Ein Mensch jagt nach Liebe - Pitigrilli - E-Book

Ein Mensch jagt nach Liebe E-Book

Pitigrilli

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Beschreibung

In den zwanziger Jahren von Moralisten ebenso wütend geschmäht wie von weltoffeneren Geistern enthusiastisch gefeiert, beweist Pitigrilli eine seltene literarische Qualität: ohne einschlägiges Vokabular und abgenutzte Bilder zu strapazieren, verströmen seine Bücher von der ersten bis zur letzten Seite kluge Sinnlichkeit und subtile Erotik. Auf meisterliche Weise, ebenso geistvoll wie herzerfrischend trivial, gleichermaßen menschlich einfühlsam wie beißend ironisch, zieht uns ein geborener Erzähler in den Bann seiner schillernden Figuren. In der Geschichte des Richters Pott, der, von seinem Berufsstand angewidert und von einer faszinierenden Frau verlockt, sein Glück als Zirkusclown sucht, verbindet Pitigrilli mit unvergleichlicher Leichtigkeit Tragik und Ironie zu einem Lese-Erlebnis, das immer wieder verblüffende Parallelen zum heutigen Zeitgeist aufblitzen läßt.

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Seitenzahl: 286

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Pitigrilli

Ein Mensch jagt nach Liebe

Aus dem Italienischen von Manfred Georg

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Pitigrilli lesen!

In den zwanziger Jahren von Moralisten ebenso wütend geschmäht wie von weltoffeneren Geistern enthusiastisch gefeiert, beweist dieser Autor eine seltene literarische Qualität: ohne einschlägiges Vokabular und abgenutzte Bilder zu strapazieren, verströmen seine Bücher von der ersten bis zur letzten Seite kluge Sinnlichkeit und subtile Erotik.

Auf meisterliche Weise, ebenso geistvoll wie herzerfrischend trivial, gleichermaßen menschlich einfühlsam wie beißend ironisch, zieht uns ein geborener Erzähler in den Bann seiner schillernden Figuren.

In der Geschichte des Richters Pott, der, von seinem Berufsstand angewidert und von einer faszinierenden Frau verlockt, sein Glück als Zirkusclown sucht, verbindet Pitigrilli mit unvergleichlicher Leichtigkeit Tragik und Ironie zu einem Lese-Erlebnis, das immer wieder verblüffende Parallelen zum heutigen Zeitgeist aufblitzen läßt.

Über Pitigrilli

PITIGRILLI, eigentlich Dino Segre, wurde 1893 in Turin geboren, wo er auch 1975 starb. Der promovierte Rechtswissenschaftler arbeitete als Redakteur für verschiedene Zeitungen. Bevor er 1940 Lina Furlan heiratete, Italiens erste Rechtsanwältin an einem Schwurgericht, galt Pitigrilli als Salonlöwe. Die zwanziger Jahre verbrachte er als Zeitungskorrespondent in Paris, wo auch seine ersten, heftig diskutierten Bücher entstanden. Als 1939 auch in Italien die Rassengesetze in Kraft traten, musste er auswandern, zunächst in die Schweiz, dann nach Argentinien.

Inhaltsübersicht

Es gibt ein ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel

Es gibt ein Mißverständnis der Heiterkeit, welches nicht zu heben ist: aber wer es teilt, darf zuletzt gerade damit zufrieden sein. – Wir, die wir zum Glücke flüchten –: wir, die wir jede Art Süden und unbändige Sonnenfülle brauchen und uns dorthin an die Straße setzen, wo das Leben sich wie ein trunkener Fratzen-Festzug – als etwas, das von Sinnen bringt – vorüberwälzt; wir, die wir gerade das vom Glücke verlangen, daß es «von Sinnen» bringt: scheint es nicht, daß wir ein Wissen haben, welches wir fürchten? Es ist etwas an uns, das leicht zerbricht: wir fürchten die zerbrechenden kindischen Hände? Wir gehen dem Zufall aus dem Wege und retten uns ins Leben? in seinen Schein, in seine Falschheit, seine Oberfläche und bunte Betrügerei; es scheint, wir sind heiter, weil wir ungeheuer traurig sind? Wir sind ernst, wir kennen den Abgrund – und deshalb wehren wir uns gegen alles Ernste? Wir lächeln bei uns über die Melancholiker des Geschmacks, bei denen wir auf Mangel an Tiefe raten; – ach, wir beneiden sie noch, indem wir sie verspotten, – denn wir sind nicht glücklich genug, um uns ihre zarte Traurigkeit gestatten zu können. Wir müssen noch den Schatten der Traurigkeit fliehen: unsre Hölle und Finsternis ist uns immer zu nahe. Wir haben ein Wissen, welches wir fürchten, mit dem wir nicht allein sein wollen: wir haben einen Glauben, vor dessen Druck wir zittern, bei dessen Flüstern wir bleich werden, – die Ungläubigen scheinen uns selig. Wir kehren uns ab von den traurigen Schauspielen, wir verstopfen das Ohr gegen das Leidende; das Mitleid würde uns sofort zerbrechen, wenn wir nicht uns zu verhärten wüßten. Bleib uns tapfer zur Seite, spöttischer Leichtsinn! Kühle uns, Wind, der über Gletscher gelaufen ist! Wir wollen nichts mehr ans Herz nehmen, wir wollen zur Maske beten, als unsrer letzten Gottheit und Erlöserin.

NIETZSCHE

1. Kapitel

Der Gerichtsdiener verkündete:

«Der Hohe Gerichtshof!»

Präsident Pott wartete, bis die beiden Richter sich zu seiner Seite niedergelassen hatten. Dann wandte er sich zu der Frau:

«Stehen Sie auf!»

Die Frau erhob sich.

