Der Fall Wirecard - Jannine Benkhardt - E-Book

Der Fall Wirecard E-Book

Jannine Benkhardt

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Beschreibung

Seit 2014 recherchiert der Investigativreporter Dan McCrum von der Financial Times über die Geschäfte des Zahlungsdienstleisters Wirecard, seit 2015 veröffentlicht er eine Serie von gewissenhaft recherchierten Artikeln. Aber seine Hinweise auf kriminelle Machenschaften werden ignoriert; vielmehr wird die renommierte Zeitung verdächtigt, mit Spekulanten unter einer Decke zu stecken, die auf den Kursverfall von Wirecard wetten. So schafft es das 1999 vor allem für die Geldtransaktionen von Online-Porno und -Glücksspiel gegründete Unternehmen, 2018 in den DAX aufzusteigen. Zwei Jahre später fliegt der Schwindel auf, als 1,9 Milliarden Euro, die sich auf einem Konto auf den Philippinen befinden sollen, nicht mehr aufzufinden sind. Nun tut sich ein Abgrund von Lügen und Bilanzbetrug auf - Deutschlands größter Finanzskandal. Erst jetzt beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit den beiden Männern, die Wirecard verkörpern: dem Vorstandsvorsitzenden Markus Braun, der sich als IT-Visionär darstellte, und seinem Vorstandskollegen Jan Marsalek, der ein zwielichtiges Doppelleben führte. Alle Kontrollinstanzen haben versagt. Statt kritisch hinzuschauen, ließen sie sich von der »deutschen Antwort auf das Silicon Valley« blenden. Die Wirtschaftsprüfer von EY testierten Jahr für Jahr die gefälschten Bilanzen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) fühlte sich nicht zuständig. Die Analysten der Deutschen Banken trieben den Börsenwert hoch. Politiker ließen sich von Lobbyisten einspannen, um die Wirecard-Geschäfte im Ausland zu fördern. Die fachlich nicht qualifizierten Aufsichtsräte von Wirecard erwiesen sich als unfähig. Und die deutschen Medien schwärmten von dem vermeintlichen Vorzeigeunternehmen. Im Dezember 2020 wird McCrum für seine Enthüllungen mit einem Sonderpreis des Deutschen Reporterpreises ausgezeichnet. Die Laudatio hält, Ironie des Schicksals, Finanzminister Olaf Scholz, dem die untätig gebliebene Bafin untersteht.

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Jannine BenkhardtDr. Reinhard Bunselmeyer

Der Fall Wirecard

Der größte Wirtschaftsskandalin der deutschen Geschichte

Copyright: © 2021 Motum Film GmbH

Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Titelbild: Brigitte Kuckenberg-Wagner –

www.kuckenberg-composing.de

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-24390-3 (Paperback)

978-3-347-24391-0 (Hardcover)

978-3-347-24392-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1.

Dan McCrum ist Enthüllungsjournalist, ein jungenhafter Mittdreißiger mit strubbeligen Haaren, der eine Brille mit großen Gläsern und einem dunkelbraunen Rand trägt. Seit sieben Jahren arbeitet er bei der renommierten Londoner Wirtschaftszeitung Financial Times (FT) in deren Investigativteam. Er schreibt über börsennotierte Unternehmen. Nach dem Wirtschafts- und Politikstudium an der traditionsreichen Universität Durham hat er sich vier Jahre lang als Analyst beim Finanzdienstleister Citigroup »herumgedrückt«, wie er selbstironisch sagt. Dort lernte er »den Nutzen glücklicher Zufälle, der Wahl des richtigen Zeitpunkts und einer einprägsamen Präsentation« kennen. Für kurze Zeit arbeitete er für den Investors Chronicle, einem von der Financial Times Group herausgegebenen Wochenmagazin für Anleger. Er hat mehrere »Buchhaltungsprobleme« aufgedeckt, wie er die Bilanzmanipulationen nennt, unter anderem bei den Anwaltskanzleien Quindell und Slater & Gordon sowie bei Globo, einem britischen Softwareanbieter.1

Im September 2014 hört Dan McCrum zum ersten Mal von Wirecard. Der Name sagt ihm nichts. Bisher hat er sich mit britischen Firmen beschäftigt, auch mit amerikanischen, denn eine Zeit lang war er für die FT Investment-Korrespondent in New York. Aber das deutsche Fintech-Unternehmen ist ihm gänzlich unbekannt. Seine Informanten an der Börse sagen ihm, dort seien »Gangster« am Werk.2 In den Bilanzen des Unternehmens seien »Ungereimtheiten« zu finden.3

