Der Faschismus und das Menschenbild in der Pädagogik - Heinrich Kupffer - E-Book

Der Faschismus und das Menschenbild in der Pädagogik E-Book

Heinrich Kupffer

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Beschreibung

Der Autor vertritt die These, daß die Zeit nach 1945 in der neueren deutschen Pädagogik keinen entscheidenden Wandel gebracht hat. Die Epoche des Faschismus wird deshalb hier als Teil eines historischen Kontinuums begriffen. Dieses ist vor allem durch die Neigung der deutschen Pädagogik gekennzeichnet, auf konkrete gesellschaftliche, politische und sachliche Fragen nicht adäquat auf der jeweiligen Ebene, sondern generell durch Hinweis auf ein Menschenbild zu antworten. So finden sich schon in der Reformpädagogik vor 1933 Elemente und Denkfiguren, die dann vom Nationalsozialismus aufgegriffen wurden und auch nach 1945 lebendig geblieben sind. Eine Aufarbeitung dieses Problemfeldes erfolgt von verschiedenen Ansätzen aus, wobei sich der Autor vor allem auf pädagogische Zeugnisse aus den Jahren 1920 bis 1950 bezieht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Heinrich Kupffer

Der Faschismus und das Menschenbild in der deutschen Pädagogik

FISCHER Digital

Inhalt

Einleitende WorteEinführung: Totalitäre Strömungen im Spiegel des pädagogischen MenschenbildesPolitik und Charakter»Erziehung« als Chiffre für Politik – »Politik« als Chiffre für ErziehungSehnsucht nach überparteilicher Politik und DemokratieZucht und Führertum in der Bündischen JugendDer Typus des politischen MenschenStaat und GeistErziehung zur »Partnerschaft«Thesen zum aktuellen Bezug1. Die Sehnsucht nach dem »brauchbaren Staatsbürger« lebt fort.2. Der Kausalbezug von Wissen und Handeln ist fragwürdig.3. »Rechtsstaat« und politische Freiheit sind zweierlei.4. Das wiederentdeckte Politische droht ökonomisch verkürzt zu werden.5. Die sozialistische Bewegung in den USA übt Kritik am rückwärtsgewandten Radikalismus.6. »Bewegungen« sind ambivalent.7. Das obrigkeitsstaatliche Denken ist noch nicht überwunden.Kultur und KriseKulturkritik oder kritisches Denken?Die »Kulturkrise« als Krise des BildungsbürgertumsEntscheidungsschlacht auf dem Gebiet der VolkserziehungHeraufkunft des Untermenschen?Einkreisung des fehlerhaften KindesGemeinschaft und GesellschaftThesen zum aktuellen Bezug1. Ein Erbe der Kulturkritik ist der Drang nach »Verhaltensänderung«.2. Mancher aktuelle Bildungsplan führt zurück zur »Gemeinschaft«.3. Die Angst vor Unordnung schafft sich in der Ausländerfeindlichkeit ein Ventil.4. Die Deutschen definieren sich über den »Erfolg«.5. Unrealistische Erwartungen fördern die Frustration der Pädagogen.6. Das Mißtrauen gegen Staat und Gesellschaft wächst heute »rechts« wie »links«.7. Erich Fromm zeigt beispielhaft die Möglichkeiten und Grenzen der Kulturkritik.Natur und BedürfnisWerde, der du bist!Pädagogische Osthilfe»Geistig reagrarisieren«Die Arbeitsschule und der brauchbare StaatsbürgerHilfsschule in der KriseThesen zum aktuellen Bezug1. Sozialisation gilt als naturhafter Vorgang.2. Das »natürliche« Recht der Eltern ist problematisch.3. Naturalistisches Denken erschwert die Emanzipation beider Geschlechter.4. »Vorbeugung« verwechselt Gesellschaft mit Natur.5. Wir halten Schulnoten für Indikatoren natürlicher Begabungsunterschiede.Identität und TotalitätHitler und NohlHeroischer NihilismusNegative Identität der PädagogikMerkmale präfaschistischer Stimmung»Die Weltbühne« und »Die Erziehung« – ein VergleichThesen zum aktuellen Bezug1. Die »Dialektik der Aufklärung« führt zu neuer Verstocktheit.2. Systemkritik bleibt Sache von Außenseitern.3. Auch heute besteht zwischen ideeller und gesellschaftlicher Verantwortung eine Diskrepanz.4. Offizielle Instanzen können die Jugend nicht mehr »erreichen«.5. Identität wird über die »Szene« bezogen.6. Die »Erfolglosigkeit« von Erziehung verführt zu fragwürdigen Folgerungen.7. Lebenssinn wird heute wie früher als Zuteilung erwartet.Moral und NormIst Pädagogik für Normen und Werte zuständig?Das »moralische Äquivalent des Krieges«Sinngebung des OpfersGesinnung und VerantwortungEthik als KritikThesen zum aktuellen Bezug1. Friede ist durch Pädagogik allein nicht erreichbar.2. Die Suche nach »Grundwerten« ist ein Rückschritt in vordemokratische Verhältnisse.3. Die deutsche Pädagogik bleibt unterwegs stecken.4. Pädagogik dient praktisch mehr den Erwachsenen als den Kindern.5. Die Krise der Landerziehungsheime zeigt beispielhaft die Krise der »moralischen« Erziehung.Ausblick: Hermann Hesse – »Pädagogik« für Außenseiter?LiteraturBücherAufsätze

»Was mir am meisten Schwierigkeiten macht, mich auf diesem Planeten zurechtzufinden, ist die Tatsache, daß auf ihm gleichzeitig Männer leben wie Sigmund Freud und Hitler, Menschen, deren Gehirne entwicklungsmäßig dreißigtausend Jahre auseinander sind.«

Lion Feuchtwanger

 

»›Wissen Sie‹, fuhr der Kriminalrat fort, ›ich habe ja eine Menge erlebt. Das ist ja nicht der erste Fall dieser Art. Ich sage Ihnen, irgendetwas stimmt mit unserer Jugend nicht mehr. Die sind anders, als wir waren. Die sind irgendwie übergeschnappt. Denen bekommt die Freiheit nicht! Wirklich. Da ist der Wurm drin. Und eines Tages werden wir mal alle von diesem Wurm aufgefressen.‹ Nach einer Pause, als Helga nicht antwortete, setzte er hinzu: ›Sind Sie anderer Meinung?‹ ›Ja‹, sagte Helga. ›Ich halte das, was Sie da sagen, für potentiell faschistisch.‹ ›Gott, Kind, Helga.‹ Der Kriminalrat kippte den Wodka hinunter. ›Ich war nie bei den Nazis.‹«