Obwohl die blasse Gesichtsfarbe des Präsidenten Pott von dem grünen Schein der Lampe verwischt wurde, merkte man, daß die etwa zweistündige Auseinandersetzung im Beratungszimmer von außergewöhnlicher Heftigkeit gewesen sein mußte. Zudem war bekannt, daß zwischen dem Präsidenten Pott und den beiden Richtern keine besondere Freundschaft bestand. Die Geheimnisse des Beratungszimmers waren öfters nach außen gedrungen und hatten bereits zu allerhand Klatsch Anlaß gegeben. Seine intelligente Redlichkeit war eben mit dem unwissenden Bürokratismus und der hartköpfigen Verständnislosigkeit seiner beiden Mitarbeiter schon oft zusammengestoßen.

Der Präsident verlas:

«Im Namen des französischen Volkes etc. etc., nach § etc. etc.

In Anbetracht dessen, daß etc. etc.

Und vor allen Dingen, weil der eine Richter, der links von mir sitzt, ein Idiot ist und weil der Richter, der rechts von mir sitzt, gleichfalls ein Idiot ist, sind Sie, Maria Lanson, Tochter des Peter Lanson, 25 Jahre alt, geboren in Coulommiers etc. etc., zu drei Jahren Gefängnis, 2000 Francs Geldstrafe und zum Ersatz des Schadens der verletzten Partei verurteilt worden. Sie haben drei Tage Zeit, um Berufung einzulegen, und ich rate Ihnen dazu, da glücklicherweise nicht alle Richter so sind wie diese beiden hier.»

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft, ein junger Beamter, der Freispruch wegen Mangel an Beweisen beantragt hatte, war nur mit Mühe imstande, den Tumult zu bändigen, der sich im Saal erhob. Er befahl den Polizisten, das Publikum hinauszudrängen und die Verurteilte abzutransportieren. Die Rechtsanwälte ersuchte er um Ruhe.

Präsident Pott verließ, nachdem er die letzten Worte gesprochen hatte, seinen Sitz und zog den Talar aus. Die beiden Richter, die erst wie festgenagelt auf ihren Plätzen geblieben waren, erhoben sich langsam und gingen hinter ihm hinaus.

Der junge Vertreter der Staatsanwaltschaft verschwand als letzter.

Das Parkett des Saales hallte unter seinen Schritten wie der steinerne Boden einer Kirche.

Durch ein großes Fenster fiel ein Sonnenstrahl auf den leeren Sitz des Präsidenten Pott so wie auf einem religiösen Gemälde der Lichtstrahl, der aus den Wolken bricht und die Stirn der Heiligen verklärt.

***

Bevor Präsident Pott nach Hause ging, begab er sich in das Amtszimmer des Generalstaatsanwalts der Republik, um dort seine Demission einzureichen. Nachher, auf dem Boulevard du Palais, zog er aus seiner Tasche ein Heftchen Zigarettenpapier, riß ein Blatt heraus, um sich eine Zigarette aus hellgelbem Tabak mit dem Mittelfinger zu rollen; dann dachte er an seinen Freund, der ihn wie immer erwartete. Er kehrte wieder in der Richtung der Frühstücksstube des Justizpalastes um.

Das Restaurant lag am Ende eines kleinen, düsteren Hofes. Rechtsanwälte und Beamte trafen sich hier während der Verhandlungspausen. In den Tagen der französischen «Schreckenszeit» war dieser Saal der Warteraum der Unseligen, die durch das Revolutionstribunal verurteilt werden sollten, gewesen. Heute diskutiert dort eine lebhafte Menge über die Gerichtsverhandlungen und erzählt kleine Geschichten, die vom unnachahmlichen Pariser Esprit voll sind. Die weiblichen Rechtsanwälte im Talar lassen sich, gewissermaßen als Äquivalent für ihren männlichen Beruf, von jungen Rechtspraktikanten den Hof machen, reden aber gleichfalls unausgesetzt über Rechtsfragen und Angelegenheiten der Prozeßordnung. Ihr Spiegelchen haben sie gewöhnlich gegen ein Aktenbündel gelehnt, die Lippen zeichnen sie mit Karmin nach und frischen mit der Puderquaste ein Gesicht auf, das durch die Spannung des Plädoyers oder die Lebhaftigkeit der Kontroversen ein wenig in Unordnung geraten ist. Der berühmte Advokat Henri Robert nimmt hier seinen Tee, ehe er in den Gerichtssaal hinaufsteigt, um die Freisprechung irgendeines großen Verbrechers zu beantragen und durchzusetzen. Und der nicht weniger berühmte Moro-Giafferi schlürft ein Glas Portwein, um bald danach die Geschworenen temperamentvoller davon überzeugen zu können, daß der wahre und einzige Schuldige der Ermordete und nicht der Mörder war. Dampf von Punsch vermischt sich mit dem Parfum der weiblichen Talare und dem Rauch von Zigaretten. Der Name eines Pferdes, das auf Platz oder Sieg gelandet ist, oder das diskrete Klappern von Galalith-Würfeln, die über Holztischchen rollen, verbindet sich mit dem Schrillen des Telefonapparats, dem sausenden Entweichen des Dampfes aus der Kaffee-Expreß-Maschine und dem hellen Klang eines Frauenlachens zu einer seltsamen Musik.

Durch die Glastür bricht das dämmerblaue Licht des kleinen Hofes, jenes Hofes mit den ominösen neun Stufen, über die fast alle von der Revolution zum Tode Verurteilten gegangen sind: Marie-Antoinette, die Augen gen Himmel erhoben, aber die Tränen meisternd; Madame Roland, deren hohe Gestalt dann im Kerker zusammensank; Charlotte Corday und die Äbtissin von Montmorency. Auch das Lächeln der Cécile Renault schwebte hier vorüber und das Schluchzen der Dubarry, die noch mittelbar nach Leben dürstete; die Girondisten, Danton, Camille Desmoulins, Hébert, der unvergleichliche Malesherbes und der unbestechliche Robespierre hatten diese Stufen betreten.