Damit beginnt eine jahrelang leidenschaftlich geführte Recherche. McCrum besorgt sich Geschäftsberichte, die man aus dem Internet herunterladen kann. Wirecard, heißt es auf der Homepage, sei »eine der weltweit am schnellsten wachsenden digitalen Plattformen im Bereich Financial Commerce«. McCrum studiert die Dokumente. Bald stellt er fest: »Da passt vieles irgendwie nicht zusammen. Die Zahlen, die das Unternehmen herausgegeben hat, können so nicht stimmen.«4

McCrum berät sich mit Paul Murphy, seinem Ressortleiter, der auch Chef des FT-Finanzblogs Alphaville ist. Sie ziehen den Justiziar Nigel Hanson hinzu. Solche Recherchen sind immer heikel, man muss mit Gegendarstellungen und Verleumdungsklagen rechnen, wenn nicht alles wasserdicht zu beweisen ist. Die Financial Times hat, gedruckt und digital, rund eine Million Abonnenten. Chefredakteur ist Lionel Barber, der 2020 mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen wird.

Im Dezember 2014 führt Dan McCrum ein längeres Telefonat mit Markus Braun, dem Vorstandsvorsitzenden von Wirecard. Der Reporter fragt den Chef des Zahlungsdienstleisters rundheraus, »ob er ein Betrüger« sei. »Das ist ja keine ganz normale Frage«, meint McCrum. Aber Brauns Antwort empfindet er »merkwürdig«: Der Wirecard-Chef gibt sich »regelrecht gelangweilt, als ob er das ständig gefragt würde«. Braun sagt, »dass Wirecard eben viele Neider habe und nicht verstanden werde«. Es bleibt der einzige persönliche Kontakt zwischen dem Londoner Investigativ-Journalisten und dem Boss des technologiegetriebenen Finanzdienstleisters. Danach kommuniziert man ausschließlich schriftlich, weil Wirecard das so will. Und später beantworten nur noch Wirecards Juristen McCrums Fragen.5

Am 27. April 2015 veröffentlicht Dan McCrum seinen ersten Artikel über Wirecard in dem Finanzblog Alphaville. Er gibt ihm und der ganzen folgenden Serie von zwölf Artikeln die Überschrift »House of Wirecard«. Damit spielt er unübersehbar auf die US-amerikanische Netflix-Serie »House of Cards« an, in der es um Skandale und Intrigen im politischen Washington geht. McCrum ist sich sicher, dass Wirecard über kurz oder lang wie ein Kartenhaus einstürzen würde.

Der erste Artikel beginnt so: »Wirecard ist eine wenig bekannte deutsche Technologieaktie im Wert von fünf Milliarden Euro und ein Rätsel. Das Unternehmen bietet Zahlungsdienste an, besitzt eine Münchner Bank und wickelt Millionen von Online-Kreditkartenzahlungen auf Webseiten ab. Es wächst in halsbrecherischer Geschwindigkeit, indem es obskure Finanzunternehmen aufkauft, die das Wachstum am Laufen halten.«6

2.

Die Geschichte von Wirecard beginnt 1999. Noch steckte E-Commerce, der elektronische Handel über das Internet, in den Kinderschuhen. Üblich war es, dass Kunden per Vorkasse für Bestellungen bezahlen; damit trugen sie aber auch das volle Risiko, wenn der Händler nicht lieferte. So machten es der Internet-Flohmarkt Ebay und andere Plattformen, die bald neben privaten Auktionen auch kommerziellen Händlern die Möglichkeit boten, ihre Waren über das Internet zu verkaufen.

Peter Herold, Jahrgang 1970, hat Informatik und Direktmarketing studiert und war seit 1994 Geschäftsführer der Securitas Internet Systems in München. Er tüftelte an Bezahlverfahren mit Kreditkarten. Damit die Online-Händler nicht von faulen Kunden hereingelegt werden können, müssen sie die Gültigkeit und Deckung der Kreditkarten überprüfen können. Dies setzt voraus, dass die Kreditkartendaten sicher verschlüsselt übertragen werden.7 Aber auch die Kunden brauchen Gewissheit, dass sie die bestellte Ware erhalten. Zusammen mit seinem Geschäftspartner Detlev Hoppenrath, einem gelernten Heilpraktiker, der in verschiedenen Computerfirmen und -verlagen gearbeitet, die ersten Anti-Viren-Programme geschrieben und mehrere Patente angemeldet hatte8, gründete Herold 1999 in Grasbrunn bei München ein Unternehmen, das sie Wirecard nannten. Der Name spielte auf die Verbindung von Kreditkarte und Internet an. Hoppenrath wurde Vorstandsvorsitzender, Herold leitete den Aufsichtsrat.

