Vegetarier der Liebe - Pitigrilli - E-Book

Vegetarier der Liebe E-Book

Pitigrilli

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Reigen buntschillernder Charaktere, der in seiner Mischung aus exaltierten Nervenbündeln und dickfelligen Toren, aus berechnenden Naiven und betrogenen Skeptikern nur aus der Feder des skandalumwitterten Italieners Pitigrilli geflossen sein kann. Mit der für ihn typischen heiter-gelassenen Gnadenlosigkeit widmet er der Skurrilität bestimmter Liebesbeziehungen ebenso seine Aufmerksamkeit wie den Vergnügungen der gelangweilten Society, dem unermüdlichen Kampf gegen eingebildete Krankheiten und dem tragischen Ende von mehr als einer hoffnungsvollen Liaison.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 314

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Pitigrilli

Vegetarier der Liebe

Ihr Verlagsname

Bearbeitete Ausgabe der Übersetzung aus dem Italienischen von Manfred Georg

Über dieses Buch

Ein Reigen buntschillernder Charaktere, der in seiner Mischung aus exaltierten Nervenbündeln und dickfelligen Toren, aus berechnenden Naiven und betrogenen Skeptikern nur aus der Feder des skandalumwitterten Italieners geflossen sein kann. Mit der für ihn typischen heiter-gelassenen Gnadenlosigkeit widmet er der Skurrilität bestimmter Liebesbeziehungen ebenso seine Aufmerksamkeit wie den Vergnügungen der gelangweilten Society, dem unermüdlichen Kampf gegen eingebildete Krankheiten und dem tragischen Ende von mehr als einer hoffnungsvollen Liaison.

Über Pitigrilli

PITIGRILLI, eigentlich Dino Segre, wurde 1893 in Turin geboren, wo er auch 1975 starb. Der promovierte Rechtswissenschaftler arbeitete als Redakteur für verschiedene Zeitungen. Bevor er 1940 Lina Furlan heiratete, Italiens erste Rechtsanwältin an einem Schwurgericht, galt Pitigrilli als Salonlöwe. Die zwanziger Jahre verbrachte er als Zeitungskorrespondent in Paris, wo auch seine ersten, heftig diskutierten Bücher entstanden. Als 1939 auch in Italien die Rassengesetze in Kraft traten, musste er auswandern, zunächst in die Schweiz, dann nach Argentinien.

Inhaltsübersicht

Die Drahtseilbahn zur GlückseligkeitVegetarier der LiebeYvette gibt französischen UnterrichtAlles zu meinem BestenDas Raritätenkabinett der LiebeNon scholae sed vitae …Der grüne Mann

Die Drahtseilbahn zur Glückseligkeit

Frau Silvia Rimembriancor stand ekstatisch da, mit dem Kamm in der Hand und den Blick nach oben gerichtet, als sei sie im Begriff, sogleich den Schweif eines Kometen zu kämmen. Der Gatte, der sich inzwischen die Nägel polierte, bewegte die Hände hin und her und beobachtete seine Frau im Spiegel.

«Woran denkst du?»

«Ich denke –», antwortete die Frau.

Der Gatte gehörte zu jenen, die immer ernsthaft nachdenklich erscheinen wie wilde Tiere oder wie Universitätsprofessoren überflüssiger Fakultäten.

Sie war eine jener braven Frauen, die die Heilkraft der Alpenkräuter kennen und Träume zu deuten verstehen. Sie war nicht schön, aber ihr Körper atmete jenes anregende, ein wenig überreife Parfüm von Fruchtgeschäften, Erstlingen und Wild. Platt wie eine Flunder und fruchtbar wie ein Hering hatte sie verschiedene Leidenschaften gehabt, aber niemals sich in irgend jemand anderes verliebt. Die Söhne waren alle Söhne ihres Mannes.

Die Söhne! Ihr Stolz! Jeden Monat besuchte sie sie im Internat. Sie hätte sie alle zu Hause behalten mögen unter ihrer eigenen Führung, ihrer Erziehung, ihren hygienischen und moralischen Regeln, aber die Söhne hinderten sie daran, ‹ihnen Gutes zu tun›.

Es gibt Menschen, die, um jemand anderem eine Wohltat zu erweisen, ihr Dienstmädchen nicht bezahlen, die, um einem armen Alten jede Woche 490 Stummel schenken zu können, pro Tag 70 Zigaretten rauchen, und Mütter, die die Kinderkrankheiten ihrer eigenen Kinder nicht bemerken, weil sie damit beschäftigt sind, die Mandeln anderer Kinder zu behandeln.

Zu diesen Frauen gehörte Frau Silvia Rimembriancor.

***

Sie fuhr fort, sich die langen, lockeren Haare zu kämmen, und der Gatte polierte sich die Nägel der anderen Hand.

«Woran denkst du?» fragte er wieder.

«Ich denke», antwortete endlich die Frau, «daß es nur eine einzige Lösung für dieses Problem gibt. Ich habe eine großartige Idee! Man sollte mit den wenigen Freunden, die jede Probe bestanden haben, irgendwohin aufs Land ziehen.»

Der Gatte wartete immer noch auf die großartige Idee.

Schließlich sagte er:

«Diese Idee scheint mir nicht so besonders großartig. Das ist doch schließlich nichts anderes, als was man im allgemeinen mit ‹in die Sommerfrische gehen› bezeichnet.»

«Nein», erklärte die Frau genauer, «unsere Erfahrung von zehn Jahren lehrt uns, daß man innerhalb der Gesellschaft nicht glücklich leben kann. Nimmst du aber jeden einzeln, so kann man mit allen Menschen leben; denn man sieht jeden einzeln von vorn. Sobald du dich aber unter zweihundert Menschen bewegst, so steht der eine oder andere notwendigerweise seitlich zu dir, und der läßt sich nur selten die Gelegenheit entgehen, dir gegen die Schienbeine zu treten. Ich habe bereits mit der Contessa Tintura di Mandragora, mit dem Marchese Grasso di Marmotta, mit der Duchessa Idra d’Acquadolce, mit dem Principe Balsamo d’Opodeldoch, mit dem Marchese Emisferi di Magdeburgo, mit Frau Palla di Gravesand, mit der Baronessa di Pravaz, mit dem Dokt …»

«Und was haben sie gesagt?»

