Der falsche Weg - Pitigrilli - E-Book

Der falsche Weg E-Book

Pitigrilli

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Beschreibung

Pitigrilli lesen! Mit den in diesem Band vorliegenden acht Erzählungen gibt der seit den zwanziger Jahren skandalumwobene italienische Autor ein meisterhaftes Beispiel literarischer Finesse. Morbide Süße verströmt die Passion des jungen Attilio für verwelkende Schönheiten, mit ätzender Schärfe kommentiert Pitigrilli das Werben des hinkenden Jurastudenten um eine herzlose Schöne. Jede einzelne Geschichte ergreift Besitz von der Phantasie der Leser wie die Essenz eines ganzen Romans.

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Seitenzahl: 294

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Pitigrilli

Der falsche Weg

Ihr Verlagsname

Bearbeitete Ausgabe der Übersetzung aus dem Italienischen von Maria Gagliardi

Über dieses Buch

Pitigrilli lesen!

Mit den in diesem Band vorliegenden acht Erzählungen gibt der seit den zwanziger Jahren skandalumwobene italienische Autor ein meisterhaftes Beispiel literarischer Finesse.

Morbide Süße verströmt die Passion des jungen Attilio für verwelkende Schönheiten, mit ätzender Schärfe kommentiert Pitigrilli das Werben des hinkenden Jurastudenten um eine herzlose Schöne. Jede einzelne Geschichte ergreift Besitz von der Phantasie der Leser wie die Essenz eines ganzen Romans.

Über Pitigrilli

PITIGRILLI, eigentlich Dino Segre, wurde 1893 in Turin geboren, wo er auch 1975 starb. Der promovierte Rechtswissenschaftler arbeitete als Redakteur für verschiedene Zeitungen. Bevor er 1940 Lina Furlan heiratete, Italiens erste Rechtsanwältin an einem Schwurgericht, galt Pitigrilli als Salonlöwe. Die zwanziger Jahre verbrachte er als Zeitungskorrespondent in Paris, wo auch seine ersten, heftig diskutierten Bücher entstanden. Als 1939 auch in Italien die Rassengesetze in Kraft traten, musste er auswandern, zunächst in die Schweiz, dann nach Argentinien.

Inhaltsübersicht

Der falsche WegDie Sonette der LiebesgierDas Chlorhydrat der GlückseligkeitDer Amateur-DetektivDer himmelblaue PrinzGeistliche ÜbungenDer Fährmann der schönen FrauenVergehen gegen die gute SitteErster TeilZweiter TeilDritter Teil

Der falsche Weg

«Pünktlich?»

«Wie eine Sonnenfinsternis.»

«Und naß wie ein gebadeter Pudel. Ich wäre in das Hotel zurückgekehrt, um den Pelz abzulegen und den Regenmantel anzuziehen, aber ich wollte pünktlich sein.»

«Das war nicht notwendig, mein Fräulein.»

«Unbedingt notwendig, wenn man eine Anstellung sucht.»

«Anstellung? Bitte, setzen Sie sich. Ist Ihnen kalt?»

«Im Gegenteil, in diesem Pelz!»

«Dann entpelzen Sie sich und reichen Sie ihn mir.»

«Danke, Exzellenz. Es ist das erste Mal, daß ich einen Botschafter in seinem Büro sehe, ich glaubte sogar, daß die Diplomaten gar keins besäßen und daß ihre Arbeit darin bestünde, Bankette zu geben und zu besuchen, um sich dann in den Bädern den Magen auszukurieren.»

«Impertinent! Meine Frau spricht übrigens oft von Ihnen.»

«Ich habe sie noch kurz vor meiner Katastrophe auf dem Ball beim Präsidenten gesehen.»

«Sie trugen ein gewitterfarbenes Seidenkleid mit blauen Sträußchen, und Sie haben mir beim Walzer auf den Fuß getreten.»

«Und Sie haben sich nicht einmal beklagt?»

«Die großen Schmerzen sind stumm. Sie sprechen also von einer Stellung. Für wen?»

«Für mich. Sie wissen, daß ich ein zugrunde gerichtetes Mädchen bin. Bis vor zwei Monaten war ich die reichste Partie der Stadt. Das Unglück mit den Phosphaten und der Selbstmord meines Vaters haben aus mir ein Häufchen Unglück gemacht, und ich mußte zusehen, wie man mir die Villen, das Schloß und vor allem den Rennstall fortnahm, der mich berühmt gemacht hat, Sie werden sich erinnern, daß man mich wegen der Zahl meiner Pferde und meiner Anbeter …»

«… ‹Acht Pferde, vierzig Mann› benannte, und daß dieser anmutig freche Beiname Ihnen nicht mißfiel.»

«Jetzt rennen meine Pferde Gott weiß wo und meine Anbeter wer weiß hinter welchen Amazonen her. Ich bin gezwungen, in einem bescheidenen, mit Kindern vollgestopften Hotel zu wohnen.»

«Menschliche Küken.»

«Die ich verabscheue, und junge Knaben, die anfangen, die Geistreichen zu spielen. Man langweilt sich dort bis zum Ekel; es gibt keine Hotelratte dort, keine skandalöse Dame, die von sich reden macht. Ich wußte nicht, was Langeweile ist; zwischen Reiten, Flirt, Wohltätigkeitsveranstaltungen und anderen sportlichen Betätigungen raste die Zeit vorbei, als wären sämtliche Uhren der Welt wahnsinnig geworden. Jetzt vergeht sie überhaupt nicht mehr. Damit sie ein bißchen schneller läuft und, sagen wir es ehrlich, damit ich leben kann, habe ich mich entschlossen, zu arbeiten.»

«Welch ausgefallene Idee!»

«Ich möchte aber eine abwechslungsreiche, eine unterhaltende Arbeit.»