Die Firma entwickelte »ein Verfahren und System zur automatischen Abwicklung von bargeldlosen Kaufvorgängen«, wie es im Bericht zur Patentanmeldung heißt: Eine Software stellte eine virtuelle Verbindung zwischen Kreditkartenfirmen, Onlinehändlern und ihren Kunden her; und sie sorgte dafür, dass die Bezahldaten des Kunden beim Einkauf im Netz an den Onlinehändler und an die Kreditkartenorganisationen übermittelt wurden. Sie analysierte in Sekundenschnelle, ob die Karte gedeckt und die Zahlung plausibel ist. »Durch uns kann sich der Händler auf sein Kerngeschäft konzentrieren: ein Produkt im Internet zu verkaufen. Unser Kerngeschäft ist es, den Zahlungsvorgang für den Händler abzuwickeln«, erklärt Hoppenrath. »Dem will das Münchner Start-up-Unternehmen Wirecard Atem einhauchen«, berichtete die Welt.9

Wirecard expandierte, stellte neue Leute ein. Hoppenraths Auge fiel auf einen technikbegeisterten jungen Wiener, der kurz vor der Matura, wie in Österreich das Abitur heißt, die Schule abgebrochen und mit 19 Jahren ein Software-Unternehmen für Anwendungen im elektronischen Handel gegründet hatte. Vor allem kannte sich dieses »Bürscherl«, so nannten sie den blassen Jüngling in der Firma, mit der Mobilfunktechnologie »Wireless Application Protocol« aus – auch das Handy sollte bald fürs Bezahlen im Internet nutzbar gemacht werden. Beim Vorstellungsgespräch, erinnert sich Peter Herold, präsentierte sich der »extrem freundliche« junge Mann »mit Wiener Schmäh«.10

Sein Name ist Jan Marsalek. In seinem Personalausweis steht der Familienname in der tschechischen Schreibweise: Maršálek mit Hatschek auf dem s und Akut auf dem a. Sein Großvater Hans Maršálek, ein gelernter Schriftsetzer, war nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland 1938 nach Prag geflohen, hatte sich dort nach der Okkupation der »Resttschechei« dem kommunistischen Widerstand angeschlossen, war verhaftet und ins Konzentrationslager Mauthausen verbracht worden; nach dem Krieg wurde er Kriminalpolizist.

Mit Recht und Ordnung hat es der am 15. März 1980 in Wien geborene Enkel nicht so. Jan habe schon in seiner Jugend begonnen, sich über Regeln hinwegzusetzen, berichtet seine Mutter. Er besuchte erst eine französische Privatschule, dann das Gymnasium in Klosterneuburg. Er war begabt, ein guter Schüler, der sich besonders für Informatik interessierte. »Irgendwann in dieser Zeit ging es dann los«, erzählt die Mutter: »Er arbeitete am Gymnasium auch für die Schulbibliothek am Computer und hatte dadurch einen Sonderstatus.« Nach einem Streit mit den Eltern sei Jan im Juni 1999 Hals über Kopf ausgezogen. Lebenszeichen ihres Sohnes habe es lange nur in Form von Handyrechnungen und Mahnungen gegeben – die elterliche Anschrift diente Jan offenbar als Inkassoadresse. Er gab mehr Geld aus, als er hatte. Jan sei »ein präpotenter Zampano«, sagt die Mutter, aufdringlich, frech, überheblich. Seine Karriere hat sie nur in der Presse verfolgt. »Wirecard war mir schon lange suspekt«, sagt sie 2020 zu Spiegel-Redakteuren. »Dass Jan ohne Abschluss dort so schnell aufstieg, wie ist das möglich?«11

Hoppenrath ernannte Marsalek gleich zum »Director Technology« und betraute ihn mit einem intern »Wirecard 2.0« genannten Projekt. Die gesamte Bezahlplattform sollte neu programmiert werden, um Wirecard noch schneller und effizienter zu machen. Hoppenrath ließ sich immer wieder berichten, wie das Projekt vorangehe, und Marsalek versicherte jedes Mal, dass alles nach Plan verlaufe. Dann aber stellte sich heraus, dass nichts funktionierte. »Das hat uns zwei Millionen Mark gekostet«, erinnert sich einer der damaligen Manager. Hoppenrath war enttäuscht, dass er belogen worden war, entließ Marsalek jedoch nicht, sondern nahm ihm nur seinen schönen Titel weg und degradierte ihn. Der Flop bedrohte die Existenz des Unternehmens, war aber ironischerweise die große Chance für Markus Braun, bei Wirecard einzusteigen.