«Sie haben mir voll und ganz zugestimmt. Gerade der Doktor Guaiacol hat gesagt, daß wir vierzehn alle zusammen aufs Land gehen müßten …»

«Aber ihr seid doch nur dreizehn?»

«Du bist der vierzehnte! Wir werden im Grünen leben; naturgemäß alle unsere Beziehungen zur Gesellschaft abbrechen! Wir kennen uns nun schon so lange. Wir sind gut, ehrenhaft, gerecht, unfähig aus Schwäche irgendwelche Gemeinheiten zu begehen und Verrat zu üben. Wir können eine ideale, kleine Republik von vierzehn Menschen bilden, die sich gern mögen. Das, was das Leben so tragisch macht, ist ja die Möglichkeit der Hinterlist. Zwischen vierzehn erprobten Menschen dagegen kann es keine Hinterlist geben.»

«Und die anderen? Was haben die gesagt?»

«Der Advokat Chambertin hat als guter Pariser gesagt, daß in dem Augenblick, wo nur wenige beisammen sind, man den unvermeidlichen ‹Saligaud› ausschalten kann.»

«Was soll das heißen?»

«Das hat Don Gennarino Gerace in seiner malerischen, franco-neapolitanischen Sprechweise erklärt: ‹In jeder Gesellschaft –› hat er gesagt – ‹da gibt es den ‹Saligaud›, das heißt den Stunkmacher, den Stänkerer.›»

«Ich wundere mich nur, daß er nicht gesagt hat: das Dreckschwein.»

«Er hat es gesagt. Aber ich habe nicht gewagt, es dir gegenüber zu wiederholen.»

Don Gennarino Gerace war erst mittleren Alters, aber er hatte dennoch einen faszinierenden Aluminiumbart, der seinem rosigen, jungen Gesicht eine frische Feierlichkeit verlieh. In Anerkennung seines metallischen Bartes wurde er zum Präsidenten der kleinen Republik ernannt. Andererseits verdiente er es seiner Ehrlichkeit wegen. Niemals vergaß er, die Knochen für die Hunde beiseite zu legen, die Brotkrusten für die Droschkenpferde, die Krumen für die Spatzen und die Kupferpfennige für die Armen. Wenn ein Lump zu ihm kam, um ihm seine Schandtaten zu beichten, dann hatte Don Gennarino für ihn stets eine außerordentliche Tröstung oder ein helfendes Sprichwort bereit: Sie hatten einen Knopf verloren? Don Gennarino zog aus dem Aufschlage seines Rockes die rettende Nadel. Hatten sie sich den Finger verletzt, Don Gennarino zog aus seiner Brieftasche ein Stück Heftpflaster. Hatte ein Junge auf der Straße die Flasche mit der Medizin für die kranke Mutter fallen lassen, Don Gennarino ersetzte ihm fürsorglich das Geld, um neue Medizin zu kaufen, so daß in seinem Stadtteil für die Jungen bald ein blühendes Geschäft darin bestand, die Medizinfläschchen für ihre kranke Mutter fallen zu lassen.

***

Das Lager wurde auf einem sanften Abhang eines Bergrückens zwischen Kastanien aufgeschlagen. Die Vierzehn schafften ihr Schachspiel dorthin, auch das Grammophon mit den letzten Platten und den neuesten Schlagern. Frau Silvia trug um den Hals eine Kodak, die Perle aller Fotografenapparate. Don Gennarino hißte die Radio-Antenne gen Himmel, und die Baronessa entdeckte eine kleine Ebene, die sich zu einem Tennisplatz umgestalten ließ.

Nachts im wollüstigen Mondschein wurde im Schatten des Kastanienwäldchens zum Klang des Hotelorchesters Tokatlian aus Konstantinopel getanzt, so daß zufolge der verschiedenen Gurgelgeräusche und explosionsähnlichen Laute die schlafenden Murmeltiere des ganzen Tales erschreckt hochfuhren.

Über den Apparat gebeugt sah Don Gennarino Gerace, der geschickt mit Kondensatoren umzugehen und sorgsam jede Welle zu finden verstand, mit seinem graumelierten Kopf selbst wie eine Radio-Röhre aus.

«Welch ein Frieden!» rief eines Morgens Donna Palla di Gravesand aus, als sie die Landschaft betrachtete. «Ich begreife jetzt alles und lasse nur die unberührte Natur gelten.»

«Ich ziehe die englischen Gartenanlagen vor», antwortete der Principe Balsamo d’Opodeldoch.

«Die englischen Gartenanlagen», antwortete Donna Palla di Gravesand, «kommen mir vor wie Pudel, die eben frisch geschoren vom Hundefriseur kommen.»

«Ich wußte nicht, daß Sie Hunde lieben, die aussehen wie ruppige Strohbündel. Sie sind blasiert, liebe Freundin!»

«Und Sie leiden an Gehirnerweichung!»

Eine Stunde später verließen daraufhin sowohl Donna Palla di Gravesand wie auch der Fürst in höchster Entrüstung das Lager, um sich jeder für sich in die Stadt zurückzubegeben.

«Was ist denn passiert?» fragte einer der verdutzten zwölf.

«Nerven, Nerven!» diagnostizierte bei Tisch Doktor Guaiacol. «Es gibt nichts Aufreibenderes als die Ruhe. Nichts kann einen so stören wie die Lautlosigkeit.»

Die Contessa Tintura di Mandragora aß schweigend ihren Salat und ihren Spinat; dann die Rüben und schließlich eine Birne, ohne sie abzuschälen. Der Marchese Emisferi verleibte sich ein ganzes Huhn ein.

«Mit einem Fleischesser zusammen am Tisch zu sitzen, ist so, wie mit einem Totengräber zu tanzen!» rief die vegetarische Gräfin aus.

«Mit einem Vegetarier bei Tisch zu sitzen, ist soviel, wie mit einer frigiden Frau zu Bett zu gehen!» replizierte der Fürst und erhob sich vom Tisch.

Noch vor dem Abend reisten sowohl der Fleischesser wie die Vegetarierin ab und ihnen folgten aus Solidarität drei weitere.

«Bleiben wir also zu fünft und spielen wir einen Poker», bestimmte der Präsident.