«Die gibt es nicht. Auch die angenehmste Beschäftigung, wenn sie in Arbeit ausartet, wird eine Last; das Reisen zum Beispiel, das für den Touristen ein Vergnügen, ist für den Berufsreisenden beschwerlich; die Liebe, die köstlichste Beschäftigung von der Welt, ist eine ermüdende Last, wenn sie zum Beruf wird.»

«In meinem Fall …»

«Ich weiß, mein Fräulein. Sie haben nicht die Absicht, diesen Weg einzuschlagen.»

«Ich habe nicht einmal Begabung dafür.»

«Es ist leicht, ihn aus Irrtum einzuschlagen. Eine junge Dame, die arbeiten will und schön ist wie Sie, ist den unerbittlichen Versuchungen der Großstadt ausgesetzt.»

«Ich werde mich zu schützen wissen. Bis jetzt habe ich mir meine Reinheit bewahrt.»

«Ich bewundere Sie.»

«Keine Ursache! Man gewöhnt sich an alles, auch jungfräulich zu sein. Im übrigen glauben Sie nicht, daß ich mich dessen rühme! Es ist nichts Böses dabei, Jungfrau zu sein, aber es ist geschmacklos, damit zu prahlen.»

«Wenn Sie, liebe Freundin, bis heute die Siegel unversehrt bleiben ließen in der Erwartung eines Gatten, so sind heute die Gründe für die Siegelbewahrung stark vermindert; Ihr Reichtum, Ihr Sport, Ihre vielfältigen Vergnügungen, Ihre gesellschaftliche Stellung bewahrten Sie davor zu fallen; heute aber, wo die Zerstreuungen selten geworden sind und die Mathematik des Lebens Sie vor Probleme stellt, sind Sie absolut schutzlos; und ich gestehe Ihnen, daß es mich, weil ich Sie gern habe, schmerzen würde, wenn Sie fallen sollten. Hüten Sie sich davor! Die Männer sind Vampire!»

«Aber ich kenne ihre Schliche. Mit einem Blumenstrauß oder einem Päckchen Fondants oder einem Schmuckstück beginnen sie die Belagerung. Ungefährliche Waffen für mich, die ich riesige Gärten besaß, den Konfiseur im Hause hatte und meines Schmucks so überdrüssig war, daß ich ihn weder am Hals noch an den Händen trug, wie jetzt, wo ich keinen mehr habe.»

«Und eines Tages werden Sie Sehnsucht haben nach all diesen verführerischen Dingen, und Sie werden einen Mann finden, der Ihnen Wohlstand, vielleicht Luxus, vielleicht den Wiederaufbau Ihrer Vergangenheit verspricht.»

«Ich werde ihm nicht glauben. Die Arbeit wird eine so unbedenkliche Neuheit in meinem Leben sein, daß ich mich nicht werde von ihr trennen können.»

«Die Arbeit! Kindskopf! Und was für eine Arbeit wollen Sie machen?»

«Ich glaube, daß ich Talent für das Theater habe. Nur daß sich mir nie eine Gelegenheit geboten hat, öffentlich zu spielen.»

«Ist’s möglich? Sind Sie nie in irgendeinem Bergdorf gewesen, wo skrofulöse Kinder an die See geschickt werden sollten, oder in einem Seebad, wo es galt, Bleichsüchtige ins Gebirge zu verschicken? Beim Theater, wie übrigens bei allen Künsten, genügt nicht nur das Talent. Man muß noch einen anderen Faktor in Rechnung ziehen: den Zufall oder, wenn Sie es vorziehen, das Glück.»

«Ich weiß, Exzellenz, man muß im Hemd zur Welt kommen.»

«Und verstehen, es rechtzeitig auszuziehen, mein Fräulein.»

«Ich könnte maschineschreiben.»

«Maschinenschreiberin? Um eine anständige Frau zu bleiben, um nicht eine Kokotte zu werden, wollen Sie sich als Stenotypistin anstellen lassen? Oh, Verblendung! Ein Widersinn ist das! Es ist, als ob einer, um nicht zu sterben, Selbstmord begeht.»

«Was bleibt mir alsdann übrig? Mich aus dem Fenster stürzen?»

«Nein. Das ist eine Form des Selbstmords für die besitzlosen Klassen. Menschen wie wir müssen einen anderen Ausweg suchen. An die Ehe haben Sie nicht gedacht?»

«Die Wahl ist nicht leicht.»

«Ich weiß: gewisse Männer, akzeptabel als Geliebter, taugen nicht zum Ehemann, in derselben Art, wie gewisse reizende Quartiere für eine Garçonnière, aber nicht für eine Familienwohnung geeignet sind.»

«Ein recht reicher und gebührend junger Aristokrat hatte sich um meine Hand beworben.»

«Vor der Katastrophe?»

«Nachher.»

«Bravo!»

«Aber ich konnte ihn nicht ausstehen: mittelmäßige Intelligenz, wissen Sie, diese flache Mentalität der Biedermänner um jeden Preis. Er schrieb mir kalligraphische Briefe, die wie Diplome aussahen, er war mit Vorurteilen gespickt und mochte mich gern.»

«Und das genügt nicht?»

«Aber er war dumm wie ein Altruist: das einzige, was ihn rehabilitierte, war das Taubenschießen, darin war er Meister.»

«Für die Ehe ist ein unwissender Sportsmann einem Dichter mit sitzender Lebensweise vorzuziehen.»

«Er darf aber nicht zu unwissend sein. Wenn ich mit diesem Menschen fünf Minuten gesprochen hatte, fühlte ich etwas Klebriges an mir, das mich nötigte, mich mit Sublimat zu waschen, mit Bimsstein abzureiben, die Fenster aufzureißen und Papier d’Arménie zu verbrennen. Eines schönen Tages, als er mich mit noch größerer Ausdauer als gewöhnlich gelangweilt und die Zacken seiner Grafenkrone vor mir spielen lassen hatte, antwortete ich ihm, daß ich auf ihn und den ganzen Gothaschen Almanach pfeifen würde.»