Braun, geboren am 5. November 1969, stammt wie Marsalek aus Wien. Der Sohn einer Gymnasiallehrerin und eines Volkshochschuldirektors hat in seiner Heimatstadt Wirtschaftsinformatik studiert. 1995 heuerte der Jungakademiker bei einer Wiener Unternehmensberatung an, die ihm den nötigen Freiraum einräumte, um seine Dissertation abschließen zu können. Mit viel Energie und Ehrgeiz gelang es ihm auch. »Zu beweisen, dass ich schwierige Situationen durchstehe, ist für mich eine Selbstbestätigung«, sagt Braun. Seine Doktorarbeit handelte von einem Modell, mit dem sich die Geschwindigkeit von Computerprogrammen vorhersagen lässt. Eine wissenschaftliche Karriere wollte er dann aber doch nicht machen, die reine Theorie war ihm bald zu langweilig.12

1998 ging Braun zur Unternehmensberatung KPMG Consulting nach München.13 Die schickte ihn im Oktober 2000 zu Wirecard, um die Scherben zusammenzukehren. Braun hinterließ einen so guten Eindruck, dass er gleich als Chief Technology Officer von Wirecard abgeworben wurde. »Immer nur kluge Ratschläge zu geben, und am Ende tragen die anderen die Verantwortung, das hat mir auf Dauer nicht gefallen. Ich wollte selbst die Verantwortung tragen.«14

Kurz zuvor, im März 2000, war die Spekulationsblase der New Economy geplatzt. Sogenannte Dotcom-Unternehmen hatten mit fragwürdigen Geschäftsmodellen auf der Basis des boomenden Internets agiert. Auch Wirecard geriet ins Schlingern. Im Oktober 2001 trat ein risikofreudiger junger Unternehmer, der bei Wirecard einsteigen oder die Firma ganz übernehmen wollte, an Braun heran. Paul Bauer-Schlichtegroll betrieb ein ähnliches Geschäftsmodell wie Wirecard. 1998 hatte er die Firma »Entertainment Print Media« (EPM) AG gegründet. Als Geschäftszweck ließ er ins Handelsregister eintragen: »Produkte und Vertrieb von Medien und Entertainmentprodukten aller Art«. Die Gesellschaft bot Erotikfilme und Pornobildchen im Internet an. Abgerechnet wurde über sogenannte Dialer, die Verbindungen zu teuren 0190-Sonderrufnummern aufbauen. Eine Minute Pornogucken kostete bis zu 3,63 Mark (1,86 Euro). Außerdem vertrieb EPM die deutsche Ausgabe des US-Erotikmagazins Hustler. Doch vor allem das Online-Geschäft mit pornografischen Seiten und die dafür notwendige Zahlungsabwicklung rückten in den folgenden Jahren immer mehr in den Vordergrund der Geschäftstätigkeit. Die Firma wurde deshalb in Electronic Billing Systems (EBS) umbenannt.

Kurz nach Bauer-Schlichtegrolls Offerte geschah bei Wirecard Dubioses. Kolportiert wird, dass bei einem Einbruch in die Geschäftsräume von Wirecard im November 2001 Brauns und Marsaleks Laptops gestohlen wurden. Die darauf gespeicherten Daten und Dokumente wurden anschließend bei EBS vermutet. Auf jeden Fall verlor Wirecard mit diesen Unterlagen seinen technologischen Vorsprung und musste Insolvenz anmelden.