Und da die Republik aus fünf übriggebliebenen Personen bestand, so sprach Don Gennarino Gerace mit dem metallischen Kopf und dem rosigen Gesicht, der wie ein als Mann verkleidetes Baby aussah, wie folgt:

«Frau Silvia Rimembriacor und Anhang, Baronessa Siringa di Pravaz, Doktor Guaiacol! Wir fünf sind übriggeblieben, die vollkommene Zahl, die man an den Fingern einer Hand, an den Blumenblättern der schönsten Blumen und in der musikalischen Tonleiter findet. Alle unreinen Elemente sind ausgeschieden, und heute sind wir fünf Vollkommene. Unser Traum von Güte und Gerechtigkeit kann endlich Wirklichkeit werden. Wir bildeten uns ein, daß es genug sei, die Gesellschaft auf vierzehn zu beschränken, um das störende Element auszuschalten, und wir haben gelernt, daß es nötig ist, uns auf fünf zu beschränken. Zwischen fünf gesiebten und aufeinander abgestimmten Individuen, wie wir es sind, kann so etwas nicht mehr vorkommen. Von heute ab werden wir in brüderlicher Reinheit miteinander leben. Ich schlage jedoch vor, daß wir dieses Wäldchen verlassen, in dem unsere ersten Erfahrungen so schlechte Resultate gezeitigt haben. Verlassen wir die Zone der Kastanien, und erheben wir uns in die Regionen der Lärchen und Tannen. Jene guten Waldbewohner werden nichts dagegen haben, uns in der Drahtseilbahn Platz nehmen zu lassen, und in wenigen Minuten, freischwebend im Äther, werden wir der Höhe entgegensteigen, werden wir uns noch mehr von den Erdenmenschen entfernen und dem Regenbogen der Glückseligkeit nähern.

***

An der ersten Station der Drahtseilbahn stiegen sie aus und schlugen ihre Zelte in einem bezaubernden, tannenduftenden Winkel auf. Und während die Frauen in den nächsten Hütten Lebensmittel erwarben, nahm Doktor Guaiacol Herrn Rimembriancor und den Mann mit dem vernickelten Kopf beiseite:

«Wir haben», sagte er, «etwas vollkommen Sinnloses gemacht. Wir haben ein blödsinniges Unternehmen versucht. Die Gesellschaft ist eine konstante, unveränderliche, feststehende Mischung. Sie ist eine Flüssigkeit von gleichartiger Zusammensetzung. Man kann einen Hektoliter oder einen Tropfen einer Analyse unterziehen, und man wird immer die gleichen Elemente wiederfinden. Auf Erden leben eine Milliarde und 756 Millionen Menschen. Den Prozentsatz der Schweine wollen wir mit 20 zu hundert annehmen. Wenn Sie von dieser Milliarde 756 Millionen Menschen tausend oder vierzehn oder fünf abnehmen, so bleiben darum die 20 % Schweine doch unverändert. Der Rüpel des antiken Theaters stirbt nicht aus. Wenn die Gesellschaft aus Planeten bestände, so gäbe es eben loyale Planeten und Schweine-Planeten.»

«Aber aus den vierzehn Individuen», widersprach Gerace, «haben wir neun herausgenommen und fortgeschickt, und unter diesen neun werden wir wahrscheinlich den Rüpel mit hinausgeworfen haben.»

«Der Rüpel erzeugt sich von selbst unter den fünf Übrigbleibenden. Doch da kommen schon die Damen mit den Lebensmitteln zurück.»

Während etwas später der Kaffee aus den Filtern in die Gläser tropfte, entsiegelte Don Gennarino ein Kartenspiel und begann die Karten auszuteilen. Noch niemals wurde eine Partie Poker auf einem so grünen Tuch gespielt.

Die Häufchen der Chips vor den Spielern bildeten sich, vergrößerten sich, verringerten sich, verschwanden und bildeten sich neu mit wechselndem Glück. Das Glück ging von einem zum anderen ohne Erschütterungen, ohne Krise, ohne Gewaltsamkeit. Im Schweigen dieses Bergwinkels hörte man nichts als das Ansagen, und der rhythmische Turnus der Partie vollzog sich ruhig, weder ängstlich noch stürmisch. Es war ein richtiger häuslicher, bürgerlicher Familienpoker, geruhsam wie das Gänsespiel, idiotisch wie Roulette.

«Don Gennarino!» rief plötzlich Silvia Rimembriancor. «Sie haben der Baronessa Siringa ein Zeichen gemacht!»

«Das ist nicht wahr!» protestierte der also Beschuldigte.

«Ich habe nichts gesehen», schwor die Baronessa.

«Aber ich habe es gesehen», bezeugte erbarmungslos Dr. Guaiacol.

Niemand war in der Nähe. Es war sinnlos, Lärm zu schlagen, sinnlos, kräftige Worte zu gebrauchen. Es war wahr: Die Baronessina und der Mann mit dem Aluminiumkopf hatten ein Zeichen ausgetauscht, ein kleines, unschuldiges Zeichen, das den Zufall des Spieles korrigieren sollte.

«Warum haben Sie ein Zeichen gemacht?» fragte mit tränenerstickter Stimme die Baronessa, als sie mit Don Gennarino zur Stadt hinunterfuhr. «Sie, der Sie die Ehrlichkeit selber sind!»

«Ich wollte nicht, daß Sie verlieren. Aber warum haben Sie denn auf das Zeichen geachtet?»

«Ich wollte nicht verlieren. Und wie sind Sie darauf gekommen, mir helfen zu wollen?»

«Ich weiß nicht. Und ich frage mich selbst, ob es der Wunsch war, Ihnen zu helfen oder der Wunsch, die anderen zu betrügen.»

***

Die Drahtseilbahn führte die letzten drei auf den Gipfel des Bergstockes, wo das Gras nicht mehr als einen Finger hoch und dicht bevölkert mit Heuschrecken ist, die bei jedem Schritt springen und nach jeder Richtung hin zu Hunderten flüchten. Eine Sennhütte. Ein durchsichtiger Himmel, klar wie ein chemisches Reagenzglas, ein kleiner See.

«Hier werde ich angeln», verkündete der Gatte.

«Der Doktor und ich, wir werden Arnika und Enzian pflücken.»

Als er am Ufer des Sees saß, in Erwartung, irgendein hypothetischer Fisch werde bei ihm vorbeikommen, dachte der Gatte an die vierzehn, die auf fünf und dann auf drei zusammengeschmolzen waren. Dahin, schloß er, mußte es kommen. Um den Verräter auszuschalten, mußte man notwendigerweise die Gesellschaft auf drei reduzieren.

