Konrad Lorenz - Klaus Taschwer - E-Book

Konrad Lorenz E-Book

Klaus Taschwer

0,0
29,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der österreichische Verhaltensforscher Konrad Lorenz war einer der einflussreichsten und zugleich umstrittensten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Vor genau 50 Jahren erhielt der »Vater der Graugänse« den Medizinnobelpreis – trotz seiner NS-Vergangenheit. Daneben war Lorenz, der wie kaum ein anderer Forscher sein eigenes Fach verkörperte, einer der Gründerväter der Umweltschutzbewegung in Österreich und Deutschland. Konrad Lorenz war ein Mann der Widersprüche. Charismatisch und unterhaltsam, zugleich mahnender Prediger wider die »acht Todsünden der zivilisierten Menschheit«. Mit seinen äußerst erfolgreichen Büchern weckte er die Emotionen der Leser, begeisterte die Massen und polarisierte mit seinen Analogien zwischen menschlichem und tierischem Verhalten. In ihrer facettenreichen Biografie über den Mann, der mit den Tieren sprach, skizzieren Klaus Taschwer und Benedikt Föger ein differenziertes Bild des Verhaltensforschers. Mit neuen Erkenntnissen, bisher unveröffentlichtem Material und spannenden Einsichten zeigen sie, warum Lorenz und sein Werk bis heute für Kontroversen sorgen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 626

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus Taschwer, Benedikt Föger

KONRAD LORENZ

Biografie

Klaus Taschwer, Benedikt Föger

KONRAD LORENZ

Biografie

Czernin Verlag, Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

Taschwer, Klaus; Föger, Benedikt: Konrad Lorenz. Biografie / Klaus Taschwer, Benedikt Föger

Wien: Czernin Verlag 2023

ISBN: 978-3-7076-0817-5

© 2023 Czernin Verlags GmbH, Wien

Eine erste Version dieses Buches ist 2003 im Zsolnay Verlag erschienen: Klaus Taschwer / Benedikt Föger (2003): Konrad Lorenz. Biographie. Wien: Paul Zsolnay.

Coverfoto: Konrad Lorenz 1967 in Florida. Foto: Hans Zeisel

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Druck: Finidr, Český Těšín

ISBN Print: 978-3-7076-0817-5

ISBN E-Book: 978-3-7076-0818-2

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Eine ungewöhnliche Familie

Eine prägende Kindheit

Sturm und Drang

Wissenschaftliche Anfänge

Der Begründer einer neuen Disziplin

Nazi aus Begeisterung

Psychologieprofessor in Königsberg

Der loyale Wehrmachtssoldat

Die Jahre der Bewährung

Eine kurze Heimkehr

Internationaler Aufbruch

Das oberbayerische Forscherdorf

Jenseits von Gut und Böse

Der Patriarch von Seewiesen

Rückkehr und Triumph

Der gute Mensch von Altenberg

Das ökologische Gewissen

Der Kreis schließt sich

Epilog

Zeittafel

Anmerkungen

Bibliografie

Quellen

Bildnachweise

Personenregister

Dank

Über die Autoren

EINLEITUNG

Es gibt nicht viele Gesichter von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die auch noch mehr als 30 Jahre nach ihrem Tod so sehr im kollektiven Gedächtnis präsent sind wie jenes von Konrad Lorenz. An Bekanntheit wird seine markante Physiognomie mit dem weißen Kinnbart hierzulande allenfalls von Albert Einstein oder Sigmund Freud übertroffen. Und so wie seine beiden Kollegen hat sich der Forscher, der vor genau einem halben Jahrhundert den Medizin-Nobelpreis erhielt, nicht nur als Wissenschaftler in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben, sondern auch als Symbolgestalt: als einer, der mit den Tieren sprechen konnte, der vor der Zerstörung der Natur warnte und gegen andere »Todsünden der Menschheit« predigte.

Wie kaum einem anderen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts gelang es ihm, mit seinen populären Büchern und seinen beeindruckenden öffentlichen Auftritten breite Bevölkerungskreise für seine Erkenntnisse über Tiere zu interessieren, ja zu begeistern. Dadurch erlangte er im deutschsprachigen Raum zu Lebzeiten eine Bekanntheit, wie sie vor und nach ihm kaum ein Wissenschaftler hatte. Dazu kommt die Tatsache, dass sein Werk so untrennbar mit der Person verbunden war wie bei kaum einem anderen Forscher des 20. Jahrhunderts: Lorenz hat seine Lehren geradezu gelebt und verkörpert – bis hin zu seiner rustikalen Kleidung, zu der eine speckige Lederhose ebenso gehörte wie Wollstutzen, ein gut abgetragener Wolljanker und im Winter eine Wollhaube, die er angeblich je nach Stimmungslage mehr oder weniger tief ins Gesicht gezogen hatte.

Im 21. Jahrhundert ist es zwar leiser um Lorenz und sein Werk geworden. Sein Name weckt aber in der interessierten Öffentlichkeit nach wie vor Emotionen und polarisiert. Das liegt vor allem an seinen Publikationen und an seinem Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus. Zwar wurden seine einschlägigen Artikel, in denen er rassenbiologische Töne anschlug, auch schon zeit seines Lebens immer wieder öffentlich und intensiv diskutiert, so unter anderem rund um die Verleihung des Nobelpreises 1973. Dazu kamen einige neue Fakten – seine Mitarbeit beim Rassenpolitischen Amt der NSDAP oder seine NSDAP-Mitgliedschaft –, die er bis zu seinem Tod erfolgreich verschwiegen oder geleugnet hatte. Das trug mit dazu bei, dass die wissenschaftlichen Verdienste des »Vaters der Graugänse«, der noch Ende des 20. Jahrhunderts vor allem als bahnbrechender Wissenschaftler, mutiger Mahner, Gründervater der Umweltbewegung und gar als Gewissen Österreichs gefeiert wurde, in den letzten zwei Jahrzehnten zugunsten seiner »braunen Vergangenheit« in den Hintergrund gerückt sind.

Die Ausgangslage macht es unvermeidlich, sich mit einer Biografie dieser so vielschichtigen und widersprüchlichen Persönlichkeit der Kritik entweder der Lorenz-Anhänger oder der Lorenz-Gegner auszusetzen. Dazwischen scheint bis heute nur wenig Platz zu sein. Themen und Aspekte, die von der einen Fraktion für wesentlich gehalten werden, kommen womöglich zu kurz. Andere Leserinnen und Leser mögen sich daran stoßen, dass bestimmten Phasen dieses Lebens zu viel Platz eingeräumt wird und anderen zu wenig. Der Umfang einer Biografie über Lorenz – egal, wie viele Seiten sie hat – wird dabei immer zu gering sein. Sein an Ereignissen überreiches Leben währte mehr als 85 Jahre, und seine Publikationen umfassen etliche tausend Seiten – ganz zu schweigen von der Korrespondenz, die er hinterließ. Zudem existiert eine ganze Reihe an Darstellungen seines Lebens und Werks.

Als Biografen mussten wir eine Auswahl aus der Fülle des Darstellenswerten treffen und wir versuchen, das aus unserer heutigen Sicht Wesentliche herauszuarbeiten und zugleich eine möglichst unvoreingenommene Sicht auf dieses einzigartige Leben und Werk zu wahren. Zugleich bemühten wir uns, wichtige Kontexte zu liefern. Denn auch am Beispiel von Konrad Lorenz lässt sich zeigen, wie wichtig das soziale und politische Umfeld sowie die materiellen Grundlagen für seinen wissenschaftlichen Werdegang waren. Gerade bei so charismatischen Forscherpersönlichkeiten wie Lorenz werden solche Umstände allzu gerne vergessen, zumal er bei Selbstdarstellungen dieses Umfeld immer wieder ausblendete. So hat er immer wieder biografische Zufälle oder wissenschaftliche Begründungen dafür angegeben, warum die Graugans zu seinem »Wappentier« wurde: Einerseits sei er durch Selma Lagerlöfs Kinderbuch Nils Holgersson schon mit fünf Jahren auf dieses Tier »geprägt« worden; andererseits habe die Graugans die komplexeste Sozialstruktur unter den Vögeln, was ihre Erforschung so lohnend machte. Dabei wurde völlig übersehen, dass sich Lorenz zu Beginn der 1930er-Jahre schlicht und einfach deshalb Graugänse anschaffte, weil er damals knapp bei Kasse war: Die Eier ließ sich Lorenz gratis vom Neusiedlersee bringen, die Haltung der Tiere war weitaus billiger als die von Enten, die bis dahin seine bevorzugten Untersuchungsobjekte unter den Wasservögeln waren. Es geht in dieser Biografie also auch darum, etliche Mythen und konstruierte Zusammenhänge, die Lorenz selbst über sein Leben in die Welt setzte, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren.

Schließlich beschäftigt sich ein wichtiger Teil dieser Biografie mit den medialen, gesellschaftlichen und politischen Wirkungen des »öffentlichen Wissenschaftlers« Lorenz. Dabei wird sein Status als Wissenschaftsstar spätestens seit Das sogenannte Böse ebenso nachzuzeichnen sein wie seine gesellschaftspolitische Wirkung als Antipode zur 68er-Bewegung und vor allem als Umweltschützer: Die Ablehnung der österreichischen Kraftwerke Zwentendorf und Hainburg sowie die Entstehung der Grün-Bewegung sind ohne Lorenz’ Engagement nicht zu verstehen. Vor allem in seinen späten Jahren wurde er zum kämpferischen Prediger, als der er sich bei seinen engsten Kollegen in der Wissenschaft in Misskredit brachte. Manche sahen im greisen Gelehrten gar einen zweiten Franz von Assisi – nicht nur deshalb, weil auch er mit den Tieren sprechen konnte. Auch in seiner bedingungslosen Liebe zur Schöpfung, in seiner Ablehnung der Konsumgesellschaft und in seiner Verherrlichung des Landlebens war er dem Heiligen nicht unähnlich. Lorenz’ außergewöhnliche Breitenwirkung verdankte sich nicht nur seiner hohen schriftstellerischen Begabung und seinem Mut zu gewagten und oftmals überzogenen Analogieschlüssen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten. Er war auch einer der Ersten, die den Film systematisch für ihre wissenschaftliche Arbeit und ihre Popularisierung einsetzten.1 Das trug dazu bei, dass er ab den 1960er-Jahren zu einem internationalen Wissenschaftsstar wurde, der seine Berühmtheit für gesellschafts- und zivilisationskritische Mahnungen nutzte – und auf diese Weise noch bekannter wurde.