«Keine anderen Männer am Horizont?»

«Ich sehe keine.»

«An Geschäfte haben Sie nicht gedacht?»

«Zum fortgesetzten Diebstahl fühlte ich keine Berufung: ich weiß nicht einmal, auf welcher Seite man die Stempelmarken leckt.»

«Bei Ihrem Charme und Ihrer Intelligenz könnte es Ihnen glücken; außerdem sind Sie von einem Scharfsinn und einer geistigen Lebendigkeit, die bezaubern.»

«Schmeicheln Sie mir nicht.»

«Sie sind zusammengesetzt wie die Maximal- und die Minimalthermometer: halb Geist und halb Quecksilber.»

«Was den Geist anbelangt, so schlagen Sie mich um drei Pferdelängen, Exzellenz. Nein, küssen Sie mir nicht die Hände. Sie sind nicht mehr schön. Mein chinesischer Manikure reagiert nicht auf meine Anrufe.»

«Ihre Haut ist frisch wie die von lasterhaften Frauen.»

«Ohne daß ich es wäre.»

«In der Tat, Sie haben das seelenruhige Gesicht der Frauen, die nie geliebt haben.»

«Was wissen Sie davon? Mein Herz interessiert Sie nicht.»

«Im Gegenteil. Ihr Herz ist …»

«… von größtem Interesse. Wir jungen Damen in den Zwanzigern, wir haben alle einen Mann geliebt, den, wenn er nicht in der Wirklichkeit existierte, wir uns in der Phantasie geschaffen haben; und er hat uns beglückt und hat uns betrübt, auch wenn er nur ein Phantasiegebilde war.»

«Es scheint, als hätten Sie nicht nur Phantasiegebilde unglücklich gemacht.»

«Mag sein. Dafür hat ein anderer seinerseits mich unglücklich gemacht. Liebesleiden sind wie falsche Geldscheine: wenn man sie nicht zurückgeben kann, setzt man sie in Umlauf.»

«Ich habe Ihre Augen niemals so aus der Nähe betrachtet. Sie sind wie zwei große Teetropfen.»

«Mit wenig Zucker.»

«Von Ihrem Vater haben Sie die schlagfertige Ausdrucksweise der Pariser geerbt, und von Ihrer Mutter die rosenfarbene deutsche Helle. Sie sind der Typus des Mädchens made in Germany, der intelligenten, blonden Langköpfigen. Eben gerade diese Schönheit ist es, dieser Geist, diese Lebhaftigkeit, die mir im Hinblick auf Ihre Zukunft zu denken geben. In Ihrem Blick liegt Wärme.»

«Aber im Grunde bin ich kalt.»

«Im Grunde vielleicht. Nicht auf der Oberfläche. Und die Gefahr liegt auf der Oberfläche.»

«So daß auch Sie, trotz Ihrer Erfahrung als Weltmann und Ihren unendlich vielen Beziehungen, nicht in der Lage sind, mir zu verschaffen, um was ich Sie gebeten habe.»

«Meine Erfahrung kann nichts anderes tun, als Ihnen den Abgrund zeigen, und meine Beziehungen könnten Ihnen Hunderte von Männern angeben, die geneigt sind, Sie hineinzustoßen. Mit welcher Begeisterung würden sie Sie in ihrem Haus aufnehmen und Sie mit Aufmerksamkeiten überschütten … für ein paar Monate! Aber dann? Eine plötzliche Abreise oder eine Beförderung oder eine Heirat oder eine andere Frau würde sie von Ihnen trennen. Und Sie müßten Zuflucht im Hause eines anderen suchen, und dann eines dritten, ohne auf etwas Sicheres oder Endgültiges rechnen zu können: Sie würden das leichte Leben wieder aufnehmen, das Leben in den Badeorten; in der Demimonde würden Sie eine der Verführerischsten und der am meisten Bewunderten sein: aber man würde Sie immer als eine Entgleiste ansehen. Nun, bei meiner väterlichen Zuneigung für Sie …»

«Exzellenz? Was fällt Ihnen ein?»

«Ein väterlicher Kuß.»

«Wissen Sie, daß Sie eine edle Dreistigkeit besitzen?»

«Und Sie einen schönen Mund!»

«Exzellenz, in diesem Augenblick denken Sie nicht an die Frau Gesandtin.»

«Die Augenblicke, wo ich an die Gesandtin denke, sind so selten! Ich hätte beim Beginn meiner Karriere eine Gefährtin wie Sie treffen müssen. Meine Frau ist zu sehr pot-au-feu, um den Weg eines Diplomaten zu erleichtern. Der Minister des Äußeren, der uns einen gestickten Frack, eine Feluke und einen Degen vorschreibt, hat niemals daran gedacht, uns eine dekorative Paradegattin zu liefern, wie der Minister des Innern den Präfekten die möblierte Wohnung, das Geschirr und das Silber liefert.»

«So hätte ich also für Ihren Fall gepaßt?»

«Sie sind ein ideales Ge …»

«Exzellenz!»

«… schöpf.»

«War das auch ein väterlicher Kuß?»

«Etwas weniger.»

«Wenn ich denke, daß ich hierhergekommen bin, um Ihren Beistand zu erbitten, weil ein verheirateter Mann eine gewisse Bürgschaft für den Ernst bietet! Sie müssen der Gesandtin wahrlich nicht selten untreu sein!»

«Der Ehebruch ist nur das Korollarium der Heirat. Mein Amt verlangt von mir häufige Reisen, während meine Frau sich nie aus dem Haus rühren würde; und es ist so verdrießlich, allein zu reisen! Sind Sie seefest?»

«Ich steuerte meine Jacht wie ein Kapitän auf großer Fahrt.»

«Vertragen Sie das Eisenbahnfahren?»

«Ich habe eine Leidenschaft für kleine Ortschaften, an denen ich auf meinem Weg vorbeirase und für Grenzen, die ich hinter mir lasse. Ich würde gern immer reisen. Ich bin eine Vagabundin par excellence.»