Auch Dr. Guaiacol, der mit Frau Silvia Arnika und Enzian suchte, hing denselben Gedanken nach.

«Wie jung Sie sind!» hauchte bei einem schwierigen Weg die Frau, wobei sie sich auf seinen Arm stützte.

Der Gatte angelte unermüdlich zwischen der Sonne und dem Wasserspiegel.

«Guaiacol, machen Sie nie einer Frau den Hof?»

«Nein, gnädige Frau, um keiner Gelegenheit zu geben, nein zu sagen.»

«Aber mit diesem System geben Sie auch keiner Gelegenheit, ja zu Ihnen zu sagen.»

Die untadelige Frau, die sich niemals irgendeiner Schwäche hingegeben hatte, fühlte dort oben im alpinen Schweigen einen seltsamen Schauer im Fleisch. Wie jung dieser Doktor Guaiacol war! In ihr, die so kalt, so apathisch war, vollzog sich jenes Phänomen, welches die Geologen mit Gletscherverschiebung bezeichnen.

«Wie glücklich ich mich hier oben fühle», gestand sie. «Unser Experiment ist geglückt. Wir haben jene gewissenlosen Menschen, die wegen der Frage, ob Fleisch- oder Pflanzenkost oder wegen einer Leichtfertigkeit im Spiel unseren Frieden bedrohten, ausgeschaltet. Heute sind wir drei durch und durch anständige Menschen. Nicht wahr, Doktor, bei dreien kann es doch ‹Saligaud›, Rüpel, Verräter nicht mehr geben? Nicht wahr, es gibt keine Möglichkeit irgendeines Verrats mehr?»

Doktor Guaiacol war seiner selbst sicher. Ein Verräter war nicht mehr denkbar. Er kannte sich selbst, seinen Charakter und seine Nerven.

«Nein, gnädige Frau.»

«Nennen Sie mich nicht ‹gnädige Frau›, bitte, bitte. Nennen Sie mich Silvia.»

«Aber was denn! Keine Dummheiten! Ihr Gatte ist gleich mit Angeln fertig.»

Worauf die Frau rief:

«In mehr als zweitausendfünfhundert Metern Höhe gibt es keine Fische. Der angelt bis zum Abend. Komm, küß mich, du gefällst mir.»

Vegetarier der Liebe

Er sprach stockend, in abgerissenen Sätzen, als wenn er Atembeschwerden hätte. Wie alle Nervösen zeigte er die unvermeidliche Erregung eines Menschen, der in das Sprechzimmer eines ihm unbekannten Arztes kommt, um sich untersuchen zu lassen. Er war zu einem beliebigen Arzt gegangen statt zu einer der Kapazitäten, die endgültige Gutachten abgeben, weil er sich die letzte Möglichkeit eines Berufungsurteiles noch offen lassen wollte.

«Ich kann mich kaum noch auf den Füßen halten, ich habe keinen Appetit, werde von Tag zu Tag blasser. Meine Hände sind oft feucht und warm. Ich huste. Ich habe Herzklopfen, ohne zu wissen, warum. Abends etwas Fieber.»

«Wie alt sind Sie?»

«Achtundzwanzig.»

«Ziehen Sie sich bitte aus.»

Der Arzt fragte, ob in seiner Familie Todesfälle nach langwierigen Krankheiten in jungen Jahren vorgekommen wären, ob er als Junge Bronchitis gehabt, und ob sich im Auswurf nie Blut gezeigt hätte.

«Öffnen Sie bitte das Hemd. – Was sind Sie von Beruf?»

«Angestellter.»

«Wo?»

«An einer Schule. Ich bin Lehrer für irgendwelche nutzlosen Dinge.»

Der Arzt fing an, rechts oben den Brustkasten abzuklopfen. Er auskultierte mit dem Hörrohr und verglich die Atmung des rechten Lungenflügels mit der des linken. Er horchte die Herzgegend des Patienten ab und sagte:

«Ziehen Sie sich bitte wieder an. Sie haben ein bißchen Katarrh in der Spitze mit leichter Rippenfellreizung. Es ist ein Lungenspitzenkatarrh. Lassen Sie den Auswurf sehen.»

Der Arzt nahm ein Glasschälchen, zerteilte darin etwas Speichel mit einer Platin-Öse, bewegte sie ein paarmal über einer Alkoholflamme hin und her und färbte sie mit einer roten Lösung.

Der Patient las auf dem Fläschchen: Fuchsin.

Dann badete er das Sputum mit einer zehnprozentigen Schwefelsäurelösung und machte eine Gegenfarbprobe mit einer blauen Lösung.

Der Patient las auf dem Fläschchen: Methylenblau.

Er trocknete es wieder über der Flamme, goß einen Tropfen Zedernöl hinzu und legte es unter die Linse des Mikroskops. Über das Okular gebeugt, arbeitete er mit einem Reflektor und einer Messingschraube. Nach langem Stillschweigen sagte er: «Es stimmt.»

«Wie bitte?»

«Regen Sie sich nicht auf. Wir machen jetzt eine Röntgenaufnahme.»

Sie gingen nach nebenan in ein Laboratorium.

«Falls Sie Metallgegenstände in der Tasche haben, legen Sie sie bitte ab; auch die Hosenträger, wenn Schnallen daran sind.»

Er ließ ihn in eine Art Käfig treten und schaltete die gewöhnlichen Lampen aus. Die Röntgenröhre leuchtete auf, und die Transformatoren brummten.

«Atmen Sie recht tief», sagte der Arzt, während er prüfend auf den gelben Schirm sah. «Husten Sie!»

Und mehr zu sich selbst als zu dem Patienten sprechend murmelte er: «Die Spitze ist in ziemlich guter Verfassung. Es sind wohl einige verkalkte Lymphdrüsen am Lungenhilus.»

Er knipste aus. Das Brummen hörte auf.

«Sie gestatten», sagte er und ging in das andere Zimmer voraus. «Kommen Sie bitte.»

Der Kranke konnte seine Aufregung nicht verbergen.

«Bin ich schwindsüchtig?»

Der Doktor erwiderte mit der üblichen Redensart:

«Vorläufig nicht, aber Sie können es werden. Es ist die Vorstufe der Tuberkulose.»