Eine Kurzfassung seines Lebens, das über 85 Jahre lang währte, gleicht denn auch einer Spielfilmproduktion Marke Hollywood: Der Held verbringt eine paradiesische Kindheit in einem zauberschlossartigen Gebäude, umgeben von Luxus, einem dominanten Vater und vor allem: jeder Menge Tieren. Seine spätere Frau ist seine beste Freundin, sie kennen sich seit seinem dritten Lebensjahr. Nach Schule und Studium wird er zum jungen Dr. Dolittle, der mit den Tieren spricht, aber von Karrieresorgen geplagt ist. Dann folgen die dunklen Jahre: Als schwärmerischer Opportunist fällt er auf die Nazis herein, heult mit den »braunen Wölfen« – und hat danach in russischer Kriegsgefangenschaft Jahre der Prüfungen zu bestehen. Seine Nachkriegskarriere verläuft glänzend. Der Held feiert fern von der Heimat große Erfolge, er kehrt zurück, und ihm wird die höchste aller wissenschaftlichen Ehrungen zuteil. Damit nicht genug: Als alter Mann engagiert er sich in aussichtslos scheinenden Kämpfen für die Erhaltung der Natur – und setzt sich zweimal gegen die Mächtigen und für die Umwelt durch. Die letzten Jahre seines bewegten Lebens verbringt er da, wo es seinen Anfang nahm: in jenem stets mit Tieren geteilten Märchenschlösschen, das im Geburtsjahr des Helden fertiggestellt worden war.

So nimmt es nicht wunder, dass dieses Leben im 21. Jahrhundert als Stoff für Romane entdeckt wurde. Der deutsche Schriftseller Marcel Beyer verlegte das Leben von Konrad Lorenz unter dem titelgebenden Namen Kaltenburg in die DDR und erzählte an seinem Beispiel eine etwas andere Geschichte Deutschlands vor und nach 1945. Der 2023 erschienene Roman Lorenz von Ilona Jerger hingegen hält sich sehr eng an wahre Begebenheiten.2 Dass Biografien wie jene von Lorenz so interessant sind, liegt auch am Geburtsjahr, worauf der 1903 Geborene selbst zu Recht hinwies. Der Zeitraum, den er und die um 1900 geborenen Personen durchlebten,

»enthält drei scharf geschiedene historische Epochen und so viele Katastrophen und Umwertungen aller Werte, dass es ebenso fesselnd wie belehrend ist, zu sehen, wie sich ein einzelner mit diesem mehrfachen Wechsel aller kulturellen Bedingungen auseinandergesetzt und was er rückblickend dazu zu sagen hat. Der Wert einer solchen Selbstbiografie hängt von zwei Dingen ab: erstens von einem guten Gedächtnis für Einzelheiten und zweitens von einer ganz bestimmten Art innerer Redlichkeit, die verhindert, Erinnerungen zu färben oder umzudeuten.«3

Der Begründer der Verhaltensforschung hat selbst etliche autobiografische Kurzdarstellungen – wie jene anlässlich der Nobelpreis-Verleihung 19734 – hinterlassen. Als wir vor über zwei Jahrzehnten für die erste Fassung dieser Biografie recherchierten, die 2003 zum 100. Geburtstag von Konrad Lorenz erschien, stießen wir auf Hinweise, dass er in den letzten Monaten seines Lebens seine »Memorrhoiden« diktiert habe, wie er es selbst in Briefen formulierte. Schließlich fand sich bei einer gründlichen Suche mit Lorenz’ Tochter Agnes Cranach im Lorenz-Anwesen in Altenberg tatsächlich jenes Manuskript, das fast 14 Jahre lang verschwunden war. Die Flügelmappe war schlichtweg anders beschriftet und lag unter Stapeln handkorrigierter Druckfahnen. In diesem fast 200-seitigen Konvolut, das unvollendet und fragmentarisch blieb, erzählt Lorenz in ständig neuen Anläufen vor allem aus der ersten Hälfte seines Lebens – bis etwa zum Jahr 1950. Dazu gibt es allgemeine Betrachtungen über verschiedenste Themen, die mit seiner Vita in einem Zusammenhang standen. Parallel zum Diktat seiner Erinnerungen verfertigte er Aquarelle, um diese schriftlichen Erinnerungsbilder zu ergänzen, die ihrerseits viele der bekannten Anekdoten aus dem Leben von Konrad Lorenz wiederholen. Gerade bei den von ihm oft und oft erzählten Schnurren aus dem Leben scheint sich jene Gedächtnisverzerrung eingestellt zu haben, die der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal so beschrieb: »Die Jahre vergehen und ich habe die Geschichte so oft erzählt, dass ich nicht mehr weiß, ob ich mich wirklich an sie selber erinnere oder nur an die Worte, mit denen ich sie erzähle.«5

Lorenz mag zwar beim Diktieren seiner Memoiren sich jene Redlichkeit vorgenommen haben, die verhindern sollte, Erinnerungen zu färben oder umzudeuten. Und er hat sich in diesen fragmentarischen Texten ausführlicher als zuvor mit den Jahren des Nationalsozialismus und seinem Verhalten in dieser Zeit beschäftigt. Doch vieles davon war von ihm wohl schon in den Jahrzehnten davor verdrängt worden, ohne wohl ganz vergessen worden zu sein. Immerhin war sich Lorenz dieser blinden Flecken der Erinnerung wohl bewusst, denn gleich zweimal zitierte er in seinen Memoiren den Philosophen Friedrich Nietzsche, der das Problem der selektiven Erinnerung in seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse so auf den Punkt brachte: »›Das habe ich getan‹ sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.«6

Die vor mehr als 20 Jahren wiedergefundenen selbstbiografischen Fragmente werden in unserem Buch ausführlich erwähnt. Wir haben uns dabei bemüht, diese Passagen zu kontextualisieren und kritisch mit jenen Dokumenten zu vergleichen, die wir in rund 20 Archiven in Deutschland, Österreich, Großbritannien, Polen, Russland und den USA gesichtet und zusammengetragen haben – vor allem Briefe, aber auch Personalakten, Zeitungsartikel und Fotos. Und diese Unterlagen aus der jeweiligen Zeit vermitteln nicht immer dasselbe Bild wie jenes, das der schon sehr greise Konrad Lorenz in seinen letzten Lebensjahren von sich zeichnete. Zudem konnten wir bei den damaligen Recherchen dank der damaligen Unterstützung von Agnes Cranach, der 2005 verstorbenen Tochter von Konrad Lorenz, und dem Konrad-Lorenz-Institut für Kognition und Evolutionsforschung Einblick in die gesammelte Korrespondenz aus seinen letzten 25 Lebensjahren nehmen. Konkret sind das 120 prall gefüllte Ordner mit Korrespondenz buchstäblich aus aller Welt: Briefe von Albert Schweitzer und Carl Orff finden sich darunter ebenso wie von Oskar Werner, Noam Chomsky oder Carl Zuckmayer – von der umfangreichen Korrespondenz mit seinen engeren und weiteren Fachkollegen – unter ihnen zahlreiche 1938 aus Österreich vertriebene oder bereits zuvor emigrierte Wissenschaftler wie Ernst Gombrich, Friedrich Hacker, Max F. Perutz, Karl Popper, Paul Weiss, Victor F. Weisskopf oder Hans Zeisel – einmal ganz abgesehen.

Nach unserem Buch über die NS-Vergangenheit von Konrad Lorenz, das 2001 unter dem Titel Die andere Seite des Spiegels erschienen war und unter anderem erstmals sein Eintrittsgesuch in die NSDAP präsentierte7, wollten und wollen wir mit dieser umfassenden Biografie – damals zum 100. Geburtstag, nun zum 120. – das gesamte Leben von Konrad Lorenz abdecken: seine visionären Beiträge zur Wissenschaft ebenso wie seine populärwissenschaftliche Vermittlungstätigkeit, die Millionen Menschen für Tiere und die Verhaltensforschung begeisterte, seine immer wieder umstrittenen, aber einprägsamen Mahnungen an die Menschheit oder seinen Einsatz für die Umwelt, der in Österreich letztlich ein Kernkraftwerk und ein Donaukraftwerk verhinderte und indirekt zur Gründung der Grünen in diesem Land beitrug. In den zwei Jahrzehnten, seit die erste Fassung dieser Biografie erschien, sind zwar keine substanziellen neuen Fakten oder Dokumente über das Leben von Konrad Lorenz aufgetaucht, die gravierendere Änderungen nötig gemacht hätten. Wir sind in der Zwischenzeit aber um einige neue Erkenntnisse zur Geschichte der Universität Wien – Konrad Lorenz’ Alma Mater – klüger geworden, die bereits lange vor dem »Anschluss« eine Hochburg des Antisemitismus war und ein Hort von Deutschnationalen und Nationalsozialisten.8 Dieses neue Wissen half unter anderem, sein Verhalten vor und nach dem »Anschluss« noch besser zu verstehen und zu kontextualisieren. Zudem haben wir einige kleine Fehler richtiggestellt und Fakten ergänzt wie das Sterbedatum von Konrad Lorenz’ Mutter.9

Eingearbeitet wurden außerdem neue Archivfunde etwa im Nachlass von Hans Zeisel in Chicago oder persönliche Informationen von Paul Hellmann, dem in Rotterdam lebenden Sohn von Bernhard Hellmann, der vor 1938 Konrad Lorenz’ bester Freund gewesen war. Zudem sind in der Zwischenzeit einige Bücher und Artikel zur Geschichte der vergleichenden Verhaltensforschung erschienen, die wir für diese überarbeitete und aktualisierte Neuauflage berücksichtigt haben. Hervorzuheben ist dabei insbesondere Richard W. Burckhardts 2005 veröffentlichte Studie Patterns of Behavior, die das unübertroffene Standardwerk zur Gründungsgeschichte der Ethologie darstellt. Anregungen lieferten aber auch neuere Arbeiten von Doris Kaufmann, Thomas Mayer, Tania Munz oder Marga Vicedo zu verschiedenen Aspekten von Lorenz’ Forschungen und deren Rezeption – um nur die wichtigsten zu nennen. In dem Zusammenhang seien auch die Bemühungen des Vereins »Freunde des Konrad Lorenz Hauses Altenberg« erwähnt, seit einigen Jahren Materialien von und über Lorenz im Netz zugänglich zu machen. Dass ausgerechnet seine Artikel aus der NS-Zeit mit ihren zu Recht heftig kritisierten rassenpolitischen Aussagen nicht als Volltext abrufbar sind, mag ein dummer Zufall sein.10