Richard Hey

 

»Wir waren die Menschen des Schienenstranges, der Konventionen, der Autoritäten. Wir waren Untertanen. Wir waren die Leute mit der allgemeinen Bildung, die Leute um Thron und Altar, die Leute mit Idealen. Wir waren die Leute, denen man anerzog, daß die Sozialisten ›vaterlandslose Gesellen‹ seien, daß der Akademiker aus Gottes rechter Hand gefallen sei, weit fort von dem, was man das ›niedere Volk‹ nannte. Wir waren das Geschlecht, das nach den ersten Durchziehern glühend verlangte, nach dem Reserveleutnant, für den man diese Verse sang: ›Dein höchstes Ziel, mein Sohn, auf Erden, sei dies, Geheimer Rat zu werden.‹ Wir waren das Geschlecht, in dem ein Oberlehrer von seinen Kollegen nicht mehr gegrüßt wurde, weil er sein Verhältnis geheiratet hatte, das Geschlecht … in dem die Kunst der Käthe Kollwitz eine ›Rinnsteinkunst‹ genannt wurde …, das Geschlecht der Satisfaktionsfähigen. Wir waren das Geschlecht der Leute, denn wir wußten nichts vom Menschen.«

Ernst Wiechert

Einführung: Totalitäre Strömungen im Spiegel des pädagogischen Menschenbildes

Die These dieses Buches lautet: In der neueren deutschen Pädagogik hat die Zeit nach 1945 keinen entscheidenden Wandel gebracht. Die Epoche des Faschismus bleibt vielmehr eingebettet in ein Kontinuum. Dieses ist vor allem durch die Neigung der deutschen Pädagogik gekennzeichnet, auf konkrete gesellschaftliche, politische und sachliche Fragen nicht adäquat auf der jeweiligen Ebene, sondern generell mit einem Menschenbild zu antworten. Auch dieses Menschenbild selbst blieb in wesentlichen Zügen unverändert. Soll die genannte These begreiflich werden, so bedarf es einiger Erläuterungen.

Wer heute als älterer Mensch in unserem Jahrhundert lebt, sollte sich fragen, welche Epochen er durchlaufen hat. So ist dieses Buch für mich nicht nur eine gesellschaftliche Analyse, sondern – damit verbunden – auch eine Reflexion über mein eigenes Leben. Meine Jugend im Nazi-Deutschland war teils von der faschistischen Ideologie bestimmt, zugleich aber von den herkömmlichen Ansprüchen an die Bildung, vom Bekenntnis zu einer »kantischen« Moral, vom Glauben an den »Geist«. Wie läßt sich das alles heute verstehen? Waren Moral, Geist und Bildung nur ein Traum, nur privatistische Einbildung, nur kultureller Luxus, nur Ausdrucksform einer vom gesellschaftlichen Leben abgekoppelten Bürgerwelt – oder machte sich in diesem geschichtlichen Zusammentreffen ein Umbruch in der modernen Welt überhaupt bemerkbar? Für den Pädagogen in der Gegenwart sind solche Fragen unabweisbar, denn er muß über seinen Beruf nachdenken: Welche Verpflichtungen hat er noch? Was kann er der Jugend weitergeben? In welchem Sinne trägt er Verantwortung? Um dies klären zu helfen, will ich mich nicht mit historischen Überblicken begnügen, sondern versuchen, einige für das Denken der Menschen in unserer Zeit charakteristische Grundstrukturen freizulegen. Wesentlich ist nicht, was die Pädagogik zu den Phänomenen dieser Zeit sagt, sondern inwieweit sich diese Zeit in der Pädagogik spiegelt.

Für den praktizierenden Pädagogen stellt sich damit auch die Sinnfrage. Hat seine Welt einen außer ihm selbst liegenden, vorfindbaren Sinn? Welchen Sinn hat er als Erzieher in seine Welt hineingebracht? Wie steht es mit den Normen und Werten, für die er zuständig sein soll? Ohne solche kritischen Aufhellungen werden die Menschen, auch wider besseres Wissen, weiterhin an der Fiktion festhalten, daß es verbindliche, durch die Erziehung weitergereichte Werte gibt. Erst wenn wir erfaßt haben, wie die Pädagogik in diese mißliche Situation hineingeraten ist, können wir hier einen Schritt weiterkommen.

Ich will diese Zeit, in der ich zunächst erzogen wurde, dann mehrere Jahrzehnte lang als Erzieher, schließlich als Hochschullehrer für das »Fach« Pädagogik gearbeitet habe, von einer bestimmten Fragestellung aus interpretieren. Es geht mir um Klarheit darüber, was es unter pädagogischem Aspekt eigentlich bedeutet, in dieser Zeit zu leben.

Seit ich begonnen habe, den pädagogischen Vorgängen meines Erfahrungskreises ein theoretisches Interesse zuzuwenden, beunruhigt mich die Frage, in welcher Wirklichkeit diese Pädagogik operiert, worüber sie Auskunft gibt, was sich an realen Lebensverhältnissen in ihr darstellt. S. Sontag interpretiert »Krankheit als Metapher«, A. Mitscherlich sieht »Krankheit als Konflikt«, T. Szasz beschreibt das »Ritual der Drogen«.[1] Der Befund dieser und anderer Autoren lautet: Überall werden Chiffren angewendet, die demjenigen, der sie entschlüsseln kann, Einblick in die Strukturmuster der jeweiligen Gesellschaft gewähren. Nur wer solche Chiffren nicht als Chiffren erkennt, sondern sie für bare Münze nimmt, bleibt »blind«.