Es wurde ihm nicht schwer, noch andere Redensarten gleicher Art zu finden, die wissenschaftlich falsch sind, die er aber, da er nicht immer die Wahrheit sagen konnte, täglich wiederholte.

«Es könnte mit der Zeit bösartig werden.»

«Und dann?»

«Dann müßten Sie Vorbeugungsmaßregeln ergreifen: bei offenem Fenster schlafen; ein trockenes Klima aufsuchen; Kälte schadet nicht, wohl aber Feuchtigkeit; acht bis zehn Stunden im Bett bleiben, eine Kalzium- und Arsenkur durchmachen; keine Überernährung, aber kräftige Kost: Eier, Fleischbrühe, Roastbeef; täglich Temperatur messen; einmal die Woche wiegen.»

«Sagen Sie mir bitte die Wahrheit, Herr Doktor. Husten, Abmagerung und Fieber: ich weiß, daß die drei das klassische Trio der Anzeichen beginnender Tuberkulose sind.»

«Beruhigen Sie sich. Sie haben wie alle Kranken Ihres Standes im Konversations-Lexikon und in sonstigen populär-wissenschaftlichen Büchern über Ihre Krankheit nachgelesen. Medizinische Bücher in der Hand von Laien lassen die Temperatur immer um einige Punkte steigen und veranlassen Symptome, die gar nicht vorhanden sind. Befolgen Sie meine Vorschriften, und seien Sie ruhig. – Haben Sie Kinder? – Nein? – Um so besser! Haben Sie eine Frau?»

«So ungefähr.»

«Leben Sie mit ihr zusammen?»

«Ja und nein.»

«Also dann getrennte Schlafzimmer!»

«Ich habe nur eins.»

«Dann getrennte Betten! Nehmen Sie Rücksicht auf sich und die anderen. Wenn Sie bis jetzt keine Kinder haben, so ist dies nicht der Augenblick, sich welche zu wünschen. Wenn möglich, lassen sie die Schule und sorgen Sie für Luftveränderung. Eine längere Seereise würde Ihnen gut tun. Eine Kreuzfahrt. Wiederholen Sie die Reise des Odysseus, aber hüten Sie sich vor Kalypso, Circe und Nausikaa.»

«Ich muß mich begnügen, die Reise des Odysseus den jungen Leuten zu erzählen.»

«Alsdann gehen Sie ins Gebirge. Sie neigen zu Depressionen, da wird Ihnen das Gebirge besser bekommen als die See. Rauchen Sie nicht, trinken Sie nicht, vermeiden Sie heftige Erregungen, und kommen Sie in vierzehn Tagen wieder. Wie heißen Sie, bitte?»

«Esau Sanchez.»

Der Arzt schrieb den Namen oben auf eine Seite eines großen Registerbuches, druckte mit einem kleinen Gummistempel das Bild einer Lunge in verkleinertem Maßstab daneben ab und schraffierte eine Stelle darin. Er zog ein paar Linien, übergab ihm ein Rezept und begleitete ihn zur Tür.

***

Sanchez ging durch die Straßen. Es war Sonntag. Um den Menschen zum Bewußtsein zu bringen, daß die Arbeit etwas Angenehmes ist, sind die Festtage erdacht worden. –

Er mischte sich unter die Menge. Er hatte Furcht vor der Stille.

Ihm gefielen die großen Städte, weil sie niemals schlafen. Zu bestimmten Stunden, um sieben Uhr morgens, zur Mittagszeit, um sechs Uhr abends, um Mitternacht macht sich in der Stadt eine besonders lebhafte Bewegung bemerkbar: Menschenmassen, die ewig wechseln. Sie haben die Aufgabe, die Städte wach zu halten.

Und doch liebte er die Menschen nicht. Er verlor sich gern in der Menge, um allein zu sein. Er liebte die Menschen nicht. Er liebte die Dinge und die Ideen. Die Menschen sind nur ein Modus der Materie, um in Erscheinung zu treten; der Materie, die außer anderen Eigenschaften auch die hat, sich in Menschengestalt zu zeigen.

Er blieb vor einem Schaufenster stehen, in dem laufende Kugellager ausgestellt waren. Das gleichförmige und mühelose Spiel dieser kleinen, glänzenden Kugeln erfüllte ihn mit einer gewissen Ruhe. Die geräuschlose Bewegung der winzigen Planetensysteme beruhigte die aufgeregte Tätigkeit seiner Sinne.

Sterben!? Geheilt werden!?

Geheilt werden, dachte er, ist bei gewissen Krankheiten wie Schwimmenlernen. Im Fall eines Schiffbruchs dient es nur dazu, den Todeskampf zu verlängern.

Dauernd unruhig und zitternd wie das Pappellaub, beneidete er die Taxichauffeure, die nie wissen, wo sie in fünf Minuten sein werden. Phlegmatische Menschen konnten ihn wild machen; Phlegmatiker sind einfach Menschen, die sich an das Leben gewöhnt haben.

Ihm war das Leben noch nicht zur Gewohnheit geworden. Deshalb war er auch noch nicht bereit zu sterben.

Dem Gesetz des Gegensatzes folgend, fühlte er, der gequälte und unausgeglichene Mensch, sich zu Sanka, seiner blonden Freundin hingezogen, die so bleich, verträumt, nachgiebig und abwesend war, als hätten der Natur, als sie sie schuf, die drei Grundbestandteile Farbe, Tatkraft und Persönlichkeit gefehlt.

Sanka war eins von jenen Mädchen, die einen Zug versäumen können, weil sie gerade einem Lied zuhören.

 

Sie hatten sich eines Herbstabends in einem jener billigen Musikläden kennengelernt, die sich hochtrabend Polyphon-Konzertsäle nennen. Wenn man eine Spielmarke in einen Schlitz wirft, kann man durch zwei Röhren, die man an die Ohren hält, die abgeklappertsten Lieder oder den neuesten Tango hören. Er hatte sich, die beiden Hörer ans Ohr haltend, auf den Kasten gestützt, als er im Spiegel gegenüber, auf dem der Text des Liedes stand, eine zierliche Mädchengestalt erblickte. Er drehte sich um, ohne die Fäuste von den Schläfen zu nehmen. Leicht zu ihm hingeneigt, lauschte sie dem fernen Klang, der aus dem Kasten kam, wobei sie, um besser zu hören, den Blick fest auf die Platte gerichtet hielt, so wie man einem, der leise spricht, auf den Mund sieht. Esau lächelte ihr zu. Gespannt auf die Musik hörend, erwiderte sie das Lächeln nicht. Esau bot ihr, ohne weitere Worte, einen seiner beiden Hörer an. Sie nahm ihn, gleichfalls ohne ein Wort, legte ihn ans Ohr, nachdem sie mit der anderen Hand eine blonde Haarlocke, die ihr über die Wange herabhing, zurückgestrichen hatte, und rückte näher an ihn heran. So hörten sie, alle beide mit den Ellbogen auf den Apparat gestützt, das Lied zu Ende. Und als das Lied aus war, hielt er eine andere Marke an den Schlitz und fragte: «Noch einmal?»