Unsere beiden Lorenz-Bücher aus den Jahren 2001 und 2003 mit den darin zum Teil erstmals präsentierten Fakten und »Originaltönen« haben womöglich mit dazu beigetragen, dass in den letzten zwei Jahrzehnten der Blick auf Konrad Lorenz noch kritischer wurde. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass Österreich in seinem eigenen Umgang mit der »braunen« Vergangenheit in den vergangenen drei Jahrzehnten eine ganz ähnliche Transformation durchmachte. Sah sich das Land bis in die 1990er-Jahre offiziell als Opfer Nazideutschlands, so rückte im Laufe des bisherigen 21. Jahrhunderts die Beteiligung von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus sehr viel stärker in den Fokus und wurde spät, aber doch aufgearbeitet. Und das färbte auch auf die Einschätzung von Konrad Lorenz ab. Sinnfälliger Ausdruck dieser mitunter wenig differenzierenden Umwertung war 2015 die posthume Aberkennung eines Ehrendoktorats, das Konrad Lorenz 1983 von der Universität Salzburg erhalten hatte. Damit ist er der wohl einzige wissenschaftliche Nobelpreisträger der Geschichte, der nach seinem Tod eines Doktors honoris causa verlustig ging.

Begründet wurde dieser umstrittene Schritt damit, dass sich Lorenz den Ehrendoktor erschlichen hätte, weil er bei der Übermittlung der Unterlagen »die aktive Beteiligung an verbrecherischen Handlungen oder die aktive Mitgestaltung oder Verbreitung nationalsozialistischer Ideologie – insbesondere rassistischen und/oder imperialistischen Inhalts – verschwiegen« habe.11 Zwar stellte sich heraus, dass Lorenz 1983 ziemlich sicher Unterlagen nach Salzburg schicken ließ, unter denen sich auch eine Literaturliste mit den NS-Publikationen befand. Doch da war die Aberkennung schon beschlossene Sache, ohne dass die beauftragte Studie dazu bereits offiziell abgeschlossen oder publiziert worden wäre.12 In letzter Instanz wurde die Entscheidung dann doch wieder mit jenen Passagen jener Publikation aus dem Jahr 1940 (»Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens«) begründet, die bereits seit mehr als 50 Jahren in aller Öffentlichkeit kritisch diskutiert wurden und selbstverständlich 1983 allen Interessierten bekannt waren. Dass der Rektor der Universität Salzburg, der diese Aberkennung verantwortete, ein Philosoph und römisch-katholischer Theologe ist, verlieh der Affäre eine zusätzliche pikante Note: Lorenz hatte als Biologe und Protestant in der katholischen Dollfuß/Schuschnigg-Diktatur wenig Chancen auf eine Karriere und entwickelte auch aus diesem Grund Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland, wo die Biologie gefördert wurde.

Richtig ruhig um Konrad Lorenz wurde es mithin auch in den vergangenen 20 Jahren nicht, und die posthume Aberkennung des zehnten von zehn Ehrendoktoraten steht beispielhaft dafür, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das eine Extrem ins andere umschlug: Konnte Lorenz 1973 noch recht unverfroren behaupten: »Jeder, der mich in die Nähe der Nazi stellen will, ist eine Dreckschleuder«13, so überwiegt bei vielen 50 Jahre später der ähnlich irreführende Eindruck, dass er in der Bilanz seines Lebens zuerst einmal Nazi war und erst danach ein Wissenschaftler und Naturschützer. Aus der völlig unkritischen Heldenverehrung zu Lebzeiten wurde der »braune« Biologe Lorenz. Doch das entspricht einer angemessenen und differenzierten Einschätzung seines Lebenswerks ebenso wenig wie manche unkritische Lorenz-Hagiografie, die diese Aspekte weitgehend ausblendete.

Wenn wir in dieser Darstellung des Lebens und Werks von Konrad Lorenz diesen selbst ausführlich zu Wort kommen lassen – was in ein paar Rezensionen bemängelt wurde –, geschah und geschieht das mit Absicht. Zum einen wollen wir damit möglichst nahe an der Person bleiben, um ihn auch selbst beim Wort nehmen zu können. Zum anderen liegt uns daran, dass sich die Leserinnen und Leser dieser Biografie selbst eine Meinung bilden können. Selbstverständlich bemühen wir uns dabei immer auch um Einordnungen – etwa jener, dass Lorenz bei seinem NSDAP-Parteieintrittsgesuch seine angeblichen Nazi-Aktivitäten vor 1938 schamlos und aus Opportunismus übertrieb. Wenn bei einer so facettenreichen Persönlichkeit wie Konrad Lorenz so manches ambivalent bleibt, ist das der Natur der Sache geschuldet: Alle unsere Leben sind voll von Widersprüchlichkeiten und das von Konrad Lorenz ganz besonders. Dass ausgerechnet dieser große Moralist »eine noch schärfere Ausmerzung ethisch Minderwertiger« forderte, ist der zu Recht verfemte Kulminationspunkt dieser unauflöslichen Widersprüche und Ambivalenzen, die mitunter schwer auszuhalten sind.

Aber damit müssen wir uns im Fall des Lebens und Werks von Konrad Lorenz abfinden: In bestimmten Phasen hat sich der große Verhaltensforscher politisch opportunistisch und – jedenfalls aus heutiger Sicht – falsch verhalten. Zugleich war er Mitbegründer einer wichtigen Forschungsrichtung, ein begeisternder Vermittler seiner Beobachtungen und Erkenntnisse, ein einflussreicher Umweltschützer und ein visionärer Wissenschaftler, der vor genau einem halben Jahrhundert zu Recht den Nobelpreis erhielt.

Wien, im August 2023

EINE UNGEWÖHNLICHE FAMILIE

1903 war ein gutes Jahr im Leben des Adolf Lorenz. Der Mediziner war in diesem Jahr auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt und endgültig zu einem internationalen Star seiner Profession aufgestiegen. Seine revolutionären Behandlungsmethoden wurden nicht nur in der Reichs- und Residenzhauptstadt Wien geschätzt, wo er seine Ordination hatte, sondern weit darüber hinaus. Aber auch abseits seiner medizinischen Karriere trugen sich für den 49-Jährigen erfreuliche Dinge zu: Im Sommer 1903 weilte der Orthopäde gerade in Chicago, um die Nachuntersuchung bei einer im Vorjahr von ihm operierten Millionärstochter vorzunehmen. Völlig unerwartet erreichten ihn private Neuigkeiten, übermittelt von seinem Schwager aus Wien: Emma, seine Frau, erwarte ein zweites Kind. Die Überraschung war deshalb so groß, weil die Familie zunächst jahrelang auf diesen Augenblick gewartet und dann jede Hoffnung aufgegeben hatte: Der erstgeborene Sohn war mit 18 Jahren schon ein junger Mann und die werdende Mutter war bereits 42 Jahre alt.

In die Freude über das mögliche zweite Kind mischte sich schnell berechtigte Sorge. Dem Mediziner war das Risiko einer so späten Schwangerschaft bewusst. Nach einiger Überlegung sah er dennoch keinen Grund, seinen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten abzubrechen und heimzureisen. Die Dinge sollten ihren natürlichen Lauf nehmen, seine Anwesenheit würde ohnehin nichts helfen. Wenn es wegen des fortgeschrittenen Alters seiner Frau zu einer Frühgeburt kommen würde, war sein Entschluss klar, wie Adolf Lorenz in seiner Autobiografie festhielt:

»Man sorge für das neugeborene Kind in gleicher Weise wie für jedes andere normale Kind; kein Brutofen, keine sonstigen, außerordentlichen Maßregeln! Das Neugeborene muss imstande sein, das extrauterine Leben zu ertragen, oder es stirbt besser. Ohne ein gewisses Maß an Lebenskraft sollten vorzeitig geborene Kinder das Leben lieber nicht versuchen wollen.«14

Zugleich war er stolz, mit beinahe 50 Jahren noch einmal Vater zu werden. Er nannte das werdende Kind später scherzhaft den »Amerikaner« und erklärte seine wiedererwachte Manneskraft mit den wohltuenden Wirkungen einer vorangegangenen Reise in die USA. Sein Sohn hatte später noch eine andere Erklärung: Die monatelange Abwesenheit von den Röntgenapparaten und deren Strahlung, die der Fruchtbarkeit nicht gerade förderlich waren, könnte zur glücklichen Zeugung des Nachzüglers geführt haben, vermutete dieser mehr als 80 Jahre später.15 Die Erklärung ist nicht völlig abwegig, auch wenn die Röntgenstrahlen erst Ende 1895 entdeckt worden waren. Den weltweit allerersten Artikel über die Erfindung Röntgens verfasste übrigens ein Schwager von Adolf Lorenz, nämlich der Physiker Ernst Lecher, der in der Zeitung seines Vaters Zacharias Konrad Lecher darüber berichtete.

Die Befürchtungen von Komplikationen und einer Frühgeburt verdichteten sich knapp vor der Geburt. Emma Lorenz erlitt eine Embolie, die aber glücklicherweise folgenlos blieb. Die Geburt fand dann im Sanatorium Löw im neunten Wiener Gemeindebezirk unter Aufsicht des damals berühmten Professors Rudolf Chrobak statt. Die Geburtsklinik in Wiens erstem Privatkrankenhaus galt als die beste der gesamten k.-u.-k.-Monarchie, und Chrobak war nicht nur der Geburtshelfer für den Nachwuchs der Familie Lorenz, sondern auch den des Kaiserhauses. Ohne größere Probleme kam am 7. November 1903 unter den misstrauischen Augen seiner Umgebung ein 3,5 kg schwerer Bub zur Welt, der angeblich gründlich auf alle möglichen angeborenen Fehler untersucht wurde und sich nach eingehender Prüfung als kerngesund herausstellte.16 Römisch-katholisch getauft wurde er am 26. Dezember 1903 in der Votivkirche und erhielt dabei die Vornamen Konrad Zacharias Johann Albert (Konrad damals übrigens noch mit C).