Wo heute die Likörflaschen und die Fruchtsaft-Gefäße beieinanderstehen, sammelten rohe Henkersknechte die Kleider der Verurteilten; hier erwarteten die Opfer, die Hände auf dem Rücken gebunden, den unabwendbaren Schnitt der brutalen Haarschere, und die blonden, weißen und schwarzen Schöpfe häuften sich in einem Korb, der gerade dort stand, wo heute eine Blumenvase ein wenig helles Rot in das Halbdunkel bringt.

Man braucht kaum die Phantasie eines Filmregisseurs der Metro-Goldwyn, um hier den Schlächter Samson wiederzusehen, vor seinem Karren an das feste Eisengitter gelehnt, endlose Listen durchlesend, ganz mit der aufmerksamen Gelassenheit eines Spediteurs, die inmitten der herzzerreißenden Abschiedsworte der Opfer und der hysterischen Ausbrüche einer brüllenden Menge noch unmenschlicher wird. Der Wächter der Conciergerie, Richard mit Namen, sitzt auf einer Bank und befiehlt den Kerkermeistern, sie mögen die Neuangekommenen ins Gesicht leuchten, um sie zu identifizieren. Dann schreibt er ihren Namen in ein Heft, so ruhig wie heute ein Mann, der ihm vielleicht ähnlich sieht, an seinem Platz die Kontrollmarken der Kellner in Empfang nimmt, die Cognac-Flaschen bewacht und die Likörgläser zählt, die zurückkommen.

Hier wurde Präsident Pott fast jeden Tag von seinem Freund erwartet. Auch heute saß dieser Freund da, mit einem seltsam durchlöcherten Buch beschäftigt, dessen Text ein erloschener Blick überflog, während er langsam seine blassen, wie Bambusrohr knotigen Finger über die Seiten gleiten ließ.

Der Präsident setzte sich ihm gegenüber, ergriff seine Hand und drückte sie voller Herzlichkeit.

«Schon hier?» fragte der Blinde mit einem Lächeln, das dem Präsidenten galt, aber leider die Richtung verfehlte. «Bist du schon fertig?»

«Ja, ich bin fertig. Was liest du da?»

«Vergil.»

«Hat er dieses Jahr den Prix Goncourt bekommen?»

«Ich lese nur alte Bücher. Jedes moderne Buch ist nichts als ein Ragout aus Daten, Ideen, Tatsachen und Namen, die man aus anderen Büchern genommen und ein bißchen anders arrangiert hat. Kaum ist es gedruckt, wandert es in die Regale, bis ein neuer Autor es herauszieht, um eine Tatsache, ein Datum, einen Namen oder gar irgendeine Idee daraus zu nehmen, die er dann wieder mit anderen, aus anderen Büchern stammenden Dingen kombiniert. So entsteht jedes neue Buch. Es kommt auf dasselbe heraus, ein altes Buch zu lesen.»

Der Kellner reichte Paul Pott die Speisekarte.

«Wünschen der Herr Präsident ein Seezungenfilet?»

«Ja, bitte.»

«Und Herr Loewy?»

«Das andere Filet von derselben Seezunge», antwortete der Blinde.

Dann wandte er sich an Paul Pott:

«Du bist noch niemals so früh fertig gewesen?»

«Noch nie so spät», antwortete Pott gelassen. «Ich hätte früher Schluß machen sollen.»

Loewy hob den tiefschwarzen Bart, wobei er die Augenbrauen über den lichtlosen Augen zusammenzog.

 

Die Neuigkeit hatte sich inzwischen schon in dem Frühstückszimmer verbreitet; die Kommentare brachten neue Einzelheiten ans Tageslicht: ein Assessor, der Zeuge der Szene gewesen war, schilderte sie gerade drei weiblichen Rechtsanwälten; er unterbrach sich aber plötzlich, um weniger ausführlich und weniger laut den Faden wieder aufzunehmen, da er bemerkte, daß der Held seiner Erzählung zuhörte.

Ein alter Rechtsanwalt, den fast alle grüßten, steuerte resolut auf den Präsidenten zu und drückte ihm die Hand. Fast alle folgten seinem Beispiel. Der junge Assessor wagte, an Pott eine Frage zu richten. Der alte Rechtsanwalt unterbrach ihn:

«Ich finde es geschmacklos, sich hier mit den Geheimnissen des Beratungszimmers zu befassen. Es handelt sich da um eine Erscheinung, die in langen Zwischenräumen immer wiederkehrt: um den Zusammenstoß des ehrlichen Gewissens mit dem unehrlichen.»

Paul Pott, ebenso gleichgültig gegen alle Sympathiebezeigungen wie gegen das große Interesse, das seine sonderbare Handlungsweise hervorgerufen hatte, beobachtete den Kellner beim Zerlegen der Seezunge.

Dann wandte er sich an den Blinden:

«Paß auf. Die Gräten sind die Waffen, die die Vorsehung den Fischen verliehen hat, damit sie postum ihre Rache durchführen können.»

Alle fanden es plötzlich an der Zeit, sich zu empfehlen. Dagegen erschien einer der beiden betroffenen Richter; und zwar der ältere, der rechts gesessen hatte, apoplektisch dampfend aus allen Poren, gerade als ob er eine Flasche Worcestershire-Sauce auf einen Zug getrunken hätte.

«Herr Präsident», keuchte er.

«Seit zehn Minuten bin ich nicht mehr Präsident.»

«Dr. Pott», fuhr der andere mühsam fort, indem er sich ihm gegenüber aufpflanzte und mit gespreizten Beinen mühsam sein Gleichgewicht herzustellen suchte. «Dr. Pott, würden Sie wiederholen, daß der Idiot, der rechts von Ihnen gesessen hat – daß Sie mit diesem Wort mich gemeint haben?»