Sie bejahte mit einer anmutigen Kopfbewegung.

Sie begleitete das Lied mit geschlossenem Mund summend und den Rhythmus mit einem leichten Wiegen des Körpers betonend. Aus ihrem offenen Bibermantel strömte jener unnachahmliche, seltsam aufregend wirkende Duft, den man erhält, wenn man auf einer auf 37 Grad erhitzten Haut ein paar Tropfen Parfüm für 300 Francs und einige Zentimilligramm frischen Mädchenschweißes miteinander mischt.

Sie gingen zusammen hinaus. Sie erzählte ihm, daß sie in einem großen Modesalon angestellt sei, wo sie, da sie Französisch, Englisch und Deutsch verstand, dreitausend Lire im Monat verdiente. Er sagte ihr, er wäre Lehrer für Italienisch, Lateinisch und Griechisch und verdiente weniger als die Hälfte. Ihre Eltern wohnten in einer kleinen Stadt am Meer; sie liebe die Orangen, aber es sei so mühsam, sie abzuschälen; sie hätte schon längst ein kleines Auto auf Abzahlung gekauft, wenn sie sich nicht davor fürchtete, sich darunterlegen und eine Zündkerze reinigen zu müssen. Sie hätte ein Verhältnis gehabt; sie wären aber wieder auseinandergegangen, und sie wollte nicht wieder von neuem anfangen, denn Liebe wäre Energievergeudung. Die Männer begnügten sich nicht damit, zu lieben und wieder geliebt zu werden, sondern sie wollten auch hören, daß man es ihnen sagte. Es gebe Leute darunter, die Beweise verlangten und, noch schlimmer, auch lieferten. Zuviel Aufregung, die Liebe. Jetzt lebte sie allein.

Auch er lebte allein. Sein letzter Fehler, der Zeit nach, war gewesen, den Doktor zu machen, sein vorletzter, die Unterrichtserlaubnis zu bekommen; jetzt betrachtete er die lange Reihe seiner nacheinander begangenen Fehler, während er seinen Lebensunterhalt mit einem traurigen Beruf verdiente: sich täglich mit energiegeladenen, jungen Leuten, die voll Hoffnungen und Möglichkeiten stecken, auf einem Gebiet herumzuschlagen, das besät ist mit lächerlichen Formfragen, mit ererbten Lügen, mit falschen Folgerungen, ästhetischen Heucheleien, kurzsichtigen Ängstlichkeiten. Er hätte gern eine poetischere Beschäftigung gehabt. Es gibt so viele! Vögel verkaufen, Halsketten aufreihen, Gärten entwerfen, Spielzeug erfinden, Heiligenstatuen modellieren, den Frauen das Schicksal aus der Hand lesen, weiße Tauben aus einem Zylinderhut herauszaubern, bleichen, unersättlichen Mädchen mit dem Saxophon zum Tanz aufspielen; oder auch Feuerwerker sein: mit ein wenig Pulver jene gewaltig langen, fadenförmigen Flammen zu erzeugen, die senkrecht aufsteigend den nächtlichen Himmel durchbohren, um ihm das leuchtende Geheimnis brennender, roter Palmen, zischenden, grünen Regens, blauer Tränen, glühender Springbrunnen zu entreißen, Lichtgedichte, die den Vorzug haben, nicht länger als eine Viertelminute zu leben.

Statt dessen zwang ihn die Not, sich über die falsche Stellung eines Gerundiums aufzuregen, bei Jungen, die vielleicht morgen Bankleiter oder Bürovorsteher wären, Menschenleben retteten, den Meeresgrund untersuchten und Länder durchflögen; die für ihr ganzes Leben von den faulen Gärungen einer schlecht verdauten, klassischen Bildung vergiftet sein würden. Täglich versichern zu müssen, daß gewisse, alte Literaturposaunen große Dichter sind, während ihre Erzeugnisse tatsächlich weit unter der Reklamepoesie einer Schokoladenfabrik stehen; erzählen, daß Sappho eine hervorragende Dichterin gewesen sei, während aus den paar Gedichtchen, die unberechtigterweise die mannigfachen Wandlungen der Ästhetik überdauert haben, nur hervorgeht, daß sie eine hysterische Phantasie besaß und wie alle Dichter ohne Inspiration ihre Vergleiche nirgend anders als unter Pflanzen und Blumen zu finden wußte. Mit stillschweigend vorgeschriebenem Nachdruck pries er die Segnungen der Schule und zitierte angeblich denkwürdige Aussprüche historischer Persönlichkeiten. Er hob Mucius Scaevola in den Himmel, der sich die Hand verbrannte, um Porsenna zum Besten zu haben, oder Cloelia, die durch den Tiber schwamm, um ihm zu entgehen, wo doch heute alle acht Tage eine Miß den Ärmelkanal durchquert, und wo es bekannt ist, daß die Chinesen, wenn sie beim Fantang ihre letzten Taels verloren haben, ihre Finger einsetzen. Was bringt es, die Komik eines Plautus und Terenz lügenhaft zu unterstreichen, wo man doch weiß, daß der Humor innerhalb längstens fünfundzwanzig Jahren seine Wirkung verliert. Es zu tadeln, daß die Ägypter uns das Geheimnis der Leichen-Konservierung nicht hinterlassen haben, während mir scheint, daß es schon Lebende genug gibt, die einem den Weg versperren; die kalte Wut zu kriegen, wenn ein Junge in einer lateinischen Übersetzung gegen die consecutio temporum verstößt oder eine Konstruktion falsch macht und so zu tun, als ob es sich um einen gefährlichen Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand handele, während es bekannt ist, daß in Frankreich, wenn einer nach der Grammatik den Konjunktiv vom Imperfekt anwendet, alles zu lachen anfängt, und im Englischen das besitzanzeigende Fürwort sich nach dem Besitzer und nicht nach dem besessenen Gegenstand richtet. Wer weiß, wie viele noch vor einigen Jahren durch das Chemie-Examen gefallen sind, weil sie die Atom-Theorie ganz oder teilweise nicht begriffen hatten! Und was bleibt heute von der Atom-Theorie, wo die Ionen-Theorie sie verdrängt hat, oder man ihr höchstens zugesteht, als einfache Konvention weiter zu existieren? Er fühlte sich nicht berechtigt, den Lebenslauf eines Jungen, der sich in einigen Jahren vielleicht mit Kautschuk, Petroleum, Korn, Stahl oder Zement beschäftigen würde, zu unterbrechen, nur weil er den Unterschied zwischen Metonymie und Synekdoche nicht gewußt hat. Er empfand größere Bewunderung für den Ingenieur, der den Pont à transbordeur, die Umladebrücke in Marseille, erbaut hat, als für Dante Alighieri; er erklärte, daß die Leiden der von der Gesellschaft verfolgten ledigen Mütter erhabener seien als das Martyrium der Jeanne d’Arc, und daß in dem Röntgenologen, der der Bedienung seiner Apparate bewußt seine Finger opfert, mehr Heldentum steckt als in den zehnjährigen Feuerwehrtaten des trojanischen Krieges. Die Sage von Ikarus, der sich infolge seines hochmütigen Ungehorsams den Hals brach, schien ihm grotesk gegenüber der erhabenen Selbstverständlichkeit, mit der täglich Tausende von Fliegern einem Propeller ihre Jugend anvertrauen und lächelnd aufsteigen, ohne zu fragen, ob sie im Flugzeug oder in einem Lazarettzug zurückkommen werden.

