung zu einer früheren Stufe, was im Übrigen auch schon Kammerer selbst behauptet hatte.32

Mit dem Buch und der anschließenden Diskussion entstand immerhin ein neues Interesse am Fall des Biologen Paul Kammerer. Wie von Koestler angeregt, versuchten sich einige Forscher an einer Wiederholung der Experimente. Diese Versuche sind aber in so gut wie allen Fällen gescheitert – was übrigens nicht für Kammerers Zeitgenossen gilt, die einige der beschriebenen Veränderungen (wenn schon nicht ihre Vererbung) reproduzieren konnten.33 Daneben widmeten sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte etliche Biologen und Wissenschaftshistoriker der Aufklärung des Falls, ohne allerdings in der Frage der Manipulation zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.34 Der deutsche Medizinhistoriker Albrecht Hirschmüller rekonstruierte 1991 erstmalig das Umfeld Kammerers in Wien und stieß dabei auf etliche Anzeichen von Antisemitismus,35 die Koestler in seinem Buch völlig unerwähnt gelassen hatte. Der US-Wissenschaftshistoriker Sander Gliboff wiederum, der die Hälfte seiner exzellenten Dissertation Paul Kammerer widmete,36 kam Anfang des 21. Jahrhunderts zu dem Schluss, dass die Veränderungen womöglich schon vor dem Ersten Weltkrieg vorgenommen wurden – und damals bloß als Nachbesserungen gedacht waren.37

Rund um die Wende zum 21. Jahrhundert tat sich freilich auch in der Genetik einiges. Zwar wurde zunächst mit viel Aufsehen die vollständige Sequenzierung der menschlichen DNA vermeldet. Doch schon bald war klar, dass damit das Buch des Lebens nicht vollständig lesbar geworden war. Das Genom steckt vielmehr in Wechselwirkung mit allen möglichen »Umwelten« der DNA – ein Teil davon wird unter dem Sammelbegriff »Epigenetik« erforscht. Die stark vereinfachte Kernthese dieses boomenden Forschungsfeldes lautet: Umwelteinflüsse können dazu führen, dass Gene durch bestimmte Mechanismen ein- oder ausgeschaltet werden. Diese Änderungen, die auf sogenannten Transkriptionsfaktoren, DNA-Methylierungen oder Histonmodifikationen basieren können, stellen zwar keine genetischen Mutationen dar, können aber in bestimmten Fällen an die Nachkommen weitergegeben werden. Erste Hinweise darauf gab es bereits Ende der 1980er Jahre, doch erst seit einigen Jahren beginnt man zu verstehen, wie diese epigenetische Vererbung tatsächlich auf molekularbiologischer Ebene vonstattengeht.38 Mit anderen Worten: Kammerers Ideen vom Erwerb und der Vererbung neuer Eigenschaften erhielten durch die epigenetische Forschung der vergangenen Jahre neue Plausibilität.

Tatsächlich wurde dadurch auch neues Interesse am Fall des »Krötenküssers« geweckt – unter anderem durch eine Arbeit des chilenischen Entwicklungsbiologen Alexander Vargas. Der war zwar nicht der Erste, der auf eine mögliche Rehabilitierung Kammerers durch die neuen epigenetischen Erkenntnisse hinwies, denn einschlägige wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Literatur dazu gibt es seit dem Ende des 20. Jahrhunderts.39 Doch Vargas war der Erste, der einen konkreten Hinweis dafür fand, dass Kammerer womöglich eine Art »Vater der Epigenetik« gewesen sein könnte. Der chilenische Forscher hatte in Kammerers Buch The Inheritance of Acquired Characteristics (»Die Vererbung angeborener Eigenschaften«) aus dem Jahr 1924 ein experimentelles Ergebnis entdeckt, das Kammerer damals vor ein Rätsel stellte: In seinen Kreuzungsexperimenten mit »veränderten« und unveränderten Geburtshelferkröten habe sich nämlich eine vom Geschlecht der Elterntiere abhängige Vererbung der Merkmale gezeigt, die nicht nach den Gesetzen Mendels erfolgte. Kammerer hatte diese Unregelmäßigkeiten zwar nur beschreiben können, Vargas aber konnte sie erklären: mit dem Parent of origin-Effekt, der eben epigenetisch bedingt ist und mit der herkömmlichen Genetik nicht erklärbar ist.40