Pater familias mit Rauschebart: Adolf Lorenz stammte aus einfachen Verhältnissen und brachte es um 1900 zum Starmediziner.

Was war das für ein Elternhaus, in das der kleine Konrad hineingeboren wurde? Und in welcher Welt lebten seine Eltern? Vater Adolf, mit seinem inzwischen bereits ergrauten langen Bart, war ein Vertreter des k. u. k. Großbürgertums mit einer allerdings untypischen Herkunft. Adolf Lorenz trug den Titel eines Universitätsprofessors, war vom Kaiser mit dem Ehrentitel Hofrat ausgezeichnet worden und hatte als prominenter Arzt Zugang zu den höchsten Wiener Kreisen. Er war, wie es auf den ersten Blick schien, der geborene Grandseigneur. Sein Verhalten ließ ihn manchmal als Emporkömmling erscheinen, der er auch war und worauf er sogar ein wenig stolz zu sein schien. Seine polternde Art und seine mangelnden Tischmanieren allerdings waren wohl mehr Koketterie als wirkliches Unvermögen: Adolf Lorenz stammte aus sehr einfachen Verhältnissen und hatte sich durch Fleiß und Talent bis ganz nach oben gearbeitet.

Der Vater des 1854 geborenen Adolf Lorenz war Sattlermeister und Gastwirt in Weidenau im damaligen Österreichisch-Schlesien gewesen, die Mutter eine Bauerstochter. Durch Vermittlung seines Onkels Gregor, der Pater und später Abt im Benediktiner-Stift St. Paul im Kärntner Lavanttal war, konnte Adolf Lorenz das dortige Stiftsgymnasium besuchen, musste sich aber schon als Teenager den Lebensunterhalt durch Nachhilfe selbst finanzieren. Fern der Heimat und weitgehend auf sich allein gestellt, wollte er nach der Matura – also dem österreichischen Abitur – Medizin studieren, obwohl er völlig mittellos war. Durch selbstbewusste Vorsprachen beim Unterrichtsministerium, bei Professoren und bei Universitätsbehörden gelang es ihm, die Zulassung zum Studium in Wien zu erlangen. Sogar ein kleines Stipendium wurde ihm gewährt. Finanziell hielt er sich außerdem als Hauslehrer bei angesehenen Wiener Familien über Wasser. Hier erhielt Adolf Lorenz erstmals Einblick in die Welt des Geldes und des Adels, der er auch so gerne angehören wollte – hatte ihm doch seine Mutter schon als kleinem Jungen eingetrichtert: »Adolfla, du musst a großer Herr werden!« Schon nach der ersten erfolgreich abgelegten Prüfung wurde er von seinem Professor Carl Langer zum Demonstrator am Zweiten Anatomischen Institut der Universität Wien bestellt, eine Position, die auch sein jüngerer Sohn Konrad 50 Jahre später innehaben sollte. Um Geld zu verdienen, gab er zu dieser Zeit einigen Philosophiestudenten eine private Einführung in die Grundlagen der Anatomie. Einer dieser Studenten war ein gewisser Tomáš G. Masaryk, der zum Begründer und ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik werden sollte.17

Nach seiner Promotion im Jahr 1880 lehnte Lorenz ein Angebot seines vorgesetzten Professors ab, eine Assistentenstelle an dessen Institut anzunehmen, und absolvierte stattdessen eine chirurgische Spezialausbildung. Bald darauf wurde er Assistent an der Wiener Ersten Chirurgischen Klinik. Adolf Lorenz war auf dem besten Weg, ein Chirurg wie seine Vorbilder Ferdinand Hebra oder Theodor Billroth zu werden. Bereits 1889 wurde er zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt, was zwar keine finanziellen Vorteile mit sich brachte, ihn aber eben doch als Professor auswies. Auch das familiäre Glück war längst gesichert: 1884 hatte er seine Assistentin Emma Lecher geheiratet, ein »Mädchen aus gutem Hause«, das Lorenz bei seiner Tätigkeit als Hauslehrer in Wien kennengelernt hatte. Ihr Vater war einer der bekanntesten Journalisten Wiens, der bereits erwähnte Zacharias Konrad Lecher.

Obwohl Adolf sich angeblich sofort in Emma verliebte, stellte er sie nur als Arzthelferin ein und getraute sich erst sieben Jahre später, um ihre Hand anzuhalten. Nach Ansicht des älteren Sohnes Albert überwand Adolf Lorenz während des endlos langen Brautstandes nie so ganz seine Schüchternheit gegenüber seiner Angebeteten.18 Und obwohl der erfolgreiche Mediziner mit seiner stattlichen Erscheinung und seinen blitzenden Augen als Frauenschwarm galt und diesem Ruf angeblich auch gerecht wurde, führten die beiden eine glückliche und harmonische Ehe, der bereits ein Jahr nach der Heirat Sohn Albert entsprang. Emmas einzige Sorge war, was aus dem kleinen Albert werden würde, wenn sie überraschend sterben sollte. »Nach zwei Wochen hast Du eine Stiefmutter, wahrscheinlich eine achtzehnjährige; sie muss nur sagen, wie schön und gescheit der Papa ist«, soll sie gejammert haben.19

Emma Lorenz sorgte nicht nur gewissenhaft für die leiblichen Bedürfnisse ihres Mannes, der einen empfindlichen Magen hatte und meist einer Schonkost bedurfte. Sie kümmerte sich auch um die finanziellen Angelegenheiten der gut gehenden Arztpraxis.20 Doch es gab ein Problem: Adolf Lorenz hatte über die Jahre eine Allergie gegen das damals bei Operationen unumgängliche Desinfektionsmittel Karbolsäure entwickelt. Die Hände des Mediziners waren übersät von Blasen und offenen Wunden. Alkohol wurde als mögliche Alternative gesehen, galt aber als unzuverlässiges Desinfektionsmittel für Operationen.

Dem Chirurgen war klar, dass er seine Fachrichtung wechseln und seine Träume aufgeben musste. Doch das Glück sollte sich abermals zu seinen Gunsten wenden: Klinikvorstand Prof. Eduard Albert21, Namensgeber und Taufpate von Lorenz’ erstem Sohn, empfahl seinem Lieblingsschüler, sich doch der »trockenen« Chirurgie zuzuwenden, also Operationen ohne Blut und Skalpell. Adolf Lorenz hatte sich zuvor bereits mit der operativen Korrektur von angeborenen Hüftgelenksverrenkungen und anderen anatomischen Missbildungen beschäftigt. Es kam bei diesen Operationen, bei denen das Hüftgelenk chirurgisch geöffnet wurde, jedoch immer wieder zu Todesfällen durch Blutvergiftung. Er hatte deshalb versucht, diese Missbildungen auf unblutige Weise durch Streckverbände und Gipsschalungen zu beseitigen, traute seinem Verfahren zunächst aber keinen Erfolg zu. Durch die Karbolsäureallergie beeinträchtigt, intensivierte er seine Bemühungen, doch letztendlich war es das Schicksal eines türkischen Mädchens, das wenige Tage nach der Operation verstarb, das die endgültige Wende brachte. Adolf Lorenz schwor sich, keine »blutige« Operationen am Hüftgelenk mehr durchzuführen.22

Die neue Operationsmethode war das Ergebnis jahrelanger Forschung und zahlreicher Testreihen, die Adolf Lorenz in der Klinik und in einem eigenen Häuschen im Garten seines Landhauses an Präparaten durchführte. Er entwickelte neuartige, martialisch anmutende Geräte, die luxierten Knochen in die richtige Position bringen sollten. Im Jahr 1896 wagte er, das neue Verfahren anzuwenden. Es zeigte erstaunliche Erfolge und galt für die zumeist noch sehr jungen Patienten und Patientinnen als viel weniger belastend und gefährlich als eine offene Operation.23 Zudem dürfte es das erste neue medizinische Verfahren gewesen sein, dessen Funktionieren mittels der Röntgenstrahlen bewiesen wurde.24

Mit den erfolgreichen »unblutigen Operationen« der angeborenen Hüftluxation, die Lorenz – anders als heute – nicht schon an Babys, sondern an Kleinkindern durchführte, begann sein märchenhafter Aufstieg zum weltbekannten Starmediziner. Wien galt zu dieser Zeit dank der Zweiten Wiener medizinischen Schule, der unter anderem der Chirurg Theodor Billroth oder der Pathologe Carl von Rokitansky angehörten, als internationale Hochburg medizinischer Forschung. Es war die Zeit, als Sigmund Freud die Psychoanalyse begründete, Karl Landsteiner die Blutgruppen entdeckte und Julius Wagner-Jauregg die Grundlagen für die Psychiatrie schuf. Adolf Lorenz reihte sich in diese Liste ein: Er hat mit seiner neuen Operationsmethode nicht nur Bahnbrechendes geleistet, sondern auch die Orthopädie mitbegründet, die damals als Fach noch neu war. Als ihm Franz Joseph I. im Jahr 1896 den Titel »Regierungsrat« zuerkannte, fragte ihn der Kaiser angeblich, was denn Orthopädie eigentlich sei. Adolf Lorenz’ Antwort: »Majestät, das ist die Kunst, die Krummen gerade und die Lahmen gehend zu machen.«25

Seine neue Behandlung der angeborenen Hüftverrenkungen verschaffte ihm 1902 den Ruf in die USA. Hier sollte er einen besonders schweren Fall bei der Tochter des US-amerikanischen Fleischkönigs J. Ogden Armour in Chicago heilen. Der Millionär bezahlte sämtliche Reise- und Aufenthaltskosten für den österreichischen Starmediziner. Das Honorar soll die damals beachtliche Summe von 75.000 US-Dollar ausgemacht haben, nach heutigem Wert mehr als zwei Millionen Euro. Diese erste USA-Reise gipfelte in einem beispiellosen Triumphzug, der von den Zeitungen fortwährend kommentiert wurde. Wo Lorenz auch auftauchte, warteten unzählige Journalisten und noch viel mehr hilfesuchende Patienten. Einmal musste wegen des Menschenauflaufes in New York sogar die Straße vor dem Hotel abgesperrt werden, in dem Lorenz residierte. Ein Empfang im Weißen Haus bei Präsident Theodore Roosevelt war für Adolf Lorenz ebenso selbstverständlich wie ein Besuch bei der Bierbrauerlegende Adolphus Busch oder die Behandlung des Medienmoguls Joseph Pulitzer. Während der drei Monate, die Lorenz in den USA verbrachte und dabei auch pro bono operierte, erschienen mehr als tausend Zeitungsartikel über Lorenz, die als Werbung unbezahlbar waren. Und wahrscheinlich gab es vor und nach seinem Besuch keinen Österreicher in den USA, dem in so kurzer Zeit so viel Zeitungsberichterstattung zuteilwurde wie dem »bloodless wizard from Vienna«.26

Lorenz-Rummel in den USA: Einer von hunderten Zeitungsartikeln, die im Herbst 1902 über den Orthopäden und seine Operationen erschienen.