«Für Exzellenz?»

«Warum nicht auch das? Und wenn man nicht reiste?»

«Würde ich Sie bitten, meine Pferde zu reiten, die sich in ihren Boxen langweilen.»

«Mit mir würden sie sich sicher nicht langweilen. Ich reite wie ein Cowboy.»

«Wie eine Amazone, wollen Sie sagen.»

«Wie ein Cowboy: ich sitze nie im Damensitz, ich steige rittlings auf.»

«Und da Sie nicht den ganzen Tag im Sattel, auf dem Schiff oder in der Eisenbahn zubringen können, würde ich Ihnen eine Wohnung nach Ihrem Geschmack einrichten, mit einer Dienerschaft, die Sie wie eine Königin behandeln würde.»

«Und welche Apanage würden Sie dieser Königin aussetzen?»

«Sie haben nur zu fordern.»

«Und was wird die öffentliche Meinung sagen?»

«Daß Sie meine Mätresse sind. Das ist unvermeidlich. Sich der öffentlichen Meinung zu entziehen, ist, als entflöhe man den eigenen Schatten, als kämpfte man gegen seine eigene guigne. Man wird sagen, daß Sie die Freundin eines seriösen Menschen sind, auf den man für die Zukunft rechnen kann. Andere Männer sind veränderlich und unzuverlässig.»

«Oh, was das anbelangt, kennen wir alle Ihr savoir faire.»

«Und das faire savoir der andern: ich bin schließlich ein alter Sentimentaliker, imstande, mich zu verlieben: und in mir wird die Liebe zu einer zähen Kraft, einer Art Krankheit. Ich bin weder anspruchsvoll noch Exklusivist. Überzeugt Sie mein Programm?»

«Nicht völlig. Ich war zu Ihnen gekommen, um eine anständige Anstellung zu erhalten, die mich vor der Gefahr des falschen Wegs schützen sollte.»

«Und ich biete Ihnen eben an, Sie auf den richtigen Weg zu geleiten. Gestatten Sie, daß ich Ihr Führer bin?»

«Ich will es mir überlegen. Jetzt verlasse ich Sie, Exzellenz, es ist Essenszeit. Ich gehe in mein Hotel.»

«In das trübselige Hotel, wo nicht einmal eine zweifelhafte Dame wohnt? Kommen Sie mit mir ins Restaurant. Während Sie Ihren Pelz anziehen, lasse ich nach Hause telefonieren, daß man mich nicht zum Mittagessen erwarten soll. Indessen denken Sie über Ihre Entscheidung nach.»

«Drängt es?»

«Sie haben Zeit bis Mitternacht, bis um drei, bis um vier, bis um acht Uhr morgen früh.»

«Was soll das bedeuten?»

«Daß ich nach Hause telefonieren lasse, daß man mich auch heute nacht nicht erwarten soll.»

Die Sonette der Liebesgier

Wenn man hinkt und Jura studiert, wird man unter zehn Fällen neunmal Schriftsteller. Nach erfolgreich bestandenem Examen läßt man die Literatur laufen, um sich im Einwohnermeldeamt oder im Güterbetrieb bei der Eisenbahn anstellen zu lassen; und durch Eifer, Pünktlichkeit und schöne Handschrift bringt man es zum Beamten erster Klasse; aber während der vier Universitätsjahre schreibt man. Und das ist natürlich: die juristischen Studien lassen einem unbegrenzte Freiheit, und da ein Lahmer sich weder dem Fußball, noch den modernen Tänzen widmen kann, bleibt er zu Hause; und es steht fest, daß der junge Mensch, der allzuviel zu Hause hockt, entweder lasterhaft wird oder Schriftsteller.

Gastone Milanesio war dumm wie ein Fahrrad: dumm, von dieser Dummheit erster Größe, von dieser stark orchestrierten Dummheit, die den Frauen gefällt.

Aber er hinkte.

Dem lieben Gott macht es zuweilen Spaß, einen Vorzug dadurch zu neutralisieren, daß er ihm ein Unglück an die Seite stellt: er hat den Hund erschaffen, ein nahezu vollendetes Tier, aber er hat ihm das traurige Geschenk der Tollwut verliehen; er hat der Rose den Duft gegeben, aber … vorwärts alle im Chor: er hat sie mit Dornen versehen. Gastone hatte er die Wohltat der Dummheit gewährt, diesen unvergleichlichen Freibrief, um den Frauen zu gefallen; aber er verbindet damit dies Gebrechen, das seinen triumphalen Marsch beeinträchtigt.

Die Ursache seines Hinkens ist nicht genau bekannt; alle möglichen Hypothesen hat man aufgestellt: von der ungeschickt angewandten Geburtszange bis zum Eisenbahnunglück, aber der wahre Grund, warum er hinkte, lag darin, daß seine beiden Beine von verschiedener Länge waren. Er erklärte es als ein dem Vaterland dargebrachtes Opfer, oder wenn er es nicht als historische Tatsache ausgab, so gefiel er sich doch darin, es vermuten zu lassen. Im Grunde bediente er sich des Kriegs, wie sich die chronischen alten Jungfern seiner bedient haben, um auf noble Art ihre jungfräuliche Witwenschaft zu rechtfertigen; wie sich die rettungslos Entgleisten seiner bedient haben, um ihren Schiffbruch ohne Aussicht auf Rettung zu erklären.