Pott verharrte in eisiger Ruhe:

«Wenn Sie die Absicht haben, Krach zu machen, würde ich Sie bitten, sich nicht in der Zeit zu irren. Es ist vier Uhr nachmittags und nicht etwa vier Uhr morgens. Das, was Sie allnächtlich in der Abbaye des Thélème und im Château Caucasien interessant macht, wird hier nicht so sehr geschätzt.»

In höchster Erregung brüllte der Richter:

«Ich weiß nicht, was mich zurückhält, Sie zu ohrfeigen!»

«Die Furcht», lächelte ruhig der Präsident.

Der andere machte eine Bewegung, als ob er sich auf ihn stürzen wollte; aber ein paar Rechtsanwälte rissen ihn zurück und führten ihn hinaus.

«Und jetzt?»

«Jetzt? Jetzt möchte ich ein paar Mandarinen, Herr Ober!»

«Sie werden große Unannehmlichkeiten haben», sagte der alte Advokat von vorhin, indem er sich an den Tisch setzte.

«Unannehmlichkeiten?» lächelte Pott. «Wenn ich denke, daß das Sternbild Aldebaran 54 Lichtjahre von uns entfernt ist! Was interessiert mich da mein künftiges Schicksal?»

Der alte Advokat nahm ein Glas Wasser.

«Sie sind nicht zum Richter geboren.»

Und Paul Pott:

«Nachdem ich das Examen bestanden hatte, wäre ich ganz gerne Rechtsanwalt geworden. Aber mir fehlten die 3000 Francs, die eine Schreibmaschine kostete. So bin ich Richter geworden.»

Der Blinde schwieg. Die Tragödie seines Freundes war eine Variante seines eigenen Schicksals. Er sah sich selbst als staatlichen Ankläger vor einem Militärgerichtshof: ein General hatte ihm nahegelegt, die Todesstrafe zu fordern. Und die drei Richter nahmen nicht wahr, daß in der Stimme des Soldaten, der seine eigene Unschuld beteuerte, die Wahrheit aufschrie.

«Was wirst du jetzt tun? Rechtsanwalt werden?» fragte Loewy.

«Auf dem Terrain der tarifmäßig bestimmten Blutrache wird man mich jedenfalls nicht wiedersehen.»

«Mit Ihnen geht uns ein großer Richter verloren», sagte der Alte und erhob sich. «Ihre Tat wird Ihnen trotz allem nur neue Sympathien einbringen. Ich spreche zu Ihnen nicht als Präsident des Conseil d’Ordre, sondern schlechthin als Mensch. Dieses ungewöhnliche Quantum Ehre und Reinheit darf uns nicht verlorengehen. Bleiben Sie bei uns. Sie werden auch ein großer Rechtsanwalt sein.»

«Meine früheren Kollegen würden mich keine einzige Sache gewinnen lassen.»

Der Alte entfernte sich mit einem besonders herzlichen Gruß. Der Blinde schüttelte langsam den Kopf:

«Wenn ein Mann von Geist den heuchlerischen Pakt, den er mit der Gesellschaft geschlossen hat, einmal bricht, so nimmt ihm die Gesellschaft jede Möglichkeit einer geistigen Arbeit und Wirkung.»

***

Draußen führte der Blinde instinktiv den Freund in die Sonne. Sie schien durch die großen Bäume, die am Ufer der Seine stehen.

Die beiden gingen längs der grauen Mauer der Conciergerie, die solche Kälte wie alle staatlichen Verwaltungsgebäude ausstrahlte. Als sie zum Blumenmarkt kamen, erkannte der Blinde, an den Kästen und Töpfen vorüberschreitend, jede einzelne Blume am Duft und sprach wollüstig die Namen aus: Maiglöckchen, Zyklamen, wieder Maiglöckchen … Auf dem Quai de Corse breiteten die Kleinhändler auf den Bänken kleine Päckchen mit Sämereien aus; jedes war mit einer schönen Blume in Öldruck verziert. Paul Pott zitierte einen Satz, den er in einem Roman der Claire Goll einmal gelesen hatte: «Diese Sämereien, in Päckchen gefangen, scheinen die Stunde ihrer Ekstase zu erwarten.»

«Sage mir doch endlich, wie die ganze Sache gekommen ist?» fragte nun der Blinde.

«Ganz einfach. Es handelte sich um eine Frau, eine Bäuerin, die des Diebstahls und der unrechtmäßigen Bereicherung angeklagt war. Sie hatte 100000 Francs und lebte auf dem Land. Ein hübscher Junge veranlaßte sie, nach Paris überzusiedeln, eine Wohnung einzurichten und ihn ein paar Monate auszuhalten. Kaum war das Geld zu Ende, ging er mit einer Saxophonspielerin vom Empire auf und davon. Die Bäuerin verkauft, um leben zu können, die Möbel, die ihr Liebhaber mit ihrem Geld gekauft hatte. Eines schönen Tages fällt es diesem Herrn nun ein, wieder zu ihr zurückzukommen. Sie weist ihn natürlich hinaus. Er bleibt. Sie nimmt ihm eine Uhr weg, die sie ihm selbst einmal geschenkt hat. Er geht und trifft einen kleinen Advokaten, der ihn zu einer Klage überredet. Großer Prozeß. Der Bursche hat niemals gearbeitet; niemals auch nur 50 Francs besessen; die Frau hatte 100000 und war arbeitsam gewesen. Der Bursche besitzt noch die Quittung über den Kauf des Mobiliars und der Uhr und beweist damit, daß die Möbel und die Uhr tatsächlich von ihm bezahlt sind. Der öffentliche Ankläger, ein junger intelligenter Vertreter, erhebt nur schüchtern die Anklage, bedenkt den Nebenkläger mit harten Worten und beantragt Freispruch wegen Mangel an Beweisen. Wir unterhalten uns halblaut darüber. Ich sehe, daß die beiden Richter den Prozeß überhaupt nicht aufmerksam verfolgt haben. Wir ziehen uns in das Beratungszimmer zurück. Der jüngere Richter ist nun für Verurteilung, der andere auch. Ich suche sie zu überzeugen. Sie sind hartnäckig, weil eben die Quittungen des Möbelhändlers und des Uhrmachers auf einen anderen Namen als den der Angeklagten lauten. Wir streiten zwei Stunden lang. Ich wurde überstimmt. Drei Jahre Gefängnis.»