Seinem nicht nur durch die USA-Reisen erarbeiteten Reichtum – Lorenz wurde immer wieder von adeligen und reichen Patienten aus ganz Europa konsultiert – wollte der in seiner Kindheit nicht gerade verwöhnte Mediziner auch nach außen hin Ausdruck verleihen und mit seinem Landsitz in Altenberg an der Donau, rund 20 Kilometer nordwestlich von Wien, ein architektonisches Zeichen setzen. Die beschauliche Doppelgemeinde Altenberg-Greifenstein liegt an den Ausläufern des Wienerwaldes, nahe am südlichen Donauufer. Die Nähe zu Wien – seit 1870 war Altenberg mit der Reichshauptstadt durch die Kaiser-Franz-Josefs-Bahn gut verbunden – und die malerische Lage am Strom machen das Dorf bis heute zu einem beliebten Zweitwohnsitz für Wienerinnen und Wiener, die auch schon damals vor allem im Sommer das Landleben dem Leben in der Großstadt vorzogen. Neuankömmlinge siedelten sich nahe dem Donauufer nördlich der Hauptstraße an, die Familie Lorenz wohnte noch auf der »alten«, dem Wald zugewandten Seite.

Der Grund, warum die Familie Lorenz 20 Jahre vor Konrads Geburt dort ihren Zweitwohnsitz hatte, war Ehefrau Emma. Altenberg war schon seit ihrer Kindheit der Wochenend- und Sommersitz ihrer Vorfahren. Emma war die älteste Tochter des Chefredakteurs der Tageszeitung Die Presse, Zacharias Konrad Lecher, der zudem einer der Mitbegründer der Journalisten- und Schriftstellervereinigung »Concordia« war.27 Der aus Vorarlberg stammende Lecher hatte in Innsbruck Medizin studiert, war aber rund um die bürgerliche Revolution 1848 aus politischen Gründen von der Universität verwiesen worden und wurde Journalist. Er schrieb einen anerkannt guten Stil und galt als Universalgelehrter.28 Lecher war mit der Schriftstellerin Louise Schwarzer Edle von Heldenstamm verheiratet, der Tochter eines Prager Patrizierkaufmannes und k. u. k. Ministers. Weil Zacharias Konrad Lecher im Altenberger Anwesen viele Tiere hielt – darunter sogar eine zahme Hyäne, die er auf seine Spaziergänge mitnahm –, war die Familie später überzeugt, Konrad habe die Tierliebe vom Großvater geerbt.29 Die Vornamen von Konrad Zacharias Lorenz waren eine Ehrerweisung an den Großvater mütterlicherseits, der einer seiner Taufpaten war.

Die anregende Umgebung im Haus seiner Schwiegereltern hatte auch großen Einfluss auf die weitere Entwicklung von Adolf Lorenz. Im Hause Lecher verkehrte die junge Literatenszene des späten 19. Jahrhunderts: neben Schriftstellern wie Peter Rosegger und Karl Schönherr auch ein angehender Dichter namens Richard Engländer. Dieser verliebte sich als knapp 20-Jähriger Hals über Kopf in Emmas Schwester Bertha. Die Angebetete, die von ihren Brüdern »Peter« gerufen wurde und unter ihren Geschwistern zu leiden hatte, war damals gerade 13 Jahre alt. Die Zeit in Altenberg und seine Leidenschaft für Bertha/Peter waren für Richard Engländer so prägend, dass er diesem Umstand mit einer Namensänderung Ausdruck verleihen wollte: Als Peter Altenberg wurde er einer der bekanntesten österreichischen Schriftsteller der Jahrhundertwende. Bis zu seinem Lebensende hatte er eine Fotografie der jugendlichen Bertha/Peter in seinem Zimmer aufgestellt und wie einen Schrein beleuchtet.30 Obwohl die Familie Lecher dem jungen Künstler wohlgesonnen war, kam eine dauerhafte Beziehung zwischen ihm und ihrer Tochter Bertha nicht infrage. Die von Peter Altenberg angebetete Bertha heiratete schließlich den Antiklerikalen Eduard Jordan, der rund 20 Jahre älter war als sie. Als Bertha Jordan wurde sie Lehrerin und unterrichtete eine Zeit lang auch ihren Neffen Konrad Lorenz.

Im Gegensatz zu diesem jungen jüdischen Freigeist entsprach der damals schon erfolgreiche orthopädische Chirurg Adolf Lorenz eher dem Bild des idealen Lecher-Schwiegersohnes, auch wenn er aus armen Verhältnissen stammte. Ihre Flitterwochen verbrachten Adolf und Emma Lorenz im Landhaus der Brauteltern in Altenberg.31 Gegenüber der Lecher’schen Villa befand sich ein kleines verfallenes Bauernhaus mit einem romantischen Garten. Adolf Lorenz war vor allem von der Aussicht des kleinen Anwesens begeistert, das einen schönen Blick auf die Donau bot und weit darüber hinaus. Er kaufte das Grundstück, ließ das baufällige Haus renovieren und etwas vergrößern.

Der erfolgreiche Arzt wollte den Lebensstil fortführen, der ihn bei seinen Schwiegereltern beeindruckte, und umgab sich als musisch gebildeter Mann und Kunstmäzen gern mit Künstlern. So pflegte die Familie auch Kontakt zu Johann Strauß. Als der erste Sohn am 2. September 1885 geboren wurde, schickte der Walzerkönig ein Gratulationsschreiben mit den Worten: »Glückwünsche und alles Liebe dem kleinen Bubikatzi.«32 Diesen Kosenamen sollte Albert Lorenz bis in seine Jugend beibehalten. Das kulturelle und literarische Umfeld, das man im Hause Lorenz gewohnt war, fand seinen Niederschlag auch in den künstlerischen Tätigkeiten der Arztfamilie. Vater Adolf schrieb eine literarisch ansprechende Autobiografie, die er zunächst auf Englisch verfasste, sowie einige Theaterstücke, die allerdings nie aufgeführt wurden. Der ältere Sohn Albert, als Arzt und Orthopäde später Nachfolger seines Vaters, schrieb Geschichten und Romane. Seine Erinnerungen an seine Erlebnisse mit Vater Adolf, die unter dem Titel Wenn der Vater mit dem Sohne … erschienen, können es an Komik ohne Weiteres mit Torbergs Tante Jolesch aufnehmen. Das Buch erreichte über ein Dutzend Auflagen und verkaufte sich mehr als 100.000 Mal.

Märchenschloss im Grünen: Die Lorenz-Villa in Altenberg, deren Geländer von der ehemaligen Elisabethbrücke stammt.

Seinen anfangs eher bescheidenen Landsitz baute Lorenz durch Ankauf von angrenzenden Grundstücken in den folgenden Jahren erheblich aus. Schließlich sollte das riesige Anwesen noch durch eine übergroße Villa gekrönt werden. Adolf Lorenz wollte einen Bau, der an die Architektur von Fischer von Erlach erinnern sollte, und beauftragte einen ihm bekannten Architekten mit der Umsetzung. Nach ihrer Fertigstellung im Jahr 1903 wurde die Sommerresidenz der Familie Lorenz von bösen Zungen allerdings als Mittelding zwischen Spielsalon und Kaltwasserheilanstalt bezeichnet.33 Tatsächlich ist es eine bombastische Stilmischung aus italienischer Renaissance und Jugendstil.

Als besondere Akzente ließ Adolf Lorenz das Geländer und Steinverzierungen der abgerissenen Elisabethbrücke einbauen, die vormals über den Wienfluss geführt hatte, aufgrund von dessen Überbauung aber entbehrlich geworden war. Zentrum des Hauses ist die überdimensionierte acht Meter hohe Halle mit einem pompösen allegorischen Deckengemälde, das den Sieg des Friedens über den Krieg darstellt. Mit dieser von Villen in den USA abgeschauten »Lorenz-Hall« wollte der neureiche Mediziner sichtlich seine Gäste beeindrucken. Entlang der gewaltigen Treppe, die in den ersten Stock führt, zeigt ein Gemälde den kleinen Konrad als schreienden Säugling. Seine Tanten wurden auf der Decke des Speisezimmers abgebildet. Da sie anfangs zu freizügig dargestellt waren, mussten sie nachträglich mit weiteren Pinselstrichen verhüllt werden.

Um die zentrale Halle gruppierten sich die Bibliothek, ein Sitzzimmer und das Sommer- und Winterspeisezimmer. All diese Räume waren vor allem darauf ausgerichtet, die Besucher zu beeindrucken. Manche von ihnen sahen darin, wohl nicht ganz zu Unrecht, die angeberische Geste eines Emporkömmlings. Das Haus verfügte über vier Badezimmer, einen Speiselift aus der Küche bis in die Mansardenzimmer, eine Heißluftzentralheizung und Acetylenbeleuchtung. Unter dem Dach waren fünf Zimmer untergebracht, von denen eines später den Namen »Dichterhöhle« bekommen sollte, weil der Schriftsteller Karl Schönherr als gern gesehener Hausgast hier unter anderem sein Stück Die Erde verfasste.