Gastone Milanesio hatte zwei oder drei Freunde, Literätchen seiner eigenen Prägung und seines eigenen Kalibers. Diese arroganten Dichterlinge leben in Kolonien; sie sind wie die Bazillen, die in den bakteriologischen Laboratorien bei einer gemäßigten und unveränderten Temperatur in einer ihrer Erhaltung angemessenen Brühe in Glastuben gezüchtet werden, wobei sie sich sehr wohl befinden. Ihr Röhrchen bedeutet ihnen die gesamte Welt. Sie lesen sich untereinander ihre Gedichtchen vor und verleihen sich gegenseitig den Dichtertitel. Sie leben, gedeihen, essen, werden fett, amüsieren sich, vermehren sich, reproduzieren sich, ohne jemals einen Blick aus der Glasröhre, die sie beherbergt, zu werfen; die äußere Welt existiert für sie nicht; nur sie allein existieren. Und sie sind so unendlich klein, daß sie einen, der weniger unendlich klein ist als die andern, für einen Giganten halten und ihn Meister nennen.

Diese Blutleeren der Literatur haben zu allen Zeiten existiert: vor zwanzig Jahren schrieben sie Novellen über Reiseabenteuer; dann kam die Mode der Detektivromane, und sie begannen Geschichten von unwahrscheinlichen Verbrechen und unauffindbaren Verbrechern zu schreiben; dann verbreitete sich die Infektion der Hypermodernen, mit der Abschaffung von Kultur, Orthographie und Syntax; das war für diese lieben Jungen die Beförderung ohne Examen mit der Durchschnittsnote fünf. Ein paar Jahre später widmeten sie sich der Kritik, der literarischen Abschlachtung; jetzt kehren sie zur Lyrik, zur Romantik, zum Mondschein zurück.

Gastone Milanesio war trotzdem kein lyrischer Dichter, denn er posierte auf Skeptiker, Zyniker, obgleich er in einer dieser kleinen Städte der Emilia lebte, in denen es noch Brauch ist, die Knaben in das Salesianische Oratorium zu schicken, in dem jeden Winter die «Hugenotten» und die «Sonnambula» gegeben werden, in dem, wenn man nicht Graf ist, man Marchese ist; und das Schlimmste, was einem Ehrenmann zustoßen kann, ist, Baron zu sein.

Gastone war Baron.

Aber er hinkte.

Was nützte es, die herrlichsten Gedichte zu schreiben, mit allen Reimen am richtigen Platz und mit sehr vielen Anwendungen von Diäresis, die im Vers die regulierende Funktion hat, die beim Hosenträger die Schnalle erfüllt? Was nutzte es, eine Hypersensibilität zu besitzen (all diese Jüngelchen sind hypersensibel), wenn man ein Bein hat, das länger als das andere ist?

Was nutzt es, in Luisella, das Fräulein mit den wallenden blonden Haaren, verliebt zu sein?

Luisella, ein Fräulein aus guter bürgerlicher Familie, gehörte zu den Geschöpfen, denen es vollkommen gleichgültig ist, ob man Tàntalus oder Tantàlus sagt, und die die Kommata mit demselben Kriterium gebrauchen, mit dem ein Pinguin ein Mikroskop gebrauchen würde; sie war aus eigener Überzeugung, und nicht nur weil sie es so gehört hatte, sicher, daß Leopardi ein großer Dichter sei. Sie trug eine Tunika aus Seidentrikot, die man über den Kopf anziehen mußte, weil sie aus einem einzigen Stück bestand.

«Sie ist ohne Naht, wie Christi Rock», hatte Gastone gesagt, um im Gehirn des Fräuleins einen Platz in der ersten Reihe zu erobern.

Manche Männer glauben, daß, um in das Herz einer Frau zu gelangen, man durch dies leere Vorzimmer, das das Gehirn ist, schreiten müsse. Aber das Fräulein mit dem lodernden Haar war durch so Geringfügiges nicht beeindruckt.

Da fühlte Gastone seinen eiskalten Zynismus sich festigen, und am Abend, als er sich mit seinen Busenfreunden im Café traf, gab er Aphorismen folgender Art von sich:

«Das Leben, meine Freunde, ist eine Lotterie: jeder wird mit einem Los in der Tasche geboren: wer eine gute Nummer hat, gewinnt; wer eine schlechte Nummer hat, verliert; vorausgesetzt, daß er nicht dem Gewinner sein Los stiehlt …»

Seine Freunde hielten ihn für, wenn nicht gerade Voltaire überlegen, so doch jedenfalls La Rochefoucault ebenbürtig. Und verschiedene Abende hintereinander setzten sie sich zu dritt oder viert zusammen, um diese albernen Paradoxe nach jeder Richtung um und um zu wenden, wie es gewisse Skarabäen tun, die sich auch zu dreien oder vieren zusammentun, um ein Mistkügelchen um sich selbst drehen zu lassen.

Aber für Fräulein Luisella mit den phosphoreszierenden Haaren blieb er nicht mehr und nicht weniger als Gastone, der Lahme.

«Sämtliche Milanesios, die ich gekannt habe, Männer wie Frauen, sind Dummköpfe», sagte sie eines Tages zu dem Kavallerieleutnant, der sie nach ihrer Meinung gefragt hatte. «Er ist ein eingebildeter armer Kerl. In allen Gesellschaften, in denen sich der Hinkende befindet, ist immer er der größte Krakeeler, der Anmaßendste, der Geräuschvollste. Er ist wie ein Marktschreier auf den Jahrmärkten, die Lärm machen in der Hoffnung, daß ihre Stimme über die Schlechtigkeit ihrer Ware hinwegtäuscht.»

«Lachen Sie nicht über diesen Unglücklichen!» mahnte mit komischer Strenge der Kavallerieleutnant.

«Und weshalb?» fragte das Fräulein. «In Gesprächen und Büchern ist es statthaft, Geisteskranke lächerlich zu machen, und es sollte nicht gestattet sein, die auszulachen, die hunderttausendmal weniger unglücklich sind? Glauben Sie im übrigen, Herr Leutnant, daß der Lahme sich nicht über Sie lustig macht? Weil sie überzeugt sind, daß die Welt sich ausschließlich mit ihren verschieden langen Beinen beschäftigt, so nehmen sie den Ausfluß ihrer Bosheit gegen alle Welt einfach vorweg.»