So komme ich zu der Frage, ob nicht auch »Erziehung« eine Metapher ist. Welcher menschliche, weltanschauliche und soziale Zusammenhang spiegelt sich in der Pädagogik? Was meinen die Menschen, wenn sie von »Erziehung« sprechen? Wofür fungiert der Erziehungsbegriff als Chiffre? Komplexe Begriffe dieser Art werden oft ohne Kommentar verwendet, denn sie scheinen klar zu sein und keiner Deutung zu bedürfen. Gleichwohl dienen sie praktisch nur als Erkennungszeichen unter den Mitgliedern einer Gruppe. Sie sind Ausdrucksformen einer Lebensform, eines »Sprachspiels«, eines unreflektierten Konsensus. Aus derartigen Erwägungen heraus scheint mir die kritische Frage geboten, was es mit der Pädagogik in der modernen Gesellschaft auf sich hat. Dabei beschränke ich mich auf die neuere deutsche Pädagogik, die zum großen Teil in der von mir selbst erlebten Zeitepoche wirksam wurde. So weit ich mich zurückerinnern kann, wurde Kindern und Jugendlichen immer wieder zugemutet, für ihre Identität und für ihr Selbstverständnis Chiffren zu lernen, ohne daß sie zugleich die Erlaubnis erhielten, den »wirklichen« Text zu lesen. Dies war allerdings schon deswegen gar nicht möglich, weil sich auch die meisten Erwachsenen des Chiffren-Charakters der Erziehung nicht bewußt waren.

Obwohl Pädagogik ein Teil der Kultur ist, gebärdet sie sich anders als die übrigen Kulturgebiete. Kunst und Literatur analysieren die gesellschaftliche Realität ihrer Epoche; sie machen Unsichtbares sichtbar und lassen »Wahrheit« in konzentrierter Form hervortreten; sie stellen mit ihren Mitteln die wirklich empfundenen Nöte und Ängste dar und scheuen sich nicht, das Scheitern, die Bindungslosigkeit und die Verzweiflung des modernen Menschen zu gestalten. Nur die Pädagogik verfährt affirmativ, nicht kritisch. Sie meint, weil Erziehung ja den Menschen stabilisieren soll, sei sie auch selbst ein stabilisierendes Kulturgebiet. Wegen dieser optischen Täuschung gewinnt sie keine Distanz zu sich selbst. Sie versteht sich nicht als kulturelle Äußerung, die etwas über die Situation des Menschen in einer bestimmten Zeit aussagt und die moderne Welt reflektiert, sondern eher als konstitutiven Bestandteil von Ordnungsfaktoren, von Verwaltung, Organisation und Steuerung. Aus diesem Mißverständnis heraus verfährt sie so, als habe der Zusammenbruch aller Bastionen, auf welche sich die Menschen bisher verlassen haben, noch gar nicht stattgefunden, als lebten wir noch immer in einer geschlossenen Welt, in der berufene Erzieher ihrem Volke den rechten Weg weisen können.

Aus allen diesen Gründen fühle ich mich als ein von den genannten Fragen persönlich Betroffener. Der Schritt in die moderne Welt hinein ist zugleich der wesentliche Entwicklungsvorgang in meinem Leben. Herauszufinden, warum die deutsche Pädagogik nicht kritisch war und auch heute weitgehend nicht kritisch ist, heißt für mich, meine eigene Lebensgeschichte zu erforschen. Ich halte dies für notwendig – nicht nur für mein individuelles Selbstverständnis, sondern weil ich meine (zufällige) historische Existenz aus mancherlei Erwägungen heraus als exemplarisch für einen zeitgeschichtlichen Vorgang betrachte.

Ich erinnere mich, daß ich bereits in meiner Jugend, die ich in einer großen Internatsschule verbrachte, deutlich empfand, wie die meisten Menschen in meiner Umgebung blind in einem Wertsystem befangen waren. Sie konnten oder wollten nicht durchschauen, unter welchen historischen und sozialen Bedingungen sie dachten und handelten, sondern existierten allein nach einer immanenten Losung innerhalb eines »Sprachspiels«. Das hat nur indirekt damit zu tun, daß dies die Epoche des Dritten Reiches war; denn das Phänomen des Faschismus ist nicht von ungefähr in eine intakte Welt eingebrochen. Seine Wortführer und politischen Organisatoren haben lediglich die durchschnittliche Denkweise der Menschen ihrer Zeit aufgenommen und in bestimmten Schwerpunkten zusammengefaßt. Die deutsche Pädagogik im 20. Jahrhundert ist nicht durch den Faschismus in eine Krise gekommen, sondern ihre Krise ist Ausdrucksform jener gesamtgesellschaftlichen Krise, die auch den Faschismus erst ermöglicht hat.

Der Faschismus hat als erste politische Bewegung die modernen Medien der Massenbeeinflussung benutzt und damit die Menschen »pädagogisch« geformt. Er verstand sich selber als eine Weltanschauung, zu der hin ein ganzes Volk erzogen werden sollte; und er zweifelte nicht daran, daß dies praktisch möglich war. Er hat die Sehnsüchte und Erwartungen, die das Bürgertum an die Erziehung richtete, aufgegriffen und scheinbar verwirklicht. Faschistisches Denken lebt als Unterströmung weiter in den vielfältigen pädagogischen Manipulationsversuchen unserer Zeit. So ist die Geschichte des Faschismus eng mit der neueren Geschichte der Erziehung verzahnt. In vielen pädagogischen Bemühungen stoßen wir bei näherem Hinsehen auf gewisse Grundstrukturen faschistischer Denkweisen und Reaktionen. Eine interessante Frage lautet daher: Wie können wir heute überhaupt erziehen; und wenn wir erziehen können: wie können wir uns dabei von faschistischen Elementen freihalten?

Der Faschismus ist nach meinem Urteil ein zentrales Problem des 20. Jahrhunderts. Zwar wurde er in seiner historischen Gestalt nur in dessen erster Hälfte verwirklicht; aber sowohl seine Voraussetzungen wie auch seine Auswirkungen reichen weit in die zweite Hälfte hinüber, so daß wir sagen dürfen: Er lebt in anderer Gestalt auch heute fort.

Einen Zugang zum Kern dieses schwierigen Komplexes eröffnet die Frage nach dem Menschenbild. Es wurde in der neueren deutschen Pädagogik üblich, stets globale, allgemeine, auf ein Menschenbild bezogene Auskünfte zu erteilen. Durch Erziehung und Bildung als Werkzeuge für eine Veränderung des Menschen sollten die Probleme gelöst und die Welt verändert werden. Dazu orientierte man sich gern an großen Figuren (»Rembrandt als Erzieher«). Es ist von sekundärer Bedeutung, welche Merkmale dieses Menschenbild im einzelnen trägt, denn es geht um diese Art des Denkens und der Argumentation schlechthin. Der Mensch hat danach den Sinn der Welt in sich selbst, so daß jede Frage immer unter anthropologischem Aspekt gesehen wird. Stimmt etwas mit der Gesellschaft nicht, so stimmt etwas mit dem Menschen nicht. Schlechte politische Praxis erscheint als Ausfluß eines unzureichenden Menschenbildes.