Sein Vater wollte aber nicht nur mit seinem Zweiwohnsitz – Ordination und Wohnung blieben in Wien – die Armut seiner Kindheit kompensieren. Für sich und seinen erstgeborenen Sohn kaufte er die teuersten Fortbewegungsmittel: erst edle Pferde, dann Fahrräder, auf denen er mit seinen Söhnen schon einmal vom Semmering nach Hause fuhr. Die Familie Lorenz gehörte zudem zu den Ersten in Österreich, die ein Auto besaßen.

Stolzer Autofahrer: Adolf Lorenz, hier mit Gattin Emma, war einer der ersten Motorrad- und Automobilbesitzer Österreichs.

Schließlich waren noch teure Motorräder Teil des Fuhrparks – ein Spleen, den auch Konrad Lorenz später teilen sollte. Adolf Lorenz’ liebstes Steckenpferd aber waren Reisen.34 Er bereiste neben den USA auch Afrika und Asien, machte Kreuzfahrten und war Teilnehmer der ersten Touristenreise nach Spitzbergen. Von seinen monatelangen Reisen brachte er Kunstgegenstände und wertvolle Andenken mit, die er auf dem Anwesen arrangierte. Aus Indien etwa stammten Seidenvorhänge für die Empfangshalle, aus Italien Steinskulpturen und Marmorsäulen für den Garten. Nach und nach war die Halle so angefüllt, dass sie dem Bühnenbild einer Opernaufführung alle Ehre gemacht hätte.

Schon vor dem Bau des prächtigen Hauses wurde in Altenberg ein großer Garten angelegt, der, heute wie damals halbverwildert, einer englischen Parkanlage gleicht. Die gartenarchitektonische Ausstattung wurde vom Schwiegervater übernommen, und Bauherr Adolf Lorenz verfügte, alles Blumenpflücken zu verbieten und dieses Verbot 100 Jahre lang aufrechtzuerhalten. Noch heute wachsen dort im Frühling auf den Wiesen Schneeglöckchen, Leberblümchen und Primeln. Die Bäume wurden schon damals bei der Anlage des Gartens entweder erhalten oder durch schnellwachsende neue Arten ersetzt. Noch heute dominiert ein riesiger alter Flügelnussbaum den Garten, und vor dem Haus steht eine Platane, die zu Konrads Geburt gepflanzt wurde.

Mit seinem Anwesen hatte Adolf Lorenz dem kleinen Dorf Altenberg jedenfalls ein Wahrzeichen geschaffen, das durch seinen Sohn Konrad sogar Weltruhm erlangen sollte. 1903, die Jahreszahl auf der Windfahne des Hauses, steht für beides: die Fertigstellung der Villa und Konrads Geburt. Sein jüngerer Sohn sollte mit der opulenten Villa und der sie umgebenden riesigen Parkanlage zeit seines Lebens auf das engste verbunden sein – als prägender Ort seiner Kindheit, als Menagerie, als Forschungszentrum, später als Rückzugsort und schließlich als Alterssitz.

EINE PRÄGENDE KINDHEIT

»Man kann einen Menschen nur verstehen, wenn man Einsicht in das früheste Vorgehen seiner Kindheit, sein Elternhaus, gewinnen kann. Ich bin mir stets der sozialen Ungerechtigkeit bewusst, die in den märchenhaft glücklichen Umständen lag, die meine frühe Kindheit und meine Heimat in Altenberg umgaben.«35

Mit diesen Worten begann Konrad Lorenz knapp ein Jahr vor seinem Tod ein letztes, unabgeschlossenes Buchmanuskript mit autobiografischen Erinnerungen, in dem es vor allem um seine wohlbehütete, privilegierte Kindheit und seine ersten prägenden Erfahrungen mit Tieren geht. Wie in einem Fotoalbum präsentierte der greise Naturforscher einzelne, unzusammenhängende »Standbilder aus der Erinnerung«, wie er seine fragmentarisch gebliebenen Darstellungen nannte. Wie sehr diese Erinnerungen immer der Wahrheit entsprechen, lässt sich schwer sagen. Einiges klingt so, als ob da ein großer Naturforscher die Ursprünge seines weiteren Lebensweges ganz bewusst in seine früheste Kindheit verlegte. »Der Bub hat eine prächtige Kindheit gehabt, prächtiger als ich, der ich noch als verhältnismäßig armer Leute Kind geboren wurde«, heißt es in der Familiengeschichte von Konrads älterem Bruder Albert.36

Wie reich die Familie war, zeigen Aufstellungen der Einkünfte von Adolf Lorenz aus den Jahren 1909 und 1910: Der Orthopäde verdiente damals pro Jahr ziemlich genau 140.000 Kronen, was einem heutigen Wert von knapp einer Million Euro entspricht.37 Adolf Lorenz gehörte damit zu den Großverdienern unter den Professoren der medizinischen Fakultät, die damals noch eine der weltweit renommiertesten war.

Verspäteter Nachwuchs: Der gerade geborene Konrad Lorenz in den Armen seiner 42-jährigen Mutter, links der 18-jährige Bruder Albert.

Nach der Geburt des kleinen Konrad scheint sich nahezu alles in der Familie Lorenz um den Nachzügler gedreht zu haben: Mutter Emma gönnte sich eine fünfjährige Auszeit von der Assistentenstelle in der Wiener Stadtordination ihres Mannes. Nicht nur sie widmete sich voll und ganz dem kleinen Sohn38: Es stand eine kleine Armada an Bediensteten bereit, um es dem Baby an nichts fehlen zu lassen: Neben den üblichen Hausgehilfen gab es selbstverständlich auch Kinderfrauen und Windelwäscherinnen.

Da der Vater und der Bruder meist in Wien oder im Ausland weilten, war Konrad fast ausschließlich von weiblichen Bezugspersonen in Gestalt seiner Mutter, der Tanten und der Bediensteten umgeben. Die Mutter spielte dabei die zentrale Rolle, und Konrad Lorenz erinnerte sich später immer mit Liebe und Dankbarkeit an sie. Die intelligente und phantasievolle Frau hatte im Gegensatz zu ihrem Mann einen besonderen Zugang zu Kindern. Als älteste Tochter einer großen Familie war sie es von klein auf gewohnt, Verantwortung zu tragen und für ihre jüngeren Geschwister da zu sein. Konrads älteren Bruder Albert hatte sie bereits erfolgreich großgezogen. Nun widmete sie sich mit Hingabe dem langersehnten und nicht mehr erwarteten Wunschkind.

Die beiden Einjährigen: Konrad (links) und sein Bruder Albert, der gerade als Einjährig-Freiwilliger beim Militär diente.

Der Vater nahm, sofern er zu Hause war, interessiert daran Anteil, griff aber in die Erziehung nicht ein. Er verfügte jedoch über zwei vorteilhafte Eigenschaften als Vater eines Kleinkindes: Er war geduldig, und er war immun gegen Babygeschrei. Und auch als Erzieher schien er sich gebessert zu haben – zumindest in den Erinnerungen seines älteren Sohns. Dieser hatte den Pater familias noch als eine furchtgebietende Erscheinung erlebt und als einen »gefährlichen und launischen Gott, den man nur durch Unterwürfigkeit vielleicht günstig stimmen konnte«.39 Für sein zweites Kind schien Adolf altersweise geworden – und sich selbst schon fast zu alt. So überkam ihn bei Konrads Taufe ein seltener Anflug von Sentimentalität, und er meinte angeblich betroffen zu dem Säugling: »Du armes Kind, wenn du einmal ins Gymnasium eintrittst, deckt mich schon lange der grüne Rasen.«40 Der äußerst vitale und virile Vater sollte sich gründlich irren: Er erlebte mit, wie sein Kind maturierte, zwei Universitätsstudien abschloss und sogar als Professor nach Königsberg berufen wurde. Und er wurde für seinen Sohn ein prägendes Vorbild, gegen den sich Konrad bei zwei der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens allerdings durchsetzen sollte.

Neben der Mutter war es vor allem seine Kinderfrau Resi Führinger, eine niederösterreichische Bauerntochter, zu der Konrad eine besonders enge Beziehung hatte. Sie blieb ihm bis ins Erwachsenenalter erhalten und verwöhnte ihren Schützling selbst dann noch. So ließ Konrad als Student, wenn er abends zu Bett ging, seine Kleidungsstücke einfach auf dem Weg ins Schlafzimmer auf den Boden fallen – im berechtigten Vertrauen, dass Resi sich schon darum kümmern würde.41

Geprägt fürs Leben: Konrad und seine spätere Frau Gretl mit ihrem ersten gemeinsamen Tier, einem Stoffelefanten. Ihre Beziehung zueinander und zu den Tieren sollte über 80 Jahre dauern.

Die Mutter lud immer wieder Nachbarskinder ein, den kleinen Konrad zu besuchen und ihn zu unterhalten. In den ersten Jahren waren es vor allem die Mädchen, die dieser Aufforderung gerne nachkamen. Ein gern gesehener Gast im Hause Lorenz war die Tochter des Gärtnereibesitzers Gebhardt aus dem Nachbarort St. Andrä/Wördern. Das zierliche blonde Mädchen war drei Jahre älter als Konrad und anfangs mehr seine Beschützerin als Kameradin. Gretl war sechs und Konrad drei Jahre alt, als sie das erste Mal gebeten wurde, auf ihn aufzupassen. Zwischen den beiden entwickelte sich bald eine enge Freundschaft. Je älter sie wurden, desto unwichtiger wurde der Altersunterschied. Dass sie einmal Konrads Ehefrau und die Hausherrin des Altenberger Anwesens werden würde, konnte damals niemand ahnen.