Der Leutnant war in die chemisch reine Luisella mit den funkelnden Haaren verliebt. Aber unter der Haarmähne glänzte ein rundes, gerötetes Gesicht mit gespannter Haut, das eben erst eingeseift, abgetrocknet und mit einem abscheulich groben Handtuch abgerieben zu sein schien.

Der Offizier entstammte gleichfalls einer aristokratischen Familie, aber er huldigte nicht dem Vorurteil, daß die Adligen eine Vorzugskaste bilden, die durch beständige Auslese sich vervollkommnet habe. Er behauptete sogar, daß infolge der andauernden Inzucht, der Heiraten untereinander, ihre Fehler sich konsolidiert und die Rasse heruntergebracht hätten. Deshalb hatte er sich, mit den Traditionen seiner Familie brechend, in das kleine Bürgermädchen verliebt.

Aber das kleine Bürgermädchen ergab sich nicht.

Sie hatten zusammen lange Spazierfahrten gemacht, außerhalb der Zollgrenze, unter den langen Ulmenalleen, längs der blühenden Akazienhecken, nach derartig poetischen Orten, daß sie einen koreanischen Henkersknecht erweicht hätten. Die dünnen Stämme der Bäume warfen auf die besonnte Straße violette Schatten, wie Adern.

Der Leutnant lenkte ein zweisitziges leichtes Wägelchen, das von einem Schmetterling hätte gezogen werden können. Und sie fuhren, ohne Ziel, ohne Zeitrechnung, wie zwei brüderliche Freunde, die niemanden und nichts zu fürchten brauchen, da sie nichts Unrechtes tun.

Ein kleiner Hund, ein schneeweißer Foxterrier, saß zwischen ihnen.

Aber jedesmal, wenn der Leutnant versucht hatte, das Mädchen in ihren blauen Mantel einzuhüllen, um sie auf die großen, leeren Augen zu küssen, hatte sie sich befreit und verteidigt.

Der zynische Dichter, von der Erfolglosigkeit des Offiziers unterrichtet, hatte seinen Zynismus noch nachdrücklicher angespannt, um mit den Füllhörnern seiner Ironie den romantischen Gegner zu vernichten.

«Dieser Offizier», sagte der hinkende Zyniker, «ist auch noch ein Träumer; weil er in der Kavallerie dient, hält er sich für einen der antiken Ritter, die die Jungfrauen aus den Klöstern raubten. Ich dagegen …»

Und er fing an, aus seinem Speichel absondernden Mund die unappetitlichsten Theorien über die animalische Liebe und über die Tugend der unentzündlichen Herzen wie das seine auszuscheiden. Er wußte nicht, daß die Fabel von jenem Jüngling, der vom Felsen stürzt beim Versuch, eine Blume zu pflücken, die er dem Mädchen schenken könnte – eine Fabel, die die als Zyniker verkleideten Friseurgehilfen zum Lachen bringt –, immer noch eine von den wenigen schönen Sachen ist, die in diesem verbrecherischen Irrenhaus, das sich um die Sonne dreht, existieren.

Anstatt sich mit dem Nimbus des Abwesenden zu schmücken, fand er immer Mittel, sich dem Mädchen in den Weg zu drängen, besonders wenn er wußte, daß sie sich mit dem Leutnant getroffen hatte.

Eines Tages, als sie mit Blumen und mit Sonne beladen im Wagen heimkehrten, stießen sie nahe bei ihrem Haus auf Gastone, der das düstere Gesicht eines Menschen zur Schau trug, dessen Gnadengesuch zurückgewiesen wurde.

«Aber wieso», fragte der Offizier Luisella, indem er die Zügel anzog, «wieso bringt uns der Zufall immer diesen Gastone zwischen die Räder?»

«Weil er mir jeden Tag einen Liebesbrief bringt.»

«Und was sagt er?»

«Daß er sich umbringen wird.»

«Und was antworten Sie ihm?»

«Daß wir uns bei seinem Begräbnis treffen werden.»

«Und was schreibt er außerdem?»

«Daß er ein Dichter ist, und daß er mich liebt, wie nur Dichter lieben können; daß er ein Dichter mit vielen Seelen und von vielen Formen ist, und daß seine Leier zahllose Saiten hat.»

«Und was antworten Sie ihm darauf?»

«Daß er eine davon losreißen und sich um den Hals legen soll.»

Unterhalb des Hauses, das der Lahme bewohnte, befand sich ein großer ländlicher Hof, der durch einen Tennisplatz veredelt worden war. Und jeden Tag hörte der Hinkende durch sein Fenster, wie den Ruf eines Singvogels, Luisellas fröhliche Stimme und die seines Rivalen aufsteigen:

«Ready!»

«Play!»

«Wenn Sie noch einmal zum Spielen unter meinem Fenster kommen, stürze ich mich herunter», hatte der Zyniker geschrieben.

Und da das Mädchen ihm nicht einmal antwortete, hatte er sich nicht umgebracht und hatte ihr geschrieben, für eine Frau wie sie lohne die Mühe nicht, sich das Leben zu nehmen.

Trotzdem ließ sich zuweilen das Fräulein ein Stück von Gastone begleiten.

«Aber, Fräulein Luisella, wie können Sie nur diesen Dummkopf ertragen», hatte der Leutnant sie gefragt.

«Ganz einfach: wenn er von Liebe spricht, mir seine Qualen schildert oder seine Verse deklamiert, kann ich ungestört an meine Angelegenheiten denken und kann innerlich, nach dem Rhythmus seines verkürzten Beins, alle meine Lieder singen, wie man es im Eisenbahnzug nach dem Geräusch des Wagens tut, um sich die Zeit zu vertreiben.»

***

Das junge Mädchen mit der Haarmähne, die wie Sommerwolken bei Sonnenuntergang glühte, gab weder dem einen, noch dem andern nach, aus eingeborener, instinktiver Scheu vor der Liebe.