Was uns hier vor allem beschäftigen soll, ist die diesem Menschenbild innewohnende Logik. Offenbar wird ein doppelter Mechanismus wirksam: Einmal herrscht die Tendenz, Einzelfragen durch bewußten Hinweis auf ein Menschenbild zu überhöhen und damit de facto nur im Sinne einer »Endlösung« als lösbar erscheinen zu lassen; zum anderen hören wir pädagogische Aussagen, die scheinbar eine pragmatische Problemlösung anbieten, in Wirklichkeit aber ein anderes Menschenbild ins Spiel bringen. Daraus ergibt sich immer auch eine doppelte Frage. Erstens: Handelt es sich nicht um den Versuch, durch Ausweichen auf ein Menschenbild von den konkreten Problemen abzulenken? Zweitens: Steht nicht hinter allen Ratschlägen ein verkürztes Menschenbild? Beide Fragen sind aufeinander bezogen. Im ersten Fall erweist sich die deutsche Pädagogik als realitätsblind. Anstatt kritisch auf Zusammenhänge hinzuweisen und die Erziehung mit allen Voraussetzungen und Konsequenzen als gesellschaftliche Veranstaltung zu erfassen, spricht sie den Menschen so an, als sei er ein zeitloses, autarkes Wesen, das jede Situation durch die Qualität seines »Menschentums« meistern kann. Im zweiten Fall behandelt diese Pädagogik umgekehrt wesentliche anthropologische Probleme als bloße Sachfragen und diskutiert vordergründig einschlägige Maßnahmen, ohne sich über die zugrunde liegenden Menschenbilder Klarheit zu verschaffen (so etwa in der sozialen und pädagogischen Fürsorge[2]). Dieses Buch beschäftigt sich vor allem mit der ersten Version und zeigt an vielen Texten die Neigung, Menschenbilder als Problemlösungen anzubieten.

Die deutsche Pädagogik liebt es, auf die Frage nach der Regelung des öffentlichen Lebens mit dem Bekenntnis zu einem Menschenbild zu reagieren. Im Expressionismus wie im Faschismus, in der Jugendbewegung wie in der Reformpädagogik, in der Zeit nach 1945 wie in der Gegenwart – immer heißt es: Wenn sich der Mensch nicht ändert, kann sich auch die Welt nicht ändern. Das KZ bietet ein Beispiel dafür, daß sich ein Menschenbild sozusagen auch direkt »umsetzen« läßt. In einer Epoche, die alle Fragen mit dem Hinweis auf ein Menschenbild beantwortet, kann die Antwort im Extremfall auch heißen: Du sollst nicht sein! Nur wenn du ein anderer Mensch wärest, dürftest du weiterleben!

In harmloserer und geschickt verpackter Form kommt die Logik des Menschenbild-Arguments in der »Humanistischen Psychologie« zum Ausdruck, so z.B. in der »Kognitiven Verhaltenstherapie«. In einer kritischen Stellungnahme bemerkt dazu E. Jaeggi: »Wo früher Psychoanalytiker – der alten Art – dem Individuum Einblick in die letztlich unüberwindlichen Schrecknisse des andauernden Konflikts von Vernunft und Trieb, Individuum und Gesellschaft gegeben haben, da argumentieren heute Kognitive Therapeuten mit ihrem Computer-Menschenmodell und wiegeln ab: ›Reg dich nicht auf!‹, ›Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht‹, ›Nimm’s nicht zu ernst‹: das sind letztlich die Sprüche, mit denen sie uns jeden letzten Ernst austreiben – und uns damit zeigen, wie wenig ernst sie uns nehmen … Was not tut, … ist die Besinnung darauf, was hinter den angebotenen Konzepten steht: die Besinnung auf das Menschenbild. Dies allerdings sollte ein besseres Kriterium für die Entscheidung über die Anwendung einer Therapieform sein als bloßer Pragmatismus.«[3]

Mit der Anweisung »Sei doch vernünftig!« werden Mangel und Leid de facto mit einem anderen Menschenbild beantwortet und damit scheinbar endgültig eliminiert. Für einen »vernünftigen« Menschen hätte natürlich das gerade hier akut gewordene Problem einen ganz anderen Stellenwert. Wäre er nämlich in dem hier gemeinten Sinne »vernünftig«, d.h. flexibel, angepaßt, ohne persönliche Erfahrung, einer von vielen, dann wäre ja sein Leiden in dieser Form gar nicht aufgetreten. Daß es jedoch nichts hilft, einem leidenden Menschen eine Antwort zu geben, die ein ganz anderes Menschenbild voraussetzt, also gar nicht in seinem Horizont liegt, hat J. Korczak gesehen: »Alle Tränen sind salzig.«[4]

Die Gewohnheit, stets mit einem Menschenbild aufzuwarten, hat vor allem drei Konsequenzen.

Erstens zeigt sich darin ein totalitäres Denken. Besonders deutlich wirkt dies in der Annahme, durch radikale Erziehungsziele ließe sich auch die Welt selbst radikal verwandeln. Wenn irgendein Mißstand in der Gesellschaft auftaucht, soll sich nach öffentlichen Absichtserklärungen immer sogleich das Ganze ändern. Am liebsten will man einen neuen Menschen. Man meint, gewisse wünschenswerte Eigenschaften seien bisher vergessen worden, so daß sie jetzt verstärkt zum Zuge gebracht werden müßten. Vorausgesetzt ist eine Harmonie zwischen politischer Ordnung, wirtschaftlichem System und Menschenbild. Man kann sich daher auch Alternativen nicht anders vorstellen als durch einen Wandel aller dieser Faktoren zugleich.

Die Kehrseite des Wandlungsmotivs ist das Beharrungsmotiv. Hier erscheint die totalitäre Tendenz in umgekehrtem Sinne. So fürchtet man, jeder Veränderungsvorschlag auf einem Teilgebiet gefährde das »Ganze«. Neue Formen (wie etwa die Gesamtschule) lassen sich dann als Angriff auf den Menschen und die Kultur insgesamt ausgeben.