Wie oft hätte er bei der Literaturbetrachtung sagen mögen: gebt acht, Jungens, dieser oder jener ist nicht der große Geist, als den man ihn uns hinstellen will! Was er geschrieben hat, und was man verpflichtet ist, erhaben zu finden, ist einfach idiotisch! Aber da die Heuchelei kein ausschließlich englisches Erzeugnis ist, mußte er schweigen. In jedem Volk gibt es drei oder vier Dichter oder Prosaisten, die tabu sind, die von der Unsterblichkeitsbörse verschwinden würden, wenn die Regierungen ihre Aktien nicht künstlich stützten, wie man es in Augenblicken der Panik mit den Staatspapieren tut. Keinem Menschen in Deutschland oder Portugal würde es in den Sinn kommen, in eine Buchhandlung zu gehen und sich zu seiner Unterhaltung die Gedichte von Theodor Körner oder die Dichtung von Pereire de Castro zu kaufen, wenn man ihm nicht in den öffentlichen Schulen die Magensonde der klassischen Kultur in die Kehle stieße. Aber wenn ein bekannter Gelehrter, ein erfolgreicher Schriftsteller, ein Politiker in der Zerstreuung den Fehler beginge, zum Beispiel – sagen wir mal in Polen – zu erklären, daß der Dichter Mickiewicz, während er seine Mitbürger zur Revolution aufrief, mit einer Dame eine Spritztour nach Italien machte, so würde er sich journalistische Beleidigungen und studentische Gewalttätigkeiten zuziehen, weil die Verteidigung des Nationalruhms immer ein unvergleichlicher Vorwand für die Leute ist, die im Herzen auf den Nationalruhm pfeifen, und weil, wenn es sich darum handelt, die Klassiker zu preisen, immer zwei Klassen von Enthusiasten bereit sind, ihre Feder und ihren Arm zur Verfügung zu stellen: die, die sie niemals gelesen, und die, die sie niemals verstanden haben.

Sein Kollege von der Naturwissenschaft lehrte dauernd, daß es fünf Sinnesorgane gäbe, und daß Gold sich nicht synthetisch herstellen lasse. Da er nahe daran war, pensioniert zu werden, wollte er sich von Lehren, die er in vierzig Jahren Lehrtätigkeit verbreitet hatte, nicht mehr lossagen, und erklärte überdies, daß sein Gehalt ihm nicht gestatte, die modernen Physik- und Physiologie-Zeitschriften zu kaufen. Für ihn waren die Sinne nach wie vor Gesicht, Gehör, Geschmack, Gefühl und Geruch, und der Traum der Alchimisten eine Utopie. Zwei Generationen waren über die Bänke seiner Schule hinweggegangen. Und er lehrte die Söhne die gleiche Wissenschaft mittels derselben Handbücher, mit denen er die Väter unterrichtet hatte. Und obwohl die unordentliche Lebensführung seiner Frau und Töchter ihn bei Freunden und Kollegen, Verwandten und Hausgenossen in Schulden brachte und die Boshaftigkeit der öffentlichen Meinung ihn grausam und vorzeitig zwang, Teile seines Eigentums zu verkaufen, fuhr er fort zu behaupten, daß man seinen Nächsten lieben müsse wie sich selbst, und daß das Geld nicht das Glück ausmache.

«Besonders wenn man nur wenig davon hat!» hatte ihm eines Tages Esau entgegnet und es damit für immer mit ihm verdorben.

Der Vater des Klassenprimus war eines Morgens zu Esau gekommen, um ihm zu sagen, wie stolz er sei, einen Sohn zu haben, der einmal eine Zierde der Gesellschaft sein werde.

«Machen Sie sich keine Illusionen!» hatte ihm Esau geantwortet. «Ich teile die Jungen in meiner subjektiven Schätzung nicht nach den Punkten ein, die ich ihnen als Lehrer gebe. Ich glaube sogar, daß ich sie in meinem Innersten umgekehrt beurteile.»

Der Vater des Klassenersten hatte eine Reflexbewegung gemacht.

«Sie werden, Herr Doktor, mir nicht die Geschichte jener Berühmtheiten erzählen wollen, die schlechte Schüler gewesen sind und gerade in den Gegenständen, in denen sie später Kapazitäten geworden sind, im Examen durchfielen. Ich kenne die Geschichte von Ford, Napoleon und Poincaré auch.»