Manchmal hatte der Offizier versucht, ihre unschuldigen Hände zu küssen, aber sie hatte sie erschreckt zurückgezogen.

Er hatte versucht, ihr bald mit sanfter Milde, bald mit Heftigkeit zuzusprechen, mit weiten Umwegen bald, und bald die Situation kühn ausnutzend; er hatte alle Methoden versucht, die gebräuchlich sind, um diesen kleinen Schrein zu öffnen, der zwar aus recht gebrechlichem Material besteht, aber mit einem Geheimschloß versehen ist; wie jene Sorrentiner Schächtelchen aus Olivenholz, die aus verschiedenen ganz gleichen Stücken zusammengesetzt sind. Man weiß, daß auf Druck eines von ihnen sich verschiebt und das Schloß freilegt. Aber man muß sie alle, eines nach dem andern, durchprobieren, indem man mit einiger Geduld die Schachtel zwischen den Händen dreht.

«Was muß man nur tun, um Sie zum Nachgeben zu bringen?» fragte sie eines Tages der Offizier, zitternd wie das Laubwerk einer Pappel.

«Ich weiß es selber nicht», erwiderte Luisella.

Sie war aufrichtig. Sie wußte es selbst nicht.

***

Aber Gastone wußte es.

«Ich werde sie erobern», versprach er eines Abends den Freunden. «Ich habe diese Frau verstanden. Sie ist in ihren Stolz verschlossen, wie die Flamme im Wachszündholz verschlossen ist. Um sie anzuzünden bedarf es eines starken Anstoßes. Und sie wird brennen, weil ich verstehen werde, sie zu entzünden.»

Nach etlichen Tagen, in denen er die Bibliothek rastlos durchstöbert hatte, war es ihm gelungen vier Sonette zusammenzustehlen, im Gefüge eher albern, aber voll von sinnenkitzelnden Worten, die er unter dem sensationellen Titel Die Sonette der Liebesgier zusammengefaßt hatte.

Und er hatte sie ihr selber mit seinen sterblichen Händen hingebracht.

Sie wurden dem Mädchen übergeben, gerade, als sie ihr Haus verließ. Außerhalb des Gitters gab die Glocke der charette mit klingender Lebhaftigkeit der Ungeduld des Pferdes Ausdruck, zwischen dessen Füßen der kleine Fox bellte. Sie blieb einige Minuten im Hausgang stehen, um die Sonette der Liebesgier zu lesen. Es wäre nutzlos, es zu leugnen: der Reim, der Rhythmus, die poetische Freiheit, die Worte, die am Anfang der Zeile einen großen Buchstaben bekommen, das alles verfehlt nie seinen Eindruck auf eine Frau, zumal wenn man sie glauben macht, sie habe dies alles inspiriert.

Luisella las sie nicht nur, sondern sie las sie zum zweiten Male. Und da das Pferd sich zum Interpreten der Ungeduld seines Herrn machte, steckte sie eilig die poetische Botschaft in eine Tasche ihres Kostüms.

Diese in Reihen gesetzten rhythmisierten Phrasen hatten einen Ausdruck von Leidenschaft, der in ihre Adern ein Gefühl von schwärmender Schwäche ergoß.

Sie sprang auf die charette, die elastisch nachgab, und das Pferd setzte sich in Bewegung.

Einige Sätze waren ihr im Gedächtnis geblieben, oder vielmehr in den Nerven. Sie wiederholte sie für sich, während der Offizier über das Pferd hinweg geradeaus auf die weiße geradlinige Straße blickte.

Als sie weit von der Stadt an einem beschatteten Punkt angelangt waren, fragte er sie:

«Was haben Sie, Luisella? Sind Sie traurig?»

«Durchaus nicht.»

«An was denken Sie?»

«An nichts.»

«Aber Sie sind ein bißchen melancholisch, oder wenigstens nachdenklich. Was geht in diesem Köpfchen vor?»

Und sie mit dem Arm um die Taille fassend, küßte er das Mädchen auf den Mund, wie man ein Kind küßt, das beim Einschlafen ganz furchtbar unglücklich ist.

Das Pferd blieb stehen.

Und sie erwiderte seinen Kuß. Aber wie ein Kind, das beim Erwachen durchaus nicht unglücklich ist.

Wie ein Kind, das als Weib erwacht.

Das Chlorhydrat der Glückseligkeit

Sie war schön, aber von heiterer Schönheit. Um vollkommen zu sein, fehlte ihrem Gesicht der Leidenszug.

Sie war jung und hatte schon ein Kind, aber da sie so jung war, wunderte es sie immer wieder, daß es ihr Kind war. Und obschon diese Dame geschmeidig, biegsam, frisch, lebhaft, ausgelassen wie ein Backfischchen schien, hatte sie Nerven wie Drahtseile. In der Ehe hatte sie nicht das gefunden, was sie sich erhoffte. Ein Übelstand, dem alle Frauen unterworfen sind, weil sie, nachdem sie sich verheiratet haben, anfangen, die Dinge herzuzählen, die sie vor der Ehe erhofften, und seltsamerweise sind diese Dinge immer genau das Gegenteil von dem, was sie gefunden haben.

Ihr Vater, einer jener Männer, die sich mit einer Narbe auf der Wange, einer Tätowierung auf einer Hand brüsten, fünf Sprachen sprechen, Eisenbahnen in Neuseeland bauen und die Neger in der Kapkolonie organisierten, hatte sie schon als ganz junges Mädchen durch die Welt reisen lassen in Begleitung einer Zofe, die in Italien Giovanna hieß, Jeanette in Algerien, Juanita in Uruguay und Dumme Gans in allen Ländern, wo sie nicht unverzüglich den Befehlen ihrer launenhaften und kapriziösen jungen Herrin gehorchte.