Dieses totalitäre Denken erschwert das nüchterne Gespräch und begünstigt das Bestreben, in kritischen Situationen das Menschenbild zu überprüfen und die menschliche Person gleichsam anders zusammenzusetzen. Die vermeintliche Krise wird in solchen Fällen darin gesehen, daß man den Menschen bisher unter falscher Perspektive betrachtet und deswegen unnötige oder unbrauchbare Eigenschaften in ihm gefördert habe. So erklären sich Vorschläge, wieder die »Erziehungskraft der Familie« zu stärken oder in der Schule die kognitiven wieder hinter die »pädagogischen« Ziele zurücktreten zu lassen. Solche Versatzstücke liegen überall bereit. Bedient man sich ihrer, indem man auch die Familie im Grund nur als Versatzstück empfiehlt, dann »nützt« diese Familie nichts mehr, weil ein solches Verfahren ihren Verlust an personaler Kraft nur bestätigt.

Zweitens ist zu sagen, daß die deutsche Pädagogik meist keinen reellen Austausch vornimmt. Damit ist gemeint, daß sie mehr verspricht, als sie halten kann. Auch dies ist eine Folge einer Argumentation, die mit dem Menschenbild hantiert. Manche modernen Pädagogen haben diesen reellen Austausch geboten, so etwa Makarenko, Korczak, Freire, Dewey. Sie alle haben gesehen, daß die Grenze des pädagogischen Engagements, des persönlichen Einsatzes, der Hingabe an die Interaktion mit den Partnern immer auch die Grenze des pädagogischen »Erfolges« ist. Ich kann nicht mehr erreichen und erwarten, als ich selbst gebe; und ich kann nichts durch Lehre vermitteln, was über meine eigene Reflexion hinausgeht. Demgegenüber verfahren Pädagogen unredlich, die weder auf die konkrete historische Situation noch auf die Lage des Partners eingehen, sondern global davon sprechen, daß wir alle in »Not« sind (Nohl), oder daß eine Gesamtwende herbeigeführt werden müsse.

Solche Aussagen, die sich auf das Menschenbild zurückziehen, sind meist so abstrakt, daß sie nur allgemein die Richtung eines Gefühlsstromes markieren. Pädagogen, die so verfahren, zahlen mit ungedeckter Währung, argumentieren inflationär. Zum reellen Austausch in der Pädagogik gehört die Einsicht: Was ich nicht jetzt tue, tue ich nie; was ich nicht hier tue, tue ich nirgends; wenn ich mich selbst nicht mit verändere, verändere ich auch sonst nichts und niemanden; wenn ich meinem Partner nicht konkret in der Situation helfe, helfe ich ihm überhaupt nicht. Jedes Ausweichen auf die höhere Ebene des Menschenbildes ist unredlich und auch unwirksam.

Drittens folgt daraus eine Auffassung, die einer passiven, unbeteiligten Haltung Vorschub leistet. Daß hier ein undialektisch beschränktes, nicht durch Eigeninitiative gekennzeichnetes Menschenbild wirksam wird, kann an einem kurzen Text von A. Döblin gezeigt werden: »Es gibt zweierlei Schuld: Die, die planmäßig ein Verbrechen begangen haben, und die, eins zu ermöglichen und zuzulassen. Wir haben dies und jenes nicht gewollt und nicht gewußt. Aber es lag an uns, zu wollen und zu wissen. Es wäre schwer gewesen, aber wir hätten es gemußt. 1918 war es sogar leicht, aber nicht einmal da wollten wir. Wir wollten Ruhe und Ordnung und ermöglichten den Nazi.«[5]

Das Argument, wir hätten von den Exzessen der Nazis nichts gewußt, wird immer wieder zur Entlastung herangezogen. Aber dem liegt schon ein eingeschränktes Verständnis von »Wissen« zugrunde. Es kommt weniger darauf an, was wir tatsächlich gewußt haben, als vielmehr darauf, was wir bei zumutbarer Anstrengung hätten wissen können. Wissen sollte nicht als zugeteiltes Gut, sondern als Frucht der Bemühung jedes einzelnen verstanden werden. Eben dies hat die deutsche Pädagogik versäumt. Sie gebärdete sich in der Regel so, als ob wir in einer Verteilungsgesellschaft lebten, wo von oben her zentral verfügt wird, welche Einstellung die richtige ist. Legitimiert wird die passive Grundhaltung eines Menschen, der sich selbst seinen Lebenssinn, seine Denkfähigkeit, sein Gewissen von oben zuteilen läßt.

Daß Erziehung und Bildung immer auch eine intellektuelle Operation ist, wurde in der neueren deutschen Pädagogik weitgehend ignoriert. Kaum je haben deutsche Pädagogen zum Denken, zu kritischer Stellungnahme, zur intellektuellen Verantwortung aufgerufen. Da ihnen das Menschenbild des durchschnittlichen, brauchbaren, erfolgreichen und zufriedenen Bürgers vorschwebte, haben sie nicht gezeigt, wie man kritisch zu gesellschaftlichen und politischen Ereignissen Stellung nimmt.

Für die Skizzierung dieser Zusammenhänge beziehe ich mich im wesentlichen auf pädagogische Zeugnisse aus den Jahren von etwa 1920 bis 1950. Soweit ich sehe, wurde in dieser Zeit das Entscheidende gesagt. Darüber hinaus bemühe ich mich auch immer wieder um Ausblicke, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Mir scheint, daß die deutsche Pädagogik in ihren Grundzügen unerschüttert geblieben ist, weil sie die Frage nach dem Menschenbild nicht prinzipiell reflektiert hat. Noch immer gilt der Mensch als Funktion eines Systems, einer festgegründeten Gemeinschaft. Er bleibt auf etwas bezogen, dem er sich unterordnen muß. Damals wie heute wird die Pädagogik als Mittel eingesetzt, um dem Menschen zu sagen, wie er leben soll. Sie rechnet nicht mit ihm als einem kritischen, selbständigen Wesen. So ist die Unterströmung, die schon den Faschismus mit ermöglicht und dann überdauert hat, auch heute noch wirksam.

Das bedeutet, daß Menschen sich auf verschiedenen Lebensgebieten dem entziehen, was sie von sich selbst verlangen könnten, nämlich

der politischen Verantwortung;

der rationalen Bewältigung ihrer kulturellen Situation;

der freien Gestaltung und Formulierung ihrer Bedürfnisse;

der kritischen Distanz zu totalitären Ansprüchen;

der moralischen Stellungnahme zu aktuellen Vorgängen.

Der Aufbau des Buches entspricht diesen Aspekten.