Sie kamen an den Pont-Neuf und überschritten die Seine. Im grauen Palast des Louvres beleuchtete die untergehende Sonne alle Fenster. Paul Pott fuhr fort:

«Im vergangenen Monat verlangten sie bereits die Verurteilung eines Menschen, der eine Schachtel Zigarren geschmuggelt hatte. Die Sache war, ich weiß nicht mehr aus welchem Grunde, von Le Havre nach Paris verlegt worden. Sie verlangten, neben der Strafe natürlich, auch noch die Einziehung und Unbrauchbarmachung des Mittels, mit dem der Schmuggel begangen worden war. Weißt du, was dieses Mittel war? Ein Ozeandampfer. Ich habe wie ein Tobsüchtiger mit ihnen gestritten, um ihnen klarzumachen, daß ein unrechtmäßiger Freispruch gerechter wäre als die Beschlagnahme eines Überseers wegen einer Schachtel Zigarren. Eines Schiffes mit einem Kapitän, 20 Offizieren, 18 Maschinisten, 24 Heizern, 2 Beamten, 2 Ärzten, 25 Kellnern, 3 Köchen, 40 Matrosen etc. etc., die alle durch das Urteil auf die Straße gesetzt werden sollten.»

Sie waren am Haus des Blinden angelangt. Loewy lehnte sich an den Türpfosten.

«Und doch soll man mit Richtern nicht so unnachsichtig ins Gericht gehen. Sie sind in Frankreich so schlecht bezahlt und müssen oft über Millionenwerte entscheiden; sie sind verpflichtet, das Gewäsch irgendeines Advokaten anzuhören, der durch Skandale berühmt geworden ist und der an einem einzigen Tag manchmal mehr Geld schnappt, als sie in fünf Jahren zusammenkratzen können.»

Pott widersprach: «Die Kassierer bei der Bank verdienen noch weniger! Und durch ihre Hände gehen Milliarden.»

«Das stimmt. Aber denke an den jüngeren dieser beiden Richter: er ist wirklich arm. Er muß sich für seine Söhne abschinden, der Hauswirt verlangt die Miete, die Lieferanten geben keinen Kredit mehr, die Wechsel verfallen. Wenn solche Richter besser bezahlt würden, hätten sie mehr Ruhe und könnten ihre Prozesse besser studieren und vielleicht …»

«Vielleicht würden sie es dann machen wie der andere, der ältere dieser beiden, der sich nicht mit Söhnen befassen muß, sondern nur mit seinem Geld und seinen Weibern und natürlich nicht Zeit hat, die Akten auch nur zu lesen, da er jede Nacht auf dem Montmartre bummeln muß.»

Aus den Untergrundbahnhöfen hallten die schrillen Schreie der Zeitungsverkäufer.

«La Vie du Peuple! Skandal im Justizpalast! L’Intran: Ein Richter beschimpft Kollegen im Verhandlungssaal.»

Samuel Loewys Nachbar, der mit der offenen Zeitung in der Hand nach Hause kam, näherte sich den beiden und sagte:

«Herr Loewy, kennen Sie den Richter, der heute mitten in der Sitzung überschnappte?»

«Nein.»

Paul Pott ergriff die Hand des Blinden.

«Auf Wiedersehen, ich schreibe dir.»

***

Seine Wohnung lag nicht weit. Er hätte gerne den Weg zu Fuß zurückgelegt, da er durch die schönste Straße der Welt führte, an den großen Schneidern und Juwelieren vorbei, über die vornehme Herbheit der Place Vendöme und am Prunk der Oper vorüber. Ein Museum menschlicher Eitelkeit war hier ausgestellt, das für die «gute Gesellschaft» dasselbe bedeutete, wie für die Kunsthistoriker der Louvre. Aber die Zeitungsjungen schienen ihn mit ihren Rufen zu verfolgen. «Gott, wie viele Zeitungen –» dachte er – «kommen in Paris heraus!» Da sie ihm unausgesetzt seine eigene Tat in die Ohren brüllten, wurden sie ihm langsam unangenehm.

Er sprang also in ein Auto und drückte sich in eine Ecke. An einer Straßenkreuzung zwischen zwei Reihen Automobilen hielt der Wagen.

«Le Soir! Plötzlich ausgebrochener Wahnsinn eines Richters», schrie ihm ein Junge zu, indem er eine Zeitung durch das Fenster reichte. Auf der ersten Spalte unter einem zweispaltigen Titel prangte sein Porträt mit Talar.

Das Automobil fuhr jetzt über die äußeren Boulevards. Dann hielt es.

Er stieg aus und zahlte, ohne nach der Taxameteruhr zu sehen.

«Herr Präsident!» rief ihm ein Mädchen zu, das über die Treppen herab und ihm beinahe in die Arme lief. «Das ganze Haus ist voller Herren.»

«Voller Herren?»

Eine Frau hielt ihn auf dem Vorplatz an.

«Herr Richter, Sie haben heute sehr viel Besuch.»

Seine alte Haushälterin begrüßte ihn gleich beim Eingang.

«Es sind acht Herren da, die Sie alle erwarten, Herr Paul.»

«Und was wollen sie?»

«Sie wollen Sie sprechen.»

«Meinetwegen.»

Und er trat ein.