Das sorgte dafür, dass Paul Kammerer im September 2009 das vorläufig letzte Mal größer in die Schlagzeilen geriet. Unter Titeln wie »Wird der Krötenküsser wachgeküsst?« berichteten deutschsprachige Zeitungen, aber auch internationale Medien und Wissenschaftsblogs rund um den Globus über eine neue mögliche Wende im Kriminalfall Kammerer.41 Sogar das US-amerikanische Wissenschaftsmagazin Science widmete ihm im Abschnitt »Neuigkeiten der Woche« einen längeren Artikel, der ebenfalls eine Frage zum Titel hatte: »The Case of the Midwife Toad: Fraud or Epigenetics?« (»Der Fall der Geburtshelferkröte: Betrug oder Epigenetik?«)42 Allerdings blieb auch Vargas’ Text nicht ohne Widerspruch, und der kam sowohl von wissenschaftshistorischer wie auch von biologischer Seite.43

Wie sehr der Fall Kammerer heute noch die Gemüter zu erhitzen vermag, zeigte ein Editorial des FASEB Journal, einer angesehenen US-Zeitschrift für experimentelle Biologie. Als Reaktion auf den Text von Vargas sprach der damalige Herausgeber Gerald Weissmann dem Wiener Zoologen nicht nur seine mögliche Vaterschaft in Sachen Epigenetik ab, sondern warf Kammerer auch noch vor, dass er zudem bei seinen Untersuchungen Fotos verändert habe, was ihn zum »Vater der Manipulation fotografischer Bilder« in der Biologie mache. Überhaupt sei Kammerers gesamtes Werk das Ergebnis seiner hochgespannten Phantasie gewesen. Denn keines seiner Ergebnisse habe je reproduziert werden können, was selbst eine falsche Behauptung ist.44

Damit stehen wir nach ziemlich genau einem Jahrhundert der kritischen Diskussion von Kammerers Arbeiten und mehr als 150 Jahren der Weiterentwicklung der Evolutionstheorie vor einer ähnlichen Situation wie zu Kammerers Lebzeiten. Die Fronten der evolutionsbiologischen Auseinandersetzung haben sich etwas geändert, sind grosso modo aber immer noch ähnlich: Auf der einen Seite stehen die Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie, auf der anderen jene Biologen, die der Meinung sind, dass diese Synthetische Evolutionstheorie dringend überdacht und etwa um Mechanismen der nicht-genetischen Vererbung erweitert werden müsse. Die Stellung in dieser Diskussion prägt bis heute die Einschätzung von Kammerers Experimenten; umgekehrt könnten diese bis heute nicht wiederholten Versuche des Wiener Biologen auch noch für aktuelle Debatten von Interesse sein. Kammerers eigene Interpretation seiner spektakulären Forschungen wie die sogenannte somatische Induktion sind natürlich längst überholt und waren es sogar schon zum Teil zu seinen Lebzeiten. Doch das, was er an Amphibien und Reptilien allem Anschein nach durch Umwelteinflüsse veränderte und womöglich zur Vererbung brachte, ist bis heute spannend und erklärungsbedürftig.