Wirecard-Mitbegründer Hoppenrath, der zwischenzeitlich, bis Oktober 2001, in den Aufsichtsrat gewechselt war, erstattete im Januar 2002 Strafanzeige gegen den Vorstand, den er verdächtigte, die Insolvenz bewusst herbeigeführt und so die Fusion von Wirecard und EBS vorbereitet zu haben. Die kam dann auch rasch zustande. »Mit Datum 16. Januar 2002 wurde ein sorgfältig geplanter Deal rechtswirksam«, verkündete die neue EBS Holding: »Der Merge der EBS Electronic Billing Systems AG und Wirecard AG ist perfekt.« Unter dem Dach einer EBS-Holding würden EBS und Wirecard »eine konsequente Zwei-Marken Strategie verfolgen, welche eine Umverteilung der Marktanteile im Internet Payment Business bewirken wird«. Die 70 »hochqualifizierten Mitarbeiter aus beiden Teams« würden künftig »an einem Strang ziehen und neue Synergien schaffen«.15

Braun wurde Vorstandschef, Marsalek Chief Technology Officer unterhalb der Vorstandsebene. Nach Bauer-Schlichtegrolls Ausstieg formten sie das Unternehmen nach ihrem Gusto. 2004 ging EBS in Wirecard auf. Im März 2005 nutzte Wirecard die Infogenie AG, einen nahezu insolventen Call-Center-Betreiber, als Börsenmantel. Die wertlose Firma hatte einen einzigen Vorzug: Sie war bereits an der Börse notiert und konnte als Hülle dienen, um etwas Undurchsichtiges darin zu verpacken. Bevor ein Unternehmen an die Börse darf, muss es normalerweise viele Unterlagen einreichen, die Banken durchleuchten die Bilanzen. Wirecard ließ sich von Infogenie übernehmen, um selbst aufs Börsenparkett zu gelangen. So konnte Wirecard neue Aktien ausgeben, ohne umfassenden Einblick in seine Bücher gewähren zu müssen.16 Braun begründete diesen »Börsengang durchs Hintertürchen« (Der Aktionär) damit, dass ein klassischer Börsengang »mit höheren Kosten verbunden« und »im derzeitigen Kapitalmarktumfeld nur mit hohen Wertabschlägen durchführbar« gewesen wäre.17 Das vereinte Unternehmen firmierte nun als Wirecard AG.

Die 1996 gegründete und in Berlin ansässige Infogenie AG hatte ihr Geld ursprünglich wie Bauer-Schlichtegrolls EBS mit der Abzocke durch kostspielige 0190-Nummern verdient. Später vertrieb die Firma vor allem Online-Glücksspiele und Webseiten mit pornografischem Inhalt. Genau in diesem Segment tummelte sich auch Wirecard. Die Kunden hießen asiasex.com, sex-luder.com oder später youporn.com.18 Die »Entertainmentangebote« waren Anfang der 2000er-Jahre »schlicht die ersten Onlineangebote, für die Kunden in Echtzeit bezahlt haben, die Marktanteile entsprechend groß«, sagt Braun.19

Wirecard ist so etwas wie ein deutsches Pay-Pal – mit einem Unterschied: PayPal richtet sich an den Kunden, Wirecard an den Händler. Daher blieb der deutsche Zahlungsdienstleister einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt. Die Tätigkeit von Wirecard heißt im Fachjargon »Acquiring«. Wenn der Kunde mit seiner Kreditkarte im Netz bezahlt, landet das Geld nicht direkt beim Händler, sondern zunächst beim Acquirer, also bei Wirecard. Dessen Funktion besteht darin, dass er die Bonität des Kunden garantiert und bei einem Zahlungsausfall einspringt. Für das damit verbundene Risiko erhält der Acquirer eine Gebühr von durchschnittlich etwa zwei Prozent des Kaufpreises.

Das Geschäft mit dem Acquiring war in Deutschland immer Sache der Banken gewesen. Mit dem Aufstieg des Online-Shoppings änderten sich die Spielregeln. Früher hatte der Händler seine Hausbank. Es wurde gegen Rechnung, Vorauszahlung oder per Nachnahme bezahlt. Der Acquiring-Prozess ist im E-Commerce komplexer als im stationären Handel. Das hat technische Gründe: Im Internet geht es nicht mehr nur um die Kreditwürdigkeit des Kunden, sondern auch um die Frage: Was geschieht, wenn der Händler nicht liefert? Die Banken brauchten zu lange, um sich darauf einzustellen.20

Die Nische besetzten IT-Unternehmen, die Plattformen und eigene Software für die Abwicklung im Zahlungsverkehr entwickelten. Im Internet geschieht alles in Echtzeit. »Dafür müssen Daten verknüpft und verifiziert werden«, erläutert Markus Braun. »Das hatte eine klassische Bank nicht so im Blick. Wir haben das technologisch umgesetzt und uns direkt an die Händler gewandt. Das ist das disruptive Element.«21