Als Konrad etwas älter war, kamen die männlichen Spielkameraden und bewunderten wohl auch das Spielzeug, das ihr Freund in Unmengen besaß. Der weitläufige Garten mit eigenem Spielhaus war ein Paradies für die Heranwachsenden. Emma Lorenz hatte früher für die jungen Patienten ihres Gatten schwungvolle Partys mit Theateraufführungen und Geschenkverteilungen gestaltet. Das tat sie jetzt auch für die Freunde ihres Sohnes. Eine besondere Attraktion für die Kinder war die riesige elterliche Villa. Mit ihren verwinkelten Gängen und den vielen Nebengebäuden bot sie vom Dachboden bis zum Keller viele geheimnisvolle Räume, die von den Kindern erforscht werden wollten. In seiner Weiträumigkeit habe das unübersichtlich gebaute Haus sogar einen wesentlichen Einfluss auf seine Weltanschauung gehabt, meinte Lorenz später in seinen Erinnerungen. Ebendeshalb habe er nämlich »nie gehofft und erwartet, die ganze Welt in einem zusammenschauenden System bildhaft erfassen zu können, ein Bestreben, das so manche große Philosophen an tiefen Einsichten verhindert«.42

Konrad hatte viele Freunde, auch wenn er später behauptete, sich für die Menschen nur »in ihrer Eigenschaft als irgendwie besondere Tiere« interessiert zu haben.43 Einem autobiografischen Artikel, den er 1985 für einen englischen Sammelband verfasste, gab er bezeichnenderweise den Titel: »Meine Familie und andere Tiere«.44 Das war auch der Titel, unter den er seine unfertig gebliebene Autobiografie stellen wollte. Er war der festen Überzeugung, Tiere seien leichter zu verstehen als Menschen, und behauptete in seinen Memoiren, dass er schon als Kind mehr über Tiere wusste als über seine engsten menschlichen Freunde.45

Sein Bruder Albert schildert, dass Konrad – vor allem im Zusammenhang mit Tieren – schon früh »eine erstaunliche Zeichenwut« entwickelt habe. Auf den diversen Autoreisen der Familie, etwa durch Mähren und Böhmen, wurden sämtliche Gänse und Enten porträtiert, die ihm auf der Fahrt begegneten. Anerkennend fügt der ältere Bruder hinzu: »Es ist selten, dass ein Kind so früh die Richtung seiner späteren Tätigkeit kundgibt.«46 Eine andere Begebenheit aus Konrads frühester Kindheit illustriert besonders anschaulich, dass Konrad schon damals an seinen Mitmenschen vor allem naturwissenschaftlich interessiert war. Der Schriftsteller Karl Schönherr hatte gemeinsam mit Lorenz’ Vater einen Wettbewerb für die anwesenden Kinder ausgeschrieben. Die beste Zeichnung sollte prämiert werden. Um dem begabten Tierzeichner Konrad die Sache etwas schwieriger zu gestalten, musste die Zeichnung Menschen darstellen und nicht Tiere, die er so gut beherrschte. Seine Cousine Emmy wählte als Gegenstand ihrer Zeichnung eine Dame mit Pelzboa, Schmuck und anderen Accessoires. Konrad hingegen machte sich an die Darstellung ganz anderer, nämlich menschlicher Details:

»Ich hatte damals, mit knapp fünf Jahren, noch Zugang zu den Badezimmern der Tanten und zeichnete selbstverständlich einen Akt, der allgemein der Venus von Willendorf (alle Tanten waren sehr dick) glich, und an der nichts, aber auch nicht das kleinste Detail fehlte. Ich ahnte, dass an dem brüllenden Gelächter, das unsere Zeichnungen bei Karl Schönherr und meinem Vater auslösten, etwas nicht ganz in Ordnung war, obwohl sie mir den Preis für die beste Zeichnung zuerkannten.«47

Früh identifizierte sich Konrad mit Tieren. Schon als kleines Kind wollte er angeblich eine Eule sein, weil diese Vögel abends »aufbleiben« durften und nicht um sieben Uhr ins Bett mussten. Die geheimnisvolle nächtliche Lebensweise der Eulen übte einen starken Eindruck auf den aufgeweckten Jungen aus, der laut eigenen Angaben schon im zarten Alter von sechs Jahren Bekanntschaft mit dem Evolutionsgedanken machte: Die Familie saß an einem sonnigen Frühsommertag gerade bei einer üppigen Jause im Garten, die auch viele Wespen anzog. Anstatt die Insekten zu vertreiben, erklärte Adolf Lorenz seinem Sohn, dass sie ihm nichts tun würden, wenn er ihnen nichts tue. Er solle sich lieber den wundervollen Bau der Gliedmaßen und der Segmente des Hinterleibes ansehen, wenn so ein Tier auf seinem Marmeladebrot sitzen bleibe. Interessiert beobachtete Konrad, wie sich der Hinterleib der Wespe beim Atmen ineinanderschob und auseinanderzog, wie die Glieder eines Teleskops. Sein Vater erläuterte ihm die Bauweise und Anordnung dieser Glieder und erklärte ihm, dass von dem charakteristischen Einschnitt zwischen Brust und Hinterleib der Name Insekt abgeleitet sei.

Kurz darauf entdeckte Konrad angeblich an einem Regenwurm, dass sich unter dessen irisierender Körperhaut die Segmente in ganz ähnlicher Weise ineinanderschoben wie zuvor bei den Wespen. Bei nächster Gelegenheit fragte er seinen Vater, ob denn der Regenwurm auch ein Insekt sei. Der Vater war damit allem Anschein nach überfordert. Wenige Wochen später schenkte er seinem Sohn das Buch Die Schöpfungstage von Wilhelm Bölsche, eine populärwissenschaftliche Darstellung der tierischen Stammesgeschichte. Konrad, der in diesem Alter schon gut lesen konnte, verschlang das Buch. Darin war unter anderem der Urvogel Archaeopteryx abgebildet, und anhand dieser Abbildung erklärte Bölsche die Evolution. Damit hätten sich für Konrad viele Fragen beantwortet, wie er in seinen Memoiren schrieb. Beim nächsten Zusammensein mit seinem Vater, einem Spaziergang zur Kaiser-Franz-Josefs-Warte, einem beliebten Wiener Ausflugsziel, berichtete er stolz von seinen neuen Erkenntnissen:

»Diesmal hörte mein Vater mir nicht nur aufmerksam zu, sondern er blieb sogar auf dem Wege stehen, um mir zuzuhören. Ich teilte ihm mein neues Wissen mit, zutiefst erfreut, sein Interesse erregt zu haben. Als ich beendet hatte, teilte mir das wohlwollende, ja liebevolle Lächeln meines Vaters mit, dass er all dies schon wusste. Ich erinnere mich, wie ich verstummte und es meinem Vater zutiefst übelnahm, dass er etwas so Wichtiges lange gewusst hatte, ohne es der Mühe Wert zu finden, es mir mitzuteilen.«48

Das Bölsche-Buch hatte in dem frühen Alter noch weitere Auswirkungen: Konrad wollte von nun an Paläontologe werden und begann, sich gemeinsam mit seiner Spielkameradin Gretl für Saurier zu interessieren.

»Diese Begeisterung erfasste uns so früh, dass wir uns nicht entblödeten, Iguanodon zu spielen. Wir steckten uns ein nachschleppendes Stück alten Gartenschlauches in den Gürtel und schritten feierlich auf den ›Hinterbeinen‹ durch den Garten, die Daumen mit künstlichen Krallen bewehrt, steif nach oben gestreckt. Ich muss gestehen, dass ich das Aussterben der großen Saurier zutiefst bedauerte und ihrem Studium in Büchern mehr Zeit widmete, als es für meine geistige Entwicklung lohnte. Noch als ich mich dem Zoologiestudium zuwenden wollte, wollte ich Paläontologie studieren.«49

Eines der ersten lebenden Tiere, das Konrad Lorenz besitzen durfte, war ein Feuersalamander, den ihm sein Vater von einem Spaziergang am Kahlenberg mitbrachte. Der Vater, dem jede Tierquälerei ein Gräuel war, übergab ihn seinem Sohn nur auf das feste Versprechen hin, das Tier nach einer Woche wieder an der Fundstelle auszusetzen. Der Salamander war jedoch ein Weibchen, das schon am nächsten Tag 44 Larven ins Wasser des kleinen Terrariums setzte. Diese Jungen waren in dem »Vertrag« zwischen Vater und Sohn nicht vorgesehen, und so durfte Konrad sie behalten. Unter der versierten Pflege von Resi Führinger schafften es zwölf der Tiere bis zu ihrer Verwandlung von der Larve in den erwachsenen Salamander, was vom kleinen Konrad mit großem Erstaunen beobachtet wurde.

Wie viele Kinder wünschte sich auch Konrad am sehnlichsten einen Hund, doch daraus wurde zunächst nichts: Das neue Fach der Bakteriologie hatte Ende des 19. Jahrhunderts etliche Mikroben als Krankheitserreger entdeckt, und die Mutter als gebildete Frau meinte, sich und ihre Familie davor schützen zu müssen. So wurde unter anderem die Milch abgekocht, bis sie auch die letzten gesunden Inhaltsstoffe verloren hatte. Ein Haustier wie ein Hund, der die Kinder abschlecken könnte, kam da natürlich nicht infrage. Der Vater war hingegen aus Tierschutzgründen der Meinung, höhere Tiere als Fische und Amphibien seien ohne Quälerei von einem Kind nicht zu halten. Das Halten dieser Tiere in Aquarien und Terrarien war um 1900 gerade im Bildungsbürgertum groß in Mode gekommen, und so erhielt Konrad ein Freilandterrarium, in dem Frösche und weitere Lurche gehalten wurden, die gut gediehen. Irrtümlich glaubten die Eltern, dass auch drei Griechische Landschildkröten und ein kleines Krokodil in die Kategorie der pflegeleichten Tiere fallen würden. Die Schildkröten überlebten jedoch den ersten Winter nicht, und auch das kälteempfindliche Krokodil wurde bald an den Händler zurückgegeben. Als Ersatz dafür bekam Konrad nun endlich seinen ersehnten Hund: einen Dackel, der den Namen »Kroki« bekam, sich allerdings als ein »Vollidiot« herausstellte, wie Konrad Lorenz später einmal mitleidlos über das ungeliebte Haustier schrieb.50

Grundsätzlich kümmerte sich Resi Führinger, die ein besonderes Gespür für alles Lebendige hatte, um Konrads Tiere. Diese Funktion sollte sie auch in den nachfolgenden Jahrzehnten beibehalten. Die Altenberger Tierhaltung und somit viele von Lorenz’ Entdeckungen wären ohne ihre Umsicht wohl nicht möglich gewesen. Gemeinsam mit seiner Kinderfrau begann Konrad schon früh, Aquarien einzurichten und die Wassertiere zu beobachten. Dabei entwickelte er eine besondere Vorliebe für Kleinkrebse, die er mit einem Kescher aus den Altarmen der Donau fischte. An einem solchen Kescher hing für ihn später »der ganze Zauber der Kindheit«, wie er in seinen Tiergeschichten 1949 schrieb. Und »[d]er Kescher hatte die Lupe im Gefolge, die wiederum ein bescheidenes Mikroskop, und damit war mein Schicksal unwandelbar bestimmt.«51 Waren die kleinen Krebse anfangs nur als Futter für seine Fische gedacht, zog ihre Vielfalt und Schönheit ihn bald in ihren Bann. Er begann die winzigen Tiere zu sammeln und kannte bald eine stattliche Anzahl von unterschiedlichen Arten. Jede wurde detailgenau beschrieben und akribisch mit allen morphologischen Details abgezeichnet.