Politik und Charakter

Das Menschenbild der deutschen Pädagogik unterliegt dort, wo diese in die politische Ebene hineinreicht, verschiedenen Reduktionen. Der Mensch wird um die politische Dimension seiner Existenz verkürzt und gerade durch die politischen Aussagen der Pädagogik zum unpolitischen Wesen erklärt. Diese antipolitische Reduktion geschieht

allgemein durch Pädagogisierung des Politischen, indem Erziehung und Politik als verdunkelnde, nicht erklärende Chiffren füreinander eintreten;

durch den Anspruch auf Erhabenheit über die Parteien und auf Ganzheitlichkeit von Mensch und Gemeinschaft;

durch auslesende Erziehung als Zucht und Führertum: Politik erscheint als Charakterqualität, die erst voll verstanden sein muß, ehe gehandelt werden kann;

durch naturalistisches Denken, das Menschen nach der Zugehörigkeit zu einem Typus einstuft;

durch Kapitulation der Wissenschaft und der Hochschulen vor dem Zeitgeist und durch Flucht in Illusionen;

durch historische Kurzschlüsse, dabei auch durch nicht rational begründbare Parteinahme ohne Sachkenntnis und Reflexion;

schließlich durch das Modell der Partnerschaft, das die wirklich vorhandenen Spannungen und Interessen ausklammert.

Diese sieben Aspekte werden im folgenden näher betrachtet.

»Erziehung« als Chiffre für Politik – »Politik« als Chiffre für Erziehung

»Erziehung« und »Politik« treten als Chiffren füreinander ein. Da beide Begriffsfelder unklar bleiben und sich nur allgemein aufeinander beziehen, siedeln sich pädagogische Grundaussagen im Niemandsland zwischen Politik und Erziehung an. Zunächst wirkt »Erziehung« als Chiffre für politisches Wollen. Der Wille, die Welt insgesamt, also auch die politische Welt, wieder in Ordnung zu bringen, richtet sich auf das Mittel der Erziehung. Diese wird aber ebenso allgemein und abstrakt verstanden wie die Politik selbst, so daß ein Wechselbezug der Chiffren und deren Austauschbarkeit möglich werden. Der Ansatz für diese Verfahrensweise läßt sich als kulturpessimistischer Denktypus bezeichnen.

Dieser Typus wurde bereits in der Staatsphilosophie Platons und Fichtes vertreten und kam dann in neuerer Zeit etwa bei H.Nohl, H.Lietz und K.Hahn, die sich immer wieder auf eben diese Vordenker beriefen, zu einer späten Würdigung. In Platons »Staat« sind die Herrschenden die am besten Erzogenen. Macht und Bildung entsprechen einander. »Erziehung« fungiert als Chiffre für die politische Idee des besten Staates und als Garantie für ein gesundes, auf Gerechtigkeit beruhendes Gemeinwesen. In dieser Konzeption ist der repressive Charakter des Erziehungsbegriffs auch für alle späteren Epochen grundgelegt. Platons Auffassung lautet: Solange die Menschen nicht optimal erzogen werden, ist dem Staat nicht zu helfen; denn der »normale« Bürger hat noch nicht die notwendige Reife, um an der politischen Willensbildung beteiligt werden zu können. So wird »Erziehung« zur Chiffre für eine radikale Kulturkritik in politischer Absicht, die Repression, Gängelung und Zuteilung von Freiheit als legitim erscheinen läßt.

Fichte nimmt diese Tendenz wieder auf. Nationalerziehung wird zum »Erhaltungsmittel einer deutschen Nation überhaupt«.[6] Die neue Erziehung würde »darin bestehen müssen, daß sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernimmt, die Freiheit des Willens grundsätzlich vernichtete, und dagegen strenge Notwendigkeit der Entschließungen und die Unmöglichkeit des entgegengesetzten in dem Willen hervorbrächte, auf welchen Willen man nunmehr sicher rechnen und auf ihn sich verlassen könnte«.[7] Solche Erziehung bindet den Menschen an das Absolute: »Diesen festen und nicht weiter schwankenden Willen muß die neue Erziehung hervorbringen nach einer sicheren und ohne Ausnahme wirksamen Regel; sie muß selber mit Notwendigkeit erzeugen die Notwendigkeit, die sie beabsichtigt.«[8] Erziehung folgt nicht länger den subjektiven Bedürfnissen, sondern einer objektiven Notwendigkeit: »Wir sind daher sogar durch die Not gedrungen, innerlich und im Grunde gute Menschen bilden zu wollen, indem nur in solchen die deutsche Nation noch fortdauern kann.«[9] Das Notwendige darf nicht als von außen oktroyiert oder gar als Widerspruch zu den subjektiven Bedürfnissen empfunden werden, denn das Bedürfnis selbst wandelt sich.

Fichtes Nationalerziehung will die geistige Selbsttätigkeit des Zöglings anregen, so daß er eminent aktiv wird: »Der Zögling lernt gern und mit Lust, und er mag, solange die Spannung der Kraft vorhält, gar nichts lieber, denn lernen.«[10] Es handelt sich also nicht nur um rezeptive Erkenntnis, sondern um fortschreitende aktive Geistestätigkeit »um der Tätigkeit willen, und auf das Gesetz derselben, um des Gesetzes willen«.[11] So soll durch die neue Erziehung »die Bildung zum reinen Wollen das erste werden, damit, wenn späterhin noch die Selbstsucht innerlich erwachen oder von außen angeregt werden sollte, diese zu spät komme …«[12] Erkenntnis und Sittlichkeit verschmelzen, so daß es dem Zögling »schlechterdings unmöglich sein werde, diese Ordnung nicht zu wollen, und nicht aus allen seinen Kräften für die Beförderung derselben zu arbeiten«.[13] Geboten erscheint eine Erziehung zu selbstgenügsamer Ethik, die es dem Erzogenen erlaubt, »Glied in der ewigen Kette eines geistigen Lebens überhaupt, unter einer höheren gesellschaftlichen Ordnung« zu werden.[14] Damit dieser pädagogische Prozeß ohne Störung ablaufen kann, werden die Kinder während der Erziehung von den Erwachsenen abgesondert. Der gesamte Erziehungsvorgang dient der Abwehr jener Not, in die das Vaterland geraten ist, indem er auf eine höhere Notwendigkeit Bezug nimmt. Erziehung erlaubt es, sich »selbst über diesen gerechten Schmerz zu klarer Besonnenheit und Betrachtung zu erheben«.[15]