«Ich will Ihnen eine erzählen, die Sie noch nicht kennen», antwortete Esau. «Vor einigen Jahren verhandelte man in Versailles gegen einen Menschen, der viel von sich reden gemacht hatte. Ein Zeuge sagte aus, daß der Beschuldigte in der Schule der Frères de la Rue de Bretonnille Klassenerster gewesen sei. Er half beim Gottesdienst in Saint Louis en l’Ile und zeichnete sich durch seine Frömmigkeit, seine Sanftmut, bescheidenes Verhalten und seine Aufmerksamkeit aus. Mit zwanzig Jahren machte er das Ingenieur-Examen auf der École des Arts et Métiers. Er gab zu schönsten Hoffnungen Anlaß. Er wurde zum Tode verurteilt, weil er zehn Frauen getötet hatte – und hieß Landru.

Der Herr Dr. Esau Sanchez war nicht zum Lehrer geboren, da er sich nicht für den Groß-Siegelbewahrer der Wahrheit hielt und sich nicht ermächtigt fühlte, den, der einem Irrtum erlegen war, zu schlagen. Wer weiß denn, was Irrtum ist? Und gibt es einen reinen Irrtum? Einmal am Tag sagte auch eine stehengebliebene Uhr die Wahrheit.

***

Seine Unruhe hatte ihn instinktiv zu seiner verträumten, blonden Freundin hingetrieben. Gleich am Abend ihrer Bekanntschaft hatte er sie zu sich gebracht, und am Morgen war sie früh aufgestanden und hatte gesagt: Auf Wiedersehen heute abend.

Ihr Verhältnis dauerte schon einige Monate. Sie waren glücklich, wegen ihrer Leidenschaftslosigkeit hatte er ihr einen anmutigen Namen gegeben: Sanka. Man braucht kein Spezialist für Namensdeutungen zu sein, um zu wissen, daß Sanka der Name einer koffeinfreien Kaffeemarke ist.

Sanka hatte ihm Liebe und Schweigen gegeben. Sie war eins von den wenigen Mädchen, die vor anderen den Vorzug haben, nicht zu drängen, und die Tugend, nicht da zu sein. Eine so seltene Eigenschaft! Sich mit einer Frau verbinden, heißt auf das Recht zu verzichten, über Dinge zu lachen, die sie nicht zum Lachen bringen, auf das Recht, traurig zu sein bei Dingen, die sie nicht traurig stimmen, die Zeitung zu lesen, wenn sie das Licht löschen will, zu schlafen, ohne von der Frage ‹Schläfst du?› aufgeweckt zu werden, Hunger zu haben, wenn sie nur eine Kleinigkeit zu sich nehmen möchte, doppelkohlensaures Natron zu nehmen, wenn sie Magnesia schlucken will, über die Straße zu gehen, um sich ein Buch anzusehen; sich mit einer Frau verbinden heißt, auf das Recht zu verzichten, den Hörer wieder ans Ohr zu nehmen, wenn sie dir zum drittenmal dieselbe Geschichte erzählt, mal still und abwesend sein zu dürfen, ohne der Tortur ausgesetzt zu sein, die ewige Frage zu hören: ‹Aber was hast du denn?›, einmal nicht laut und deutlich auf ihre Dummheiten zu antworten, ohne zu hören: ‹Aber an was denkst du, wenn ich mit dir spreche?› Sich mit einer Frau verbinden heißt, ständig zu hören: ‹Du ziehst das Fußballspielen mir vor; du ziehst deine Freunde mir vor; du ziehst die Zeitung mir vor›, ohne das Recht zu haben, die Richtigkeit solcher Aussage zu bestätigen.

Sanka war das stille, ruhige Mädchen. Sie hatte sich ihm gegeben, ohne zu verlangen, daß er sich verpflichtete, sie das ganze Leben lang zu lieben; sie hatte angefangen, ihn ein bißchen gern zu haben, ohne es ihm zu sagen und ohne es ihm zu schreiben. Die klugen Mädchen folgen, wenn sie in eine Leidenschaft eintauchen, dem Gesetz des Archimedes über die Körper, die in Flüssigkeit getaucht werden: sie verlieren an Gewicht. Sie können die Idealwelt eines Mannes nicht vollständig ersetzen. Die Gattin eines großen Physikers oder die Frau eines heimgekehrten Afrikaforschers gibt sich keiner Täuschung darüber hin, daß sie jenem seine kosmischen Konzeptionen und diesem seine Billardpartie ersetzen könnte. Den einen stören, wenn er seine Hypothesen entwickelt und seine Integrale löst, oder den andern unterbrechen, wenn er den Queue ansetzt oder zum hundertsten Male die Landung in Tripolis erzählt, kann ihr ganzes Glück in Frage stellen.

Sanka war mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie gekommen war, bei Esau geblieben. Alle Vorfälle ihres gemeinsamen Lebens waren so simpel, wie es der Auftakt ihrer Liebe gewesen war: eine Grammophonplatte, ein Hörer am Ohr, ein Lächeln, ein abendlicher Spaziergang, das Erwachen in der bescheidenen Kammer eines kleinen Schulmeisters, wo nicht viel mehr als Bücher, zwei Chrysanthemen in einem Glas und viel Staub auf dem Klavier zu sehen war. Und abends, als sie zu ihm zurückkam, hatte sie einen kleinen Koffer mitgebracht, darin waren ein Pyjama, eine Zahnbürste, die Fotografie ihrer Mutter und das Nokturno von Chopin.

***

Seit einer Stunde, nachdem er das Sprechzimmer des Arztes verlassen hatte, lief er ziellos in der Stadt umher und wiederholte immer wieder die Worte, die der Dichter Keats in der Agonie gesprochen hatte: ‹Ich fühle schon auf mir die Margeriten wachsen›. Und schon dreimal fand er sich an derselben Stelle wieder. Er hatte den Direktor der Schule getroffen, der furchtsam seine gewaltige Ehehälfte spazieren führte und beim Grußerwidern die Augen niederschlug, als ob er sich entschuldigen wollte, daß er den öffentlichen Grund und Boden so stark in Anspruch nahm. Esau konnte sich nicht entschließen, nach Hause zurückzukehren, wo ihn Sanka erwartete. Er fühlte sich nicht aufgelegt, dem verträumten blonden Kind die Gründe auseinanderzusetzen, warum er noch nicht resignierte und noch nicht bereit war, mit dem Leben abzuschließen.