Die ersten höheren Tiere, die gegen den Willen seines Vaters der Obhut des fünfjährigen Konrad übergeben wurden, waren Hausenten. Auch seine Spielgefährtin Gretl erhielt eines der Küken, die die beiden begeistert durch den Sommer führten. »Mit Pipsa und Pupsa«, wie die beiden Entlein getauft wurden, »eröffneten wir eine Form der Gütergemeinschaft, die nahezu ein dreiviertel Jahrhundert währen sollte«, erinnert sich Lorenz mehr als 80 Jahre später.52 Doch auch die lebenslange Beziehung zu den Entenvögeln nahm hier ihren Ausgang: »Ich erinnere mich, wie intensiv ich mich für sie verantwortlich fühlte, z. B. wie ich litt, wenn sie weinten, welches Glück ich empfand, wenn sie ›Begrüßungs- oder Unterhaltungslaute‹ zu mir sagten.«53

Prägend war aber auch eines der ersten Bücher, das ihm vorgelesen wurde: Selma Lagerlöfs eben erschienene Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (1907/08). In diesem Buch sind Tiere als durchaus menschenähnliche, mit allen menschlichen Gefühlen ausgestattete Wesen dargestellt, was bei Konrad angeblich bereits auf gewisse Skepsis stieß:

»Mein intimer Umgang als Ersatzentenmutter mit meinen Kindern ließ mich so manche Abstriche von der Menschenähnlichkeit der Tiere vornehmen. Ich sah sehr wohl, wie Selma Lagerlöf ihre sprechenden Tiere überschätzte. […] Dabei war mir, schon ehe ich regelmäßig zur Schule ging, völlig klar, dass die jungen Enten, die mir so getreulich nachfolgten wie normalerweise ihrer leiblichen Mutter, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen ganz erstaunlich dumm waren, z. B. dass sie trotz ihrer Anhänglichkeit nie imstande waren, ihre eigenen Namen zu kennen.«54

Es war um dieselbe Zeit, als Konrad Lorenz seine erste Begegnung mit echten Wildgänsen hatte, die allerdings erst sehr viel später und eher durch Zufall sein wissenschaftliches Leben bestimmen sollten. Bei einem Spaziergang am Donauufer war es dem Jungen gelungen, seiner ängstlich besorgten Mutter vorauszulaufen, als er ein nie gehörtes Tönen über sich vernahm. Er blickte nach oben und sah viele große Vögel, die in einer Keilformation über ihn hinwegstreiften. Konrad wurde, wie er sich mehr als 80 Jahre später erinnerte, von einer eigenartigen Sehnsucht erfasst:

»Ich wusste intuitiv, dass diese Himmelsstürmer Lebewesen wie ich selbst waren, dass es Wildgänse waren, habe ich offenbar ebenfalls schon gewusst. Doch empfand ich, dass diese Wesen, die in der Leere des Himmels dem Sturm trotzten, ja offensichtlich gezielt in der umgekehrten Richtung dahinzogen, in die der blinde Riese sie zu blasen trachtete, als nicht nur menschenähnlich, sondern uns Menschen übergeordnete Wesen, als zauberhafte Halbgötter, die mehr konnten als wir erdgebundenen Menschen.«55

Natürlich wollte Konrad nun Gänse haben, was ihm von der Mutter aus Angst um ihren Gemüsegarten jedoch untersagt wurde. Bis zu seinen legendären »Gänsejahren« sollte es noch 30 Jahre dauern.

Die unbeschwerte Kindheit auf dem Lande wurde bald von der Schulpflicht überschattet. Im Herbst des Jahres 1909 schulte man den sechsjährigen Buben in Wien ein. Als ihm eröffnet wurde, dass er nunmehr jeden Tag von Altenberg nach Wien in die Schule fahren und später vielleicht gar in die Wiener Stadtwohnung übersiedeln müsse, traf ihn das wie ein schwerer Schicksalsschlag: »Den Zwang, den Altenberger Garten und meine Tiere zu verlassen, empfand ich als bitteres Unrecht und sah den Grund zur Schulbildung nicht recht ein. Lesen konnte ich sowieso schon fließend, und Rechnen habe ich auch bis heute nicht gelernt.«56 Auf dem Weg zur Schule fragte Konrad seine Mutter angeblich nach der Dauer der Schulzeit, wie er sich in seinen Memoiren erinnerte:

»Die Antwort meiner Mutter lautete, dass der Volksschulunterricht sich über vier, möglicherweise über fünf Jahre erstrecke. ›Aber danach kann ich in Altenberg bleiben?‹ ›Nein, dann musst Du ins Gymnasium, und das dauert acht Jahre.‹ ›Aber dann ist endlich Ruhe?‹, so wollte ich wissen. ›Nein, dann kommt die Universität, dann musst Du noch einmal 5 Jahre lernen.‹ ›Aber dann ist Ruhe?‹ ›Nein, dann kommt erst die eigentliche Arbeit, der Beruf, um Geld zu verdienen.‹

›Und wann hört das frühestens auf?‹ ›Wenn Du in Pension gehst.‹ Ich erkundigte mich daraufhin angelegentlich, bei welchen Berufen man am frühesten in Pension gehen könnte, und schloss das Gespräch in der festen Absicht, die Tätigkeit mit frühesten Pensionsaussichten zu ergreifen. Dass man voll Freude arbeiten könne, ist mir eigentlich erst aufgegangen, als ich zu forschen begann und die eigene Forschungsneugierde die Führung übernahm.«57

Lorenz besuchte anfangs eine Privatschule. Direktorin dieser angesehenen Schule war seine Tante Bertha, die Schwester seiner Mutter, jene Bertha, auf die das Pseudonym Peter Altenberg zurückging. Der Lernstoff machte Konrad anfangs nie Sorgen oder Schwierigkeiten, allerdings sei er kaum imstande gewesen, seine Schulsachen und die für den Tag fälligen Hausaufgaben in Ordnung zu haben. Er fürchtete sich vor der Blamage, die ihm jeden Tag drohte, wenn er ein wichtiges Buch oder Heft in seiner überaus geräumigen Schultasche nicht dabeihatte: »Die Angst vor den unausweichlichen Strafpredigten verleidete mir praktisch das Leben, zum mindesten jeden Morgen. Ich gehörte zu jenen Kindern, die bei sonstigem ausgezeichneten Appetit zum Frühstück nicht essen wollen.«58

Im Kreis der anderen Volksschulkinder behauptete sich Konrad Lorenz gut, auch wenn er in Wien kaum richtige Freunde hatte. Später dann im Gymnasium war die Situation noch schwieriger. Emma und Adolf Lorenz ließen ihren Sohn nämlich zuerst als Privatist im Schottengymnasium in Wien einschreiben, wie sie es schon bei ihrem älteren Sohn Albert getan hatten. Das Schottengymnasium ist bis heute nicht nur eine Prestige- und Eliteschule, sondern versteht sich schon fast als Bruderschaft. Bis 2004 war das Gymnasium die letzte reine Knabenschule Wiens, ehe das Gymnasium auch Mädchen aufnahm. Die Absolventen gleich welchen Jahrgangs pflegen einander mit dem vertraulichen »Du« anzusprechen. Konrads Mitschüler waren unter anderem die Söhne der Grafen Hoyos, Liechtenstein und Sternberg sowie der Großindustriellensohn Friedrich Meinl.59 Sein seinerzeitiger Direktor, der Subprior des Schottenstiftes, Vinzenz Blaha, fertigte ihm noch 20 Jahre nach dem Schulabschluss ein Empfehlungsschreiben für seine Bewerbung als Direktor des Schönbrunner Tiergartens an.60 Auch Lorenz selbst befolgte diese Tradition. Wenn ihn ein Altschotte später um ein Gutachten oder Empfehlungsschreiben bat, kam er diesem Wunsch zumeist nach.

Privatisten waren in diesem elitären, humanistisch ausgerichteten Stiftsgymnasium die Ausnahme. Sie besuchten nur jene Fächer, in denen das reiche Anschauungsmaterial der Schule, das physikalische und naturwissenschaftliche Kabinett mit seinen Demonstrationen und Experimenten etwa, nicht versäumt werden durfte. Dies hatte zur Folge, dass Konrad von allen Klassenkameraden gehänselt wurde. Als »Zug’raster« und als »Lori Papagei« hatte er in den ersten Gymnasialklassen schwer zu leiden. Sein um 18 Jahre älterer Bruder, mittlerweile ein leidenschaftlicher Soldat, lehrte ihn aus eigener Erfahrung, dass er sich »nichts gefallen lassen« dürfe. »Die Folge davon waren unzählige Scherereien, da ich jedes Spottwort, das durchaus harmlos gemeint sein konnte, mit tätlichem Angriff beantwortete«, erinnerte sich Lorenz.

Abgesehen von seinem anfänglichen Status als Privatist und seinen zoologischen Neigungen war Konrad Lorenz in der katholischen Eliteschule noch aus anderen Gründen ein Ausnahmefall. Konrad Lorenz war zwar katholisch getauft worden, so wie es die