Das Vorzimmer war klein und enthielt so wenig Stühle, daß die Haushälterin die Herren teils im Vorzimmer, teils im Arbeitszimmer, zwei sogar im Eßzimmer untergebracht hatte. Der Zweck des großen Besuches war klar; es handelte sich um die Redakteure der größten Pariser Zeitungen, die gekommen waren, um den Präsidenten schleunigst zu interviewen.

Während einer von ihnen ihm gerade eine Visitenkarte reichte, erhellte ein Magnesiumblitz das Zimmer mit einem grellweißen Licht; ein Herr mit künstlerischem Bartschnitt ließ den fotografischen Apparat einschnappen und bedankte sich dann mit einer konventionellen Verbeugung.

Die Haushälterin, erschrocken durch das weiße Blitzlicht, kam furchtsam näher.

«Herr Paul, die beiden Herren im Speisezimmer haben es eilig. Sie haben Ihnen nur ein paar Worte zu sagen.»

«Wir haben es auch eilig», ergriff nun einer der Journalisten im Namen seiner Kollegen das Wort. «Wir haben nicht mehr als zehn Minuten zur Verfügung.»

«Aber ich kann Ihnen ja gar keine Erklärung abgeben», protestierte Paul Pott. Die Herren, schwarz gekleidet, mit je einem Kneifer am Bändchen, waren aus dem Speisezimmer gekommen, um stillschweigend gleichfalls darzutun, daß sie keine Zeit hätten.

Paul Pott entschuldigte sich für einen Augenblick bei den Journalisten und beruhigte erst einmal die beiden Herren, die ohne weiteres einverstanden waren.

Nach einer stilvollen Verbeugung resümierte der dekorativere von ihnen:

«Also in einer Stunde.»

«Gut», antwortete Paul Pott, die Tür schließend. Darauf wandte er sich wieder den Journalisten zu.

«Ich wiederhole Ihnen, daß …»

Er unterbrach sich, da eine zweite Magnesiumlampe aufblitzte.

«Ich wiederhole Ihnen nur, daß ich nichts zu sagen habe. Meine Entlassung als Präsident der Kammer des Tribunals ist eingereicht. Ich fahre fort, um das zu sein, was ich vorher gewesen bin, irgendein x-beliebiger Herr. Mein ganzes Leben enthält nicht das Geringste, das Sie vom journalistischen Gesichtspunkt aus irgendwie interessieren könnte. Ich bin vor 35 Jahren geboren. Meine Geburt wurde nicht wie die von Jesus oder Napoleon durch das Erscheinen irgendeines Kometen angekündigt. Ich habe keine Ehefrau, weil ich zufällig keine gefunden habe. Ich habe auch keine Freunde, weil ich die Freundschaft nur als einen Waffenstillstand, einen toten Punkt im gesellschaftlichen Kampf ansehe. Ich mag aber einen blinden Richter sehr gut leiden. Der war einmal gezwungen, ein Todesurteil gegen einen Menschen zu beantragen, der sich dann nach der Hinrichtung als unschuldig erwies. Hierauf jagte sich dieser Richter einen Revolverschuß durch die Schläfe. Das Geschoß zerschnitt ihm den Augennerv, und statt der Todesstrafe erlitt er das viel ärgere Schicksal, in diesem Zustand weiterleben zu müssen.

Ein anderer Richter würde wahrscheinlich sagen: ‹Als Mensch ist mir die Verurteilung eines Unschuldigen peinlich, aber als Beamter bin ich innerlich zufrieden, daß mein Antrag durchgegangen ist.› Ich will nicht abstreiten, daß dieser Mann einen gewissen Einfluß auf mich ausgeübt hat. Ich lese die Werke der großen Mathematiker, die für die Intelligenz von fruchtbarer Wirkung sind. Ich stamme aus einer adeligen, aber armen Familie, in der einer alten Tradition zufolge der erste immer Soldat, der zweite Beamter wurde; von den Töchtern hat sich eine verheiratet, die andere ist ins Kloster gegangen. Um der Tradition treu zu bleiben, habe ich ebenfalls Jura studiert, jedoch besuchte ich öfter die Vorlesungen der philosophischen Fakultät. Doch sehr bald sah ich ein, daß die Philosophie für die Entwicklung der Intelligenz eher ein Hemmnis bedeutet. So fing ich gewissermaßen als Gegengewicht an, Mechanik zu studieren. Ich habe da eine Schutzvorrichtung für elektrische Bahnen erfunden. Ungefähr zwanzig Fachleute haben mir versichert, daß der Apparat sehr brauchbar sei; daraufhin bot ich ihn der Städtischen Straßenbahn-Gesellschaft an. Nachdem die Herren dort die Zeichnungen, die Modelle und die Vorrichtungen geprüft hatten, versicherten sie mir, daß der Apparat sowohl in technischer wie auch in ideeller Beziehung großartig sei; aber ohne die Installationskosten zu rechnen, müsse für die bloße Handhabung und Instandhaltung pro Jahr eine halbe Million ausgeworfen werden. ‹Nun können wir aber –› so erklärten diese Herren weiter – ‹nicht eine halbe Million pro Jahr ausgeben, um Leute zu schützen: die Abschlüsse, die wir mit den Versicherungsgesellschaften gemacht haben, bewilligen uns einen jährlichen Durchschnitt von zehn Toten und fünfzig Verletzten – zu einem Gesamtpreis von 250000 Francs. Sie sehen also, daß der Tod dieser Leute nur halb so viel kostet wie ihre Rettung.› Damit schlossen die Herren die Unterhaltung und händigten mir die Pläne meiner Schutzvorrichtung wieder aus.