Wirecard regelt das bargeldlose Bezahlen. Egal ob Menschen mit Smartphone, Giro- oder Kreditkarte ihre Rechnung begleichen, ob sie es online tun oder an der Ladenkasse – der Finanzdienstleister sorgt dafür, dass die Händler ihr Geld bekommen. Das Unternehmen kümmert sich nicht nur um die elektronische Überweisung, sondern geht für die Händler und deren Kunden auch ins Risiko. Während der Käufer im Onlineshop seine Daten und die Kreditkartennummer eingibt, erkennt Wirecards Software, ob der Kunde vertrauenswürdig ist. Wenn nicht, wird die Zahlung blockiert. Scheint alles in Ordnung, wird der Kaufpreis, zum Beispiel 100 Euro, von der Kreditkartenfirma zu Wirecard transferiert, das nach einigen Tagen 95 Euro an den Händler weiterleitet. Der Rest bleibt als Pfand. Erst wenn der Händler dem Kunden das Produkt zugesandt hat, überweist Wirecard die volle Summe abzüglich einer Gebühr: 0,3 Prozent für die technische Abwicklung des Bezahlvorgangs und zwischen 0,7 und 1,5 Prozent für die Absicherung der Überweisung; dafür erhält Wirecard auch die Kundendaten. Geht der Verkäufer pleite oder hat er schadhafte Ware geliefert, haftet Wirecard. Mit jeder Transaktion wächst der Datenpool, wodurch sich die Risiken besser einschätzen lassen.

Mit der Übernahme der XCOM-Bank, einem Einlagenkreditinstitut im niederrheinischen Willich, das dann in Wirecard-Bank umbenannt wurde, erhielt der immer noch kleine Zahlungsdienstleister 2006 eine Banklizenz. XCOM war ein Softwareunternehmen, spezialisiert auf Lösungen in den Sparten Börsenhandel, Börsenabwicklung, Elektronic Banking, Datenlogistik und Datenkommunikation. Wieder war es, wie beim Unterschlupf bei Infogenie, eine Hintertür, die zu einer eigenen Bank führte. Aber nun konnte Wirecard Verträge mit Kreditkartenorganisationen wie Visa und Mastercard abschließen, Verbraucher mit Giro- und Kreditkarten versorgen und Darlehen gewähren. Außerdem wurden Zusatzdienste wie Datenanalysen und Kundenbindungsprogramme angeboten.22

Die Gewinnmarge für Wirecard ist gering, aber die Masse machts. Je mehr Einzelhändler, Hotelketten oder Reiseportale der Zahlungsabwickler als Kunden gewinnt, desto ertragreicher läuft das Geschäft. Deshalb war das Geschäftsmodell von vornherein auf Wachstum angelegt. Wirecard akquirierte namhafte Partner, die zum Aushängeschild werden. Viele von ihnen spielen in der ersten Unternehmensliga: Aldi und Ikea, Apple und Air France-KLM. Deren Glanz sollte abfärben auf das mit Zahlungen für Pornografie und Glücksspiel groß gewordene Unternehmen.

Klaus Rehnig, ein ehemaliger Verlagsmanager und Mitbegründer der EBS Holding, war von 2002 bis 2008 Aufsichtsratschef bei Wirecard. Er beschreibt Markus Braun als »Workaholic« und einen »von Ehrgeiz und Perfektion besessenen Erfolgsmenschen«.23 In den Anfangsjahren wirkte Braun zurückhaltend, manchmal verklemmt. Wenn er vor Angestellten eine Rede halten musste, verhaspelte er sich oft. Er wirkte blass und spröde. Öffentlich zeigte er sich ungern. Er gab den bescheidenen Visionär.

Im Laufe der Jahre änderten sich Habitus und Lebensstil. Er führte das Unternehmen nach Gutsherrenart, behandelte Mitarbeiter gefühlskalt und launisch, wurde statusfixiert und schwelgte in Luxus. 2006 kaufte er im Wiener Nobelviertel Hietzing eine Gründerzeitvilla, in München lebte er in einer Etagenwohnung in einem prächtigen Jugendstilbau in Bogenhausen. Im österreichischen Kitzbühel erwarb der passionierte Skifahrer 2013 für 11,7 Millionen Euro ein Haus am Hang, in Ramatuelle