Als sie neunzehn Jahre zählte, zog sich der nunmehr betagte Vater mit ihr und dem vielen Geld aufs Land zurück; und eines Tages, als er die Rosen mit behandschuhten Händen versorgte, um sich vor den Dornen zu schützen wie Laertes, Vater des Ulysses, sprach er also zur Tochter:

«Einem Mädchen deines Alters stehen zwei Wege offen: die Heirat oder das Leben der Kokotte.»

Eine Rede, die eines alten Vaters unwürdig ist, wird mancher einwenden. Aber man darf nicht vergessen, daß dieser alte Erzeuger eine Narbe auf einer Wange und eine Tätowierung auf einer Hand zur Schau trug, Organisator von Negern gewesen war und sich in der Kapkolonie im Verlauf von zwei Jahren zweieinhalb Dutzend Frauen gekauft und wieder verkauft hatte.

«Zwei Wege: die Heirat und die Kokotte. Diesen letzten Weg rate ich dir nicht, weil er schon von zu vielen begangen wird. So bleibt dir nur die Heirat. Ich habe in diesen Tagen einen seriösen Mann kennengelernt, nicht mehr …»

«… ganz jung …»

«… der glücklich wäre …»

«… mich glücklich zu machen.»

Und so wurde zwischen dem alten Vater, der sich mit dem Rosengarten beschäftigte, und der Tochter, die über schlanken Beinen die kleinen Brüste, hart wie Mandarinen, wiegte und zerstreut die seidigen Ränder der ziehenden Wolken betrachtete, vereinbart, daß Fräulein Nike die Gattin des älteren Professors, eines berühmten Entomologen, würde.

Nike wußte nicht, was ein Entomologe war, und sie wußte so viele andere, wichtigere Dinge nicht, weil sie in der Schule kaum die nötige Zeit abgewartet hatte, um sich hinauswerfen zu lassen.

«Sie lernen nicht rechnen, Sie wissen kein einziges Geschichtsdatum», hatte die Vorsteherin mit dem martialischen Äußeren ihr vorgeworfen. «Sie kommen nicht zur Schule und entschuldigen nicht Ihr Fehlen …»

«Aber ich habe einen sehr schönen Mund», hatte gänzlich ungerührt die undisziplinierte Schülerin geantwortet.

Und infolge dieser Antwort war sie mit solcher Vehemenz aus der Schule geflogen, daß sie zwei oder drei Reisen um die Welt machte, in Begleitung einer Zofe, deren Name veränderlich war wie eine Wetterfahne.

Sehr begreiflich, daß sie nach so vielem Umherschweifen Sehnsucht nach dem häuslichen Herd empfand und die Bedeutung gewisser Wörter, die nur in den Büchern stehen, wie Entomologe, nicht kannte. Und sie hatte nie andere Bücher angerührt als Fahrpläne und Scheckhefte. Ihre Unwissenheit hatte jedoch die Anmut der Zurückhaltung; denn sie hütete sich vor der Gefahr, Dummheiten zu sagen. Wie es eine verschämte Armut gibt, so existiert auch eine verschämte Unwissenheit, und wie man sich das Gesicht pudert und schminkt, so verstehen gewisse Frauen auch, sich eine oberflächliche Gelehrsamkeit anzuschminken.

Und eben wegen dieser verschämten, durch eine allgemeine Kultur überschminkten Unwissenheit, gefiel Fräulein Nike dem Professor, der sehr stolz war, ihr zu erklären, daß Entomologe bedeutete: ein Insektenkundiger.

Im Anfang amüsierte sie der gelehrte Ehemann. Er war schwarz und quadratisch wie ein Klavier, aber er konnte sie mit gefühlvollen Augen betrachten; und obwohl mit einem schrecklichen und enormen Schnurrbart bewaffnet, war er außerstande, einem Boxer wehzutun. Mit seinen Elefantenzähnen aus Gold und grünlichem Elfenbein lachte er bei den geschwätzigen kleinen Albernheiten der Frau, und um sie zu unterhalten, schilderte er ihr das Liebesleben der Tiere. «Es gibt ein ganz kleines Lebewesen», erklärte er ihr, «ein Eintagsinsekt, das abends zur Welt kommt und das sich fast sogleich paart; das Weibchen kommt während der Nacht nieder und alle beide sind am Morgen tot, ohne die Sonne gesehen zu haben. Nicht einmal einen Mund, um zu essen, haben sie. Sie werden geboren, einzig, um zu lieben. Wir kennen Schmetterlinge, die sich im Fluge paaren und kilometerlang in der süßesten Verschlingung bleiben; bei vielen Vögeln hingegen beschränkt sich der Liebesakt auf einen flüchtigen Moment der Berührung, während er bei gewissen Mollusken ganze Tage hindurch währt.»

In der ersten Woche ihrer Ehe beklagte sich Nike, daß ihr Gatte gar zu wenig molluskenhaft wäre und einige Monate später protestierte sie gelangweilt, weil er es zu sehr war. Die arme Frau Nike hatte in der Ehe nicht gefunden, was sie suchte.

«Wenn du nichts gesucht hättest, mein Kind, so hättest du auch keinen Mann gesucht!» sagte eines Tages ihr alter Vater zu ihr, als er sie in der Stadt besuchte.

Der Professor, der sie in der ersten Zeit amüsiert hatte, stimmte sie jetzt traurig durch melancholische Reden:

«Die Säuglinge von heute», äußerte er, «werden morgen unsere Totengräber sein!»

Arme Nike, von traurigen Dingen zu ihr sprechen, zu ihr, die ein solches Kind war, daß, wenn sie in eine Straßenbahn stieg, man erwartete, daß sie sich auf den Sitz knien würde, um zum Fenster hinauszusehen.

Dieser armen Nike, die von einem Landhaus an der Themse oder einer Villa unter Magnolien am Bosporus träumte, ein altes Haus in Mailand anbieten, eines jener alten, mit Gold, Kristallen, Samten, Brokaten, Bildern, Alabastern, Kronleuchtern, Betschemeln überladenen Häuser, die ein Mittelding sind zwischen Kirche und Basar.