Die Sehnsucht richtet sich darauf, »ein ganz anderes und neues, über Furcht und Hoffnung erhabenes Bindungsmittel zu finden, um die Angelegenheit in ihrer Gesamtheit an die Teilnahme eines jeden aus ihr für sich selber anzuknüpfen«.[16]

Das Rettungsmittel heißt: eine neue Erziehung der Nation. Sie kann nur gelingen, wenn sie radikal anders ansetzt als alle bisherige Erziehung: »Das ermangelnde Durchgreifen bis an die Wurzel der Lebensregung und Bewegung hätte die neue Erziehung der bisherigen hinzuzufügen, und wie die bisherige höchstens etwas am Menschen, so hätte diese den Menschen selbst zu bilden …«[17] Bildung wird auch nicht mehr Privileg eines besonderen Standes sein, denn es geht darum, »daß sie die Bildung der Nation schlechthin als solcher, ohne alle Ausnahme einzelner Glieder derselben, werde, in welcher … aller Unterschied der Stände … völlig aufgehoben sei und verschwinde«.[18] Indem es uns auf diese Weise gelingt, uns im Bewußtsein über die Zeit zu erheben, werden wir politisch emanzipiert: »In der absoluten Form des Staates, wo alle Kräfte aller für die notwendigen Zwecke aller in Tätigkeit gesetzt sind, verbindet jeder alle anderen eben so weit, als er durch sie verbunden wird, alle haben gleiche bürgerliche Rechte oder bürgerliche Freiheit.«[19]

Als Kernelemente dieser Pädagogik schälen sich die folgenden Gedanken heraus:

 – Ausgangspunkt ist eine nicht nur politische, sondern auch moralische und menschliche Notsituation, die durch Erziehung überwunden werden kann.

 – Wir können uns als erzogene Menschen im Bewußtsein über die Zeitläufte erheben, sie von außen erfassen und verändernd in die Verhältnisse eingreifen.

 – Das Mittel der Veränderung ist die neue Erziehung als totale Umwandlung des Menschen.

 – Der einzelne muß sich in das Ganze einordnen; wenn dies freiwillig geschieht, dann ist damit gemeint, der Wille sei nicht mehr beliebig schweifend, sondern auf eine höhere Notwendigkeit hin konzentriert.

 – Das alles gilt für die Deutschen allgemein; es wird angenommen, daß sie durch ein Gesamtinteresse miteinander verbunden sind.

 – Erziehung ist als pädagogische Innovation gedacht; mit diesem Anspruch wird »Erziehung« zur Chiffre für das Bestreben, sich aus der Verantwortung für die Regelung der jeweiligen empirischen Ereignisse herauszunehmen und die Welt durch einen totalen Zugriff in Ordnung zu bringen.

Übernimmt hier die Pädagogik die Funktion, Fragen zu klären, die nur politisch zu verstehen und zu bewältigen sind, so wird eben dadurch auch »Politik« zur Chiffre für »Erziehung«. Denn was als politisches Vorhaben aussieht, läuft im Grunde darauf hinaus, den Menschen durch Erziehung umzuwandeln. Der politische und der pädagogische Prozeß verschmelzen. Sie meinen dasselbe: nämlich eine grundsätzliche Wandlung des Menschen und damit der Welt überhaupt. Politik und Erziehung sind eins; mit der richtigen Erziehung scheint auch die richtige Politik bereits gewährleistet zu sein. In dieser wechselseitigen Umdeutung von politischen und pädagogischen Problemen geht die wirkliche Dialektik von Politik und Erziehung verloren. Jeder der beiden Begriffe bezieht sich auf das »Ganze«, keiner von ihnen markiert das Spannungsfeld der Kräfte.

Als Beispiel für einen solchen Verschmelzungsvorgang kann die erste Phase der Jugendbewegung genannt werden. Das Menschenbild der Jugendbewegung ruht auf drei Pfeilern: Eigenständigkeit, überpolitische Orientierung, Gemeinschaftsbezug. Die Eigenständigkeit wird vor allem als Selbstbestimmung und eigenes Recht der Jugend in Anspruch genommen. Unter der Voraussetzung, daß Jugend sich selbst führt und erzieht, wird auch der berufsmäßige Erzieher zu einem Typus der Jugendbewegung. Diese Bewegung muß »pädagogisch« sein, um das Eigenrecht der Jugend zu wahren. Dazu gehören: Naturverbundenheit, Distanz von der verderbten Erwachsenenwelt, Kulturkritik. Freiheit als Verwirklichung ungebundener Naturkraft tritt hervor als: Selbsterziehung, Reifwerden nach eigenem Rhythmus, Ablehnung jeder fremdbestimmten, nur auf Sozialisation ausgerichteten Erziehung. Der junge Mensch findet seine Identität in einem neuen Lebensgefühl, das eine andere Priorität der Werte vorsieht, als sie in der durchschnittlichen Erfolgswelt der Älteren üblich ist.

Der überpolitische Charakter drückt sich in der Ablehnung jeder parteipolitischen Bindung aus. Politik wird nicht als Interessen- und Machtkampf um die Durchsetzung inhaltlicher Konzeptionen verstanden, sondern als eine ganzheitliche geistige Einstellung, die über den empirischen Auseinandersetzungen schwebt und auf konkrete Programme zur Regelung aktueller Fragen des öffentlichen Lebens verzichtet. Ein wesentliches Ziel ist die »Volksgemeinschaft«, worunter weniger die zweckmäßige Organisation der Masse zu einem strukturierten Gebilde als vielmehr eine übergreifende, bergende seelische Einheit verstanden wird. Parteilose Politik begreift sich als Lebensrahmen des von innen heraus »politischen« Menschen und als Erfüllung der Einheitssehnsucht. Parteiinteressen werden abgewehrt, da sie nur partielle, auf begrenzte Ziele bezogene Belange, nicht aber das »Ganze« vertreten. Daher begegnet man auch solchen Pädagogen, welche die Jugend offen in eine bestimmte Richtung drängen wollen, mit äußerstem Mißtrauen. Immer wieder erheben sich Stimmen, die davor warnen, daß die Begeisterungsfähigkeit der Jugend für irgendeinen Parteizweck mißbraucht wird.