Kapitel 3

Eine Jugend in Wien vor 1900

»Glücklicher! Du weißt doch, was Du erreichen willst und weißt, dass Du es kannst. Ganz anders ich.« Der da an sich selbst zweifelt, ist Paul Kammerer, der kurz zuvor 21 Jahre alt geworden ist. Im September 1901 schreibt er seinem ehemaligen Klassenkameraden Karl Weigl einen Brief, in dem der Absender den Empfänger darum beneidet, gerade auf dem besten Weg zu sein, als Komponist Karriere zu machen. Kammerer hingegen steht vor Beginn des Wintersemesters 1901/1902 wieder einmal vor der Frage, ob die Biologie wirklich sein Beruf werden solle:

»Du weißt, ich bin von jeher ›Zoologe‹ gewesen und ›studiere‹ dieses Fach auch auf der Universität. Kaum aber war es mir gelungen, diesem meinem bisherigen Lieblingsgegenstand nach Überwindung des Gymnasialkerkers und des sich einem zu brotlosen Studium entgegensetzenden häuslichen Widerstandes schrankenlos obliegen zu dürfen, da führte mich mein Unstern – in die Oper!«1

Der Student, der seit Herbst 1899 an der Universität Wien eingeschrieben war, hatte bis dahin nach eigenen Angaben nur »einen elenden Clavierunterricht und Operettenvorstellungen genossen« – beides sei noch keine Gefahr für ihn und sein selbstgewähltes Studium gewesen. Doch ein Opernbesuch habe eine Revolution in ihm hervorgebracht. Diese äußerte sich unter anderem darin, dass sich Kammerer ein Jahr nach Beginn des Zoologiestudiums zusätzlich am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde einschrieb. So nahm er ab Herbst 1900 beim Musikpädagogen Robert Fuchs, einem der renommiertesten Kompositionslehrer im Wien des Fin de Siècle, Unterricht in Musiktheorie und Kontrapunkt.

Bei Fuchs gingen nicht nur Kammerer und Weigl, sondern unter anderem auch Gustav Mahler, Alexander von Zemlinsky, Erich Wolfgang Korngold, Richard Strauss, Hugo Wolf und Franz Schreker in die Lehre. Und mit einigen der Genannten und anderen Schülern von Fuchs sollte sich Kammerers Lebensweg immer wieder kreuzen. Allein, für die musikalische Karriere scheint es zu spät, klagte Kammerer seinem ehemaligen Schulkollegen und Musikerfreund, der tatsächlich ein überaus angesehener Komponist und Musikpädagoge werden sollte: Weigl war von 1904 bis 1906 in der damaligen Hofoper Korrepetitor für Gustav Mahler, ehe er sich auf das eigene Komponieren konzentrierte, das einer spätromantischen Tradition treu blieb. Nach dem »Anschluss« im März 1938 war Weigl, der aus einer angesehenen jüdischen Familie stammte, in Gefahr. Arnold Schönberg verfasste für ihn ein Empfehlungsschreiben und rühmte Weigl darin als einen der besten Komponisten der »alten Generation«, welche die glanzvolle Wiener Tradition weiterführen. Weigl bewahre »die alte Haltung jenes musikalischen Geistes, welcher einen der besten Teile der Wiener Kultur darstellt«. Wenige Monate später musste Weigl in die USA flüchten.

Fast 40 Jahre zuvor wurde er Zeuge von Kammerers innerem Zwiespalt, seinem Schwanken zwischen Wissenschaft und Kunst: Die Zoologie werde, so der Student in seinem Brief, »allgemein als mein Beruf angesehen, und es würde einen argen Kampf kosten, hierin eine Änderung zu bewirken. Thatsächlich zieht mich ja angeborene Anlage und Freude zu diesem Fach hin, aber andererseits kann ich die Musik nicht lassen.«2 Das ist so etwas wie der Lebenswiderspruch von Paul Kammerer, der zeit seines Lebens ein Zerrissener zwischen den Künsten und der Forschung blieb, ein Mann vieler, womöglich zu vieler Talente, der an verschiedenen Dingen interessiert und darin auch noch begabt war. Es war in ihm »scharfer, klarer und kritischer Geist mit einem heißen, künstlerischen Temperament und mit Phantasie verbunden«, wie es sein Freund Willy Gutmann sehr viel später formulierte: »Gerade dieses Konglomerat vorzüglicher Eigenschaften und Begabungen, das ihm alle Herzen gewann, erschwerte seinem Träger das Leben.«3