In der Zwischenzeit –» fuhr Paul Pott fort – «hatte ich mein Examen bestanden. Auch ich hätte gern ein richtiger Tatmensch werden mögen: aber ich habe sehr oft beobachtet, daß die Tatmenschen sich vorzugsweise nicht an die höchsten, sondern an die niedrigsten Instinkte ihrer Nächsten wenden. Das Strafgesetzbuch sichert zum Beispiel dem Falschmünzer Straflosigkeit zu, wenn er die Mitschuldigen denunziert. Es setzt eine Prämie für Verrat aus. Die Gesellschaft, die sich verteidigen muß, schreckt vor nichts zurück, nicht einmal vor der Ermutigung zum Verrat. Ich wäre gerne Rechtsanwalt geworden; ich fühlte mich berufen, Witwen und Waisen zu verteidigen, aber ich war arm und konnte nicht warten: so bin ich denn Richter geworden. Man forderte mich auf, verschiedenen Wohltätigkeitskomitees beizutreten, aber da bin ich sofort wieder ausgeschieden: die Wohltätigkeit wäre gewiß eine heilige Sache, wenn es nicht diese Wohltätigkeitskomitees gäbe, die sie in eine Komödie verwandeln. Ich lebe in dieser bescheidenen Wohnung und verhehle nicht, daß ich aus dem Gesichtswinkel meiner bescheidenen Existenz heraus diejenigen Leute heftig bewundere, die ihr ganzes Leben lang Poker spielen oder den Heroismus besitzen, ihre letzten 20 Francs für eine Gardenie anzulegen. In den Stunden, die mir nach den Sitzungen und dem Aktenstudium freibleiben, besuche ich mehrere philosophische Universitätskurse in der Sorbonne. Ich lese keine poetischen Werke, mit denen gewisse Leute berufsmäßig Gedankennebel auf Flaschen ziehen; dagegen schätze ich die herrliche Akrobatik, die man am festen Reck der Mathematik ausführen kann. Meine philosophischen Studien haben mich bei meinen Vorgesetzten unbeliebt gemacht. Versuche, über das Mittelmaß hinauszugelangen, sind immer verdächtig. Ich bete Frankreich an – ich, der ich griechischen Ursprungs bin. Ich bete Frankreich seines Geistes wegen an, oh, dieses bewunderungswürdige Land, in dem Schriftsteller wie Tristan Bernard, Louis Verneuil, Jean Sarment, Maurice Rostand sich nicht zu schämen brauchen, als Rezitatoren aufzutreten: in dem der Dichter René Fauchois, nachdem er gerade sein herrliches ‹Leben Beethovens› vollendet hat, auf einem Theaterchen des Montmartre mit geklebter Nase den Clown spielt und Couplets singt. Ich bete dieses intelligente Land an, wo man in allen Music-Halls die Generale lächerlich macht, die die Marneschlacht gewonnen haben und die trotz dieser Marneschlacht auch weiterhin lächerlich gemacht werden.

Ich bewundere die Pariser, scheinbare Skeptiker, in Wirklichkeit Träumer und intensiver Bewunderung stets gern hingegeben. Der Pariser ist nicht ‹blasé›. In einer halbstündigen Unterhaltung mit einem Pariser von mittlerer Intelligenz und mittlerer Kultur werden Sie die vollständige Serie folgender Ausrufe: épatant, charmant, étonnant, ravissant, tordant, extraordinaire und formidable – immer wieder zu hören bekommen.

Ich bin ein enthusiastischer Bewunderer von Paris; auch von Paris bei Nacht; Place Pigalle, Place de l’Opéra; die Ecke vom Boulevard Hausmann und Boulevard des Italiens oberhalb des Café du Brésil ist wie ein Tanz um den babylonischen Turm, von einem Choreographen inszeniert. Die Lichter der Chaussee erglänzen weiß mit violetten Schatten; ein Violett ist das, in dem die Lichter der Taxis wieder grün erscheinen. Es ist ein herrliches Feuerwerk ohne den unangenehmen Lärm der Raketen.

Ich fürchte mich vor den Unbestechlichen. Das sind nämlich die, die am leichtesten zu korrumpieren sind. Alle bestechlichen Personen haben einen pécu-Tarif. Es handelt sich da nur um eine Zahl. Manchmal haben sie durch Zufall sehr hohe Tarife. Dann erreicht man kaum etwas bei ihnen. Aber die Unbestechlichen sind wirklich gefährlich; die lassen sich nur überzeugen, das heißt, sie lassen sich korrumpieren, aber nicht von Geld, sondern von Worten. Ich bewundere keineswegs die Geschäftsleute: statt die List ihres Gegners zu erspähen und sie unschädlich zu machen, studieren sie sie nur deshalb, um sie ihrem eigenen Vorteil zuzuwenden.

Niemals habe ich den Umgang mit Richtern gesucht: ich habe sie geflohen und ihre Freundschaft gemieden: sie sprechen den juristischen Jargon, und ich hasse alle Jargons: den Jargon der Philosophen, den der Verbrecher, den der Dichter, den der Polizisten und den der Liebenden. Der Jargon der Richter wird für sie zum Leben: sie leben nach ihrem Jargon; im allgemeinen wissen sie nichts vom Leben. Sie betrachten den Angeklagten wie der Physiologe die Keimzelle und der Botaniker die Erbse: als Versuchsobjekte. Was sie mit Befriedigung erfüllt, ist nur der Triumph der These, ist …»

«Das Avancement in der Karriere», unterbrach ein Journalist.

«Nein. Vom Geldstandpunkt betrachtet, habe ich in meinem Leben nur ehrliche Richter getroffen. Ich kenne Richter von zweifelhafter Intelligenz oder von geringer Kultur oder von beschränktem Verantwortungsgefühl, aber die Beamtenschaft ist, wie man gewöhnlich sagt, heroisch. Bedauerlicherweise besteht ihre Berufskrankheit darin, daß sich in ihrem Hirn die Gefängnisjahre in Zahlen darstellen; ähnlich wie die Gelder in den Händen des Croupiers nichts weiter sind als Zelluloidplättchen. In der ersten Zeit seiner Karriere fühlt der Richter noch die Verantwortung seines Amtes. Die Ausübung der Rechtsprechung ist für ihn mit derselben Angst verbunden, wie sie der junge Chirurg bei der ersten Operation empfindet: später aber spürt er eine gewisse Erleichterung bei dem Gedanken, daß ihn andere, wenn er sich irren sollte, in der Berufungsinstanz noch korrigieren können. Richtet er dagegen in der Berufungsinstanz, so beruhigt sich sein Gewissen bei dem Gedanken, daß andere vor ihm schon die Möglichkeit gehabt haben, die Umstände zu prüfen, die Gutachten abzuwägen und die Zeugen zu hören.