Auch wo sich die Jugendbewegung zum »Sozialismus« bekennt, wird dieser Begriff im idealtypischen Sinne genommen. »Sozialismus« gilt als geistige Strömung, nicht als politische Organisation mit ausgefeiltem Programm. In diesem Sinne wurde eine Synthese von proletarischer und bürgerlicher Jugendbewegung angestrebt. Dazu paßt, daß im sozialistischen Lager ein Pädagoge wie K. Löwenstein eine reformpädagogisch und jugendbewegt ausgerichtete sozialistische Erziehung vertrat. »Sozialistisches Bildungsideal« war für Löwenstein »kein fester Inhalt, sondern nur Üben, Können, Neugestalten. Und das alles immer in engstem Zusammenhang mit der schaffenden Arbeit der Gemeinschaft«.[20] Um dies zu verwirklichen, brauchen wir – so Löwenstein – »den Idealismus im Alltag. Denn der Idealismus, der von den Gefilden der Gerechtigkeit und der Glückseligkeit aller Menschen schwärmt, der aber die Wirklichkeit läßt, wie sie ist, dieser Idealismus ist nur ein Betäubungsmittel und enthält keine Kraft.«[21] Wir müssen demokratische Aufgaben in das Leben der Kinder tragen. So wird »Erziehung« zum Medium eines emanzipatorischen Gesamtprozesses, der auf eine Autonomie und Aufklärung zunächst der Proletarierkinder, darüber hinaus aber auch der Gesellschaft allgemein abzielt. Der Gemeinschaftsgedanke ist so stark, daß er den engeren Gedanken des Klassenkampfes überwiegt. Hier berührt sich der sozialistische Aspekt der Jugendbewegung mit der gesellschaftlichen und anthropologischen Ausrichtung sozialistischer Pädagogik.

Zentral wichtig ist schließlich der Gemeinschaftsgedanke, der alle Ordnungsvorstellungen der Jugendbewegung vom Zusammenleben im kleinen elitären »Bund« bis hin zur Einbettung in das übergeordnete Ganze durchzieht. Es geht nicht um »Deutschland über alles« im Sinne eines vordergründigen Patriotismus, sondern um das ganzheitliche Erlebnis. Der Bund ist als Erziehungsbund niemals direkt politisch zu begreifen. Im Erziehungsbund vollzieht sich die Menschenbildung – gestalte sie sich nun in lockeren Formen oder der den geistlichen Orden nachempfundenen strengen Prägung eines Typus.

Um 1930 wird Befremden darüber geäußert, daß viele Angehörige der Bünde in die amorphen Großgruppen der Nazis oder Kommunisten überlaufen. Dies wird weniger aus inhaltlichen politischen Erwägungen heraus als Gefahr gesehen, sondern deswegen, weil der Bund sich nicht vom äußeren Erfolg blenden lassen und dem jungen Menschen keine vorzeitige politische Aktivität empfehlen soll. Erziehung im Bund versteht sich als Arbeit im kleinen, als Hilfe für das Heranreifen der Persönlichkeit. Dabei steht die Gemeinschaft des Seins über der Gemeinsamkeit des bloßen Meinens und die moralische Gesinnung über der Nur-Mitgliedschaft in irgendwelchen Gruppierungen. Denn Gemeinschaft ist kein Kollektiv, kein Verein, kein Interessenbund, sondern sie umfaßt das ganze Leben und stellt immer wieder neue Aufgaben an die Person selbst. Alle drei Faktoren, die das Menschenbild der Jugendbewegung kennzeichnen, haben einen pädagogischen Charakter: Erziehung ist Formung und Ausprägung des jungen Menschen unter bestimmten anthropologischen Prämissen.

Sehnsucht nach überparteilicher Politik und Demokratie

Als Grundlage dient ein Text von H. Schultz-Hencke: »Die Überwindung der Parteien durch die Jugend.«

»Es gibt wohl keinen Jungen heutzutage, der, im unübersehbaren Chaos der politischen Meinungen und Gruppierungen stehend, sich nicht immer wieder fragte, ob diese gegeneinander prallenden Gegensätze denn wirklich sachlich gerechtfertigt, ob sie notwendig seien. Immer wieder wird er finden, daß die Menschen gar nicht so scharf voneinander verschieden sind, wie die Parteimeinungen es glauben machen möchten, und vor seiner Phantasie wird im Gegensatz zum heutigen Chaos das Bild einer Volksgemeinschaft entstehen, eines Organismus, der ein Ausdruck der Zusammengehörigkeit trotz aller Verschiedenheiten ist. Und sucht er nun sein eigenes innerstes Wesen zu erfassen, wie es seiner Überzeugung nach sein sollte, stellt er an sich die Forderung, daß seine politische Überzeugung ebenso wie sein gesamtes übriges Leben auch ganz Ausdruck seines Wesens sei, prüft er weiterhin nach, wie weit dies bei anderen, bei den ›Alten‹ der Fall ist, so wird er fast überall feststellen, daß es einen solchen Zusammenhang nur ganz selten einmal gibt. Deshalb wird sich gerade eine Jugend, die sich entschied, ›nach innerer Wahrhaftigkeit‹ zu leben, entschlossen dagegen wehren, ihren unmittelbar gefühlten Zusammenhang um einer ›Meinungsverschiedenheit‹ willen aufzugeben. Sie wird es ablehnen, in eine Gesellschaft der Alten aufgenommen zu werden, die sich ihrem sicheren Gefühl nach entgegen der Stimme des eigenen Inneren feindselig zerspaltet, statt eine Gemeinschaft nach den inneren Gesetzen der Zusammengehörigkeit zu bilden. So wird ihre Sehnsucht nach Verkörperung ihres Gemeinschaftsgefühls in gemeinsamen Ideen, in einheitlicher Kunst, Weltanschauung und politischer Auffassung sie treiben, die Parteien zu bekämpfen – soweit nicht irgendwelche Bestandteile in diesen doch noch die Gerechtfertigtheit der Spaltung erweisen.«[22]

Der Autor identifiziert sich nicht durchweg mit der referierten Meinung, sondern stilisiert nur die herrschende Grundeinstellung breiter Teile der Jugendbewegung in der Umbruchszeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (1921). Diese Grundeinstellung wird offenbar durch folgende Elemente bestimmt:

 – Politische Meinungen und Gruppen sind chaotisch. Sie entsprechen nicht einem Ordnungsbild, wie es in der Politik wünschenswert wäre und der Gesetzmäßigkeit eines Organismus entspräche.

 – Die auftretenden Gegensätze sind nicht gerechtfertigt und notwendig