Am ersten Tag, an dem ich den Talar getragen habe, fühlte ich mich schon von der Last bedrückt, die sich dann fast jeden Morgen erneute: aufstehen, rasieren, Kleider anziehen, unter die Leute gehen; dann aus der Menge heraustreten, einen halben Meter über sie erhöht zu sein und zu richten, zu richten: jeden Morgen hingehen zu müssen und zu sagen: ‹So ist es. Er verdient diese Strafe.› Als ob es sich darum handelte, Lebensmittel abzuwiegen oder Multiplikationen auszuführen. Die Justiz ernst nehmen, im Bewußtsein, daß sie so und so oft schon verletzt worden ist?! Verschiedenen Zeugenaussagen Gewicht beilegen; dabei denken, daß ich selber bei der Frage, ob der Talar, den ich seit zwei Jahren trage, hinten unterm Kreuz einen Schlitz hat oder nicht, nicht die richtige Antwort wüßte. Auch bejahen oder verneinen fast alle Zeugen mit der unverschämtesten Sicherheit. Sich herumschlagen mit der reinen Wahrheit und der anderen Wahrheit, die sich aus den Papieren ergibt, das heißt also mit jener Wahrheit, an die ich mich halten muß, um zu richten! ‹Quod non est in actis, non est in mundo›, welche Worte! Die richtige Wahrheit, die sich nicht aus den Dokumenten ergibt, aber die man fühlt, errät, die in den Gefühlsschwingungen des Saales liegt – diese Wahrheit ahnen und sie nicht aussprechen können, weil sie nicht in den Akten bestätigt ist! Gewissen Rechtsanwälten zuzuhören, die reden, nicht um den Richter zu überzeugen, sondern um das Publikum zu unterhalten oder ihren Mandanten zu imponieren; dem Verteidiger zuhören, der keine definitiven Argumente vorbringt; manchmal möchte man sie ihm selber zuflüstern; denn ich kenne den Fall: er aber nicht. Gewisse Verbrecher zu verurteilen, um die Gesellschaft zu verteidigen – wo die Gesellschaft selber den Zwang zu diesem Verbrechen ausgeübt hat. Zu wissen, daß jedes Jahr in Frankreich 500000 kriminelle Abtreibungen straflos bleiben, und ein Dienstmädchen verurteilen zu müssen, weil sie, statt in einem goldenen Zigarettenetui 10000 Francs einem Geburtshelfer von Ruf anzubieten, der wohlweislich in einem ‹Erholungsheim› praktiziert, nur 20 Francs einer Megäre gegeben hat, die auf dem Hängeboden einer Portiersloge Engel macht.»

Da klingelte es. Die alte Haushälterin öffnete.

«Herr Paul, etwas für Sie.»

Es war ein großer Strauß roter Rosen.

«Wer schickt das?»

«Es steht nur die Adresse dabei: Dem Richter Paul Pott.»

Pott wandte sich noch einmal an die Reporter und schloß:

«Wie Sie sehen, meine Herren – es hat sich in meinem Leben gar nichts Interessantes abgespielt.»

Die Reporter erhoben sich. Pott begleitete sie zur Tür.

Draußen wurde es langsam dunkel.

Pott lehnte sich auf das Geländer des Balkons: Paris bereitete sich auf sein tägliches Nachtfest vor. Der Himmel färbte sich rot.

«Die beiden Herren sind wieder da.»

Paul Pott mußte lächeln, aus Langeweile und Mitleid.

«Daß es Leute gibt», dachte er, «die bereit sind, sich jederzeit zu schlagen – das versteht man schließlich noch: aber daß sich immer zwei Laffen finden, die bereit sind, eine Herausforderung zu überbringen, das verstehe ich nicht.»

«Sie sollen eintreten», sagte er laut.

Sie traten ein, von Würden geschwollen.

«Sie also sind die Sekundanten des Herrn Richters De Segonzac, der eine Wiederherstellung seiner Ehre durch ritterliche Austragung wünscht. Sie wollen mich auffordern, zwei meiner Freunde als Sekundanten zu nominieren. Ich habe leider keine Freunde. Bitte treten Sie näher.»

Er führte sie in sein Arbeitszimmer und betrachtete ihre Gesichter, während er ihre Visitenkarten noch in der Hand hielt.

Die Haushälterin meldete zwei weitere Herren.

«Noch zwei? Bitten Sie sie, drüben Platz zu nehmen.» – Er wandte sich an die Anwesenden: «Gestatten Sie einen Augenblick.»

Damit ließ er sie stehen, um ins Eßzimmer hinüberzugehen, wo er auf die beiden anderen Herren stieß.

«Haben wir die Ehre, mit Herrn Richter Pott zu sprechen? Wir sind gekommen, um Genugtuung im Namen des Herrn Richters Grenelle zu fordern, und bitten Sie, zweien Ihrer Freunde Vollmacht zu geben.»

Paul Pott lächelte. Er hatte den Krieg mitgemacht, im Schützengraben.

«Zwei Freunde? Wollen Sie sich einen Augenblick gedulden?»

Als er die vier Herren zusammengebracht hatte, stellte Paul Pott vor: «Gestatten Sie, daß ich vorstelle, die Herren …»

Und sich zu den beiden anderen wendend:

«Und hier die Herren …»

Nach etlichen Verbeugungen erklärte einer der Sekundanten: